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März 2013 - Die Kriminalpolizei

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EditorialLiebe Leserin,lieber Leser,spätestens seit dem Bekanntwerden der menschenverachtendenAnschlagsserie der Mitglieder der NationalsozialistischenUnion (NSU) hat sich gezeigt, dass Gefahrenfür unsere Gesellschaft nicht nur vom islamistisch motiviertenTerrorismus drohen. Erst vor wenigen Wochen, am10. Dezember 2012, ist Passagieren an Gleis 1 des BonnerHauptbahnhofs gegen Mittag eine herrenlose Tasche aufgefallen,aus der Drähte ragten. Wie sich später herausstellte,enthielt die verdächtige Tasche Sprengstoff. Trotz intensiverpolizeilicher Fahndungsmaßnahmen konnten bislang keineTatverdächtigen ermittelt werden. Folglich liegen Urheberschaftund Tatmotivation im Dunkeln. Also auch die Frage,ob die Tat durch eine Organisation gesteuert oder von einememotionalisierten Einzeltäter bzw. einer Kleingruppe begangenwurde. „Der Einsame-Wolf Terrorist. Eine neue Herausforderungfür die innere Sicherheit“ titelt Dr. Florian Hartleb,Lehrbeauftragter an der Universität Bonn, und betrachtetdas Phänomen des „Kleinzelltäters“. Er stellt fest, dassdas Konzept des „Einsame-Wolf Terrorismus“ im deutschenKontext bislang keine Rolle spielt, obwohl es zahlreicheempirische Fälle dafür gibt, auch in Deutschland. Anhanddes Falles „Breivik“ hinterfragt er, was für Lehren aus demnorwegischen Fall gezogen werden können. Dabei steht dieFrage nach Ursachen, Motiven, Gefahrenpotentialen und diemögliche Prävention im Vordergrund. Über die Einordnungdes „Einsame-Wolf Terrorismus“ setzt er sich mit möglichenBekämpfungsstrategien gegen dieses neue Phänomen auseinander.Beispielsweise fällt bei dem Massenmörder Breivikauf, wie stark virtuelle Räume und das Internet zu böswilligenZwecken genutzt werden können. Der Täter stand inKontakt mit anderen Menschen, nicht physisch, aber virtuell,von einem kleinen Zimmer bei seiner Mutter aus. Zusammenfassendkommt Hartleb zu dem Ergebnis, dass der Fall„Breivik“ nicht in ein klassisches Schema passt, zumal Terrorismusstark mit gruppenbezogenem Handeln assoziiert ist.Einsame Wölfe führen oftmals nur eine einzige Tathandlungaus, weshalb die Bekämpfung des Einsamen-Wolf-Terrorismusdie Sicherheitsbehörden vor höchst komplizierte Herausforderungenstellt. Obwohl es durchaus Warnzeichen(gerade im virtuellen Raum) geben kann, sind diese Terroristenwahrscheinlich sozial isoliert und vermeiden als autistischeExtremisten Kontakte.Eine der letzten Ausgaben des Fernsehmagazins reportMÜNCHEN befasste sich mit dem Ku-Klux-Clan inDeutschland. Recherchen belegen demnach: Der rassistischeGeheimbund Ku-Klux-Klan ist auch in Deutschland aktiv;und das seit beinahe 100 Jahren. Damit nicht genug: Es gibternstzunehmende Hinweise, dass sich auch der sogenannteNationalsozialistische Untergrund, abgekürzt NSU, von denIdeen dieser Geheimorganisation leiten ließ. Erster Kriminalhauptkommissara. D. Manfred Paulus aus Ulm/Donaubearbeitet in seinem Beitrag „Ku-Klux-Was? Rituelle Gewaltin Deutschland – (K)Ein Thema für die Gesellschaft, (k)einThema für die Polizei!?“ das Phänomen der rituellen Gewaltund knüpft damit auch an eine mögliche Facette der NSU-Mordserie an. Er beschreibt die grundsätzliche Missachtungund Verweigerung der Gesellschaft bei dem Phänomen derrituellen Gewalt. Auch erkennt er viele Mängel und Defiziteim Bereich der Gesetzgebung, der Ermittlungen und derStrafverfolgung und stellt die Frage, ob sich die Opfer einessolchen Geschehens nicht selbst helfen und die entscheidendenSchritte zu ihrer Befreiung von sich aus machen können.Schließlich sieht er gerade in diesem Bereich die Polizei inbesonderem Maße in der Pflicht, da sie nicht selten die einzigeAnlaufstelle ist, von der sich Zeug(inn)en wie OpferHilfe versprechen und Hilfe erwarten.Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse und desGefährdungspotenzials, das den beschriebenen Phänomeneninne wohnt, sind die Forderungen und Erwartungen an dieSicherheitsbehörden aus meiner Perspektive unmissverständlich.Auch wenn der NSU-Untersuchungsausschuss seineArbeit noch nicht abgeschlossen hat, dürfte feststehen, dassdeutliche Verbesserungen in der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehördenerreicht werden müssen und sich die Diskussionüber eine grundlegenden Neuausrichtung aufdrängt.Herbert Klein<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>1


ÜbersichtLandesbezirke:Baden-WürttembergBayernBerlinBundespolizeiBKABrandenburgBremenHamburgHessenMecklenburg-VorpommernNiedersachsenNordrhein-WestfalenRheinland-PfalzSaarlandSachsenSachsen-AnhaltSchleswig-HolsteinThüringenEhrenamtliche MitarbeiterStändige ehrenamtliche Mitarbeiter:BundBundesanwalt Thomas BeckGeneralbundesanwalt KarlsruheBaden-WürttembergLandespolizeipräsident Dr. Wolf Hammann,Innenministerium Baden-WürttembergLandespolizeipräsident a. D. Erwin Hetger, StuttgartLandeskriminaldirektor Hartmut GrasmückInnenministerium Baden-WürttembergGeneralstaatsanwalt Klaus PfliegerGeneralstaatsanwaltschaft StuttgartRektor Prof. Alexander PickHochschule der Polizei Baden-WürttembergProf. Dr. Heinz-<strong>Die</strong>ter WehnerInstitut für Gerichtliche Medizin TübingenLtd. Kriminaldirektor Heiner AmannPolizeidirektion FreiburgLandespolizeipräsident a. D. Dr. Alfred Stümper, StuttgartPräsident a. D. Franz-Hellmut SchürholzLandeskriminalamt StuttgartLtd. Kriminaldirektor Peter Egetemaier,Leiter der Akademie der Polizei Baden-WürttembergPräsident Klaus Hiller, Landeskriminalamt Baden-WürttembergPräsident a. D. Prof. Dr. Rainer Schulte, FreiburgInspekteur der Polizei a. D. Hartmut LewitzkiInnenministerium Baden-WürttembergKriminalhauptkommissar a. D. Wolfgang SchmidtSchwäbisch GmündBayernLtd. Kriminaldirektor a. D. Gunter HauchLtd. Kriminaldirektor Jürgen Schermbach, PP OBNErster Kriminalhauptkommissar Josef SchnellhammerFortbildungsinstitut der Bayerischen PolizeiKriminaldirektor Bernd HacklLeiter der KPI RosenheimBerlinKriminalhauptkommissar Robert Hobrecht, BerlinKriminaldirektor Oliver Tölle, BerlinProf. Dr. Claudius Ohder, Hochschule für Wirtschaft und Recht BerlinKriminalhauptkommissar a. D. Peter Trapp,CDU BerlinBKAAbteilungspräsident a. D. Dr. Gottfried VordermaierKriminaldirektorin Sabine WenningmannRegierungsdirektor Dr. Peter FrodlBundeskriminalamt/DS 1Ltd. Kriminaldirektor Nikolaus SpeicherBundeskriminalamt / ITD-VBrandenburgKriminalhauptkommissar a. D. Peter KrügerLKA BrandenburgKriminaldirektor Roger HöppnerMinisterium des Innern, PotsdamBremenErster Kriminalhauptkommissar Rolf Oehmke, Polizei BremenStaatsrat Holger MünchKriminaldirektor Jörg Seedorf, Ortspolizeibehörde BremerhavenLtd. Kriminaldirektor Andreas Weber, Polizei BremenBundespolizeiErster Polizeihauptkommissar Edgar StoppaBundespolizeiakademie LübeckPolizeidirektor Michael BrallBundespolizeipräsidium PotsdamPolizeidirektor Thomas SpangBundespolizeipräsidium PotsdamDirektor der Bundespolizei Jörg BaumbachBundespolizeipräsidium PotsdamHamburgAndré Bunkowsky,Polizei HamburgHessenPolizeivizepräsident Uwe BrunnengräberPolizeipräsidium SüdhessenErster Kriminalhauptkommissar Ralf HumpfLandeskriminalamt HessenPolizeihauptkommissar und Ass. Jur. Dirk WeingartenPolizeiakademie HessenSwen Eigenbrodt, Kriminaloberrat, Polizeipräsidium SüdhessenMecklenburg-VorpommernInspekteur der Landespolizei,Ltd. Kriminaldirektor Rudolf SpringsteinInnenministerium Mecklenburg-VorpommernLtd. Polizeidirektor Manfred DachnerPolizeidirektion NeubrandenburgPolizeidirektor Rainer Becker, Fachhochschulefür öffentliche Verwaltung, Polizei und RechtspflegeKriminaldirektor Helmut QualmannPolizeidirektion RostockNiedersachsenLtd. Kriminaldirektor a. D. Rüdiger ButteLandrat Hameln-PyrmontKriminaldirektor Wolfgang RösemanNiedersächsisches Ministerium für Inneres und SportPolizeivizepräsident Thomas RochellPolizeidirektion HannoverPolizeidirektor Volker FeigePolizeiakademie NiedersachsenNordrhein-WestfalenLeitender Polizeidirektor Klaus NoskeKriminalhauptkommissar Dipl. Verw. Wirt <strong>Die</strong>trich VoßKriminalprävention/OpferschutzLeiter Leitungsstab Jürgen KleisKriminalhauptkommissar Wolfgang Spies,Polizeipräsidium WuppertalLeitender Kriminaldirektor <strong>Die</strong>ter KretzerRheinland-PfalzInspekteur der Polizei Werner BlattMinisterium des Innern, für Sport und Infrastruktur, MainzGeneralstaatsanwalt Erich JungGeneralstaatsanwaltschaft KoblenzPolizeipräsident Wolfgang FrommPolizeipräsidium RheinpfalzPräsident Wolfgang HertingerLandeskriminalamt Rheinland-PfalzMatthias Bongarth, GeschäftsführerLandesbetrieb Daten und InformationPolizeidirektor Rainer HammZentralstelle für Polizeitechnik, MainzLtd. Polizeidirektor Klaus WerzDirektion der Bereitschaftspolizei, MainzKriminaldirektor Gerald GouaseLandeskriminalamt Rheinland-PfalzKriminaldirektor Klaus MohrPolizeipräsidium MainzSaarlandDirektor Dr. Helmut AlbertLeiter des saarländischen Landesamtes für VerfassungsschutzGeneralstaatsanwalt Ralf-<strong>Die</strong>ter SahmGeneralstaatsanwaltschaft SaarbrückenLandespolizeivizepräsident Hugo MüllerStändiger Vertreter des Leiters des Landespolizeipräsidiums SaarlandKriminalhauptkommissar Norbert MeinersLandesinstitut für präventives HandelnSachsenLandespolizeipräsident i. R. Eberhard PilzSächsisches Staatsministerium des Innern, DresdenProf. Dr. med. Jan DreßlerLeiter des Instituts für Rechtsmedizin, Universität LeipzigProf. Dr. Erich Müller, TU DresdenLandespolizeipräsident Bernd MerbitzSächsisches Staatsministerium des Innern, DresdenSachsen-AnhaltKriminaloberrat Sirko EckertPolizeidirektion Sachsen-Anhalt NordKriminaldirektor Peter Reisse, MI Sachsen-AnhaltKriminaloberrat Karl-Albert Grewe, Polizeidirektion Sachsen-Anhalt NordKriminaloberrat Bernd Ritzmann, Fachhochschule Polizei Sachsen-AnhaltLandespolizeidirektor Rolf-Peter Wachholz,Innenministerium Sachsen-AnhaltSchleswig-HolsteinDekan Hartmut BrenneisenFachbereichsleiter Polizei der Fachhochschule fürVerwaltung und <strong>Die</strong>nstleistungPolizeioberrat Ralph Garschke, LandespolizeiamtKriminaloberrat Michael RaaschKriminaloberrat Rainer BretschPolizeioberrat Hartmut Kunz, IM Schleswig-HolsteinMinisterialdirigent Jörg MuhlackThüringenPolizeidirektor Gerd Lang, Leiter des Bildungszentrums der Thüringer Polizei2 <strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Der Einsame-Wolf Terrorist. Eine neue Herausforderung für die innere Sicherheit 4Von Dr. Florian Hartleb, BonnKu-Klux-Was? 13Rituelle Gewalt in Deutschland – (K)Ein Thema für die Gesellschaft, (k)ein Thema für die Polizei!?Von Manfred Paulus, Erster Kriminalhauptkommissar a. D., Ulm/DonauInhaltAktuelles aus dem Netz 19Von Christian Zwick, Kriminalhauptkommissar, Polizeipräsidium RheinpfalzDeutschland ist eines der sichersten Länder der Welt – tatsächlich? 21Von Dr. Wiebke Steffen, Wissenschaftliche Beraterin des DPT – Deutscher Präventionstag,HeiligenbergPräventive Gewinnabschöpfung bei Beschuldigten – Möglichkeiten und Grenzen 24Von Dr. Heiko Artkämper, Staatsanwalt (GL), DortmundDer deutsche Dschihad: alte und neue Hotspots 27Von Dr. Dr. (rus) Michail Logvinov, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institutfür Totalitarismusforschung an der TU DresdenStrafrechtliche Rechtsprechungsübersicht 31Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie HessenWichtiges in Kürze 33Von Gunhild v. d. Groeben, Journalistin, MainzGewerkschaftspolitische Nachrichten 35Von Sascha Braun, GdP Bund, BerlinHerausgeber:GdP Gewerkschaft der Polizei, Bundesgeschäftsstelle Berlin, Stromstraße 4, 10555 Berlin, Telefon: 030 / 39 99 21-0, Fax: -200Redaktion:Fachlicher Teil: Chefredakteur Herbert Klein, Leitender Kriminaldirektor, Polizeipräsidium Rheinpfalz,E-Mail: hcklein51@aol.com,Gunhild Groeben, Journalistin, E-Mail: gunegroeben@gmx.comc/o Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH, Anzeigenverwaltung, Sitz Hilden, Betriebsstätte Worms, Rheinstraße 1,67547 Worms, Telefon 0 62 41 / 84 96-0Gewerkschaftspolitischer Teil: Bernhard Witthaut, Bundesvorsitzender, c/o GdP-Bundesgeschäftsstelle, Stromstraße 4,10555 Berlin, Telefon: 030 / 39 99 21-110, Fax: -211Namentlich gekennzeichnete Artikel müssen nicht die Meinung der Redaktion wiedergeben. Manuskripte bitte ausschließlichan die Redaktion senden. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. <strong>Die</strong> in dieser Zeitschriftveröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Vervielfältigungen usw. sind nur mit Quellenangabeund nach schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet.Verlag und Anzeigenverwaltung:Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH, Anzeigenverwaltung, Sitz Hilden, Forststraße 3 a, 40721 Hilden,Telefon: 02 11 / 7 10 4-0, Fax: -174Betriebsstätte Worms: Rheinstraße 1, 67547 Worms, Telefon: 0 62 41 / 84 96-0, Fax: -70Geschäftsführer: Bodo Andrae, Joachim KranzAnzeigenleitung: Antje KleukerErscheinungsweise und Bezugspreis:Vierteljährlich im letzten QuartalsmonatEinzelbezugspreis 3,50 Euro incl. 7 % MwSt. zzgl. Versandkosten, Jahresabonnement 12,– Euro incl. 7 % MwSt. zzgl. Versandkosten.Aufgrund des kriminalfachlichen Inhalts der Zeitschrift „<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong>“ kann diese nur an Personen und Institutionenausgeliefert werden, die entsprechendes berufliches Interesse an der Zeitschrift nachweisen. „<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong>“darf nicht in Lesezirkeln geführt werden. Bestellungen nur an den Verlag.Herstellung:Griebsch & Rochol Druck GmbH & Co. KG, Gabelsbergerstraße 1, 59069 Hamm,Telefon: 0 23 85 / 931-0, Fax: 0 23 85 / 93 12 13, info@grd.deISSN 0938-9636Internet-Adresse: www.kriminalpolizei.deImpressum<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>3


Politisch motivierte KriminalitätDr. Florian Hartleb,BonnDer Einsame-Wolf Terrorist.Eine neue Herausforderung für dieinnere Sicherheit1. Relevanz des Themas 1Der „Kleinzelltäter“ scheint zu einer neuen sicherheitspolitischenBedrohung zu werden, der die Terrorismusbekämpfungzentrale Aufmerksamkeit schenken muss. 2 Das Phänomenwurde durch die Mordserie des so genannten NationalsozialistischenUntergrundes (NSU) und die Pannen deutscherSicherheitsbehörden, insbesondere der Verfassungsschutzämter3 , auf dramatische Weise virulent. <strong>Die</strong>se Art vonTerrorismus fiel aus dem bürokratischen Raster deutscherSicherheitsbehörden und auch professioneller Beobachter,wohl auch, wie der langjährige, kontinuierlich beobachtendeExtremismusforscher Uwe Backes selbstreflexiv und -kritischkonstatiert, weil sich „das Gros dem Typus expressiver, emotional-hassgeladener,wenig planhafter und organisierter Tatenzuzurechnen lässt. […] Insbesondere der Spezies der politischmotivierten Mehrfach- und Intensivtäter wurde bislang zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt.“ 4 So spielt das Konzeptdes „lone wolf terrorism“ im deutschen Kontext bislangkeine Rolle, obwohl es zahlreiche empirische Fälle dafür gibt,auch in Deutschland. Offenbar fehlt das Gespür für möglicheSzenarien. Der erste erfolgreiche islamistische Anschlagin Deutschland im Frühjahr 2011 ging von einem Einzeltäteraus. Aufgehetzt von einem Internetvideo, das angeblichdie Vergewaltigung von muslimischen Frauen durch US-Soldaten zeigte, radikalisierte sich der junge Kosovare AridUka innerhalb von wenigen Tagen und beschaffte sich aufdem Schwarzmarkt eine Waffe. Wenig später passte er eineGruppe von US-Soldaten auf dem Frankfurter Flughafen ab,fragte einen der GIs nach einer Zigarette und zog dann seineWaffe. Er erschoss zwei Soldaten, nur die Ladehemmung seinerWaffe verhinderte Schlimmeres. 5 Das Gericht verurteilteihn zu lebenslanger Haft. <strong>Die</strong> Anklage hatte sich überzeugtgezeigt, dass Uka mit der Tat seinen persönlichen Beitragzum Dschihad (Heiligen Krieg) leisten wollte. Er habe sichzum „Herrn über Leben und Tod gemacht“ und seine Opferwillkürlich ausgesucht. Uka sei ein Einzeltäter, der sich überdas Internet radikalisiert habe. Uka selbst hatte vor Gerichtgestanden. 6Innerhalb von al-Qaida gibt es einen Strategiewechsel aufgrundeigener Schwächung: Operationen werden wenigervon Islamisten aus dem Westen durchgeführt, die in Terrorlagernim Ausland ausgebildet werden und dann in ihrenHeimatländern Terrorzellen gründen, sondern Muslime imWesten angestachelt, selbstständig loszuschlagen. <strong>Die</strong> US-Regierung nennt al-Qaida heute eine geschwächte Organisation.Zu großen Anschlägen sei al-Qaida nicht mehrin der Lage, die Kampfmoral sei schlecht. US-Drohnenangriffeund gezielte Aktionen in pakistanischen Stammesgebietenschränken auch die Ausbildung von Nachwuchs ein.Deshalb ist es die neue Strategie, kleine Zellen und Einzeltäterzu Terrorakten im Westen anzustiften. 7 Ein Beispiel istMohamed Merah, Sohn einer Algerierin und eines Franzosen,der in Toulouse sieben Menschen tötete. Er hatte nur einkurzes Schießtraining in Pakistan mitgemacht. Der Salafist,der sich selbst radikalisierte und lange als Krimineller auffälligwurde 8 , bezeichnete sich selbst als Mitglied der Terrororganisational-Qaida, was aber angezweifelt wird. Dennoch istdurch seine Salafistenkontakte offen, ob er wirklich als Einzeltäteragierte. 9Der drastischste, auch von der Quantität, war der Fall inNorwegen, wo der 32-jährige Anders Behring Breivik am22. Juli 2011 erst eine Autobombe im Regierungsviertel vonOslo zur Explosion brachte, die unter anderem acht Menschentötete. Nur wenige Stunden später richtete er, als Polizistverkleidet, auf einer kleinen Insel, Utøya, 30 km vonOslo entfernt, mit einer Schusswaffe ein Massaker an. Ernutzte dabei die Gelegenheit eines Massenauflaufs, ein traditionellesZeltlager der sozialdemokratischen Jugendorganisationauf Utøya. Im Laufe von mehr als einer Stundefielen dem Terroristen 69, meist junge Personen zum Opfer.564 Menschen befanden sich auf der Insel Utøya, als Breivikam späten Nachmittag des 22. Juli dort eintraf. Der jüngsteTeilnehmer des Sommerlagers war 13 Jahre alt. Mehr als 200Schuss feuerte Breivik aus seinen Waffen ab. Neben all jenen,die er tötete, verletzte er 33. Vor Gericht sagte Breivik, erhabe gehofft, alle umbringen zu können. 10 Der perfide Aktkann nur deshalb nicht als Amoklauf bezeichnet werden,weil der Täter vor seinen Taten eine, wenn auch krude, politischeBotschaft – ein Europa frei von „Kulturmarxismus undIslamismus“ – hinterließ und vorgeblich aus politisch-destruktivenMotiven handelte. <strong>Die</strong>se Botschaft fand ihren Ausdruckin einem sogenannten, wegen der größeren Publizitätauf Englisch verfassten, meist plagiierten „Manifest“, welchesmehr als 1500 Seiten umfasst, und einem you-tube-Video, indem sich der Täter zum „Kreuz- und Tempelritter stilisiert“.Dachten erste, vorschnelle reflexhafte Einschätzungenunmittelbar ob der Kaltblütigkeit an einen Akt von al-Qaida 11 , stellte sich trotz der Behauptungen des Täters, ersei Teil einer Bewegung und obskuren Zelle, schnell heraus,dass er als Einzeltäter gehandelt hat. Unabhängig vom imProzess gegen ihn aufkommenden Gutachter- und Expertenstreitum seinen Geisteszustand zeigt sich ein rationalakribischesVorgehen, da er sich jahrelang, beim Schreibenund bei der intensiven Vorbereitung auf die Terrorakte, kühlberechnendvorbereitet hatte. Damit kann er als einer der ambesten dokumentiersten Massenmörder (in die Geschichte?)eingehen. Breivik wurde dann auch im einstimmigen Urteilvom 24. August 2012 nach einem zehnwöchigen Prozess4<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Der Einsame-Wolf Terrorist.als zurechnungsfähig erklärt und dementsprechend zurHöchststrafe von 21 Jahren mit anschließender Sicherheitsverwahrungverurteilt. Er war vor seinen Taten nicht strafrechtlich-polizeilicherfasst. Ein Verständnis vom Agierendieses Terroristen ist dabei essentiell, um für die Zukunft zulernen und präventiv wirken zu können. 12 Das gilt auch fürdie ausführliche ideologische Begründung der Tat – schonbei Adolf Hitlers „Mein Kampf“ weist die IdeengeschichtlerinBarbara Zehnpfennig nach, dass es sich dabei um ein insich logisches Gedankenkonstrukt handelt, das ebenfalls ersttheoretisch manifestiert, dann praktisch umgesetzt wurde. 13Im Fall „Breivik“ sind zudem Nachahmungstäter nichtausgeschlossen. 14Das Potential des „Einsamen-Wolf-Terroristen“ wirdinzwischen immens hoch eingeschätzt. US-Präsident BarackObama äußerte unter dem Eindruck der Ereignisse in Norwegenund auf Konsultation seiner Sicherheitsberater: „Therisk we’re especially concerned over right now is the lonewolf terrorist, somebody with a single weapon being able tocarry out wide-scale massacres of the sort that we saw in Norwayrecently. You know, when you’re got one person who isderanged or driven by a hateful ideology, they can do a lot ofdamage, and it’s a lot of harder to trace those lone wolf operators.”15 Der britische Geheimdienst machte im Einsamen-Wolf-Terrorismus die größte sicherheitspolitische Bedrohungfür die Olympischen Spiele 2012 aus. 16 Der folgendeBeitrag will anhand des „Lone-wolf-terrorism“-Konzeptesdiese Form des Terrorismus beleuchten und anhand des Falles„Breivik“ hinterfragen, was für Lehren aus dem Terrorismusdes norwegischen Falles gezogen werden können. Dabeigeht es einzelfallorientiert um Ursachen, Motive, Gefahrenpotentialeund eine mögliche Prävention.2. Einordnung des lone-wolf-Terrorismus2.1. Konzept<strong>Die</strong> konzeptionelle Beschäftigung mit dem Terrorismus iststark von inhumanen, perfiden und propagandistischen Aktionenabhängig. 17 Das mediale Weltereignis des 11. September2001 und weitere Anschläge im Dunstkreis von al-Qaidabewirkten ein starkes Forschungsinteresse am islamistischenFundamentalismus und die Möglichkeiten seiner Bekämpfung.Der deutsche Kontext ist stark vom Linksterrorismusder RAF beeinflusst, der im Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichtegesehen wird. 18 <strong>Die</strong> Spezifika dieser Terroristeneignen sich für Vergleiche, um die neuen Dimensionendes Terrorismus im 21. Jahrhundert auch mit Blick auf diepsychologischen Aspekte herauszuarbeiten. 19Terrorismus ist weitgehend ein Gruppenphänomen, dasdurch Interaktion von Personen oder Gruppen entsteht.Definitionen sprechen dann auch von terroristischen Akteuren(im Plural) und einer gewissen organisatorischen Befehlsstruktur.20 Auch die Suche nach einer international trag- undkonsensfähigen Terrorismusdefinition klammert individuellenTerrorismus per definitionem aus, bezieht Terrorismusauf substaatliche oder transstaatliche Gruppen. 21 Auch wennTerroristen in der Darstellung der Medien und der allgemeinenWahrnehmung häufig zunächst einmal einzelne Personen,die Exekutoren, sind, zielt eine nähere Betrachtungdirekt auf einen unmittelbaren terroristischen Gruppenhintergrund,einen Unterstützer- und Sympathisantenkreis. 22Der dem Terrorismus attestierte hohe Organisationsgradscheint den Einzeltäter nicht zu erfassen. So äußert der TerrorismusexpertePeter Waldmann: „<strong>Die</strong> planmäßige Vorbereitunggezielter Anschläge unter den schwierigen Bedingungendes Untergrunds, die Kalkulation des Schockeffekts – all diessetzt ein gewisses Maß an operativer Intelligenz voraus undgrenzt das Spektrum möglicher Akteure ein.“ 23<strong>Die</strong> häufige Exklusion des Alleintäters nimmt nicht wunder,da er rein statistisch eine quantité négligeable darstellt.Nicht einmal zwei Prozent aller terroristischen Anschlägegehen auf die Kappe des Einsamen Wolfes, wobei die Häufungder Fälle in den USA signifikant ist. Ideologisch gibtes ein breites Spektrum. 24 Nach herrschender Auffassung ist„der Terrorist“ also eine ideologische Person, die, mit einerhohen Gruppenkohärenz, in einer fest organisierten, arbeitsteiligenStruktur eingebunden ist. 25 „Rechtsterrorismus“ wiederumfirmiert als eine Sammelbezeichnung für einen Teilbereichdes „Terrorismus“, der im Namen ethnischer Identität,Reinheit und Überlegenheit einschlägige Gewalthandlungenvon Anschlägen gegen Einrichtungen bis zu Morden anMenschen begeht. Einsamer-Wolf-Terrorismus bezieht sichauf intendierte Akte, die von Personen begangen werden,welche1. individuell operieren;2. vorgeben, aus politischen Überzeugungen zu handeln;3. die nicht einer organisierten Terrorgruppe oder einemTerrornetzwerk angehören;4. die ohne direkten Einfluss eines Anführers oder einer irgendwiegearteten Befehls- und Gehorsamshierarchie handeln;5. dabei für die Propaganda, die kommunikative Verbreitungihrer extremistischen Ideologie selbst sorgen;6. deren Taktik und Methoden (modus operandi) umgesetztwerden von dem Individuum ohne direkten Befehl oderdirekter Führung von außen. 26Der Einsame-Wolf-Terrorismus ist das Produkt der Selbstradikalisierungeines Individuums, die von einer im Einzelfallzu gewichtenden Mixtur aus persönlichen Kränkungen undpolitisch-ideologischen Motiven ausgelöst wird. Im Unterschiedzum Amoklauf ist der Einsame-Wolf-Terrorismuspolitisch motiviert. Es kann hier gleichwohl gewisse Überschneidungengeben, wenn der Terrorismus im öffentlichenRaum stattfindet, wahllos Menschen tötet und dabei völligemotionslos agiert. Der Amokläufer bringt in einem willkürlichenAkt jedes Opfer einzeln aus unmittelbarer Nähe undnacheinander um. <strong>Die</strong> Psychiaterin Nahlah Saimeh machtden Unterschied deutlich: „Während es Amoktätern oft umRache oder Kränkung geht, entwickeln politische Mörderhäufig ein bizarres, pathologisches Gerechtigkeitsempfindenmit einem aggressiven Gewissen für richtig oder falsch.Das stützt das fragile Selbstwertgefühl wie eine Prothese.“ 27Mitunter haben die Attentäter politische Botschaften hinterlassen,mitunter aber auch nicht. Vieles bleibt manchmalauch unklar. Terroristen handeln auf Grundlage fest gefügterÜberzeugungen, denen sie durch Terror Wirkung verleihenwollen. <strong>Die</strong> (kommunikative) Botschaft ist dabei wichtigerals die Tat(en) selbst.Auch Breivik hatte auf der Insel neben den Jugendlicheneine prominente Vertreterin der Politik im Visier, die er alsSymbol des Multikulturalismus ausmachte. Im Verhältnis zuseinen ursprünglichen Plänen hatte er sich verspätet, was derlangjährigen Ministerpräsidentin Norwegens, Gro HarlemBrundtland, die dort am frühen Vormittag auf der Insel einenVortrag gehalten hatte, wahrscheinlich das Leben rettete.Brundtland hatte aber die Insel wenige Minuten vor BreiviksAnkunft verlassen. Lee Harvey Oswald, Attentäter auf denUS-Präsidenten John F. Kennedy am 22. November 1963,wurde kurz nach seiner Tat ebenfalls ermordet, so dass offenerRaum für Spekulationen, Verschwörungen und größerePolitisch motivierte Kriminalität<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>5


Der Einsame-Wolf Terrorist.Politisch motivierte KriminalitätKomplotttheorien bleibt. Oswald leugnete die Tat; wegendes fehlenden Propagandahintergrunds kann er nicht als Terroristbezeichnet werden. Volkert van der Graaf, Attentäterauf den niederländischen rechtspopulistischen Politiker PimFortuyn in dessen Wahlkampf für die Parlamentswahl 2002,galt als militanter Umwelt- und Tierschützer; er hatte eindirektes politisches Motiv. Er gab an, seine Tat im Alleinganglänger vorbereitet zu haben und Muslime schützen zu wollen– als Ziel war Fortuyn ausersehen, der für seinen Antiislamismusbekannt war. Der Täter kann daher als Einsamer-Wolf-Terrorist bezeichnet werden.Nicht immer ist klar, ob sich hinter Attentaten auf Politikernein politisches Motiv verbirgt. Der Amerikaner TimothyJames McVeigh fällt auch nicht unter diese Definition,obwohl er immer wieder als Lone-wolf-Terrorist apostrophiertwird. 28 Er verübte im Jahr 1995 den Bombenanschlagauf das Murrah Federal Building in Oklahoma City, in dessenFolge 168 Menschen starben. 1997 wurde er für diese Tat verurteiltund 2001 hingerichtet. McVeigh hatte einen Mittäter,der ihm bei der Vorbereitung entscheidend half und „eingeweiht“war. Der Bombenleger von München, Gundolf Köhler,der am 26. September 1980 durch eine Bombenexplosion13 Menschen getötet und über 200 zum Teil schwer verletzthat, entstammte dem rechtsextremistischen Studentenmilieu.Zeitweilig hatte er Kontakte zur im Januar 1980 verbotenen„Wehrsportgruppe Hoffmann“ – ein Zusammenschluss hundertermilitanter Rechtsextremisten – gepflegt und an Übungenteilgenommen, weshalb seine Alleintäterschaft fraglichist. 29<strong>Die</strong> Bezeichnung „Lone-Wolf-Terrorism“ wurde von US-Behörden eingeführt und popularisiert. Sie geht zurück aufden militanten weißen Rassisten Alex Curtis, der Ende der1990er-Jahre Gleichgesinnten empfahl, ganz auf sich gestelltAnschläge zu begehen. Immer wieder spielt dabei die Assoziationdes Begriffs eine Rolle – der Wolf, der das Rudelverlassen hat. Einsamer Wolf wird immer wieder synonymfür Eigenbrötler, Einzelgänger, Individualist, Außenseiter,Underdog und Einzelkämpfer gebraucht, 30 in gewisser Weiseauch im Gegensatz zu einem Teamplayer oder Rudelführer.Nicht umsonst spielen narzisstische Persönlichkeitsmusterbei dieser Form des Terrorismus eine besondere Rolle. <strong>Die</strong>Assoziation eignet sich auch deshalb, weil der Terrorist jahrelangunauffällig inmitten der Gesellschaft lebt, auf einmalin Aktion tritt und terroristisch handelt. Wichtiges Merkmalder Einsamen Wölfe scheint zu sein, dass sie eine Phase dereigenen Radikalisierung, die sie mitunter im stillen Kämmerlein,neuerdings via Internet und soziale Medien, erfahren.Isoliert vom Gros der Gesellschaft scheinen sie ihre Tatenprofessionell, gar minutiös planen zu können. Im virtuellenZeitalter besteht verstärkt die Befürchtung, dass die unterschiedlichenExtremismen in Zukunft gestärkt durch dasInternet wesentlich loser agieren, Individuen auch durchpraktische Anleitungen und ideologisch-fanatisches Materialim Internet zu Terroristen mutieren und somit die „Propagandader Tat“ zunimmt. Mitunter wird das Internet als„Jagdgebiet der einsamen Wölfe“ ausgemacht. 31Der Einsame-Wolf-Terrorismus steht in begrifflicher Verwandtschaftmit dem Konzept der Leaderless Resistence(führerloser Widerstand), die Anschlagplanung durch kleine,unabhängige und im Alltag unauffällige Zellen, wie offenbartrotz mancher Auffälligkeiten und Spuren im Falle desso genannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU).Leaderless Resistence verzichtet auf zentrale Kommandostrukturen,setzt hingegen auf bewegliche Kleinstgruppenmit einem hohen Maß an Planungsautonomie und Flexibilität.Das propagierte Zellsystem basiert auf Zellen, die trotzeines notwendigen gemeinsamen Ziels unabhängig voneinanderoperieren. Das gilt auch für die Anschlagziele, die an verschiedenenOrten durchgeführt werden. Louis Beam prägteals Aktivist des Ku-Klux-Clan Anfang der 1980er Jahre miteinem Essay diesen Begriff, der in „NS-affinen Szenen“die Bildung von Terrorzellen auch weiterhin stimulierenkönnte. 32 Wichtige Schlüsselmerkmale zur Analyse terroristischenHandelns können auch auf den Einsamen-Wolf-Terrorismusangewandt werden: Gewaltstrategien, Durchsetzungpolitischer Ziele, mediale Perzeption, Schaffung eines Klimasvon Angst sowie ein Agieren aus dem Untergrund.2.2. Historisch-empirische ReferenzpunkteAls Referenzpunkt für viele Arten von Terrorismus, aberauch für den Einsamen-Wolf-Terrorismus gilt der russischeAnarchismus um Mikhail Alexandrowitsch Bakunin (1814 –1876) im 19. Jahrhundert mit dem Konzept „Propagandader Tat“, das im 19. Jahrhundert in diesen Zirkeln entwickeltwurde. Solange der Boden für den finalen Umsturz nochnicht bereitet sei, müsse eben nicht eine hierarchisch strukturierteGroßorganisation agieren, sondern ein Individuumoder eine kleine Gruppe mit Gewaltakten die verzweifelteLage der Ärmsten entschlossen kundtun. 33So genannte „utopische Sozialisten“ glaubten, Russlandkönne unter Umgehung des Kapitalismus durch eine Bauernrevolutionzum Sozialismus kommen. Ihr Ziel wolltensie hauptsächlich mit den Mitteln des individuellen Terrorserreichen. Lenin sah in ihnen grundsätzlich eine Legitimation,lehnte aber ebendiesen individuellen Terror ab. 34 WalterLaqueur sieht in dieser politischen Aktion zwei Dimensionenerfüllt: Erstens wird die intendierte Botschaft verstärkt,zweitens ein Machtanspruch zum Ausdruck gebracht, derim terroristischen Akt hervortritt. 35 <strong>Die</strong> Geschichte des individuell-solitärenTerrorismus zeigt, dass der Einsame Wolfseine Taten mit ganz unterschiedlichen Grundideologienbegründet. Anarchistische Revolutionäre, religiöse Fanatikerwie islamistische Fundamentalisten, radikale Umwelt- undTierschutzaktivisten, rassistische Gläubiger einer „weißenÜberlegenheit“ und Rechtsterroristen im Allgemeinen verübtenTerrorakte.Theodore („Ted“) John Kaczynski, ein US-amerikanischerMathematiker und Bombenleger, handelte als Einsamer-Wolf-Terrorist.Im Zeitraum von 1978 bis 1995 soll er16 Briefbomben an verschiedene Personen in den USA verschickthaben, wodurch drei Menschen getötet und weitere23 verletzt wurden. Bevor seine Identität bekannt wurde,bezeichnete man ihn als Unabomber (university and airlinebomber), da die Bomben vornehmlich an Universitätsprofessorenund Vorstandsmitglieder von Fluggesellschaftengeschickt wurden. Ab 1970 lebte der Terrorist in den Bergenvon Montana in einer kleinen, selbst gebauten Holzhütte,nachdem er sich von der viel versprechenden Universitätskarrierean einer Eliteuniversität, später vom zivilisiertenund sozialen Leben verabschiedet hatte. 1995 verschickteKaczynski anonym ein 35.000 Wörter langes Manifest mitdem Titel <strong>Die</strong> industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft(Industrial Society and its Future) an verschiedene Adressatenmit dem Angebot, die Bombenattentate zu beenden, fallsdieser Text in einer bekannten Zeitung veröffentlicht würde.Am 19. September 1995 veröffentlichten The New YorkTimes und die Washington Post das Manifest, um Hinweiseauf den Täter zu bekommen. Nach dem Zeitungsabdruck6<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Der Einsame-Wolf Terrorist.des Manifests erkannte Teds jüngerer Bruder David darinden Schreibstil seines Bruders und verständigte nach eigenenErmittlungen die Behörden. Darin schildert Kaczynski,warum er der Menschheit wünscht, die Technisierung derGesellschaft möglichst bald zu überwinden. 36Ein lone-wolf-Rechtsterrorist war der Österreicher FranzFuchs. 37 Vier Jahre, von 1993 bis 1997, hielt der fremdenfeindlichmotivierte Täter die Republik Österreich mitzahlreichen Brief- und Rohrbomben in Atem. Hinter derBajuwarischen Befreiungsarmee, angeblich Drahtzieher derBriefbomben, verbarg sich der offenbar geistig verwirrte 38Einzeltäter Franz Fuchs. Fuchs war entgegen vieler Mutmaßungen,ein neues rechtsextremistisches Netzwerk operiere,ohne soziale Kontakte und gänzlich ohne Verbindungenzu einschlägig bekannten Organisationen und Personen– also ein klassischer „Einsamer Wolf“. Auch mit politischenÄußerungen trat Fuchs, in eigenen Worten „Patriot“, nichtin Erscheinung. <strong>Die</strong> mit breiten historischen Diskursenangereicherten Bekennerschreiben indizierten allerdings einedeutschnationale und minderheitenfeindliche, insbesondereantislawistische und antitürkische Gesinnung. In den Bekennerschreibenbefanden sich zudem deutschnationale Versatzstückesowie die Ablehnung der Zweiten Republik, besondersder parlamentarischen Institutionen und des Justiz- undSicherheitsapparats. 39<strong>Die</strong> Bombenanschläge richteten sich vornehmlich gegenMigranten, Angehörige von Minderheiten und Repräsentanten,die sich in diesem Bereich engagieren. Vier Roma starbenam 5. Februar 1995 durch eine Rohrbombe, nachdemsie versucht hatten, das am Rande einer burgenländischenRoma- und Sintisiedlung aufgestellte Schild „Roma zurücknach Indien“ zu entfernen. 15 Menschen, darunter der WienerAltbürgermeister Helmut Zilk, wurden bei den Anschlägenzum Teil schwer verletzt. Weitere 25 Briefbomben konntenrechtzeitig entdeckt werden, was eine größere Opferzahlverhinderte. Bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolleam 1. Oktober 1997 zündete Fuchs eine Rohrbombe, weiler glaubte, man hätte ihn, unter dem Eindruck einer breitöffentlichgeführten Diskussion um die Rasterfahndung undMittel, den Täter zu finden, entlarvt. Schon vorher hatte ersich in einen Verfolgungswahn gesteigert. Mit dem Suizidversuchtrennte er sich beide Hände ab und verletzte die Beamten.40 Er wurde festgenommen und im <strong>März</strong> 1999 schließlichzu lebenslanger Haft verurteilt. Am 26. Februar 2000 begingFuchs, zu lebenslanger psychischer Verwahrung verurteilt,Selbstmord in der Zelle.3. Neue Dimension durch Anders Behring BreivikDurch Breivik hat der Einsame Wolf Terrorismus eine neueDimension erfahren, die sich kaum nachvollziehen lässt.Durch seine ausführliche Begründung der Taten geht er alseiner der „schlimmsten, aber am besten dokumentierten Massenmörderin der Geschichte“ 41 ein. Eine wissenschaftlicheAnnäherung kann durch verschiedene, schwer zu gewichtendeFaktoren und Indikatoren erfolgen. Diskutabel sindpersönliche Kränkungen, Narzissmus und Selbststilisierung,eine Phase der Radikalisierung, die Rolle des Internets, dasAbfassen des Manifests, ein Prozess der Entmenschlichung,Selbstisolierung und Entemotionalisierung, das Agierenwie ein aufgeputschter Amokläufer und die Entzauberungim Gerichtsprozess. Der Terrorist wurde mit vielen Labelsassoziiert 42 :ffchristlicher Fundamentalist (Selbstbezeichnung bzw.-überhöhung),ffkonservativer Revolutionär (Selbstbezeichnung als Widerspruchin sich),ffmittelalterlicher Kämpfer oder antimodernistischer Terrorist(Selbststilisierung als Tempelritter),fferster antiislamistischer Terrorist in Europa oder Repräsentantdes europäischen Antiislamismus (wegen seinesanschlussfähigen Hasses auf dem Islam),ffTerrorist 2.0 (wegen seiner Affinität zum Internet, Blogsund virtuellen Kriegsspielen),ffcopy-paste- oder wikipedia-Terrorist (wegen der mehrheitlichenPlagiate im „Manifest“ und der Referenz wikipedia,in den Worten Breiviks die wichtigste Inspirationsquelle),ffRechtspopulist (wegen seiner kurzzeitigen Mitgliedschaftin der Jugendorganisation der norwegischen rechtspopulistischenPartei),ffRechtsextremist (wegen seiner menschenfeindlichen,demokratiefeindlichen Anschauungen)ffeinfach als Psychopath (Gesamtbild, teilweise auch gutachterlicheExpertise im Vorfeld des Gerichtsprozesses).3.1. Verbindungslinien zum Rechtspopulismus und -ex -tremismusBreiviks Terrorismus hatte eindeutig einen starken politischenHintergrund. Zu seinen Opfern zählten Jugendlicheaus der ihm verhassten sozialdemokratischen Partei. Wieandere Einsame-Wolf-Terroristen oder Attentäter wollte erauch die langjährige Ministerpräsidentin Norwegens, GroHarlem Brundtland auf der Insel ermorden. Er selbst sprachimmer wieder davon, dass ihm zahlreiche Politiker aus ideologischenGründen verhasst sind. <strong>Die</strong>ser Umstand legt esnahe, Breivik in politische Kategorien zu orten. BernhardSchmid sieht in „Distanzieren, leugnen, drohen. <strong>Die</strong> europäischeextreme Rechte nach Oslo“ durch den inhumanen Aktvon Breivik eine Zäsur innerhalb der extremen Rechten inEuropa. Seine Bemühungen, Brevik als Teil eines Netzwerks,auch etwa innerhalb der Freimaurer darzustellen, überzeugenindes nicht, sind gar mitunter selbst verschwörungstheoretischund bereichern sachliche Forschung im Bereichvon terroristischen Netzwerken nicht. 43 Breivik war einstJungfunktionär der norwegischen Fortschrittspartei. Er waraus der Partei ausgetreten, da sie ihm zu moderat schien. Imeuropäischen Vergleich ist die immigrationsfeindliche Fortschrittsparteiweit weniger radikal als etwa Front national,FPÖ oder Vlaams Belang. Rassistische Untertöne weist sienicht auf. Breiviks „Manifest“ passt auch entgegen der Meinungeiniger Beobachter 44 überhaupt nicht zur rechtspopulistischenProgrammatik. Obwohl Breivik im Manifest nebenvielen anderen, auch aus dem Internet kopierten Verweisenauf die Erfolge rechtspopulistischer Parteien und ihren Antiislamismusrekurriert, wäre es nicht fair, eine direkte Verbindungsliniezu ziehen.Breivik sieht Europa vor dem Untergang, ausgelöst werdedie Katastrophe durch eine marxistisch-muslimische Konspiration,die durch einen „reinigenden Bürgerkrieg“ bekämpftwerden müsse. <strong>Die</strong>s ist eine gerne verwandte These vonkontra-jihadistischen Verschwörungstheoretikern. Breivikbediente sich etwa der Gedanken von Gisele Littmann, einerbritische Autorin und spricht immer wieder von Eurabien.Unter ihren Pseudonymen Bat Ye’or (Hebräisch: „Tochterdes Nil“) und Yahudiya Masriya publizierte sie mehrereBücher, in denen sie sich mit der Geschichte des Islams imNahen Osten auseinandersetzt und vor einer „Islamisierung“Europas warnt, in deren Folge die Region zu einer islamischarabischenKolonie – von Littman als „Eurabien“ bezeichnetPolitisch motivierte Kriminalität<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>7


Der Einsame-Wolf Terrorist.Politisch motivierte Kriminalität– verkäme. Sie behauptet in ihrem verschwörungstheoretischangereicherten Buch Eurabia: The Euro-Arab Axis, dass diepolitischen Eliten der Europäischen Union spätestens seit1973 systematisch auf die Verschmelzung Europas mit derarabischen Welt hinarbeiteten und dabei eine „Islamisierung“Europas und die Vernichtung Israels zumindest billigend inKauf nähmen. 45Breivik nimmt im Manifest häufig Bezug auf die britischeantiislamische English Defence League (EDL) – er gab vor,in einem norwegischen Ableger als einer der Gründungsväterinvolviert zu sein, sich seines Netzwerks zum britischenNetzwerk rühmend. Vor Gericht bestritt er aber den Kontaktzur EDL. 46 <strong>Die</strong> EDL entstand im Jahr 2009 in einemLondoner Vorort, wo es zu häufigen Konflikten zwischender Mehrheitsbevölkerung und einer eingewanderten muslimischenMinderheit, inklusive militanten-islamistischenGruppierungen gekommen war. <strong>Die</strong> Liga, finanziert voneinem islamophoben Millionär, rekrutiert sich aus Fussballhooligansund Anhängern der britischen RechtsaußenparteienBritish National Party (BNP) und der United KingdomIndependence Party (UKIP). <strong>Die</strong> EDL hat keine formaleMitgliedschaft und ist stark im virtuellen Raum aktiv. IhrGründer Paul Ray ist ein angeblich religiös motivierter Skinhead,der die EDL gegründet hat, aber jetzt auf Malta „imExil“ lebt, wo er eine antimuslimische Gruppe namens TheAncient Order of the Templar Knights anführt. Breivik hatdiese Bezeichnung für seine eigenen Tempelritterphantasienübernommen. Ray, der mit Breivik direkten online-Kontakthatte, äußerte aber, Breivik sei ein Einzelgänger ohne organisatorischenÜberbau gewesen. <strong>Die</strong> von Breivik behauptetenkonspirativen Geheimtreffen hätten nicht stattgefunden. 47Auch das Gericht fand keine Indizien für „Tempelrittertreffen“mit Breivik.Breivik muss unter dem Blickwinkel eines isolierten Terroristenbetrachtet werden, nicht als Anhänger einer Bewegung,zu dem er sich ähnlich wie Franz Fuchs als typisches terroristischesPropagandainstrument stilisierte. <strong>Die</strong> rechtspopulistischenParteien distanzierten sich nach Breiviks Massakervon dem „Werk eines aus dem seelischen Gleichgewichtgebrachten Einzelnen“, wie der französische Front Nationalerklärte. Sie wiesen all jene zurück, „die mit Terror, Angstmacherei,mit Gewalt und dem Aufruf zur Gewalt agieren“(Dänische Volkspartei), und betonten, dass der „Widerstandgegen die multikulturelle Idee keinem Aufruf zur Gewaltgleichkomme“ (Geert Wilders’ niederländische Partei für dieFreiheit). 48 Generell lässt sich kein Zusammenhang zwischender Stärke von rechtspopulistischen Parteien und der Anzahlrechtsextremistischer Gewalttaten nachweisen. In Deutschlandetwa ist letztere hoch, obgleich es keine nennenswerterechtspopulistische Partei gibt. Breivik passt mit seinemTraum von einem mittelalterlichen Barbarentum auch nichtin das klassische rechtsextremistische Gedankengebäude.<strong>Die</strong>ses basiert mitunter auf dem Germanentum, nicht auf mittelalterlicheKreuzzugsideen. Auf obskure Weise wünscht ersich als angeblich christlich-fundamentalistischer Tempelritterdas Mittelalter zurück, wendet sich stark gegen den vermeintlichen„Kulturmarxismus” in Europa nach 1945 unddie vermeintliche „Massenimmigration durch Islamisten”.Der Terrorist gibt im Selbstinterview an, die größten Staatsmännerseien Otto von Bismarck und Winston Churchillgewesen.Breivik ist auch im Unterschied zu vielen Rechtsextremistenkein Antisemit, sondern proisraelisch und nicht antiamerikanischeingestellt. Der Terrorist zeigt einen richtigenKult für den Staat Israel und dessen militärische Kräfte. Dementspricht auch seine große Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus:„Wenn es eine Figur gibt, die ich hasse, istes Adolf Hitler“ schreibt er, und fantasiert über Zeitreisen,um in die Vergangenheit zurückzukehren und ihn zu töten.Hitler selbst bezeichnet er als schlimmen Massenmörder. ImJudentum sieht Breivik das sicherste Bollwerk gegen denIslam. Breivik meldete sich in einem Internetforum für Neonazisan, aber offensichtlich nur mit der Absicht, diese zuüberzeugen, dass zwar einige Ideen des Führers zum Volkstumrichtig waren, aber dass sein größter Fehler gewesen sei,nicht zu verstehen, dass die reinsten und edelsten Vertreterdes Westens Juden sind, und wenn der Nationalsozialismusschon jemanden auslöschen wollte, so hätte er sich imNahem Osten gegen die Moslems wenden müssen. 49Im Manifest schreibt der Terrorist auch: „Ein Multikulturalistist genauso schlecht wie ein Nazi, der wiederumgenauso schlecht ist wie ein echter Moslem, Kommunist oderFaschist.“ Der Nationalsozialismus, der Kommunismus undder Islam sind für Breivik drei Seiten ein und derselben antiwestlichenDoktrin, und alle drei sollten laut ihm verbotenwerden. Offenbar passt Breivik hier, wie auch der österreichischeRechtsterrorist Franz Fuchs, in das Schema desEinsamen-Wolf-Terroristen: <strong>Die</strong>se „erschaffen ihre eigeneIdeologie, welche breitere politische, religiöse oder sozialeAnliegen mit persönlichen Aversionen, Frustrationen undKränkungen kombiniert.“ 50 Er passt daher nicht in klassischepolitische Kategorien von Faschismus, Rechtsextremismusoder Neonationalsozialismus. Breivik will provozieren, etwamit seinem rechtsextremen Gruß, ein ausgestreckter rechterArm mit geballter Faust an den ersten Gerichtstagen und amTag der Urteilverkündung, dem 24. August 2012. Sein Weltbildoffenbart manichäisch-menschenfeindliche Züge, indenen strikt zwischen gut und böse unterschieden wird. DasGericht attestierte in der Urteilsverkündung Breivik habezwar einen „fanatischen Geisteszustand“, der aber „politischmotiviert“ sei. Das Gericht war der Meinung, dass derAngeklagte keine Zwangsvorstellungen im klinischen Sinnehatte. 513.2. Verbindungslinien zu terroristischen MusternBreiviks Ideenklau im Manifest legt nahe, nach Bezugspunkteninnerhalb des Terrorismus zu fahnden. Wie stark seinWunsch nach einem Andocken an andere Terroristen, Massenmörderund Amokläufer ist, zeigt sein Brief aus der Haftan Beate Zschäpe, Teil des Nationalsozialistischen Untergrundes(NSU). Ebenfalls schrieb er an den mutmaßlichenHeckenschützen von Malmö, Peter Mangs, mit zahlreichenSchüssen aus dem Hinterhalt. Zwei seiner Mord-Opferwaren Einwanderer, ein drittes Todesopfer war eine jungeSchwedin, die neben einem Einwanderer saß. Breivik sprichtauch in Haft davon, ein Netzwerk von Gleichgesinnten aufbauenzu wollen, sucht – so makaber es klingen mag – Brieffreundschaftenmit Terroristen. 52Breiviks äußerte im Manifest den Wunsch, den mutmaßlichenbosnisch-serbischen Kriegsverbrecher RadovanKaradžić kennenzulernen. Der in Den Haag angeklagte Serbenführerwurde von Breivik wegen seiner Bemühungen,Serbien „vom Islam zu befreien“, als ehrenhafter „Kreuzritterund europäischer Kriegsheld“ beschrieben. Im „Manifest“machte er immer wieder Andeutungen auf eine größere antiislamischeund anti-multikulturalistische Bewegung, prahltmit angeblichen Geheimtreffen zwischen ihm und weiterenGesinnungsgenossen. Das meiste lässt sich kaum überprüfen,8<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Der Einsame-Wolf Terrorist.Etikettierung Breiviks als Rechtsextremisten, höchstens alsRechtsterroristen mit ausgeprägtem kulturellem Fremdenhassbesonders gegenüber dem Islam führen darf. Gleichwohlgibt es manche Berührungspunkte, etwa die Anschuldigung,dass „Kulturmarxisten“ die politische Korrektheitverursacht haben.Im Rechtsterrorismus ist es üblich, dass der ideologischeGegenpart bekämpft wird. Von „rechts“ politisch motivierteGewaltkriminalität wird häufig als Problem der intellektuellminderbegabten Jugendlichen mit pathologischen Störungendes Sozialverhaltens diagnostiziert. 64 Breivik ist sicherlichkein Intellektueller, doch war er in der Lage, eine komplex-wirreund doch rational begründete politische Botschaftzu hinterlassen, zu der es trotz der Plagiate einiger (großer)Anstrengung bedurfte. <strong>Die</strong>s ist entscheidend dafür, dass Breivikim Urteil vom 24. August 2012 als politischer Extremistverurteilt wurde und nicht als geistig gestörter Fanatiker. <strong>Die</strong>Entscheidung des Gerichts ist nicht nur im Sinne des Angeklagten,der von Anfang an auf seine Schuldfähigkeit gepochthatte und der das Urteil dann auch mit einem Lächeln entgegennahm.Es erfüllt Breiviks Bedürfnis, sich selbst als „politischerGefangener“ fühlen zu dürfen. Er entschied, bei dieserEntscheidung nicht in Berufung zu gehen (ebenfalls wie dieStaatsanwaltschaft).Paradoxerweise hofften Täter und Opfer(angehörige) aufdasselbe Urteil, während die Staatsanwaltschaft auf „imZweifel nicht-schuldig“ plädierte und ihn für unzurechnungsfähigmit der Folge einer Einweisung in die Psychiatrieerklären wollte. Der Täter erklärte zuvor, letzteres seischlimmer als der Tod. Das macht ihn zum politisch bewegtenFanatiker. <strong>Die</strong>s mag auch die Staatsanwaltschaft bewegthaben, im „begründeten Zweifel an der psychischen Gesundheitdes Angeklagten“ auf schuldunfähig zu plädieren. 65 DasGericht begründete die Entscheidung wie folgt: „Uns stehenzwei Gutachter-Gruppen mit zwei qualitativ unterschiedlichenDiagnosen gegenüber. Wo die Sachverständigen Husbyund Sørheim psychotische Zwangsvorstellungen finden, sehendie Sachverständigen Aspaas und Tørrisen extreme politischeAuffassungen [...]. Das Gericht hat die Möglichkeit erwogen,dass es der Angeklagte geschafft hat, seine eventuellen psychotischenSymptome zu verbergen. <strong>Die</strong> Beweisführung währenddes Prozesses stützt dies aber wenig. […] Was die Interpretationder Sachverständigen Husby und Sørheim von denübrigen unterscheidet, ist vor allem ihr Versäumnis, die extremenAussagen des Angeklagten im Licht der rechtsextremenSubkultur zu betrachten, der er anzugehören behauptet.“ 66Oftmals existiert die Annahme, der Terrorismus korrelieremit dem politischen Entwicklungsstand eines Landes:Je demokratischer, rechtsstaatlicher, sozial gerechter einGemeinwesen sei, desto besser sei es gegen terroristischeAngriffe aus der eigenen Gesellschaft gefeit. Im Fall „Breivik“trifft das nicht zu. Norwegen ist ein wohlhabendesLand, mit einer funktionierenden Demokratie und ohne größereImmigrationsprobleme oder soziale Spaltungen. AndersBehring Breivik hatte vor Gericht ausgesagt, dass er zurWaffe gegriffen habe, weil die politisch korrekte norwegischeGesellschaft seine Meinung und die anderer Radikaler ausgrenzeund somit keine wirklich demokratische Gesellschaftsei.Bei dem Massenmörder Breivik fällt auf, wie stark virtuelleRäume und das Internet an sich zu böswilligen Zweckengenutzt werden können. Der Täter stand in Kontaktmit anderen Menschen, nicht physisch, aber virtuell, voneinem kleinen Zimmer bei seiner Mutter aus. Auf der Inselagierte er wie einer seiner Helden im Gewaltspiel oder wieer sich selbst sieht, als Gladiator (einer seiner Lieblingsfilmeauf Breiviks Facebook-Seite). Eine Diskussion um geistigeBrandstiftung durch Internet, Blogs und Gewaltspiele liegtdaher nahe und muss geführt werden. <strong>Die</strong> Lehren aus demFall „Breivik“ sind folgende:ffNarzissmus und persönlicher Misserfolg;ffSelbstradikalisierung ohne polizeiliche Auffälligkeit;ffMinutiöse Planung theoretisch und praktisch in jahrelangerEigenregie (im Manifest auch detaillierte Pläne zu denterroristischen Ausführungen);ffhohes Maß an operativer Intelligenz (Umsetzung an zweiverschiedenen Orten; perfide Verkleidung als Polizist aufder Insel etc.);ffungeachtet der anormalen und antisozialen Persönlichkeitsstrukturrationales Vorgehen;ffgezielte Entemotionalisierung;ffMassaker als geplantes und gezieltes Ermorden;ffAufbau einer eigenen virtuellen Wahn- und Parallelweltmit exzessiven Internetaktivitäten;ffGeistiger Nährboden durch den grassierenden europäischenAntiislamdiskurs im Sinne eines bösartig interpretiertenund missbrauchten „Kampf der Kulturen“;ffAufbau einer individualisierten Kränkungsideologie, dienur schwer in ein Schema passt;ffVersuch, sich selbst mit vielen Labels in Szene zu setzen(christlicher Fundamentalist, Tempelritter etc. sowie einAndocken an rechtspopulistische und rechtsextremistischeOrganisationen, ohne wirklich dazuzugehören; Märvon politischen Zellen);ffSelbststilisierung des Täters zum Retter „gegen Entmarxismus“und Islamismus;ffPropagandistischer „Feldzug“ und Andocken an das Böseals terroristische Kommunikationsstrategie mit dem Zieleiner Unterstützungsgemeinschaft;ffPropagandistisches Ziel, als Ein-Mann-Zelle in einemangeblichen Zellsystem neue Zellen zu inspirieren mitdem Fokus auf die im „Manifest“ dargelegten Ziele;ffGrenzenloser Fanatismus (immer wieder spricht der Täterdavon, dass er noch gerne mehr gemordet hätte, auch inseinem abgebrochenen Schlussplädoyer am 24. August2012);ffTerrorismus unabhängig vom Zustand des Landes(Norwegen als Wohlstandsdemokratie ohne größereImmigrationsprobleme).Anders Behring Breivik kann auch als Produkt des besondersvirtuell grassierenden europäischen Antiislamdiskurses gesehenwerden. Einsame-Wolf-Terroristen basteln sich dennochnatürlich als Spiegel der gesellschaftlichen Paradigmata ihrDenkgebäude selbst zusammen, das persönliche Frustrationenund eigene Konstruktionen einschließt. Ihre Botschaftensind dann fanatisch-paranoide Kränkungsideologien. Geradedeshalb lassen sich politisch motivierte Einzeltäter untereinanderweitaus besser vergleichen. Breiviks Behauptung, Teileiner fingierten Gruppierung zu sein, lässt etwa Parallelen zuFranz Fuchs, wie er ein Rechtsterrorist, zu, der ebenfalls dieExistenz einer imaginären Organisation behauptete. Vielesist aber auch allein durch die für Einsame-Wolf-Terroristenunübliche Quantität des Mordens neu.Offenbar kann der Kleinzelltäter eine freiheitliche Gesellschaftbis ins Mark erschüttern. Gerade deshalb ist dieseKategorie als Phänomen sui generis innerhalb des Terrorismuszu betrachten, nicht als ein analytisch zu vernachlässigenderSonderfall des Terrorismus. Politik, Behörden undPolitisch motivierte Kriminalität<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>11


Ku-Klux-Was?KriminalitätsphänomeneStrafrechtliche und strafprozessuale Probleme undNotwendigkeitenWie lässt sich die im Geheimen und nicht selten in vollkommenerAbgeschlossenheit stattfindende, Rituelle Gewaltverhindern, wie lässt sie sich erkennen und wie wirksam(er)bekämpfen? Zunächst sollte klar sein, dass es viele Ursachengibt, die auch professionell mit der Bearbeitung von Hinweisenund Verdachtsfällen (rituell begangener) GewalttatenBeauftragte davon abhalten (können), sich dem Phänomenund Problem zu nähern und sich des jeweiligen Geschehensanzunehmen.Hinderungsgründe und Gründe, auch für ein mögliches,polizeiliches Ignorieren, Tabuisieren oder Falschinterpretierenvon Hinweisen und von Verdacht auf Rituelle Gewaltkönnen zum Beispiel darin begründet sein,ffdass sie aus Unerfahrenheit in diesem Bereich, verbundenmit Schulungsdefiziten, schlichtweg nicht als solcheerkannt werden oder aber als zu abenteuerlich angesehenund als irreal abgetan werden,ffdass es noch keine (international) einheitliche Definitionvon „Ritueller Gewalt“ gibt (sie wird in Deutschland auchin professionellen Bereichen zumeist mit dem Satanismusverbunden oder ihm gleichgestellt), was zu Fehlinterpretationenführen und Argumente für ein Ignorieren, Wegsehenund Schweigen liefern kann,ffdass es aus Gründen der Nichterfassung und eines extremhohen Dunkelfeldes keine statistischen Zahlen gibt, wasfälschlicherweise zu dem Schluss führen kann, dass esRituelle Gewalt nicht gibt,ffdass es für den (kriminal-)polizeilichen Ermittler undSachbearbeiter im Gegensatz zu den strafrechtlichen Tatbestandsmerkmalenkein primäres sondern allenfalls einsekundäres Kriterium darstellt, ob eine Tat in rituellerbegangen wurde oder nicht,ffdass nachweislich vielen, auch sehr plausiblen Hinweisenund Verdachtsmomenten auf rituelle Gewalt kein realesGeschehen zugrunde liegt und dass sie sich bei polizeilichenErmittlungen häufig nicht bestätigen (die Gründehierfür sind unterschiedlich, nicht selten jedoch in einermultiplen Persönlichkeitsstörung des jeweiligen Hinweisgebersoder Zeugen zu sehen – falsche Angaben erfolgenalso nicht vorsätzlich sondern beruhen auf verzerrtenErinnerungen, was wiederum auf eine vorausgegangeneTraumatisierung oder auf gezielte Manipulationenzurückzuführen sein kann),ffdass Opfer ritueller Gewalt aus ihrem Schicksal herausüberhaupt nicht auf die Idee kommen (sollen und dürfen),eigenständig und ermächtigt zum Erheben von Ansprüchenoder einer Anklage zu sein und dass sie aufgrundentsprechender Einflüsse zumeist auch nicht in der Lagesind, sachgerechte und verwertbare Aussagen zu machen.Solche Gründe für ein Ignorieren oder Falschbeurteilen einesentsprechenden Hinweises oder Verdachts zur Kenntnis zunehmen und bei der Beurteilung eines Verdachts oder Sachverhaltszu berücksichtigen, ist ein erster, wichtiger und nichtselten entscheidender Schritt zum Erkennen, Verhindern undAufklären von Ritueller Gewalt.Doch selbst wenn ein Verdacht oder Hinweis auf RituelleGewalt richtig erkannt und bearbeitet wird: Ein erfolgreichgeführtes Ermittlungs- und Strafverfahren ergibt sich darausnoch nicht. Vielmehr sind in Deutschland erhebliche Schwierigkeiten,wenn nicht eine totale Unfähigkeit der rechtlichenErfassung und Bewältigung solcher Delikte feststellbar.Dabei sind die Werte, welche im Rahmen Ritueller Gewalt inbesonderem Maße verletzt werden auch in besonderem Maßegeschützt (Menschenwürde, Recht auf freie Entfaltung derPersönlichkeit, Recht auf Leben und körperliche Unverletzlichkeit,Recht auf Freiheit und Freizügigkeit…) und grundgesetzlichgarantiert.Der Hamburger Rechtsanwalt Rudolf von Bracken 4 weistin diesem Zusammenhang berechtigt darauf hin, dass es eineBindung aller staatlichen Gewalt an diese verfassungsmäßigeOrdnung gibt (Art. 20 Abs. 3 GG).Er weist auch darauf hin, dass das Strafgesetzbuch für dieim Rahmen von Ritueller Gewalt begangenen Straftateneine Strafverfolgung, also eine Aufklärung und Verurteilungdes oder der Täter vorsieht (die jedoch nicht oder nur ineiner verschwindend geringen Anzahl von Ausnahmefällenerfolgt).Im Wesentlichen geht es bei den im Rahmen RituellerGewalt begangenen Straftaten um die Tatbestände derffeinfachen, gefährlichen, schweren Körperverletzung oderder Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223, 224, 226und 227 StGB),ffum die Misshandlung Schutzbefohlener (§ 225 StGB),ffden Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 StGB),ffum (Schweren) sexuellen Missbrauch von Kindern(§§ 176, 176a StGB),ffum sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174StGB),ffum sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Anstellung(§ 174b StGB),ffum Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 StGB),mit Todesfolge (§ 178 StGB),ffum sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen(§ 179 StGB),ffFörderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180StGB),ffZuhälterei (§ 181a StGB),ffSexuellen Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB),ffVerbreitung pornografischer und gewaltpornografischerSchriften (§§ 184, 184a StGB),ffVerbreitung, Erwerb oder Besitz kinderpornografischerSchriften (§ 184b StGB) sowieffJugendpornografischer Schriften (§ 184c StGB) und auchumffMord (§ 211 StGB).Von Bracken: „Es gibt in Deutschland bis heute keine einzige,strafgerichtliche Verurteilung, die den UnrechtsgehaltRitueller Gewalt insbesondere an minderjährigen Opfernvollständig feststellt“. Rituelle Gewalt – nicht leicht fassbar– bleibt also möglicherweise bei den polizeilichen Ermittlungenwie bei der justiziellen Aufarbeitung eines entsprechendenGeschehens in vielen Fällen unberücksichtigt oder sie hatnur eine sekundäre und nebensächliche Bedeutung.Am Beispiel des Sexuellen Missbrauchs eines Kindes kanndas so aussehen, dass die einmaligen oder auch fortgesetztenTathandlungen den Tatbestandsmerkmalen des § 176 StGBpolizeilich herausgearbeitet werden und dann Anzeige gegenden oder die Täter vorgelegt wird – ohne dass mögliche, rituelleHintergründe und Machenschaften in Betracht gezogen,berücksichtigt, beleuchtet oder überhaupt erkannt werden.Damit wäre ein Delikt, vielleicht sogar eine Serie des sexuellenMissbrauchs eines Kindes nachgewiesen und geklärt.Mögliche weitere Tathandlungen, begangen von einem16<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Ku-Klux-Was?rituell handelnden Täter oder Angehörigen eines Geheimbundesoder Klans aber würden im Dunkelfeld bleiben undeine Fortsetzung des Geschehens mit gleichem oder anderenTätern und gleichem oder anderen Opfern wäre nichtausgeschlossen.Um solche Lücken im Bereich der Strafverfolgung zuschließen, erscheinen gesetzliche Anpassungen unumgänglich.So erscheint es aus verschiedenen Gründen durchaussinnvoll und notwendig, zumindest beim sexuellen Missbrauchsowie bei Sexueller Nötigung und bei Vergewaltigungsdeliktenrituelle Tatbegehungsweisen als erschwerendesMerkmal in die jeweiligen Tatbestände einzufügen undsie als Verbrechen zu bewerten.<strong>Die</strong>s deshalb,ffweil allein dadurch die Existenz und Schwere eines solchenGeschehens strafrechtlich dokumentiert und anerkanntwird und zum Ausdruck gebracht wird, dass es inangemessener Weise bestraft wird,ffweil damit gleichzeitig ein Auftrag an die ErmittlungsundStrafverfolgungsbehörden ergeht, einschlägige Taten(auch) hinsichtlich einer rituellen Begehungsweise zuüberprüfenund nicht zuletzt deshalb,ffweil ein solches Geschehen mit all seinen nicht seltentragischen und irreparablen Folgen für die Opfer alleindadurch eine angemessene Beachtung und Bewertungerfährt.Im Strafprozess mit all seinen vorgegebenen und gängigenRegeln wirkt sich bei rituell begangener Gewalt negativ aus,dass ein sehr wesentliches Element – die Zeugen und Zeugenaussagen– fehlen. Für die Opferangaben gibt es zumeistkeine Bestätigung. Problematisch erscheint zudem, dasses Opfern von Ritueller Gewalt in aller Regel sehr schwerfällt oder gar unmöglich ist, wahrheitsgemäß und gerichtsverwertbarauszusagen. Im Hintergrund stehen neben derTraumatisierung enormer Druck, Drohungen, Verzweiflung,Todesangst…Vernehmungsbeamte, Gutachter und Richter müssenjedoch erfahren, wie schlimm und belastend das Geschehenwar, wie sehr es auf das Opfer einwirkte, wie groß die Verletzungenund der entstandene Schaden sind.Das alles deutlich zu machen ist für das Opfer unendlichschwer und oft auch unmöglich, weil alles wieder auflebt,was geschah, weil sich die Traumatisierung dabei wiederholt.Das ist auch und vor allem deshalb ungeheuer schwer oderunmöglich, weil es den Strategien einer (gleichzeitigen) psychotherapeutischenVerarbeitung und Bewältigung zumeistvollkommen widerspricht und zuwiderläuft.Während einerseits verlangt wird, die Vorgänge noch einmaldetailliert zu schildern und nachzuvollziehen (und aufdiese Weise noch einmal zu erleben), wird psychotherapeutischGegenteiliges gefordert und gewünscht: Ein Lösen vondem Grauen, ein Vergessen, Verdrängen und Abhaken…Das dabei entstehende Spannungsfeld ist nicht nur zurKenntnis zu nehmen; es muss bei der strafprozessualen Bewältigungsolcher Sachverhalte zwingend Berücksichtigung finden,soll überhaupt die Chance bestehen, ein solches Verfahrenauch nur einigermaßen zufriedenstellend zu bewältigen.Mit der bei Sexualdelikten, nicht zuletzt bei solchen zumNachteil von Kindern und bei Ritueller Gewalt so häufiggebildeten und angewandten „Unwahrheitshypothese“wird man den Opfern solcher Geschehnisse jedenfalls nichtgerecht.Dazu aber wären wir nicht nur aufgrund deutschen Rechtssondern auch aufgrund europäischer Vorgaben verpflichtet.So wird in einem Rahmenbeschluss des Rats der EuropäischenGemeinschaften vom 15.3.2001 über die Stellung desOpfers im Strafverfahren festgelegt:<strong>Die</strong> Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihrem StrafrechtssystemOpfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragenwird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zugewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mitder gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandeltwird und erkennen die Rechte und berechtigten Interessendes Opfers insbesondere im Rahmen des Strafprozessesan…Was staatliche und private Kinderschützer leistenkönn(t)enKinder und Jugendliche sind häufig Opfer sexueller Gewaltund sie sind häufig Opfer ritueller Gewalt. Von Bracken stelltfest, dass jedes Kind ein Recht auf Pflege und Erziehung,Schutz und Förderung hat und dass es Eingriffspflichten desStaates (der Jugendämter) gibt, wenn das Kindeswohl gefährdetist.Ein Glück also, dass es Einrichtungen gibt, die dem Kinderschutzverpflichtet sind, so möchte man denken.Doch auch „alle Fälle Ritueller Gewalt an Kindern zeigenein vollständiges Versagen aller zuständigen Stellen des Kinderschutzesauf!“, so stellt von Bracken dazu ernüchterndfest. 5In diesem Zusammenhang erscheint es von Bedeutung,dass gewisse Kinderschutzeinrichtungen und -organisationeneine Zusammenarbeit mit den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden(von Präventivmaßnahmen abgesehen)aus vorgegebenen „Opferschutzgründen“ ablehnen oder nurin wenigen Einzelfällen in Betracht ziehen.Jugendämter sind ausschließlich dem Kindeswohl undder Sozialgesetzgebung verpflichtet. Eine Weitergabe vonInformationen und Daten (an <strong>Kriminalpolizei</strong> oder Staatsanwaltschaft)bedarf einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage.Mitarbeiter(innen) der Behörde könnten sich bei einer Einschaltungder Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehördensogar einer unerlaubten Weitergabe von Sozialdaten schuldigmachen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Gesetzeslage erfolgtin der Praxis häufig kein Informationsaustausch – der zurGefahrenabwehr und zur Ermittlung der Täter und Befreiungder Opfer in nicht wenigen Fällen zwingend erforderlichwäre.Der deutsche Kinderschutzbund verfährt seit Jahren nachdem Motto: „Helfen statt bestrafen !“ – und damit sind nichtdie Opfer, sondern die Täter gemeint! Um keine Missverständnisseaufkommen zu lassen: Dass (auch) den Täterngeholfen werden soll – sofern das möglich ist und von kompetenterSeite aus geschieht – ist auch aus kriminalistischerSicht sinnvoll und notwendig. „Statt bestrafen“ aber bedeutetin seiner praktischen Bedeutung „die Täter nicht bestrafen“und diese Auswirkung erscheint nicht zuletzt deshalbfatal, weil sexuelle Missbraucher häufig Wiederholungstätersind und weil Rituelle Gewalt auf bestimmte Zeiträume oderauf Dauer angelegt ist, was damit in Kauf genommen odererst ermöglicht wird.Zudem stellt sich die Frage, ob es einer Organisationen wiedem Kinderschutzbund, der Hinweise und Verdachtsmomentehinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindernin eigener Regie verwaltet und bearbeitet, ohne EinschaltungKriminalitätsphänomene<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>17


Ku-Klux-Was?Kriminalitätsphänomeneder Ermittlungsbehörden jemals möglich sein wird, StrukturenRitueller Gewalt und des Organisierten Verbrechens zuerkennen oder sie gar zu verhindern oder zu zerstören?Weil das unmöglich erscheint, sind die Verfahrensweisendieser Organisation höchst fragwürdig und für die Opfereines solchen Geschehens ist von solchen „Kinderschützern“kaum Hilfe zu erwarten. Was als Kinderschutz bezeichnetund „verkauft“ wird, so bleibt festzustellen, ist in Deutschlandgelegentlich nichts anderes als praktizierter und wirksamerTäterschutz!Eine gesetzliche Anzeigepflicht bei Hinweisen auf Verbrechenstatbeständeim sexuellen und rituellen Bereich erscheintfür die Mitarbeiter(innen) des Kinderschutzbundes ebensoüberfällig wie für viele andere, der in § 203 StGB – Verletzungvon Privatgeheimnissen – (auch und vor allem als ÄrztlicheSchweigepflicht bekannt) genannten Berufsstände, Personenund Institutionen (Ärzte, Psychologen, Anwälte, Sozialarbeiter,Kinderschützer…).<strong>Die</strong>se Anzeigepflicht ist in Österreich ebenso selbstverständlichund wird dort in so bewährter und erfolgreicherWeise praktiziert wie bei unserem Nachbarn Frankreich, beiwelchem sogar das Beichtgeheimnis den Geistlichen nichtvon der Pflicht zur Anzeige befreit, wenn ein entsprechenderVerdacht geäußert wird und besteht.Allein die Bundesregierung hat diese Anzeigepflicht imRahmen eines „Runden Tisches“ unter Leitung der Bundesbildungsministerin(und des Familien- und Justizministeriums)erst 2010/2011 wieder kurzerhand von eben diesem„Runden Tisch“ gefegt.Begründet wurde das – so wie seit jeher – mit angeblichenund vorgeschobenen Opferschutzgründen. Dass durch dasNichtanzeigen weniger Kinder und Opfer als vielmehr dieTäter geschützt werden, wurde dabei ignoriert oder (bewusstoder unbewusst) in Kauf genommen.Hilfe zur SelbsthilfeBei so viel grundsätzlicher Missachtung und Verweigerungim gesellschaftlichen und bei so vielen Mängeln und Defizitenim Bereich der Gesetzgebung, der Ermittlungen und derStrafverfolgung stellt sich die Frage, ob sich die Opfer einessolchen Geschehens nicht selbst helfen und die entscheidendenSchritte zu ihrer Befreiung von sich aus machen können.Dabei ist zu sehen, Gefangene eines rituell handelndenTäters oder eines entsprechenden Kults stehen unter erheblichenZwängen. Sie sind der jeweiligen Gruppe oder Organisationzumeist ein Leben lang verpflichtet und von ihrabhängig – total und in allen Lebenssituationen.Gewalt und Fremdkontrolle prägen ihren Alltag, absoluteLoyalität und die Pflicht zum Schweigen sind oberstesGebot. Zur fortgesetzten Traumatisierung durch den oderdie Täter kommen Einschüchterungen, (Todes-)Drohungenund Strafen für jegliches Fehlverhalten. Bei solchen Voraussetzungenist es höchst selten, dass Betroffene von sichaus einen Ausstieg wagen – selbst in größter Verzweiflung.Geschieht das in wenigen Ausnahmefällen doch einmal, soscheitert der Versuch zumeist, weil die Gruppe versucht, dasunter allen Umständen und mit allen Mitteln zu verhindern.Er scheitert auch deshalb, weil in Deutschland kaum nützlicheund mit der Problematik vertraute Ausstiegshilfen zurVerfügung stehen. Ein Scheitern aber bedeutet, dass sich dieLage des Opfers noch verschlechtert, weil Verlust des Ansehensinnerhalb der Gruppe und nicht selten massive Strafendrohen.So ein Ausstieg wird für Betroffene so lange nicht in Betrachtgezogen werden – und wenn doch einmal – erfolglos enden,ffsolange sich die öffentliche Diskussion, sofern sie überhauptstattfindet, um den ewigen Glaubenskrieg dreht, obes Rituelle Gewalt gibt oder nicht,ffsolang sie davon ausgehen müssen, dass man ihnen nichtglaubt,ffsolange Opfer nur als schwer gestörte, schwierigePatient(Inn)en und (unglaubwürdige) Zeug(inn)en angesehenwerden,ffsolange es keine oder nur wenige kompetente Anlaufstellenund Auffangstationen gibt.Gerade hier scheint die Polizei in besonderem Maße in derPflicht. Sie ist nicht selten die einzige Anlaufstelle, von dersich Zeug(inn)en wie Opfer Hilfe versprechen und Hilfeerwarten. Wird diese Erwartungshaltung enttäuscht, wirktdas geradezu fatal und führt in die völlige Isolation und Hilflosigkeit.Über allem polizeilichen Handeln hat deshalb derLeitsatz zu stehen „Opfer müssen Opfer sein dürfen“ – auchund nicht zuletzt diese Opfer Ritueller Gewalt. Das bedeutet,dass Hinweisgeber(innen) oder Opfer nicht von vorn hereinals gestörte Persönlichkeiten behandelt und abgetan werdensondern dass ihnen das Gefühl vermittelt wird, dass sie undihr Anliegen ernst genommen werden. Das bedeutet auch,dass bei den zu treffenden Maßnahmen und Ermittlungennicht nur oberflächliche Routine sondern eine ausgesprochenintensive und tiefgründige Ermittlungsarbeit gefordert sind.<strong>Die</strong> Polizei hat auch die verworrensten Hinweise zu entknotenund den abenteuerlichsten Angaben nachzugehen –So lange, bis das Gegenteil bewiesen ist oder bis diese Hinweisesich – vom Opfer selbst abgesehen – zur Überraschungaller Beteiligten doch bestätigen.<strong>Die</strong> Einleitung des im Bericht geschilderten Ermittlungsverfahrensder <strong>Kriminalpolizei</strong> Ulm mag als so typisches wiewarnendes Beispiel dienen:Ein als Alkoholiker hinlänglich (polizei-)bekannter Rentnererscheint spät abends betrunken auf der Polizeiwacheund berichtet, dass ein Bekannter von ihm Kinder angekettetin einem Verließ halten und diese mit seinen sadistischenFreunden fortgesetzt sexuell missbrauchen wolle. Er selbst seifür die Entsorgung der Kinderleichen verpflichtet worden,welche es möglicherweise bald geben werde… Der diensthabendeBeamte besänftigte den Hinweisgeber, riet ihm seinenRausch auszuschlafen und wieder zu kommen, wenn er nüchternist. Dann half er ihm beim Verlassen des Wachraums.Das „Geschwafel“ des Alten war ihm nicht einmal einenTagebucheintrag wert. Allein deshalb, weil der Hinweisgeber(wenn auch keineswegs nüchtern) zwei Tage später wiederkam, auf einen anderen Beamten traf und diesem die gleicheGeschichte noch einmal erzählte und der dann (trotz allerZweifel) kriminalpolizeiliche (Sofort-)Maßnahmen einleitete,konnte die Realisierung des Vorhabens in letzter Minute verhindertwerden. Der Hinweis – das Unglaubliche entsprachvoll und ganz der Realität!Anmerkungen1 http://de.wikipedia.org/wiki/European_White_Knights_of_the_Burning_Cross2 Thorsten Becker, www.BeckerTho.de; Ulla Fröhling „Unser geraubtes Leben“,Bastei-Lübbe 2012, ISBN 978-3-404-61660-23 Handbuch Rituelle Gewalt, Pabst Science Publishers, D-49525 Lengerich 2010,ISBN 978-3-89967-644-04 www.anwaelte-spadenteich.de oder www.opferschutz.net5 Claudia Fliß und Claudia Igney „Handbuch Rituelle Gewalt“, Pabst Science Publishers,Lengerich, ISBN 978-3-89967-644-0, Seite 37018<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Kriminalistik / KriminologieAktuelles aus dem NetzBereiche konzentrieren, erklärte Malmström in ihrer Ansprache.Zunächst solle sich das EC3 auf bandenmäßigen Betrug,Cyber-Einbrüche und die sexuelle Ausbeutung von Kindernim Internet konzentrieren. Für diese drei Bereiche sollen neueforensische Werkzeuge entwickelt werden.[...] Mehr: http://www.heise.de/newsticker/meldung/EU-Kommissarin-eroeffnet-Cybercrime-Zentrum-1781793.html,Meldung vom11.01.<strong>2013</strong>, und unter https://www.europol.europa.eu/ec329C3Hacker sollen verantwortungsvoll handelnIn seiner Eröffnungsrede zum diesjährigen Chaos CommunicationCongress in Hamburg hat Tor-Entwickler JacobAppelbaum die Hacker dazu aufgerufen, mit ihrem Wissenund ihrer Arbeit der Menschheit nicht zu schaden. Der Aktivistwarnte eindringlich vor einer zunehmenden weltweitenÜberwachung, die auch von den USA ausgehe.„It‘s not my department“: Das Motto des 29. Chaos CommunicationCongress (29C3) ist ein Zitat des US-amerikanischenMathematikers und Liedermachers Tom Lehrer, der ineinem Spottlied Wernher von Brauns technokratisches Weltbildanprangert. „Wenn die Raketen hochgeschossen werden,ist es egal wo sie runterfallen, das ist nicht mehr mein Problem,sagt Wernher von Braun“, sang Lehrer in den 1960er Jahren.Der Aktivist, Sicherheitsexperte und Tor-Entwickler JacobAppelbaum rief auf dem diesjährigen Chaos CommunicationCongress die Hacker dazu auf, ihr Wissen nicht der zunehmendenstaatlichen Überwachung zur Verfügung zu stellen.Appelbaum redete in seiner Keynote den Hackern insGewissen. Jeder solle sich überlegen, ob er sein Wissen der„guten oder der dunklen Seite“ zur Verfügung stelle. Es gebezwar Nuancen, sagte Appelbaum, aber letztendlich teile sichdie Welt doch in Schwarz und Weiß. Wenn ein Hacker ander Verbesserung der Deep-Packet-Inspection arbeite, dannkönne er davon ausgehen, dass seine Arbeit dazu missbrauchtwerde, um anderen zu schaden.[…] Mehr: http://www.golem.de/news/29c3-hacker-sollen-verantwortungsvoll-handeln-1212-96561.html,Meldung vom 27.12.2012<strong>Die</strong> Highlights der CES <strong>2013</strong><strong>Die</strong> Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas ist dieweltweit größte Messe für Unterhaltungselektronik und bietetauch für IT-Profis jede Menge Neuigkeiten, vom Highend-Smartphone bis hin zu besonders flachen Tablets und Ultrabooks[…]Auf dem Ausstellungsgelände der diesjährigen CESging es vom 8. bis 11. Januar längst nicht nur um Internetfähige3D-Fernseher und besonders leistungsstarke AudioundVideoprodukte. <strong>Die</strong> Stars in der Wüste von Nevadawaren vor allem Tablets, Smartphones und Ultrabooks inunterschiedlichsten Ausprägungen, aber auch Automobile, diedem Fahrer mit Hilfe von IT immer mehr Aufgaben abnehmen.[…] Wie die Ingolstädter in der Parkgarage einer Hotelanlagein Las Vegas anhand eines dafür ausgerüsteten A7demonstrierten, ist Audi mit dem Projekt Pilotiertes Parkenbereits ziemlich weit fortgeschritten. Das weitgehend seriennaheFahrzeug fährt tatsächlich alleine um die Ecke und navigiertsich rückwärts in einen freien Parkplatz zwischen zweilängsstehenden Autos. Auch die Abholung funktioniert, vonkleineren Anlaufschwierigkeiten abgesehen, reibungslos: Kurznachdem der Fahrer den A7 über eine spezielle Smartphone-App gerufen hat, wird das führerlose Auto wie von Geisterhandaktiviert, der Motor startet, das Fahrzeug parkt wiederaus und rollt herbei, um seinen Fahrer wieder aufzunehmen.[…] Mehr: http://www.computerwoche.de/a/die-highlightsder-ces-<strong>2013</strong>,2530564Meldungen vom 09.01. und 10.01.<strong>2013</strong>RezensionDelikte gegen KinderLehr- und StudienbriefeKriminalistik/KriminologieDer Schutz von Kindern isteine der vordringlichstenAufgaben unserer Gesellschaft.Um so betroffenerzeigt sich die Öffentlichkeit,wenn Kindesmisshandlungenbekannt werden. Dabeiliegt die Dunkelziffer dergewalttägigen und sexuellenÜbergriffe gegenüber Kindernoder erhebliche Vernachlässigungihrer Fürsorgenoch weitaus höher, wie Forschungsstudien nachweisenkonnten.<strong>Die</strong> Aktivitäten zum Kinderschutz wurden in der BundesrepublikDeutschland im letzten Jahrzehnt verstärkt unddie rechtlichen Grundlagen in diesem Bereich präzisiert. Einflächendeckendes Netzwerk zum Kinderschutz hat sich etabliert,in das auch die Polizei eingebunden ist. Ihr obliegenentsprechend polizeirechtlicher, straf- und strafprozessrechtlicherGesetzesregelungen sowie auch aufgrund von Polizeidienstvorschriftenverschiedene Pflichten und Rechte zumSchutz des Kindes.In diesem Studienbrief werden in knapper Form die wesentlichenErscheinungsformen von Delikten gegen Kinder dargestelltund die wichtigsten rechtlichen Grundlagen erläutert,um es Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu ermöglichen,erfolgreich präventiv wie auch repressiv tätig werdenzu können. Zudem gibt das Buch dem Leser Anregungen fürdie Umsetzung des Kinderschutzes in der polizeilichen Praxismit auf den Weg.Autor:Reingard NisseAnmerkungen:1. Auflage 2012, 112 SeitenBroschiertFormat:17 x 24 cmISBN: 978-3-8011-0668-3Preis:14,90 EURVerlag: VdP, Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbHHilden20<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Deutschland ist eines dersichersten Länder der Welt– tatsächlich?Dimensionen und Bedeutungsinhalte von SicherheitKaum ein deutscher Innenminister versäumt es, bei der Vorstellungder neuesten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistikdarauf hinzuweisen, dass sein Land bzw. Deutschlandeines der sichersten Länder der Welt sei – was auch zutrifft,wenn unter Sicherheit die innere Sicherheit verstanden wirdoder genauer: Zahl, Art und Entwicklung der polizeilichregistrierten Straftaten. Hier nimmt Deutschland in der Tateinen Spitzenplatz ein.Sicherheit ist aber weit mehr als die Eindämmung oderVerhinderung von Kriminalität und anderer Schadensereignisse(„innere Sicherheit“) oder der Schutz vor militärischenGefahren („äußere Sicherheit“). Sicherheit bezieht sich auch– vor allem – auf die soziale und wirtschaftliche Sicherheit,auf die soziale Gerechtigkeit, auf die Verlässlichkeit undPlanbarkeit des eigenen Lebens.Gerade diejenigen, die sich beruflich mit Kriminalitätbefassen – wie etwa die Polizei, aber auch Kriminologen undInnenminister – neigen dazu, „Sicherheit“ durch die Brilleder „inneren Sicherheit“ zu betrachten, was ja auch nichtverwunderlich ist. Sicherheit, das ist für sie in erster Linie dieinnere Sicherheit mit ihren Facetten Kriminalität, Kriminalitätsfurcht,Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung vonStraftaten. Schon weniger im Blickpunkt steht die Bedrohungder Sicherheit durch große Schadensereignisse wie Naturkatastrophenoder technische Großunglücke. Noch seltener imFokus ist die schon oben genannte Tatsache, dass sich Sicherheitauch – vor allem – auf die soziale und wirtschaftlicheSicherheit bezieht, auf die soziale Gerechtigkeit, auf die Verlässlichkeitund Planbarkeit des eigenen Lebens.Außerdem hängen innere Sicherheit und soziale Sicherheitzusammen: Einerseits ist auf der gesellschaftlichen wieauf der individuellen Ebene die Wahrnehmung von innererSicherheit in die soziale Sicherheit eingebettet – in diesemSinne wird beispielsweise Kriminalitätsfurcht oft als Metapherfür all das verstanden, was mit gesellschaftlichen Veränderungenund aktuellen Entwicklungen an negativen Erfahrungenund Befürchtungen verbunden ist (s. u.) – andererseitskann eine zunehmende soziale Unsicherheit, Ungleichheitund Ungerechtigkeit zu einem Anstieg der Kriminalitätund einer Zunahme der Kriminalitätsfurcht führen.Entsprechend ist die (Wieder-)Gewinnung von Sicherheitdurch die (Wieder-)Herstellung sozialer Gerechtigkeitnicht nur ein elementares menschliches Bedürfnis, sondernauch eine komplexe staatliche Aufgabe und Prävention ineinem ganz umfassenden Sinne. Wie Sicherheit weit mehr istals die Eindämmung oder Verhinderung von Kriminalität,Dr. Wiebke Steffen, WissenschaftlicheBeraterin des DPT – DeutscherPräventionstag, Heiligenbergist auch Prävention, verstanden als die Schaffung von günstigen,sozial gerechteren Lebensbedingungen bzw. die Verhinderungsowie Minderung von Entwicklungen, die dieseGerechtigkeit bedrohen und beeinträchtigen können, weitmehr als Kriminalprävention.Wegen dieser Dimensionen und Bedeutungsinhalten vonSicherheit und Prävention hat der 17. Deutsche Präventionstag,der am 16. und 17. April 2012 in München stattfand,„Sicher leben in Stadt und Land“ zu seinem Schwerpunktthemagemacht. Seit dem 12. Deutschen Präventionstag (2007in Wiesbaden) wird zu dem Schwerpunktthema des jeweiligenDeutschen Präventionstages ein wissenschaftliches Gutachtenerstellt. Das Gutachten zum 17. Deutschen Präventionstag„Sicherheit als Grundbedürfnis der Menschen und staatlicheAufgabe“ greift das umfassende Verständnis von Sicherheitund Prävention, die Bedeutung von sozialer Gerechtigkeitund Gleichheit für die Sicherheit und das Sicherheitsgefühlder Menschen auf und geht auf deren Auswirkungen auf Kriminalitätund Kriminalitätsfurcht ein sowie auf die damit verbundenenHerausforderungen für die Kriminalprävention.<strong>Die</strong>ses Gutachten ist die Grundlage des vorliegenden Beitrages;in ihm finden sich auch die Literaturangaben. 1Spitzenplatz bei der inneren Sicherheit, aber allenfallsmittelmäßige Positionen bei Aspekten der sozialenSicherheit und GerechtigkeitWährend Deutschland hinsichtlich der inneren Sicherheit tatsächlicheinen Spitzenplatz in Europa einnimmt – Deutschlandist nach wie vor eines der sichersten Länder der Welt–, trifft das für die anderen Dimensionen von Sicherheit, fürdie soziale und wirtschaftliche Sicherheit, keineswegs zu – imGegenteil: Wie die jüngsten Studien der OECD, der Organisationfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungbelegen, ist in Deutschland die Einkommensungleichheitin den letzten Jahren erheblich stärker gewachsen als inden meisten anderen OECD-Mitgliedsstaaten; Deutschlandliegt jetzt nur mehr im OECD-Mittelfeld. <strong>Die</strong> soziale Kluftist deutlich größer geworden und nähert sich den Verhältnissenin den USA an, Armut verfestigt sich in einem Ausmaß,das es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nichtgegeben hat. Armut bedeutet nicht nur für die davon Betroffenenexistentielle Unsicherheit und soziale Ausgrenzung,zumindest aber deutliche Einschränkungen der Teilhabeam sozialen Leben, sondern führt ganz allgemein, also auchbei den nicht von Armut Betroffenen, zu Wohlstandssorgenund Abstiegsängsten: Umfragen zeigen, dass nennenswerteTeile der Bevölkerung in Deutschland den GlaubenKriminalprävention<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>21


Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt – tatsächlich?Kriminalpräventionan langfristigen Wohlstandsgewinn und kollektiven Aufstiegverloren haben und Zukunftsunsicherheit weit verbreitet ist.Auch bei anderen Aspekten sozialer Gerechtigkeit undSicherheit hat Deutschland klare Defizite: Nach wie vor istin Deutschland keine Bildungsgerechtigkeit vorhanden,wird der Bildungserfolg der nachwachsenden Generation inhohem Maße von sozialer Herkunft und Migrationsstatusbestimmt. <strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einemsozial schwachen Umfeld durch Bildung befähigt wird, amgesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben, ist in Deutschlanddeutlich geringer als in vielen anderen entwickelten Staaten.Folglich besteht eine zentrale Herausforderung darin, allenjungen Menschen über ein angemessenes Bildungsniveau diesoziale und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.Ebenfalls nur mäßige Noten erhält Deutschland bei derIntegration von Zuwanderern. Zwar hat sich in zentralenBereichen des gesellschaftlichen Lebens die soziale Teilhabevon Personen mit Migrationshintergrund – den habenin Deutschland mehr als 16 Millionen Menschen, rund 20%der Bevölkerung – verbessert, aber noch bestehen Ungleichheitenzu ihrem Nachteil bei der frühkindlichen Bildung wiebei Bildung und Ausbildung generell – mit den bekanntenAuswirkungen auf die Arbeitsmarktintegration, auf sozialeIntegration und Einkommen. <strong>Die</strong> Armutsrisikoquote derBevölkerung mit Migrationshintergrund liegt deutlich überderjenigen der Gesamtbevölkerung. Selbst in den Bundesländernund Kommunen mit den besten Integrations-Ergebnissenwird das Ziel einer Annäherung zwischen Migranten undEinheimischen nirgends erreicht.Ohne jede Frage ist die deutsche Gesellschaft erheblichungleicher geworden, haben Desintegrationserfahrungenund die damit einhergehenden Unsicherheitsgefühle zugenommen,werden die Chancen auf soziale Teilhabe und Integrationgeringer, sind die Solidarität, das gute Miteinandergefährdet. <strong>Die</strong>se Entwicklungen haben die ohnehin vorhandenenAuswirkungen der Modernisierung unserer Gesellschaftmit ihren Merkmalen der funktionalen Differenzierung,der Individualisierung und der sozialen Desintegration,die für die Gesellschaft insgesamt wie für den EinzelnenChancen, aber auch Risiken gebracht haben, noch verstärkt.Zu diesen Risiken zählen auch Beeinträchtigungen der innerenSicherheit durch Kriminalität und Kriminalitätsfurcht.Moderne Zeiten sind unsichere Zeiten – Kriminalitätund Kriminalitätsfurcht als Risiken gesellschaftlicherModernisierung und sozialer Unsicherheit?Auch wenn Sicherheit weit mehr ist als innere Sicherheit,sind Kriminalität und innere Sicherheit zentrale gesellschaftspolitischeThemen in einem demokratischen Staat – und dasBedürfnis nach innerer oder auch öffentlicher Sicherheitgehört zu den wenigen Grundbedürfnissen, über die es einenallgemeinen Konsens gibt.Kriminalität gilt als Folge und als Risiko gesellschaftlicherModernisierung und prekärer Lebenslagen, als Warnzeichenfür wachsende soziale Ungleichheit und soziale Unsicherheit– und es ist mehr als erstaunlich, dass die zunehmende sozialeUngleichheit, die fehlende soziale Gerechtigkeit, die erodierendeGesellschaftsintegration bislang nicht zu einem Anstieg des Kriminalitätsniveausgeführt hat, auch nicht zu dem des Gewaltniveausund auch nicht zu einer Zunahme der Kriminalitätsfurcht.Im Gegenteil: <strong>Die</strong> Zahl der insgesamt polizeilich registriertenStraftaten geht seit Jahren kontinuierlich zurück undauch die Delikte der Gewaltkriminalität, die oft besondere(mediale) Aufmerksamkeit erhalten, werden nach erheblichenZunahmen inzwischen seltener angezeigt. <strong>Die</strong>se günstigeEntwicklung zeigt sich nicht nur im Hellfeld der polizeilichregistrierten Straftaten, sondern auch – und dort sogarschon länger – im Dunkelfeld der zwar verübten, aber nichtbei der Polizei angezeigten Delikte. Rückläufig sind in denletzten Jahren auch die Tatverdächtigenbelastungszahlen (Tatverdächtigepro 100.000 der jeweiligen Bevölkerungsgruppe)für alle Altersgruppen, also auch für die jungen Menschen.<strong>Die</strong>se für Deutschland insgesamt festzustellende günstigeEntwicklung schließt natürlich nicht aus, dass sich – im Hellwieim Dunkelfeld – auf regionaler, kommunaler oder Stadtviertelebeneauch ungünstigere, problematischere Entwicklungenzeigen können und zeigen. Aber zu einer „gewaltförmigenDesintegration“ 2 ist es in unserer Gesellschaft bislangnicht gekommen, sie scheint auch nicht unmittelbar bevorzustehen,so dass für die zukünftige Entwicklung eher Gelassenheitangesagt ist, vielleicht sogar vorsichtiger Optimismus.<strong>Die</strong>se Aussage gilt insbesondere vor dem Hintergrund,dass auch die Befunde zum Sicherheitsgefühl, zur Kriminalitätsfurchteher positiv ausfallen – obwohl allgemeine gesellschaftlicheVerunsicherung, soziale Unsicherheit, die Furchtvor Kriminalität erhöhen können, ohne dass sich an der Kriminalitätslageselbst etwas – zum Schlechteren – geänderthat. Denn bei Kriminalitätsfurcht handelt es sich oft nichtum eine spezifische Reaktion auf Kriminalitätsrisiken, sondernum eine Projektion sozialer, ökonomischer und existentiellerÄngste. Kriminalität dient dabei als Metapher, umanders gelagerte Unsicherheiten artikulierbar zu machen.Für Deutschland zeigen Befragungen jedoch, dass die Kriminalitätsfurchtim Vergleich zu anderen Ängsten – etwa densozialen und wirtschaftlichen Sorgen – nicht nur ohnehineine eher untergeordnete Rolle spielt, sondern seit etlichenJahren sogar noch weiter abnimmt.<strong>Die</strong>se Befunde zu Kriminalität und Kriminalitätsfurchtbedeuten auch, dass es in Deutschland bislang nicht – wieetwa in den USA – zu der Verschiebung von einer sozialpolitischenzu einer kriminalpolitischen Bearbeitung vonUnsicherheit, Armut und Ausgrenzung gekommen ist, zurHe rausbildung einer Sicherheitsgesellschaft, in der die Ideedes Gesellschaftsschutzes mit der Zunahme exkludierender,insbesondere strafender Maßnahmen einhergeht. Der„punitive turn“ vom Sozialstaat zum Strafstaat lässt sich fürDeutschland bislang nicht nachweisen.Nachhol- und Verbesserungsbedarf in Sachen sozialerGerechtigkeitDass in Deutschland Kriminalpolitik (noch) nicht zum Ersatzfür fehlende oder brüchig werdende Sozialleistungen gewordenist, hat vor allem mit zwei Faktoren zu tun: Damit, dassder im Grundgesetz verankerte Sozial- und Wohlfahrtsstaatnoch wirkt und damit, wie bei uns auf Kriminalität reagiertwird – nämlich nicht in erster Linie durch Repression, durchStrafe, sondern durch Prävention, durch Vorbeugung.Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat gehört zu den wichtigstenEinrichtungen, um Desintegrationsfolgen abzumildern,soziale wie wirtschaftliche Sicherheit und Gerechtigkeitherzustellen, den inneren Zusammenhalt der Gesellschaftzu sichern. Dass der Staat auch in unsicheren Zeiten seinerSicherungspflicht nachkommt, sein Sicherheitsversprecheneinlöst, entspricht den Erwartungen der Bürger und ihrenHoffnungen auf mehr soziale Gerechtigkeit. Deshalb solltean dem im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzip22<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Strafrecht / StrafprozessrechtDr. Heiko Artkämper,Staatsanwalt (GL), DortmundEine präventive Gewinnabschöpfung liefert in vielen Fällenaus Sicht der Ermittler ein sauberes – gewünschtes – Ergebnis,ist aber vielfach noch unbekannt und rechtlich nicht ganzunproblematisch. Sie ist auf der anderen Seite den Beschuldigtenund deren Verteidigern – wie die nachfolgendenZitate zeigen – offensichtlich ein Dorn im Auge: „WennPolizeibeamte Winkeladvokaten spielen“ … „Doch dasgesellschaftliche Grundproblem ist primär nicht das Polizeirecht,sondern die prohibitive Drogenpolitik, die gehässigenPedanten eine Spielwiese eröffnet, unter dem Deckmantel derGefahrenabwehr anderen Bürgern ihr Geld wegzunehmen“. 1Möglichkeiten und Grenzen der sogenannten präventivenGewinnabschöpfung (PräGe) sollen hier an einigen alltäglichenBeispielen dargestellt werden.Einschlägige SachverhaltskonstellationenPräventive Gewinnabschöpfungbei Beschuldigten– Möglichkeiten und Grenzen *Fall 1: Bargeld in dealertypischer StückelungBei einer Routinekontrolle durch die Polizei wird eine Personangetroffen, die einige Portionen Haschisch und ein Bündel mit5, 10 und 20 Euroscheinen mit sich führt. Sowohl das Rauschgiftals auch das Geld (insgesamt etwa 500 €) wird sichergestellt.Unproblematisch und juristisch unstreitig unterliegen dieillegalen Drogen der Einziehung; die Behauptung der sicherstellendenBeamten, das Bargeld sei in dealertypischer Stückelungmitgeführt worden und unterliege bereits deshalbdem staatlichen Zugriff, erweist sich bei einem Blick in dieeigene Geldbörse nur zu schnell als Scheinargument – es seidenn, man konstatiert, dass wir alle ständig Bargeld in dealertypischerStückelung mit uns führen, das so auch von denBankautomaten ausgegeben wird.Sichergestelltes Geld und andere in Beschlag genommeneSachen belasten oftmals das gesamte (repressive) Strafverfahren;bereits im Ermittlungsverfahren werden diese Gegenständerecht großzügig sichergestellt. Widerspricht derBeschuldigte dem staatlichen Zugriff, bedarf es eines richterlichenBeschlagnahmebeschlusses, der nur dann (rechtmäßig)ergeht, wenn der Gegenstand/das Geld der Einziehung oderdem – ggf. erweiterten – Verfall unterliegt. Asservate erschwerenhäufig später auch die Hauptverhandlung in Strafsachen,insbesondere wenn es um Gegenstände geht, die einen gewissenmateriellen Wert besitzen und die nach den Vorschriftender StPO/des StGB nicht der Einziehung pp. unterliegen.Weitere Sachverhalte mögen dies verdeutlichen:Fall 2: Der unerklärbare Reichtum<strong>Die</strong> Angeklagten und deren Fahrzeug wurden auf einemgrenznahen Autobahnparkplatz zu den Niederlanden durchZollbeamte überprüft; die Frage nach mitgeführten Waffen,Betäubungsmitteln und Bargeldbeträgen von mehr als 15.000 €verneinten sie wahrheitswidrig. Bei der nachfolgenden Durchsuchungwurden geringe Mengen an Drogen und 33.000 €gefunden und in Verwahrung genommen. Indiztatsachen, diegegen einen regulären Erwerb sprachen, waren die Mittellosigkeitder Beschwerdeführer und deren widersprüchliche Angaben.Im Rahmen der Hauptverhandlung (wegen des Verstoßesgegen das Betäubungsmittelgesetz) beantragen die Verteidiger,das sichergestellte Geld an die Angeklagten herauszugeben. 2Oder:In einem Verfahren wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetzpp. werden bei dem Beschuldigten ein Geldbündelmit 3.900 € in 100 und 50 Euroscheinen sowie auf dem Vordachseines Hauses 7.240 € eingeschweißt in einer Klarsichtfolieals Zufallsfunde sichergestellt. Der Beschuldigte gibt an, eshandele sich um seinen Lohn als Kraftfahrer. 3Mit Bescheiden – gestützt auf die Abwehr einer gegenwärtigenGefahr – war in der ersten Alternative das Bargeldsichergestellt und in öffentliche Verwahrung genommen (vgl.z. B. §§ 43, 44 PolG NRW). <strong>Die</strong> Klage gegen die Bescheideund gerichtet auf Herausgabe der Geldsumme wurde durchdas VG abgewiesen; den Antrag auf Zulassung der Berufunglehnte das OVG ab. 4 Auch der „Kraftfahrerlohn“ wurdenicht zurückgegeben.Fall 3: Der sichergestellte SchmuckIm Rahmen einer Durchsuchung wird bei dem mittellosenBeschuldigten in einer Garage eine große Menge echterSchmuck sichergestellt, dessen Herkunft nicht geklärt werdenkann. 5 Nur wenige Schmuckstücke können Straftaten zugeordnetwerden. Der Besitzer ist umfangreich und einschlägigwegen Einbruchsdiebstahl in Erscheinung getreten.Fall 4: Original verpackte Waren/WarenlagerDer von Hartz IV lebende Beschuldigte wird bei einemLadendiebstahl vorläufig festgenommen und aufgrund einesrichterlichen Beschlusses seine Wohnung durchsucht, dieeinem Warenlager gleicht. <strong>Die</strong> Beamten finden dort ca. 2.000Gegenstände, die überwiegend noch original verpackt sind.<strong>Die</strong> Waren haben einen Gesamtwert von ca. 125.000 €. 6Oder:Bei dem Beschuldigten werden zahlreiche Baumaschinenund Werkzeuge gefunden; nur wenige haben noch Individualnummern,bei den meisten sind diese – oder vorhandeneSeriennummern – abgeflext/herausgeschnitten und könnennicht mehr sichtbar gemacht werden.Fall 5: EnkeltrickbetrugEin Beschuldiger ist der Begehung mehrerer Enkeltrick-24<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Präventive Gewinnabschöpfung bei Beschuldigtenbetrügereien dringend verdächtig. Bei seiner vorläufigen Festnahmewird Bargeld in Höhe von 10.850 € sichergestellt; dieBeamten gehen davon aus, dass das Geld nicht legal erworbenwurde und – in Fortsetzung der Serie – weitere Enkeltrickbetrügereiendrohen. Dabei könnte das Geld für Mietzahlungenfür Pkw und Unterkünfte verwendet werden. 7Fall 6: Der DrogenkioskEin Minderjähriger erwirbt unter polizeilicher Beobachtungan einem Kiosk 2 Gramm Haschisch. Bei der Durchsuchungwird eine (geringe) Menge Haschisch und Geld ausder Kasse beschlagnahmt; der Kiosk wird zur Zeit der Tatvon dem festgenommenen Beschuldigten in Vertretung fürseinen Vater betrieben. Der Ermittlungsrichter gibt das Geldfrei, das daraufhin mit der Begründung, es werde sonst inden Drogenkreislauf zurückgelangen, präventiv polizeilich inBeschlag genommen wird. 8<strong>Die</strong> strafrechtliche LösungDen meisten Lesern wird das Bauchgefühl bei allen Sachverhaltensagen, dass „da etwas nicht stimmt“ und deswegen dasGefühl an das Gehirn die Bitte, den Wunsch oder gar denBefehl übersenden: „Wegnehmen!“ Doch Vorsicht: In allenFällen sind den Strafjuristen mehr oder minder die Händegebunden: Das strafrechtliche Instrumentarium der §§ 73 ff.StGB stellt den Rechtsanwender vor das Problem, dass demGewahrsamsinhaber eine konkrete, rechtswidrige Tat nachgewiesenwerden muss, aus der der fragliche Gegenstand herrührt.<strong>Die</strong>se Zuordnung mag bei sichergestellten Waren zueinem gewissen – regelmäßig eher geringen – Teil gelingen.Fall 7: Der nagelneue PorscheDer Beschuldigte ist der Drogenszene zuzurechnen. Beieiner Kontrolle treffen ihn die Beamten in einem fabrikneuenPorsche an, den er wenige Tage zuvor gekauft und vollständigbezahlt hat.Strafrechtlich muss – will man zu einem erweiterten Verfallgelangen – dem Eigentümer nachgewiesen werden, dass genaudieser Pkw(!) aus rechtswidrigen Taten stammt bzw. für siehingegeben werden soll, was umfangreiche – häufig erfolglose– Ermittlungen erfordert: Der Porsche resultiert in allerRegel nicht unmittelbar aus Straftaten, mag aber – ebenso eherunwahrscheinlich – für die Begehung solcher Taten hingegebenworden sein. Hat der Eigentümer das Auto bar bezahlt,besteht der Verdacht – eher wohl nur eine Vermutung –, dassdie konkreten Geldscheine solche Gegenstände dargestellthaben. Das Fahrzeug wäre dann Surrogat, oder es könntegem. § 73d Abs. 2 StGB als Wertersatz verwertet werden.Ist der Porsche nicht bar bezahlt, sondern der Kaufpreisüberwiesen worden, wird u. a. eine Kontoverdichtung dieKontenbewegungen sichtbar machen: Finanzermittler sindgefragt, um die Vermögensverhältnisse zu durchleuchten.Regelmäßige Bareinzahlungen größerer Summen begründenin Zeiten des bargeldlosen Zahlungsverkehrs die Vermutung,die eingezahlten Geldscheine hätten aus vorangegangenenStraftaten gestammt. Sofern der Täter neben illegalen auchüber legale Vermögenszuflüsse verfügt, wird eine Zuordnungjedenfalls dann nahezu unmöglich. Der erweiterte Verfallkann daher die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen.Im Übrigen sehen die Regelungen des StGB und der StPOeine eindeutige Lösung vor, die – entgegen dem allgemeinenRechtsempfinden – lautet: Herausgabe an die Beschuldigten/Angeklagtenals letzten Gewahrsamsinhabern!!Das Polizei- und OrdnungsrechtInhaltlich interessanter als die repressive Gewinnabschöpfung,die somit in den vorliegenden Fällen „versagt“, wird damitdas „Rechtsinstitut“ der präventiven Gewinnabschöpfung,das in den letzten Jahren von den Polizei- und Ordnungsbehördenentwickelt worden ist, um außerhalb des Geltungsbereichesder §§ 73ff. StGB, die auch präventive Wirkungenhaben, möglicherweise rechtswidrig erlangte Gegenstände– insbesondere Geld und nicht zuzuordnendes <strong>Die</strong>besgut –dem letzten Gewahrsamsinhaber nicht zurückgeben zu müssen.9 Das OVG Lüneburg hat sich 2009 mit dem Begriff derpräventiven Gewinnabschöpfung beschäftigt und klargestellt,dass dieser insofern missverständlich sei, als es um eine primärpräventive Maßnahme geht, durch die verhindert werden soll,dass illegal erworbene Werte zur Vorbereitung und Durchführungvon (weiteren) Straftaten eingesetzt werden. 10Es geht umffdie Sicherstellung von Bargeld/werthaften Gegenständenffzum Zwecke der Gefahrenabwehr,ffsofern dessen Besitzer zu einem Verzicht nicht bereit ist,ffdie Herkunft/Menge nicht plausibel erklären kann und/oder bei dem die Annahme besteht, dassffes wahrscheinlich für (weitere) Straftaten eingesetzt bzw.ffdie Gegenstände für den wahren Eigentümer sichergestelltwerden sollen.<strong>Die</strong> Verwaltungsbehörden sehen in vielen Fällen die Eigentumsvermutungdes § 1006 Abs. 1 Satz 1 BGB, die für denBesitzer streitet, aufgrund von Indizgegentatsachen als hinreichendwiderlegt an, stellen das Geld sicher und nehmenes in – faktisch endgültige – amtliche Verwahrung, entwederum den wahren, aber derzeit unbekannten und auch regelmäßigkurzfristig nicht zu ermittelnden Eigentümer vor einem(weitergehenden) Verlust zu schützen (vgl. z. B. § 43 Nr. 2PolG NRW), oder zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahrdurch die Begehung weiterer Delikte (z. B. Erwerb undEinfuhr von Betäubungsmitteln, vgl. z. B. § 43 Nr. 1 PolGNRW). Beide Möglichkeiten der Sicherstellung sollen – jenach Sachverhaltsgestaltung – einschlägig sein. 11<strong>Die</strong> Vorgehensweise selbst bzw. die Rechtmäßigkeit derMaßnahmen wurde bislang vom BVerfG nicht überprüft 12 ;es bleibt offen, ob die Sicherstellung von Bargeld auf die allgemeinenpolizeirechtlichen/ordnungsbehördlichen Ermächtigungsgrundlagengestützt werden kann. Präventive Gewinnabschöpfungist im Hinblick auf die Existenz der §§ 73 ff.StGB (Gewinnabschöpfung) und die insoweit bestehendeBundesgesetzgebungskompetenz durchaus nicht zweifelsfrei;auch die Gefahrprognose der anordnenden Behörde wirdsich häufig, vielleicht sogar regelmäßig nicht bestätigen. 13<strong>Die</strong> Argumentation von Thiée, der behauptet, dass nichtalle Gegenstände polizeirechtlich beschlagnahmefähig seienund unter diese Gegenstände auch Geld subsumiert, 14 vermagallerdings nicht zu überzeugen. Entgegen dem Bauchgefühlist allerdings erforderlich, dass von der Geldsummedie Gefahr weiterer Straftaten droht und nicht nur von derPerson, bei der das Geld aufgefunden wurde.Zusammenarbeit mit der JustizWerden daher Anträge auf Herausgabe beschlagnahmterGegenstände im Rahmen der Hauptverhandlung gestellt, solltenRichter und Staatsanwalt zumindest die Möglichkeit einer präventivenGewinnabschöpfung kennen und in geeigneten FällenStrafrecht / Strafprozessrecht<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>25


Der deutsche Dschihad: alte undneue HotspotsGalt bis vor kurzem Pakistan als eines der wichtigsten Reisezieledeutscher Gotteskrieger, so scheinen inzwischen anderefragile Staaten an Attraktivität für Dschihadisten gewonnenzu haben. Pläne der Kern-al-Qaida, die auf Anwerbung, Ausbildungund Einschleusung der in Wasiristan geschulten Islamistennach Westen abzielten, stoßen an ihre Grenzen. Denndie westlichen, vor allem amerikanischen Nachrichtendienstekonnten zahlreiche Sicherheitslücken verschiedener Netzwerkeausnutzen. <strong>Die</strong> Kommunikation und Reisebewegungenzwischen Europa wie Deutschland und Pakistan etabliertensich als nachrichtendienstliches Beobachtungsobjekt. Kaumeiner Gruppe mit Deutschlandbezug gelang es bis jetzt, ihrenPlänen unbemerkt nachzugehen, was von Ausreiseversuchen indie Gebiete des Dschihad allerdings nicht gesagt werden kann.Veränderte RahmenbedingungenDank den US-amerikanischen Hinweisen konnten die „bayerischenTaliban“ (die Sauerland-Gruppe) und die DüsseldorferZelle rechtzeitig verhaftet werden. Auch die Planungterroristischer Aktionen unter Beteiligung von vier HamburgerIslamisten (Sidiqi, Makanesi, Dashti, Meziche) konntenicht aufgehen. Zudem häuften sich erfolgreiche Dronenangriffeder CIA in Nord-Wasiristan, die die Angst vor Spionenunter den Militanten schürten.Daher setzen die Dschihadisten auf radikalisierende Propaganda,den so genannten Co-Terrorismus und schwer zu„<strong>Die</strong> Deutschen sind zum Greifen nah…“: Der Messerstecher Murat K. soll nach Denis Cuspert freigepresst werden.Keine leere Drohung, wie der Fall eines in Nigeria entführten und getöteten deutschen Ingenieurs zeigt.Dr. Dr. (rus) Michail Logvinov,wissenschaftlicher Mitarbeiteram Hannah-Arendt-Institutfür Totalitarismusforschungan der TU Dresdenbeobachtende Einzeltäter, die ohne Verbindungen zu Pakistanaktiv werden sollen. Denn viele erfolgreiche Aktionengehen auf ihr Konto: Der Frankfurter Schütze Arid Ukascheint im Gegensatz zu herkömmlichen Terroristen demvon der al-Qaida gelobten Beispiel des US-MilitärpsychiatersNidal Malik Hasan gefolgt zu sein, der im texanischen FortHood 13 Soldaten erschossen und mehr als 30 verletzt hat.Der jemenitische Zweig von AQ hat 2011 in seiner Internet-Zeitschrift „Inspire“ auch Arid Uka für seine Morde gelobt.Der Mörder von Toulouse, Mohammed Merah, war zwarin der Gruppe mit dem Namen Jund al-Khil fah (JaK), zuDeutsch: Soldaten des Kalifats, ausgebildet, handelte jedocheigenverantwortlich. <strong>Die</strong> Ereignisse in französischem Toulouseähneln teilweise einer Szenerie, die sich am 12. November2011 im kasachischen Taras abspielte. Dort hat ein vermutlicherJaK-Anhänger stundenlang die Stadt in Atemgehalten, indem er sich heftige Feuergefechte mit der Polizeilieferte, auch zufällige Opfer nicht scheute und sich am Endein die Luft sprengte.Auch deutschstämmige Dschihadisten mischen bei derPropagandaarbeit kräftig mit. Über die altbekannten „Szenestars“auf dem Boden des Dschihad wie die Brüder Choukahinaus sind seit vor kurzem auch weitere Personen am Werk,so dass sich in jüngster Zeit erneute Aufrufe an gewaltbereiteIslamisten mehren, Anschläge in Deutschland zu verüben.Der Verfassungsschutz warnt konsequenterweise vor Einflussnahmeaus dem Ausland. Nicht ohne Grund: Der ÖsterreicherMohamed Mahmoud soll inÄgypten einen Brückenkopf geschaffenund eine „Abteilung für Übersetzungen“der Globalen Islamischen Medienfrontreaktiviert haben. Infolge derPro-NRW-Provokationen sowie derProteste in der islamischen Welt gegenden Mohammed-Schmähfilm ließen diedeutschstämmige Akteure keine Gelegenheitaus, zu Morden an Rechtsextremisten,Politikern und vermeintlichenBefürwortern der „Erniedrigung desPropheten“ aufzurufen. Auch von Geiselnahmen,Aktionen nach dem Merah-Vorbild und der Dschihadpflicht imAusland ist die Rede.Dass die westlichen Nachrichtendienstedie Rolle der radikalisierendenPropaganda sehr ernst nehmen,bestätigt bspw. die Tötung desPolitisch motivierte Kriminalität<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>27


Der deutsche Dschihad: alte und neue HotspotsPolitisch motivierte KriminalitätChefpropagandisten der AQ im Jemen, Anwar al-Awlaki. Auch deutschstämmige Akteure lenktendie Aufmerksamkeit der USA auf sich. So hat dasUS-Außenministerium am 26. Januar 2012 drei ausDeutschland stammende Islamisten auf die Liste derinternationalen Terroristen gesetzt. Es handelt sichum die Brüder Yassin und Monir Chouka aus Bonnund Mevlüt Kar, einen Deutsch-Türken aus Ludwigshafen.1 Der amerikanische Präsident Obamasoll zudem laut Medienberichten die GebrüderChouka zum Abschuss durch CIA-Drohnen freigegebenhaben. <strong>Die</strong> Bonner gelten nämlich als Kämpfer,Rekrutierer, Logistiker und Propagandisten fürdie in Pakistan und Afghanistan agierende „IslamischeBewegung Usbekistans” (IBU). Mevlüt Karwird vorgeworfen, als Logistiker und Rekrutierer fürdie „Islamische Dschihad-Union” (IJU) zu fungieren.Ein libanesisches Gericht verurteilte ihn bereitsin Abwesenheit zu 15 Jahren Haft für den Versuch,eine al-Qaida-Zelle im Libanon zu gründen.Alte Hotspots: Pakistan und AfghanistanWegen der Präsenz in Afghanistan – die Bundesrepublik istdrittgrößter Truppensteller nach den USA wie Großbritannien,und trägt die Verantwortung für die Aufstandsbekämpfungim Norden des Landes – gilt das „Böse[s] Vaterland“ (soder Titel eines Propagandastreifens) als „legitimes“ Angriffsziel.Von 2009 an traten mehrere deutschstämmige Islamistenin einem Dutzend Propagandastreifen der al-Qaida &Co. mit unverblümten Drohungen gegen die Bundesrepublikauf – sie suchten die Bundestagswahlen zu manipulieren,die Öffentlichkeit wie die deutsche Regierung zu erpressenund die Antikriegsstimmung zu schüren, um einen Bundeswehrabzugaus Afghanistan zu erzwingen. Zugleich hattensie gezielte Rekrutierungsarbeit mit verschiedenen Methodenbetrieben.Einerseits sprachen einige „Auswanderer“ die vermeintlicheindividuelle Pflicht an, sich am Dschihad zu beteiligen.Andererseits setzten sie Deutschland als „Gebiet des Unglaubens“in Szene und riefen die Islamisten auf, der Macht der„Ungläubigen“ zu entkommen, um den Islam „komplett“praktizieren zu können. Orte wie Afghanistan, Pakistan,Somalia oder der Jemen, an denen „die Muslime mit demGottesdienst des Jihades die Shari’a anstreben oder ausgesprochenhaben“ seien dabei besonders empfehlenswert.Bereits während der Vorbereitung auf die Auswanderunggreife die Pflicht, den Beitrag zum Dschihad zu leisten sowiesich körperlich fit zu halten.<strong>Die</strong> Propaganda aus Pakistan verfehlte ihre Wirkung nicht.Denn der Anstieg der Ermittlungsverfahren gegen mutmaßlicheislamistische Terrorverdächtige war laut BKA „rasant“.Im April 2010 belief sich die Zahl der „Ermittlungsverfahrenmit islamistischem Hintergrund“ auf 350 Fälle – „so viele wienoch nie“, berichtete der BKA-Präsident. Dabei hingen auchdie Reisebewegungen der deutschen Dschihadisten in Ausbildungslagerim afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet mitdem höheren Fallaufkommen zusammen. Seit Anfang 2009beobachteten die Sicherheitsbehörden, dass sich Reisen ausDeutschland in Ausbildungslager häuften. Ermittler gingendavon aus, dass sich allein 2009 mehr als 30 junge Menschennach Afghanistan oder Pakistan abgesetzt hätten. Es könnenjedoch mehr gewesen sein, denn die deutschen Sicherheitsbehördenkönnen nachweislich nicht alle ReisebewegungenNaschid-Dschihadisten wissen um die Bedeutung solcher Kriegsschauplätze wie Tschetschenien fürdeutsche Dschihad-Touristen.registrieren (vgl. die „Hamburger“ bzw. „Berliner Reisegruppe“).2009 wollten laut Verfassungsschutz 138 Personenaus Deutschland ein Ausbildungslager in Pakistan besuchen.2010 gingen die Behörden von 40 Islamisten mit Deutschlandbezugin Afghanistan/Pakistan aus. Nach inoffiziellenAngaben versuchten 2009 ca. zehn Personen monatlich nachPakistan zu reisen, 2010 und 2011 belief sich die Zahl auf ca.fünf Möchtegern-Gotteskrieger im Monat.Neben Afghanistan und Pakistan galt eine Koranschule inDammaj im Jemen als „Pilgerstätte“ radikalisierter Islamistenmit Deutschlandbezug. Zwischen fünf und zehn Deutschensollten sich im Norden des Landes aufgehalten haben,wobei ein Netzwerk im Inland für Koranstudien warb unddie finanzielle Unterstützung leistete.Sowohl das deutlich nachgelassene Propagandaaufkommenals auch bestätigte Tötungen deutschstämmiger Gotteskrieger2009 und im Vorfeld eines vermeintlichen Komplottsgegen Europa und Deutschland 2010 lassen den Schluss zu,die deutschen Gruppen in Pakistan seien dezimiert. „DeutscheTaliban“ gelten inzwischen als aktionsunfähig: „Nachdem Tod vieler Mitglieder der DTM durch Kampfhandlungenwar der Fortbestand der DTM bereits seit Mitte 2010unklar. Es ist mittlerweile wahrscheinlich, dass die DTMzerschlagen ist“, berichtete der Berliner Verfassungsschutz. 3Auch der Anführer der Splittergruppe, Fatih Temelli alias„Abdul Fettah al-Mujahir”, wurde Ende Juni 2012 verhaftet,nachdem er sich aus dem Iran in die Türkei abgesetzthat. Anfang 2012 ging der BND von ca. 20 Personen ausDeutschland in Afghanistan und Pakistan aus.<strong>Die</strong> Bonner Islamisten Chouka betreiben jedoch ihrePropagandaarbeit unbeirrt weiter. Es besteht allerdings einnicht unbedeutender qualitativer Unterschied zum Zeitraumzwischen 2009 – 2010. Während die Choukas früherausdrücklich für Leben und Kämpfen in Pakistan warben,waren danach immer mehr Angriffe in Deutschland zumSchwerpunkt der Propaganda geworden. Im Streifen mitdem Titel „Böses Vaterland“, der Ende 2011 produziert undMitte Februar 2012 online eingestellt wurde, behauptete AbuAdam abermals, dass „die deutschen Politiker und die deutschenKräfte, die im Hintergrund für die Juden arbeiten“ der„Hauptfeind“ seien. Zugleich drohte er Anschläge auf zivile28<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Der deutsche Dschihad: alte und neue HotspotsPolitisch motivierte Kriminalitätgeworden, die der Verfasser dieser Zeilen unmittelbar nachdem Verbot durch den Bundesinnenminister wie folgt prognostizierte:„Zwar sind das Verbot von ‚Millatu Ibrahim‘ unddie Durchsuchungsbeschlüsse gegen ‚DawaFFM‘ wie ‚DWR‘unmissverständliche Signale an die Szene. Zugleich werdendie bekannten Problemlagen in die Illegalität verbannt, wobeiweitere Radikalisierungsschübe nicht auszuschließen sind.Gespräche über die ‚schwulen, kokainsüchtigen, pädophilenund einfach ekelhaften‘ Politiker werden dann nicht mehr in(Hinterhof-)Moscheen oder im Internet stattfinden, sondernin privaten Räumlichkeiten und eingeschworenen (Untergrund-)Gemeinschaften,deren Gruppendynamiken gefährlicheMechanismen eigen sind. ‚Resignierte‘ Salafisten könntensich nun auf den Weg in die ‚Scharia-Gebiete‘ machen, aucheine neue Welle des ‚Dschihad-Tourismus‘ aus Deutschlandwäre als Folge nicht auszuschließen.“ 5<strong>Die</strong> düstere Prognose bewahrheitete sich. Denn eine Reihevon Solinger Islamisten folgte Mohammed Mahmoud nachÄgypten, wohin er sich abgesetzt hatte, um seiner Abschiebungzuvorzukommen. Auch dem „Naschid-Dschihadisten“Denis Cuspert gelang die Ausreise – trotz Überwachung.2012 waren es über 50 Personen, die an den Nil gereist seinsollten. Nach Informationen aus Sicherheitskreisen reistendann deutsche Islamisten weiter nach Mali, Libyen undSomalia, wo sie anscheinend für den Krieg gegen den Westenausgebildet würden. Angeblich sollen auch Cuspert undMahmoud versucht haben, sich in der ostlibyschen OrtschaftDerna Ansar al-Scharia anzuschließen. Inzwischen seienbeide nach Ägypten zurückgekehrt.Ob in Ägypten oder sonst wo: Mahmoud und Cuspertsind wieder aktiv und intensivierten ihre Propagandaarbeitin Wort, Bild und Ton. Als Folge hetzen bspw. die vonAbu Assad al-Almani verfassten Schriften „Abrechnung mitDeutschland“ und „<strong>Die</strong> Freiheit im Dschihad“ in deutlichenWorten gegen „Drecks-Kuffar“ und rufen zum Dschihad imIn- und Ausland auf. <strong>Die</strong> Gewaltlosigkeit der deutschen Salafistennach den NRW-Provokationenwird darin als Mittäterschaftan der Schmähung des Prophetenuminterpretiert. „<strong>Die</strong> deutschenKreuzritter“ hätten demnachihren Hass gegen den Islamerneut unter Beweis gestellt, weshalbdie „wertlosen Halbaffen“zu bestrafen seien.In einem kürzlich veröffentlichtenStreifen trägt Mahmoud gareine Kalaschnikow, was wohl seineEntschlossenheit, den Dschihad-Weg zu beschreiten, betonen soll.Der Naschid-Rapper Cuspert adeltin einem „Gedicht“ den „LöwenMurat K.“ und ruft die gewaltbereitenSalafisten auf, den verurteiltenMesserstecher freizupressen:„Wir werden niemals ruhen, ehewir dich nicht aus deiner Gefangenschaftbefreit haben. […] JederBeleidiger des Gesandten wirdgeschlachtet, ob fern oder nah.Und wisse, oh Bruder, die Deutschensind auch zum Greifen nah.Wir werden sie gefangen nehmen,bis du frei bist für deine edle Tat.“In einem Naschid mit dem Namen „Chichan“ besingt erden Dschihad in Tschetschenien, in einem anderen Kampflied– die Liebe, für Allah zu sterben (sic).In einem Naschid mit dem Titel „<strong>Die</strong> Ummah“ spricht ein„deutscher Mujahid“ Abu Azzam al-Almani erneute Drohungengegen Deutschland und die Bundeskanzlerin aus:„Unsere Truppen sind schon da, welch eine Freude […]. Ihrwerdet bluten, eure Köpfe werden rollen! […] Oh Allah, gibdem deutschen Volk was es verdient!" Reflexartig preist AbuAzzam in seinem selbst für pakistanische Verhältnisse äußerstschlecht gemachten „Kampflied“ bin Laden: „Osama, warteauf uns, wir haben Blut gerochen“. „Wir wollen Obama undMerkel tot sehen!“, heißt es weiter.Kurzum: Millatu Ibrahim als radikalisierendes Fermentist nicht verschwunden. Eher umgekehrt ist der Fall: <strong>Die</strong>Gruppe hat ihre – virtuelle – Präsenz ausgebaut. Inzwischenist die GIMF mit zahlreichen Beiträgen auf einschlägigenForen präsent. Zugleich hat sich das radikale Milieu inDeutschland jedoch verkleinert, was die Wirkungskraft derPropaganda wahrscheinlich verringern dürfte. Nichtsdestotrotzist die Gefahr des deutschen Dschihad noch nichtgebannt.Anmerkungen1 U.S. Departement of State: „Terrorist Designations of Yassin Chouka, Monir Choukaand Mevlut Kar, 26.01.2012, http://www.state.gov/r/pa/prs/ps/2012/01/182550.htm, (30.01.2012).2 Vgl. Barack Obama jagt Bonner Islamisten mit Todes-Drohne, unter: http://www.bild.de/regional/koeln/terrorismus/obama-jagt-koelner-islamist-24483888.bild.html (5. Juni 2012).3 Senatsverwaltung für Inneres uns Sport (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2011,Berlin, S. 26.4 Anklage gegen ein mutmaßliches Mitglied von Al Qaida und Al Shabab, unter:http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?themenid=15&newsid=465(21.01.<strong>2013</strong>).5 Michail Logvinov: „Denn wir sind im Dschihad“ – Deutschstämmige Salafisten zwischenMissionierung und Kampf, in: Gerhard Hirscher, Eckhard Jesse (Hrsg.): Extremismusin Deutschland. Schwerpunkte, Vergleiche, Perspektiven, Baden-Baden<strong>2013</strong>, S. 285-303, hier S. 303.„Wir haben Blut gerochen“: Der Blutrausch der Schreibtisch-Mudschaheddin, Drohung als kostenlose Werbung in eigenerSache.30<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


StrafrechtlicheRechtsprechungsübersichtWir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend– jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. ImAnschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweiseüber Juris möglich ist.Dirk Weingarten,Polizeihauptkommissar & Ass. jur.Polizeiakademie HessenRechtsprechungI. Materielles Strafrecht§§ 211, 212 StGB – Mord: Voraussetzungen der niedrigenBeweggründe und der Arg- und Wehrlosigkeit beimÜbergang von Körperverletzungs- zu Tötungshandlungen.Der Angeklagte (A.) hatte mit seiner Ehefrau etlicheStreitigkeiten ohne Tätlichkeiten, mehrfache Versöhnungenund Trennungen. <strong>Die</strong> Geschädigte hatte zwischenzeitlich einintimes Verhältnis zu einem Bekannten des A. und war ausgezogen.In der Folgezeit versuchte der A. sie immer wiedertelefonisch zu erreichen, erschien vor ihrer Wohnung sowiean ihrer Arbeitsstelle und beobachtete sie. Am Tattag nahmder A. Lederhandschuhe mit und steckte ein Küchenmessermit einer 19 cm langen Klinge in seine Jackentasche, umseine Ehefrau zu töten, falls das Gespräch mit ihr „nicht inseinem Sinne“ verlaufen werde. Er versteckte sich in einemGebüsch, um sie zu überraschen, weil er befürchtete, dasssie sofort umkehren würde, falls sie ihn entdeckte. Als dieGeschädigte mit dem Auto wegfahren wollte, verließ A.sein Versteck, öffnete die Beifahrertür und setzte sich aufden Beifahrersitz. Zwischen A. und der Geschädigten kames zu lautstarken verbalen Auseinandersetzung. Der A.wurde daraufhin äußerst wütend und schlug seine Ehefrau,die aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen mit ihm (weiterhin)nicht mit einem Angriff rechnete, mit der rechten Faustins Gesicht. Sie schrie weiter und er schlug mehrfach aufsie ein. Während der Auseinandersetzung zog der beträchtlichaffektiv aufgeladene, in seiner Steuerungsfähigkeit abernicht beeinträchtigte A. – „in dem sich nunmehr realisierendenEntschluss, sie zu töten“ – das Küchenmesser aus derJackentasche und begann auf seine Frau einzustechen. SeinOpfer versuchte, die Stiche mit den Händen abzuwehrenund trug bereits zu diesem Zeitpunkt durch das Messer mindestenseine blutende Verletzung davon. Im weiteren Verlaufgelang es der Geschädigten, die Fahrertür zu öffnen undaus dem Auto zu entkommen. Der A. folgte ihr unmittelbardurch die Fahrertür und brachte seine Frau, die bis dahin imWesentlichen Blutergüsse am Kopf und einen Nasenbeinbrucherlitten hatte, neben dem Fahrzeug zu Boden. Sodannfügte er seinem Opfer – weiterhin um es zu töten – eine tiefe,bis an die Wirbelsäule heranreichende Schnittverletzung amHals zu, die dazu führte, dass sie innerhalb kurzer Zeit anOrt und Stelle verblutete.Gefühlsregungen wie Eifersucht, Wut, Ärger, Hass undRache kommen in der Regel nur dann als niedrige Beweggründein Betracht, wenn sie ihrerseits auf niedrigenBeweggründen beruhen, was am ehesten der Fall ist, wenndiese Gefühlsregungen jeglichen nachvollziehbaren Grundentbehren. Beim Vorliegen eines Motivbündels beruht dievorsätzliche Tötung auf niedrigen Beweggründen, wenn dasHauptmotiv, welches der Tat ihr Gepräge gibt, nach allgemeinersittlicher Wertung in deutlich weiter reichendemMaße als bei einem Totschlag auf tiefster Stufe steht und deshalbverwerflich ist. Daran gemessen ist es nicht zu beanstanden,dass das LG keine Tötung aus niedrigen Beweggründenangenommen hat.Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtungdie Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessenTötung ausnutzt. <strong>Die</strong>se können auch gegeben sein, wenn derTäter zunächst nur mit Körperverletzungsvorsatz handelt,und dann unter bewusster Ausnutzung des Überraschungseffektsunmittelbar zur Tötung übergeht, und es dem Opferinfolge des überraschenden Angriffs nicht möglich ist, sichErfolg versprechend zur Wehr zu setzen, so dass die hierdurchgeschaffene Situation bis zur Tötungshandlung fortdauert.Erstreckt sich die Tat von den mit Verletzungsvorsatzgetragenen Angriffen auf das Opfer mittels Faustschlägen biszu den mit Tötungsvorsatz geführten Angriffen mittels einesMessers über einen längeren Zeitraum hin, so kann es gegenArg- und Wehrlosigkeit des Opfers sprechen, wenn diesessich nach dem ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffgegenüber weiteren Angriffen zur Wehr setzen und zunächstkurzfristig fliehen konnte. Das LG hat sich mit der heimtückischenTötung rechtsfehlerfrei befasst und nicht auf Heimtückeerkannt. (BGH, Urt. v. 01.03.2012 – 3 StR 425/11)§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Gefährliche Körperverletzung:Ausnutzung eines Überraschungsmoments beiAngriff von hinten als hinterlistiger Überfall. Der Angeklagte(A.) wollte aus einem Haus Geld oder sonstige stehlenswerteGegenstände entwenden, um damit den Erwerbvon Drogen zu finanzieren. Als er den Eigentümer des Hausesauf dem Grundstück bemerkte, versteckte sich der A.hinter einem Gebüsch. <strong>Die</strong>ser näherte sich diesem Gebüsch.Daher fürchtete der A. seine Entdeckung, griff ihn von hintenan und schlug auf diesen ein, um aus dem Haus etwas zustehlen, noch verwirklichen zu können.Ein hinterlistiger Überfall i. S. v. § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGBsetzt voraus, dass der Täter seine Verletzungsabsicht planmäßigverbirgt. Hat der A. den Eigentümer eines Hausesvon seinem Versteck aus von hinten angegriffen, um seineAbsicht noch verwirklichen zu können, so ist eine solche<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>31


Strafrechtliche RechtsprechungsübersichtRechtsprechungPlanmäßigkeit nicht belegt. Allein der Umstand, dass derA. den Angriff von hinten ausführte und dabei ein Überraschungsmomentausnutzte, begründet keine Hinterlist.(BGH, Beschl. v. 02.05.2012 – 3 StR 146/12)II. Prozessuales Strafrecht§ 81h StPO – Kein Verwertungsverbot für rechtswidrigerlangte Daten aus Massengentest. Der Angeklagte (A.) hatim Juli 2010 früh morgens als damals 16-Jähriger eine Fußgängerinzu Boden gerissen, massiv mit Fäusten geschlagenund anschließend vergewaltigt. Das LG hat die Verurteilungim Wesentlichen darauf gestützt, dass mehrere DNA-Spurendes A. an Kleidungsstücken des Opfers festgestellt werdenkonnten. Im Rahmen eines Reihengentests (§ 81h StPO) von2.400 erwachsenen Männern aus der näheren Region wurdebei zwei Proben eine starke, aber keine volle Ähnlichkeit mitdem Tätermaterial festgestellt. Bei diesen beiden Personenhandelte es sich um Verwandte des A. Aufgrund dieses „Beinahetreffers“hat die Polizei einen Gerichtsbeschluss für eineDNA-Probe des A. erwirkt, der als Minderjähriger nicht indas Raster des Massengentests fiel. <strong>Die</strong>se Untersuchung derDNA des A. erbrachte eine Übereinstimmungswahrscheinlichkeitvon 1 zu 1,3 Trillionen. Außerdem hat das LG aufgrundvon Zeugenaussagen festgestellt, dass sich der A. vorund nach der Tat in einer Diskothek in der Nähe des Tatortsbefand.Der A. hat mit einer Verfahrensrüge insbesondere geltendgemacht, die bei der molekulargenetischen Reihenuntersuchungfestgestellten DNA-Identifizierungsmuster hättennicht auf verwandtschaftliche Ähnlichkeiten abgeglichenund im weiteren Verfahren nicht gegen ihn verwertet werdendürfen.Der BGH hat zunächst die von der Revision behauptetenVerfahrensfehler bei der Durchführung der DNA-Reihenuntersuchungverneint. Jedoch hätte die bei der Auswertung derProben festgestellte mögliche verwandtschaftliche Beziehungzwischen dem Vater und dem Onkel des A. mit dem mutmaßlichenTäter nicht als verdachtsbegründend gegen den A.verwendet werden dürfen. Denn § 81h Abs. 1 StPO erlaubeden Abgleich von DNA-Identifizierungsmustern nur, soweitdies zur Feststellung erforderlich sei, ob das Spurenmaterialvon einem der Teilnehmer der Reihenuntersuchung stamme.Gleichwohl hat der BGH entschieden, dass die Übereinstimmungdes DNA-Identifizierungsmusters des A. mitdemjenigen der Tatspur vom LG bei seiner Überzeugungsbildungverwertet werden durfte. Zwar sei dieses Identifizierungsmusterrechtswidrig erlangt worden; denn der ermittlungsrichterlicheBeschluss, der die Entnahme von Körperzellendes A. zur Feststellung dieses Musters anordnete (§ 81aStPO), beruhte auf dem durch die unzulässige Verwendungder Daten aus der DNA-Reihenuntersuchung hergeleitetenTatverdacht gegen den A. Indes führe dies in dem konkretzu entscheidenden Fall bei der gebotenen Gesamtabwägungnicht zu einem Verwertungsverbot. Entscheidend hierfürsei der Umstand, dass die Rechtslage zum Umgang mit sog.Beinahetreffern bei DNA-Reihenuntersuchungen bishervöllig ungeklärt war und das Vorgehen der Ermittlungsbehördendaher noch nicht als willkürliche Missachtung desGesetzes angesehen werden könne. Der Verfahrensverstoßwiege daher nicht so schwer, dass demgegenüber die Interessender Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgunghier zurücktreten müssten. (BGH, Urt. v. 20.12.2012 – 3 StR117/12)III. SonstigesPolizeiliche Generalklausel wohl keine geeignete Rechtsgrundlagefür längerfristige polizeilichen Observierungeines aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen. MitBeschluss vom 10.09.2010 erklärte das OLG im Anschlussan die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte die Sicherungsverwahrung für erledigt, ordnetefür die Dauer von fünf Jahren Führungsaufsicht an undunterstellte den Beschwerdeführer (B.) der Bewährungshilfe.Gleichzeitig mit der Entlassung des B. aus der Sicherungsverwahrungordnete die PD Freiburg die längerfristige Observationdes B. zunächst für die Dauer von vier Wochen an undverlängerte diese Anordnung seither 14 mal, zuletzt bis zum05.10.2012. <strong>Die</strong> Polizei führt die Observation offen durch.Der B. bewohnt ein Zimmer in einer in einem Hinterhausgelegenen Unterkunft. Im Hof vor diesem Hinterhaus parktständig ein Polizeifahrzeug mit drei Polizeibeamten. Zweiweitere halten sich in der Küche der Unterkunft auf, wennsich der B. in seinem Zimmer befindet. Eine direkte Beobachtungdes B. in seinem eigentlichen Wohnraum findet nichtstatt. Außerhalb seiner Wohnung begleiten den B. ständigPolizisten. Bei Gesprächen des B. mit Ärzten, Rechtsanwältenund Bediensteten von Behörden sind die Beamten angewiesen,Abstand zu halten. Nimmt der B. ansonsten Kontaktzu Frauen auf, weisen die Polizisten sie mit einer sogenanntenGefährdetenansprache auf den Grund der Observationdes B. hin.Eine dauernde polizeiliche Observation stellt für denBetroffenen einen schwerwiegenden Grundrechtseingriffdar. <strong>Die</strong> vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschütztePrivatsphäre ist nicht auf den häuslichen Bereich beschränkt.Ob für die Durchführung dauerhafter Observationen derzeitin Baden-Württemberg eine tragfähige Rechtsgrundlagebesteht, ist zweifelhaft. <strong>Die</strong> §§ 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 PolGBW (Besondere Mittel der Datenerhebung) lassen wohl nureine – bei einer längerfristigen Observation nicht im Mittelpunktstehende – Datenerhebung zu. Erst recht ist fraglich,ob die polizeiliche Generalklausel der §§ 1, 3 PolG BW geeignetist, eine solche Maßnahme zu tragen. Vielmehr bedarf einelängerfristige Observation aufgrund ihrer weitreichendenFolgen möglicherweise einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage.In dem hier zu entscheidenden Fall durften dieGerichte für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzesund angesichts des Gewichts der in Frage stehenden Rechtsgüterdie polizeiliche Generalklausel als noch ausreichendeRechtsgrundlage für die dauerhafte Observation des B. ansehen.Der Sache nach verstehen die Gerichte damit die polizeilicheGeneralklausel dahingehend, dass sie es den Behördenermöglicht, auf unvorhergesehene Gefahrensituationenauch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigenMaßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen so demGesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. <strong>Die</strong>sist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt dannin der Verantwortung des Gesetzgebers hierauf zu reagierenoder in Kauf zu nehmen, dass solche Maßnahmen von denGerichten auf Dauer als von der geltenden Rechtslage nichtals gedeckt angesehen werden. (BVerfG, Kammerbeschluss v.08.11.2012 – 1 BvR 22/12)32<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>


Wichtiges in KürzeWichtiges in KürzeWare. Nach Informationen von UNICEF und der KinderschutzorganisationECPAT sind inzwischen mehr als einViertel der entdeckten Opfer Minderjährige, zwei Dritteldavon Mädchen.Der moderne Sklavenhandel mit Kindern und Jugendlichenhat nach Einschätzungen der Kinderrechtsorganisationenweltweit deutlich zugenommen. So sind nach Informationenvon UNICEF heute rund 27 Prozent der entdeckten Opfervon Menschenhandel Kinder und Jugendliche. Zwei Dritteldavon sind Mädchen. Immer noch werden viele Opfer vonKinder- und Menschenhandel nicht als solche erkannt odersind unzureichend geschützt – was die Strafverfolgung derTäter zusätzlich erschwert. Mehr – auch zum Lagebild Menschenhandel2011 des BKA: www.bka.de/KriminalitätsbekämpfungAlles im Blick: Mehr Videoüberwachung geplantBundesinnenminister Hans-Peter Friedrich will im Bundeshaushalt2014 die Mittel für Videoüberwachung von öffentlichenPlätzen aufstocken. Nach dem versuchten Bombenanschlagim Bonner Hauptbahnhof und der dort misslungenenumfassenden Videoüberwachung wurde das Thema erneutöffentlich diskutiert. Eine große Mehrheit der Deutschen– 81 Prozent – hatte sich nach einer Umfrage von Infratestdimap für verstärkte Videoüberwachung ausgesprochen.Mehr: www.bmi.de und www.infratest-dimap.deCyber-Angriffe: Friedrich plant Meldepflicht fürFirmenUm Deutschland wirksamer gegen die steigende Zahl vonCyber-Attacken zu schützen, will BundesinnenministerHans-Peter Friedrich (CSU) noch in dieser Legislaturperiodeeine Meldepflicht für die Betreiber sensibler Infrastruktur-Einrichtungenoder -Netze einführen. Wie die Zeitung„<strong>Die</strong> Welt“ berichtet, geht das aus einem Gesetzesentwurfdes Innenministeriums hervor. Vor allem Telekommunikationsanbieterwerden zudem verpflichtet, organisatorische undtechnische Vorkehrungen zu treffen, um die Nutzer bessergegen Angriffe über das Internet zu schützen. Hintergrundsind mögliche Cyber-Attacken durch Kriminelle, auch durchausländische Firmen und Staaten. Auch auf EU-Ebene wirdeine Meldepflicht angestrebt. Mehr: http://www.welt.de/KriminalpräventionDas dänische Projekt „Your Police Officer“ hat den diesjährigenPräventionspreis des Europäischen Netzwerkes fürKriminalprävention (European Crime Prevention Network– EUCPN) erhalten. Beim dem mit 10.000 EUR prämiertenProjekt handelt sich um einen neuen Ansatz bürgernaherPolizeiarbeit in städtischen Quartieren insbesondere mitProblemlagen. Das berichtet der DFK-Newsletter. Mehr:http://www.kriminalpraevention.deGefällt uns: Rettet die RetterDer Puppenfilm „Rettet die Retter – Abenteuer im Landeder Helfer“ soll Kindern schon früh Mut machen zu helfen.Vier Puppen – Garda, Tini, Sani und Marti – aus der Werkstattder Augsburger Puppenkiste zeigen, dass Hilfe nichtvon alleine kommt und dass es Spaß macht, anderen zu helfenund für sie da zu sein. Der sehenswerte Film entstand inKooperation des Bundesinnenministeriums mit der Arbeitsgemeinschaftder Hilfsorganisationen in Augsburg sowieder Augsburger Puppenkiste. Er ist gedacht vor allem fürvier- bis sechsjährige Kinder und kann von entsprechendenEinrichtungen genutzt werden. Aber auch für andere sehenswert:http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/<strong>2013</strong>/01/augsburger-puppenkiste.htmlExtremismusRechtsextremismus: BKA-Herbsttagung dokumentiert<strong>Die</strong> Ergebnisse der BKA-Herbsttagung 2012 zum Thema„Bekämpfung des Rechtsextremismus – eine gesamtgesellschaftlicheHerausforderung“ sind inzwischen dokumentiert.Referenten aus den Bereichen Politik, Sicherheitsbehörden/Polizei, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Medien hattendas Phänomen aus ihrer jeweiligen Perspektive beleuchtet.Unter http://www.bka.de/ finden sich Kurzfassungen derVorträge, eine Literaturzusammenstellung sowie die ausführlicheTextfassung des Beitrages Christian Bangel (<strong>Die</strong> ZEIT):„Wie können Medien dem Rechtsextremismus begegnen?“Nach einer Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftungzum Thema „Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland2012“ ist ein Anstieg rechtsextremen Denkens in Deutschlandfestzustellen. Mehr: www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/pdf_12/ergebnisse_mitte_studie_2012.pdfOpferhilfeWeisser Ring: Stiftung gegründet<strong>Die</strong> Opferschutzorganisation „Weisser Ring“ hat Ende vergangenenJahres die selbständige „Weisser Ring Stiftung“errichtet. <strong>Die</strong> Stiftung sorgt durch die Kapitalerträge des verwaltetenStiftungsvermögens für die nachhaltige finanzielleUnterstützung des Vereins „Weisser Ring e.V.“. Mehr: www.weisser-ring.deKonkret und hilfreich: Standardwerk „OpferFibel“ neuaufgelegtOpfer von Straftaten haben ein Recht auf Schutz, Achtungihrer Rechte, Anerkennung und Unterstützung. <strong>Die</strong> vomBundesministerium der Justiz herausgegebene Informationsbroschüre„OpferFibel – Rechte von Verletzten und Geschädigtenin Strafverfahren“ ist nun in einer neuen Auflage inPrint und Online erhältlich. Sie gilt gilt als überregionalesStandardwerk zum Opferschutz im Strafverfahren und bietetumfassende und nützliche Informationen zum Strafverfahrenund zu den besonderen Rechten der Opfer von Straftaten.<strong>Die</strong> Broschüre ist in gut verständlicher Sprache geschriebenund bietet auch so konkrete Hilfen wie beispielsweise Musterschreiben.Mehr: http://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/broschueren_fuer_warenkorb/DE/OpferFibel.pdf?__blob=publicationFileForschungPolizeiforschung: Autonom und ohne Zensur„Polizei braucht Forschung“ ist eine der Kernthesen einerResolution von Polizeiwissenschaftlern und -praktikern, diesich an alle Verantwortlichen in Ministerien, Präsidien undHochschulen und Akademien richtet. <strong>Die</strong> Resolution verdeutlichtdie Notwendigkeit von hinreichenden Ressourcensowie administrativer Unterstützung für unabhängige undpraxisrelevante Forschung. Mehr (und Angebot zur Unterzeichnung):http://www.empirische-polizeiforschung.de/resolution.php34<strong>Die</strong> <strong>Kriminalpolizei</strong> Nr. 1 | <strong>2013</strong>

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