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Olaf Ringelband & Gerd Reitzig

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<strong>Olaf</strong> <strong>Ringelband</strong> & <strong>Gerd</strong> <strong>Reitzig</strong>:<br />

Einzel-Assessment:<br />

Erfahrungen mit einem<br />

entwicklungsorientierten<br />

Verfahren der<br />

Management–Diagnostik<br />

Schriftliche Fassung eines Vortrages, gehalten auf dem 17. Kongreß für angewandte<br />

Psychologie vom 23.-26.9.1993 in Bonn


Das Einzel-Assessment ist ein Verfahren, über das - im<br />

Vergleich zum Assessment-Center - bisher relativ wenig<br />

publiziert wurde. Im folgenden soll an einem Fallbeispiel<br />

dargestellt werden, wie das Einzel-Assessment in einem<br />

Unternehmen als Bestandteil der Management-Planung<br />

eingesetzt wird. Dazu stellen die Autoren ihre Erfahrungen<br />

aus nunmehr über 250 Einzel-Assessments dar und disku-<br />

tieren sie.<br />

Das Einzel-Assessment als Management-Diagnosti-<br />

sches Verfahren<br />

Das Einzel-Assessment gehört zur Kategorie der Manage-<br />

ment-Diagnostik-Verfahren. Seine Entstehungsgeschichte<br />

ist eng mit der Geschichte des Assessment-Centers<br />

verknüpft (Schmid, S. 568). Die Zielsetzung beim Einzel-As-<br />

sessment ist ähnlich wie beim Assessment-Center: Es soll<br />

eine Aussage über die Management- und Führungsbefähi-<br />

gung von Führungskräften getroffen werden.<br />

Ähnlich wie beim Assessment-Center werden dazu ver-<br />

schiedene, sich ergänzende Einzelverfahren eingesetzt, die<br />

facettenartig Informationen über den Kandidaten liefern<br />

und insgesamt eine integrierte Betrachtung der Persönlich-<br />

keit eines Kandidaten ermöglichen.<br />

Nach Schmid (1990) läßt sich ein Einzel-Assessment wie<br />

folgt beschreiben:<br />

• Es findet im Einzelversuch statt,<br />

• es besteht aus verschiedenen, sich ergänzenden<br />

Verfahren,<br />

• das Ergebnis ist ein integriertes<br />

Persönlichkeitsbild des Kandidaten, das<br />

• dem Auftraggeber und Teilnehmer so<br />

zurückgemeldet wird, daß eine kritisch-<br />

selbstkritische Auseinandersetzung mit den<br />

Ergebnissen möglich ist.<br />

Für uns ist insbesondere der letzte Punkt von zentraler Be-<br />

deutung: Das Einzel-Assessment ermöglicht es Führungs-<br />

kräften und Unternehmen eine so differenzierte Form der<br />

Rückmeldung über eine Person zu erhalten, wie sie weder<br />

durch andere diagnostische Verfahren möglich, noch im<br />

Berufsalltag üblich ist. Insbesondere für Personen in höhe-<br />

ren hierarchischen Positionen ist das Einzel-Assessment un-<br />

serer Meinung nach das am besten geeignete diagnostische<br />

- 2 -<br />

Instrument zu Potentialerkennung und individuellen Ent-<br />

wicklungsplanung.<br />

Ablauf und Methoden des Einzel-Assessments<br />

Rahmenbedingungen<br />

Auftraggeber eines Einzel-Assessments sind Unternehmen,<br />

die diagnostische Informationen über einen Kandidaten ha-<br />

ben möchten. Mit der Durchführung wird eine Beratungs-<br />

firma beauftragt (z.B. diejenige, in der die Autoren tätig<br />

sind), die für die Durchführung des Einzel-Assessments zu-<br />

ständig ist, den Kandidaten während des Tages betreut und<br />

die Informationen über den Kandidaten mit Hilfe diagnosti-<br />

scher Instrumente zusammenträgt. Der Auftraggeber ist<br />

mitunter beim Einzel-Assessment vertreten; auf jeden Fall<br />

treffen die Vertreter des Unternehmens (mit Hilfe der Bera-<br />

ter) die Entscheidung - falls der Kandidat eine bestimmte<br />

Position besetzen soll.<br />

Standardmäßig besteht die von uns im Einzel-Assessment<br />

verwendete diagnostische Palette aus vier verschiedenen<br />

Verfahren: der "Selbsteinschätzung", einem Persönlich-<br />

keitsfragebogen, einer Computersimulation sowie dem In-<br />

terview - diese Verfahren werden weiter unten dargestellt.<br />

In Abhängigkeit von der Fragestellung, die der Auftragge-<br />

ber hat, werden diese Verfahren um weitere diagnostische<br />

Verfahren (z.B. weitere Fragebögen) ergänzt.<br />

Für jedes Einzel-Ergebnis gilt dabei: isoliert betrachtet er-<br />

laubt es keine Aussage über den Kandidaten, sondern bil-<br />

det nur Arbeitshypothesen, die durch die Ergebnisse der<br />

anderen diagnostischen Verfahren - insbesondere durch<br />

das Interview - validiert werden müssen.<br />

Begrüßung<br />

Das Einzel-Assessment findet i.d.R. nicht im Unternehmen,<br />

sondern in einem Seminarhotel oder in der Räumen unse-<br />

rer Beratungsfirma statt. Der Kandidat wird morgens vom<br />

Diagnostiker - seinem Betreuer während des Tages - be-<br />

grüßt. Aus einem einführenden Gespräch werden die ge-<br />

genseitigen Erwartungen an das Verfahren geklärt. Für den<br />

Diagnostiker ist es wichtig zu erfahren, mit welchen Erwar-<br />

tungen, Hoffnungen oder Befürchtungen der Kandidat das


Verfahren angeht. Der Diagnostiker verdeutlicht dem Kan-<br />

didaten wiederum die Zielsetzung des Einzel-Assessments,<br />

er stellt ihm den Ablauf und die einzelnen Schritte des Ver-<br />

fahren und die Zielsetzung vor (s. Abbildung 1).<br />

Wichtig ist, daß die Rollenverteilung zwischen Kandidat<br />

und Diagnostiker klar ist. Aus unserer Sicht ist der Kandidat<br />

keine "Testperson, über die der Diagnostiker durch psy-<br />

chologisch 'ausgeklügelte' Verfahren Informationen ge-<br />

winnt, die sie unter Umständen freiwillig nicht geben wür-<br />

de", sondern ein Partner. Ein "Partner" soll aktiv daran mit-<br />

arbeiten (können), damit im Laufe eines Tages ein mög-<br />

lichst facettenreiches Bild von seiner Person entsteht, de-<br />

ren Sicht ihrer selbst (Selbstbild) als eine wichtige diagno-<br />

stische Quelle in den diagnostischen Prozeß einfließt und<br />

die der Diagnostiker nicht mit "psychologischen Tricks" zu<br />

überraschen versucht.<br />

Selbsteinschätzungsbogen<br />

Das erste Verfahren be-<br />

steht darin, daß der<br />

Kandidat einen (von<br />

uns entwickelten) Fra-<br />

gebogen ausfüllt - die<br />

"Selbsteinschätzung".<br />

In diesem werden dem<br />

Kandidaten verschiede-<br />

neEigenschaften/Ver- haltensweisenvorgege- ben, deren Ausprägung<br />

er bei sich selbst ein-<br />

schätzen soll. Diese Ei-<br />

genschaften und Verhal-<br />

tensweisen sind nach<br />

bestimmten Oberbegrif-<br />

fen (z.B. "Umgang mit<br />

Problemen", "Selbstver-<br />

trauen") gegliedert. Ins-<br />

gesamt umfassen die<br />

einzelnen Items die<br />

wichtigsten Konstituen-<br />

ten von Führungsver-<br />

halten aus den Berei-<br />

chen Kognition, Antrieb<br />

und Soziale Interaktion.<br />

Dem Kandidat wird zur Einschätzung eine Skala angeboten,<br />

an Hand derer er deutlich machen soll, wo er selbst seine<br />

Stärken und Schwächen sieht.<br />

Der diagnostische Nutzen des Selbsteinschätzungsbogens<br />

liegt zuerst darin, eine erste Selbstauskunft des Kandidaten<br />

zu gewinnen. Dieser Selbstauskunft messen wir, wie oben<br />

erwähnt, grundsätzlich eine hohe Glaubwürdigkeit zu: Er-<br />

fahrene Führungskräfte wissen häufig um ihre Schwächen<br />

und Stärken. Aus zwei Gründen kann diese Selbstauskunft<br />

weniger aussagekräftig sein: Erstens stellt sich der Kandidat<br />

aufgrund des Prüfungscharakters der Situation im Sinne so-<br />

zialer Erwünschtheit dar, er weiß also um bestimmte<br />

Schwächen, sucht Sie aber zu verbergen. Zweitens besitzt<br />

der Kandidat ein unrealistisches Selbstbild - er kennt also<br />

seine Schwächen nicht.<br />

Aus diesen beiden Gründen heraus wird auf den Selbstein-<br />

schätzungsbogen an späterer Stelle im Verlauf des Einzel-<br />

Assessments noch einmal eingegangen: Im später stattfin-<br />

denden Interview hinterfragt der Interviewer die Selbstaus-<br />

Ablauf des Einzel-Assessments<br />

8.30 Uhr Begrüßung des Kandidaten; Klärung<br />

der gegenseitigen Erwartungen an<br />

den Tag<br />

Selbsteinschätzungs-Fragebogen<br />

9.00 Uhr Persönlichkeitstest (Deutscher CPI)<br />

10.00 Uhr Einarbeitung in Computersimulation<br />

10.30 Uhr Computersimulation (MANAGE!)<br />

13.00 Uhr Rückmeldung zur Computersimulation<br />

13.30 Uhr Mittagspause<br />

Vorbereitung Einzelvortrag<br />

14.15 Uhr Einzelvortrag<br />

14.30 Uhr Interview<br />

17.00 Uhr Beratung der Beobachter; Vorbereiten<br />

der Rückmeldung<br />

18.00 Uhr Rückmeldung an den Kandidaten<br />

ca 19.00 Uhr Ende des Tages<br />

Abbildung 1:<br />

Beispielhafter Ablauf eines Einzel-Assessments<br />

- 3 -<br />

kunft des<br />

Kandidaten<br />

bzw. hat der<br />

Kandidat Ge-<br />

legenheit,sei- neSelbstein- schätzung zu<br />

erläutern.<br />

Persönlich-<br />

keitstest<br />

Als zweites<br />

Verfahren set-<br />

zen wir einen<br />

psychologi-<br />

schenPersön- lichkeitstest<br />

ein. Wir ver-<br />

wenden den<br />

Deutschen<br />

CPI in einer<br />

revidierten<br />

Form (Form<br />

462, s. Wei-<br />

nert, in Vor-


ereitung). Der CPI ist ein aus unserer Sicht für Zwecke der<br />

Management-Diagnostik hervorragend geeignetes Testver-<br />

fahren. Das hat folgende Gründe:<br />

• Der CPI ist ein Persönlichkeitstest, dessen Skalen<br />

sehr pragmatische, führungsrelevante Eigen-<br />

schaften messen.<br />

• Der CPI ist in verschiedene Sprachen (u.a. Eng-<br />

lisch und Französisch) übertragen worden. Da<br />

Führungskräfte in Großunternehmen zuneh-<br />

mend multikulturell sind, ist es wünschenswert,<br />

ein Testverfahren anzuwenden, daß auch für Per-<br />

sonen aus anderen Kulturkreisen anwendbar ist.<br />

• Zum CPI existieren zahlreiche Untersuchungen,<br />

die den Zusammenhang zwischen einzelnen Ska-<br />

len und bestimmten Facetten von Führungsver-<br />

halten beschreiben (s. z.B. Megargee & Carbo-<br />

nell, 1988).<br />

• Es gibt Interpretationshinweise, die speziell auf<br />

Führungskräfte zugeschnitten sind (McAllister,<br />

1988).<br />

Das Ergebnis des Deutschen CPI ist ein Profilblatt, in dem<br />

die Ausprägung von 22 für Führung relevanten Eigenschaf-<br />

ten (z.B. Dominanz oder Verantwortlichkeit) veranschau-<br />

licht werden (s. Weinert, 1990).<br />

Computersimulation<br />

Der dritte Teil des Tages besteht darin, daß der Kandidat<br />

ein komplexes, vernetztes System über einen bestimmten<br />

Zeitraum hinweg (2 1/2 Stunden) steuern soll. Aus dem<br />

Umgang mit diesem komplexen System erhalten wir verläß-<br />

liche Hinweise auf die geistige Leistungsfähigkeit des Kan-<br />

didaten in einem bestimmten Bereich: dem der Einzelar-<br />

beit an einem hochkomplexen System. Anders als bei vie-<br />

len Aufgaben, die Kandidaten im Job bearbeiten, können<br />

sie sich bei dieser Computersimulation nicht auf Fachwis-<br />

sen stützen, sondern sie müssen sich unter Zeitdruck selbst<br />

Modelle des Systems bilden und diese in Entscheidungen<br />

umsetzen.<br />

Für uns ist die Fähigkeit zum vernetzten Denken der für<br />

Führungskräfte wichtigste Aspekt der kognitiven Fähigkei-<br />

ten (vgl. Ulrich & Probst, 1988). Herkömmliche Leistungs-<br />

maße (z.B. Intelligenz - vgl. Trost & Fay, 1990) scheinen di-<br />

agnostisch für Führungspositionen wenig relevante Infor-<br />

mationen zu liefern - wohl auch weil diese Parameter beim<br />

- 4 -<br />

größten Teil der Führungskräfte überdurchschnittlich aus-<br />

geprägt sind.<br />

Wir verwenden zur Diagnostik der Fähigkeit zum vernetz-<br />

ten Denken die Computersimulation "MANAGE!" (Birkhan<br />

& <strong>Reitzig</strong>, 1989). MANAGE! ist eine sehr komplexe Compu-<br />

tersimulation; die Versuchsperson kann auf einige hundert<br />

Variable zugreifen. Inhaltlich geht es bei dieser Computer-<br />

simulation darum, ein auf dem Computer simuliertes Ho-<br />

telunternehmen erfolgreich zu managen. Vorausgesetzt<br />

werden Kenntnisse eines normalen Hotelbesuchers. Das<br />

Hotel besteht aus verschiedenen Bereichen (Zimmer, Re-<br />

staurant, Bar etc.), die alle langfristig in einen positiven Zu-<br />

stand gebracht werden sollen. Eine Konkretisierung, wie<br />

dieser "positive Zustand" aussieht, erhält der Kandidat<br />

nicht. Teil seiner Aufgabe ist es, eine sehr allgemeine Ziel-<br />

vorgabe in konkrete Ziele und Strategien umzusetzen. In<br />

dieser Hinsicht entspricht die Computersimulation der Ma-<br />

nagerrealität, in der der Manager häufig mit sehr unstruktu-<br />

rierten und diffusen Problemstellungen konfrontiert wird.<br />

Die Bedienung von MANAGE! ist auch für computeruner-<br />

fahrene Kandidaten einfach zu lernen: Sie erfolgt über eine<br />

maus- und menügesteuerte Oberfläche. Vor der eigentli-<br />

chen Übung hat der Kandidat Gelegenheit, sich durch ein<br />

vom Computer durchgeführtes Lernprogramm mit der Be-<br />

dienung des Computers vertraut zu machen (dieses Lern-<br />

programm ist natürlich ohne Zeitbegrenzung und wird<br />

nicht in die Bewertung einbezogen).<br />

Die eigentliche Übung dauert dann 2 1/2 Stunden. Wäh-<br />

rend dieser Zeit soll der Kandidat eine bestimmte Anzahl<br />

von vorgegebenen, simulierten "Monaten" durchlaufen.<br />

Der Computer zeichnet während der Bedienung alle Einga-<br />

ben des Kandidaten und deren Auswirkungen auf. Diese<br />

Aufzeichnung erlaubt es im nachhinein, detailliert die Ein-<br />

griffe und Strategien des Kandidaten zu verfolgen.<br />

Nachdem der Kandidat 2 1/2 Stunden mit dem System ge-<br />

arbeitet hat, bricht der Computer die Übung ab. Der Be-<br />

treuer ruft die Auswertung auf, in der die Eingriffe des Kan-<br />

didaten in Form von Grafiken nachverfolgt werden kön-<br />

nen. Kandidat und Betreuer gehen gemeinsam die vom Sy-<br />

stem erstellten Grafiken durch. Der Betreuer fragt den Kan-<br />

didaten dabei nach seinen Strategien, seinen Überlegungen<br />

und seinen Bewertungen der Reaktionen des Systems.<br />

Schließlich bekommt der Kandidat abschließend noch eine<br />

summarische Zusammenfassung seiner Leistung in einem<br />

sogenannten "Systemdenken-Profil": Das System faßt das<br />

Verhalten des Kandidaten zu einigen globalen Kennwerten


zusammen und vergleicht diese mit einer Normstichprobe<br />

von Managern, die bisher mit dem System gearbeitet ha-<br />

ben.<br />

Anders als bei den vorhergehenden Übungen erhält der<br />

Kandidat hier also gleich anschließend eine Rückmeldung.<br />

Dafür gibt es verschiedene Gründe:<br />

Interview<br />

• Der Kandidat arbeitet 2 1/2 Stunden lang in-<br />

tensiv mit dem System. In der Regel haben die<br />

Kandidaten ein starkes Bedürfnis, anschließend<br />

eine kurze Rückmeldung zu erhalten.<br />

• Die meisten Kandidaten haben nach der Arbeit<br />

mit dem System eher das Gefühl, schlecht ab-<br />

geschnitten zu haben.Weil das System so kom-<br />

plex ist, fällt es vielen schwer, die wichtigsten<br />

Zusammenhänge zu durchschauen. In der<br />

Rückmeldung wird dann das "schlechte Ge-<br />

fühl" der Kandidaten häufig relativiert.<br />

• Der wichtigste Grund ist ein diagnostischer:<br />

Wir denken, daß eine Diagnose der System-<br />

denkfähigkeit nicht allein auf dem fußen darf,<br />

was der Kandidat an Eingriffen getan hat.<br />

Wichtig ist für uns auch das warum - also die<br />

Überlegungen, Strategien und Erklärungen des<br />

Kandidaten.<br />

Wenn man eine Person diagnostisch einschätzen möchte,<br />

so ist es zwingend notwendig, sie auch persönlich kennen-<br />

zulernen. Dazu dient das Interview. Es ist bekannt, daß ein<br />

strukturiertes Interview eine hohe Validität erreicht (Hun-<br />

ter & Hirsch, 1987). Wir führen halbstrukturierte Inter-<br />

views, die in etwa dem bei Sarges (1990) skizzierten Vorge-<br />

hen entsprechen.<br />

Aus Gründen der Objektivität wird das Interview von einem<br />

zweiten Diagnostiker geführt. Der Diagnostiker, der den<br />

Kandidaten bis dahin den Tag über begleitet hat, protokol-<br />

liert das Interview.<br />

Da das Interview lebenslauforientiert geführt wird, kann es<br />

unterschiedlich lang sein. Bei älteren Kandidaten kann es<br />

bis zu 3 Stunden dauern, mindestens jedoch 1 1/2 Stunden.<br />

Innerhalb des Interviews gehen Kandidat und Interviewer<br />

gemeinsam den Selbsteinschätzungsbogen durch, den der<br />

Kandidat am Morgen ausgefüllt hat; der Interviewer hinter-<br />

fragt Einschätzungen, die er nicht nachvollziehen kann,<br />

und der Kandidat erläutert Einschätzungen, die er erklären<br />

- 5 -<br />

möchte.<br />

Nach Möglichkeit sollten beim Interview Vertreter des auf-<br />

traggebenden Unternehmens (etwa der Vorgesetzte des<br />

Kandidaten oder ein Vertreter des Personalbereichs) zuge-<br />

gen sein. Diese beteiligen sich nicht an der Interviewfüh-<br />

rung, sondern haben am Ende des Interviews die Gelegen-<br />

heit, noch ein oder zwei Fragen zu stellen, die für sie noch<br />

offen geblieben sind.<br />

Auswertung / Vorbereitung der Rückmeldung<br />

Im Anschluß an das Interview wird die Rückmeldung (in<br />

Abwesenheit des Kandidaten) vorbereitet und eine diffe-<br />

renzierte Einschätzung des Kandidaten vorgenommen. So-<br />

fern Vertreter des Unternehmens am Verfahren beteiligt<br />

sind, ergänzen diese die im Laufe des Tages gewonnenen<br />

Informationen durch Informationen aus der betrieblichen<br />

Praxis. Die Einschätzung wird, sofern vorhanden, anhand<br />

eines vom Unternehmen erstellten Anforderungsprofils an<br />

Führungskräfte vorgenommen. Existiert kein solches Anfor-<br />

derungsprofil, verwenden wir einen in unserem Haus ent-<br />

wickelten Kriterienkatalog.<br />

Die Einschätzung umfaßt auf jeden Fall die drei Bereiche<br />

"kognitive Fähigkeiten", "Antrieb" und "soziale Fähigkei-<br />

ten".<br />

Abschließend erhält der Kandidat eine umfassende Rück-<br />

meldung. Zuerst bekommt er die Ergebnisse der einzelnen<br />

Testverfahren (Selbsteinschätzungsbogen, Persönlichkeits-<br />

fragebogen, Computersimulation) zurückgemeldet und an-<br />

schließend ein ganzheitlich-analytisches Fremdbild, das im<br />

Laufe des Tages entstanden ist. Diagnostisch ist für uns die<br />

Rückmeldung ein wichtiger Bestandteil des Prozesses (vgl.<br />

<strong>Ringelband</strong> & Birkhan, 1990), denn die Reaktion des Kandi-<br />

daten auf das rückgemeldete Fremdbild rundet die diagno-<br />

stischen Informationen ab. Häufig ergeben sich aus dem<br />

Rückmeldungsgespräch Fragen des Kandidaten, wie er z.B.<br />

an rückgemeldeten Schwächen arbeiten kann. An dieser<br />

Stelle besteht die Möglichkeit, auf die individuellen Bedürf-<br />

nisse des Kandidaten einzugehen, die Rückmeldung an Bei-<br />

spielen zu vertiefen und gemeinsam Entwicklungspfade zu<br />

entwickeln.<br />

Das Unternehmen erhält als Ergebnis des Einzel-Assess-<br />

ments einen vertraulichen Bericht, in dem die Rückmel-<br />

dung an den Kandidaten noch einmal in schriftlicher Form<br />

zusammengefaßt wird. Wichtig ist, daß in diesem vertrauli-


chen Bericht keine Informationen enthalten sind, die nicht<br />

auch schon dem Kandidaten zurückgemeldet worden sind.<br />

Einzel-Assessment als Auswahlinstrument: ein Bei-<br />

spiel<br />

Der Einsatz eines Einzel-Assessments als Auswahlinstru-<br />

ment soll am Beispiel eines Unternehmens der Automobil-<br />

industrie dargestellt und diskutiert werden. In diesem Un-<br />

ternehmen werden Kandidaten, die eine Position als Füh-<br />

rungskraft einnehmen sollen, vom Vorstand auf Vorschlag<br />

eines Hauptabteilungs- oder Bereichsleiters hin ernannt<br />

(sowie einige formale Voraussetzungen z.B. eine freie<br />

Planstelle gegeben sind). Vor der Einführung von Einzel-<br />

Assessments geschah diese Ernennung zur Führungskraft<br />

i.d.R. auf Basis von wenigen Informationen über einen Kan-<br />

didaten. Insbesondere die überfachlichen (d.h. Führungs-<br />

)Qualitäten eines Kandidaten blieben dabei meistens unbe-<br />

rücksichtigt, da eine Ernennung zur Führungskraft auf<br />

Grund von Leistungen bei stark fachbezogenen Aufgaben<br />

geschah.<br />

Da das Unternehmen seit einigen Jahren (Gruppen-)As-<br />

sessment-Center bei der Auswahl von Führungsnachwuchs-<br />

kräften mit gutem Erfolg einsetzt, wurde 1990 für alle neu<br />

zu ernennenden Führungskräfte eine positive Empfehlung<br />

aus einem Einzel-Assessment zur Ernennungsvorausset-<br />

zung gemacht. Die Einzel-Assessments wurden von uns<br />

konzipiert und durchgeführt.<br />

Die Entscheidung, ob eine Empfehlung aus dem Einzel-As-<br />

sessment resultiert, wird kriteriengeleitet vorgenommen.<br />

Das von uns beratene Unternehmen hatte im Rahmen der<br />

Einführung von Assessment-Center für Führungsnach-<br />

wuchskräfte mit unserer Unterstützung Kriterien für Füh-<br />

rungseignung erarbeitet. Diese Kriterien konnten ebenfalls<br />

bei der Überprüfung der Führungskräfte-Kandidaten ver-<br />

wendet werden; lediglich die Anforderungen wurden bei<br />

den Führungskräften höher definiert: Vor dem Hinter-<br />

grund einer unmittelbar anstehenden Ernennung zur Füh-<br />

rungskraft wird von den Kandidaten ein höherer Erfül-<br />

lungsgrad der Kriterien gegenüber den Nachwuchskräften<br />

erwartet.<br />

Das Ergebnis des Einzel-Assessments ist ein Profilblatt, in<br />

dem die (definierten) Ausprägungsgrade der vom Unter-<br />

nehmen aufgestellten Führungs-Kriterien angekreuzt sind.<br />

Das Profil wird dann verglichen mit einem vom Vorstand<br />

verabschiedeten "Soll-Profil" für Führungskräfte. Formal ist<br />

- 6 -<br />

das Ergebnis des Einzel-Assessments eine "Empfehlung"<br />

(bei Erreichen oder Übertreffen des Soll-Profils) hinsicht-<br />

lich der Ernennung (oder Nicht-Ernennung) eines Kandida-<br />

ten zur Führungskraft; praktisch hat diese Empfehlung je-<br />

doch bindenden Charakter.<br />

Bisher wurden ca. 250 Kandidaten im Einzel-Assessment<br />

begutachtet. Die Erfahrungen aus diesen 250 Einzel-Assess-<br />

ments werden im folgenden dargestellt und diskutiert.<br />

Diskussion: Erfahrungen mit dem Instrument "Ein-<br />

zel-Assessment"<br />

Beteiligung der Führungskräfte am Entscheidungsprozeß<br />

Die ersten Einzel-Assessments fanden in den Räumen unse-<br />

rer Beratungsfirma ohne Beteiligung von Unternehmens-<br />

vertretern statt. Die Einschätzung des Kandidaten nahmen<br />

die beiden Diagnostiker vor. Nach kurzer Zeit intervenierte<br />

der Betriebsrat des Unternehmens und erwirkte einen vor-<br />

läufigen Stopp des Verfahrens. Der Betriebsrat monierte<br />

(aus unserer Sicht völlig zu Recht), daß Betriebsfremde dar-<br />

über entscheiden, wer in dem Unternehmen Führungskraft<br />

wird. Das Verfahren wurde daraufhin wie folgt geändert:<br />

Das Einzel-Assessment findet nicht mehr in den Räumen<br />

unserer Beratungsfirma statt, sondern an einem neutralen<br />

Ort außerhalb des Unternehmens. Zum Interview - das wei-<br />

terhin ein professioneller Diagnostiker führt - sind zwei<br />

Führungskräfte des Unternehmens anwesend: je eine Füh-<br />

rungskraft aus dem Personalbereich und aus dem Bereich<br />

des Kandidaten. Die kriterienorientierte Einschätzung des<br />

Kandidaten nehmen die beiden Führungskräfte gemeinsam<br />

vor. Die Rolle der Diagnostiker besteht erstens darin, die<br />

für eine Einschätzung notwendigen Informationen zu lie-<br />

fern und zu interpretieren, und zweitens, die Abstimmung<br />

zu moderieren. Die Entscheidung für oder gegen eine<br />

Empfehlung nehmen damit allein die Führungskräfte vor.<br />

Voraussetzung dafür, daß eine Führungskraft als Beurteiler<br />

(und Entscheider) an einem Einzel-Assessment teilnimmt<br />

ist jedoch, daß sie vorher ein dreitägiges Beobachtertrai-<br />

ning absolviert hat, in dem sie mit den Kriterien vertraut<br />

gemacht wird, sowie in Beobachtungstechniken trainiert<br />

wird.


Wir halten diese Konstellation aus verschiedenen Gründen<br />

für günstig:<br />

• Die Rückmeldung hat für den Kandidaten eine<br />

hohe Akzeptanz, wenn die Einschätzung unter<br />

Beteiligung seines höchsten Vorgesetzten er-<br />

folgt.<br />

• Der Vorgesetzte erlebt "seinen Kandidaten"<br />

selbst und lernt häufig neue Facetten von des-<br />

sen Persönlichkeit kennen. Ein Vorstand sagte<br />

z.B. im nachhinein über einen Kandidaten (der<br />

keine Empfehlung bekommen hatte): "Ich ha-<br />

be immer nur die kurzfristigen Ergebnisse sei-<br />

ner Arbeit erlebt, nie wie er dazu gekommen<br />

ist oder wie die langfristigen Erfolge sind."<br />

• Unabhängig vom Ausgang des Einzel-Assess-<br />

ments erlebt der Vorgesetzte direkt die Schwä-<br />

chen und Stärken des Kandidaten und kann in<br />

Zukunft gezielt die Schwächen des Kandidaten<br />

abbauen helfen, bzw. seine Stärken gezielt nut-<br />

zen.<br />

• Nicht zuletzt ist die Tätigkeit als Beurteiler<br />

beim Einzel-Assessment eine (verdeckte) Perso-<br />

nalentwicklungsmaßnahme für die Führungs-<br />

kräfte. Das Einschätzen von Menschen ist ein<br />

Teil der täglichen Führungstätigkeit - ein Teil<br />

jedoch, für den sich viele Führungskräfte unge-<br />

nügend qualifiziert fühlen. Durch die Teilnah-<br />

me als Beurteiler am Einzel-Assessment lernen<br />

die Führungskräfte, von einer globalen Beurtei-<br />

lung von Menschen hin zu einer differenzierten<br />

Beurteilung zu kommen: Gewöhnlich werden<br />

Menschen vor dem Hintergrund sehr globaler<br />

Kategorien ("sympathisch-unsympathisch",<br />

"guter Mann-schlechter Mann" oder "Macher-<br />

Niete") eingeschätzt. Im Einzel-Assessment ler-<br />

nen die Führungskräfte, daß z.B. jemand sehr<br />

geschickt und feinsinnig im Umgang mit Men-<br />

schen sein kann und gleichzeitig über einen<br />

nur unterdurchschnittlichen Antrieb verfügt.<br />

Umgang der Organisation mit Empfehlungen und Nicht-<br />

Empfehlungen<br />

Das Ergebnis des Einzel-Assessments sollte ursprünglich ei-<br />

ne Empfehlung an das Unternehmen sein. Praktisch ent-<br />

scheiden die entsprechenden Gremien jedoch fast nie ge-<br />

gen eine Empfehlung. Unserer Einschätzung nach haben<br />

große Organisationen einige Schwierigkeiten damit, indivi-<br />

duell mit solchen Ergebnissen umzugehen. Aus unserer<br />

- 7 -<br />

Sicht wäre es denkbar, daß ein Kandidat, der nicht in allen<br />

Punkten einem überfachlichen Soll-Profil entspricht, den-<br />

noch eine sehr gute Führungkraft in einem definierten Auf-<br />

gabenbereich ist. Tatsächlich muß nicht jede Führungskraft<br />

der "General-Manager" sein, den Unternehmen heute ge-<br />

nerell als Führungskraft fordern.<br />

Dennoch: nach den bisherigen Erfahrungen hat sich das<br />

von uns erarbeitete überfachliche Anforderungsprofil be-<br />

währt. Ein Indikator für die Brauchbarkeit der Kriterien ist<br />

die Tatsache, daß etliche Tochterfirmen des von uns bera-<br />

tenen Unternehmens, die in anderen Marktbereichen tätig<br />

sind (z.B. Finanzdienstleistungen oder EDV-Beratung), po-<br />

sitive Erfahrungen mit dem Instrument "Einzel-Assess-<br />

ment" und diesem Anforderungsprofil gemacht haben.<br />

Heute setzen etliche der in- und ausländischen Tochterun-<br />

ternehmen des Konzerns das Einzel-Assessment zur Aus-<br />

wahl ihrer Führungskräfte ein.<br />

Methodische Stärken und Schwächen des Verfahrens<br />

• Das Einzel-Assessment erlaubt es, innerhalb re-<br />

lativ kurzer Zeit zu einem umfassenden Ein-<br />

druck einer Person zu kommen. Der Individua-<br />

lität einer Person wird man in hohem Maße ge-<br />

recht, da das Verfahren über genügend Freiräu-<br />

me verfügt.<br />

• Der diagnostische Schwerpunkt liegt im Be-<br />

reich des Antriebs: Die Motive und Triebfedern<br />

einer Person können differenziert und mit ho-<br />

her diagnostischer Sicherheit eingeschätzt wer-<br />

den.<br />

• Auch der kognitive Bereich läßt sich in seinem<br />

praxisrelevantesten Teil, der Fähigkeit zum ver-<br />

netzten Denken, sehr gut einschätzen.<br />

• Die ausführliche Rückmeldung als integrierter<br />

Teil des Verfahrens erlaubt es, Entwicklungspfa-<br />

de aufzuzeigen und zu initiieren.<br />

Die wesentliche methodische Schwäche des Verfahrens<br />

"Einzel-Assessment" liegt darin, daß man im sozialen Be-<br />

reich keine Beobachtungsdaten zur Verfügung hat, son-<br />

dern diesen Bereich indirekt aus den Ergebnissen des Per-<br />

sönlichkeitstests und den Schilderungen des Kandidaten<br />

einschätzt. Nach unseren Erfahrungen ist die Einschätzung<br />

trotzdem hinreichend valide - sofern der Kandidat über Er-<br />

fahrungen in der Rolle als Führungskraft verfügt: Im Inter-<br />

view erfährt man sehr viel über die geistigen Modelle, die


ein Kandidat von Führung, Konfliktlösung oder Teamsteue-<br />

rung hat. Diese Informationen werden ergänzt durch die<br />

detaillierte Schilderung dessen, wie der Kandidat in der<br />

Praxis mit anderen Menschen, mit Konflikten oder mit Te-<br />

ams umgeht. Abgerundet durch die anderen diagnosti-<br />

schen Quellen (Persönlichkeitsfragebogen) und die Erfah-<br />

rungen des betrieblichen Vorgesetzten mit dem Kandida-<br />

ten ergibt sich so ein zuverlässiger Eindruck seiner sozialen<br />

Fähigkeiten.<br />

Engpässe bei Führungskräften<br />

1. Umgang mit Komplexität<br />

Im kognitiven Bereich liegt der häufigste Engpaß im Um-<br />

gang mit Komplexität. Sämtliche von Dörner (1989) ermit-<br />

telten Denkfehler lassen sich nicht nur im Verhalten von<br />

Führungskräften gegenüber den vernetzten Systemen der<br />

heutigen Wirtschaft wiederfinden, sondern auch im Einzel-<br />

Assessment. Im Umgang mit der von uns verwendeteten<br />

komplexen Computersimulation wird deutlich, daß nur we-<br />

nige Führungskräfte über die Fähigkeit zum "Systemden-<br />

ken" verfügen. Wir beschreiben diese Fähigkeiten meta-<br />

phorisch als den "Adlerblick": Der Adler schwebt weit über<br />

den Dingen und überblickt die Situation, dann erblickt er<br />

eine Maus am Boden und stürzt auf sie hinab. Da sich die<br />

Maus bewegt, muß er seinen Kurs während es Tiefergehens<br />

korrigieren bzw. wieder aufsteigen, wenn er die Maus aus<br />

den Augen verloren hat. Wäre er entweder nur oben in der<br />

Luft oder am Boden, so würde er verhungern.<br />

So gibt es nach unserer Einschätzung viele Führungskräfte,<br />

die entweder vorrangig die makroskopisch-strategische<br />

Problemsicht oder aber die mikroskopisch-operative ein-<br />

nehmen. Das aktive Wechseln zwischen diesen beiden Ebe-<br />

nen (und allen dazwischen liegenden) gelingt nur wenigen.<br />

Noch immer gilt es als Manager-Tugend, grundsätzlich lie-<br />

ber schnelle und falsche als überlegte und fundierte Ent-<br />

scheidungen zu fällen. Viele Führungskräfte sind geistig<br />

nicht flexibel genug, um zu erkennen, wann schnell ent-<br />

schieden werden muß und wann eine ausgiebige Reflek-<br />

tion der Situation erforderlich ist. Das vorschnelle Springen<br />

auf vermeintliche Lösungen ist ein Indikator, der Beschrän-<br />

kungen im kognitiven Bereich deutlich werden läßt. Wenn<br />

der Mercedes-Vorstandsvorsitzende Helmut Werner in ei-<br />

nem Interview (Der Stern, 1993) sagt: "Es hieße das System<br />

überfordern, wenn man in Zeiten des Wachstums bereits<br />

- 8 -<br />

kluge Entscheidungen trifft, die später auch für die Rezes-<br />

sion gelten", dann ist das beispielhaft dafür, in welchen be-<br />

grenzten Zeithorizonten sich das Denken von vielen hohen<br />

Führungskräften bewegt. Unserer Meinung nach läßt sich<br />

die Leistung von Führungskräften der obersten Ebenen<br />

nicht anhand kurzfristiger Erfolge, sondern erst im Rück-<br />

blick auf 5-10 Jahre beurteilen: Erst dann ist es möglich die<br />

Auswirkungen von gestalterischen Entscheidungen, die ein<br />

ganzes Unternehmen betreffen, zu bewerten.<br />

2. Mangel an Antrieb und Risikobereitschaft<br />

Viele Unternehmen suchen als Führungskräfte "den Unter-<br />

nehmer im Unternehmen". Unserer Meinung nach handelt<br />

es sich dabei um eine seltene Spezies. Für einen großen<br />

Teil der von uns untersuchten Führungskräfte liegt die pri-<br />

märe Führungsmotivation in deren Gesellungsbedürfnis<br />

und weniger im Gestaltungswunsch (vgl. McClelland &<br />

Boyatzis, 1982). Echte gestalterische Energie tritt hinter<br />

dem Wunsch nach Anerkennung häufig zurück. Vereinfacht<br />

gesagt, passen sich viele eher an die Organisation und de-<br />

ren Regeln an, als das Risiko einzugehen, auch gegen die<br />

Restriktionen der Organisation eigene Vorstellungen zu<br />

verwirklichen. Wir bezeichnen die Art des Antriebs, aus sich<br />

heraus zu agieren, Freiräume zu suchen und zu erfüllen,<br />

neue Herausforderungen zu suchen und Risiken einzuge-<br />

hen, als "Unternehmerisches Engagement".<br />

Wir können nicht einschätzen, inwieweit die mangelnde Ri-<br />

sikobereitschaft nicht auch eine Folge der Sozialisation in-<br />

nerhalb von Unternehmen ist: In fast allen großen Unter-<br />

nehmungen gibt es zahlreiche Beispiele dafür, daß gerade<br />

diejenigen, die unternehmerisches Risiko von ihren Mitar-<br />

beitern fordern, selbst keinerlei Risiken einzugehen bereit<br />

sind. Wenn selbst gravierende unternehmerische Fehlent-<br />

scheidungen auf Vorstandsebene mit einer Abfindung in<br />

Millionenhöhe "belohnt" werden, kann man schwer von so-<br />

zial weniger gut abgefederten Mitarbeitern verlangen, Ri-<br />

sikobereitschaft zu zeigen.<br />

Ein weiterer Aspekt, der gestalterische Erfüllung von Füh-<br />

rungspositionen einschränkt, liegt in der Formel L = K x W<br />

x D - "Leistung" ist das Produkt aus "Können", "Wollen"<br />

und "Dürfen". Diagnostisch stehen im Einzel-Assessment<br />

die Könnens- und (in erster Linie) die Wollenskomponente<br />

im Fokus. Inwieweit jedoch individueller unternehmeri-<br />

scher Antrieb von einer Organisation gefördert, genutzt<br />

oder geduldet wird, liegt außerhalb der Wahrnehmungs-<br />

möglichkeiten der Individualdiagnostik.


3. Wissensdefizite in außerfachlichen Bereichen<br />

Das Zuwenig-Wissen läßt sich in zwei Bereiche unterteilen:<br />

a.) Generell wissen viele Führungskräfte zu wenig über<br />

Dinge, die ihren fachlichen Hintergrund überschreiten. Das<br />

läßt sich leicht erklären: Unter einem hohen beruflichen<br />

Einsatz beschränkt sich bei den meisten die Leseaktivität<br />

auf den fachlichen Bereich sowie tagesaktuelle Informatio-<br />

nen. Da Lesen die wichtigste Quelle zur Aufnahme von<br />

neuem Wissen ist, wissen viele Führungskräfte wenig über<br />

Dinge, die ihren unmittelbaren Erfahrungsbereich über-<br />

schreiten. In unserer Sicht sind beispielsweise tiefergehen-<br />

de kulturelle Interessen, politische Aktivitäten, ökologi-<br />

sches Fachwissen, Sprachkenntnisse, technisches Wissen<br />

(für Kaufleute) oder betriebswirtschaftliche Kenntnisse (für<br />

Techniker) kein angenehmer "Luxus", sondern notwendige<br />

Basis (und Folge) einer grundsätzlichen geistigen Offen-<br />

heit, die kreativere und fundiertere Problemlösungen er-<br />

möglicht. Die häufig propagierte Technik des Analogieden-<br />

kens (vgl. <strong>Ringelband</strong>, 1992) setzt zum Beispiel fundiertes<br />

Wissen auf vielen Gebieten voraus, um aus diesem Wissen<br />

auf dem Wege des "intelligenten Klauens" zu neuen Lö-<br />

sungsansätzen zu kommen.<br />

b.) Insbesondere wissen fast alle Führungskräfte zuwenig<br />

über das, was zwischen Menschen passiert. Unserer Auffas-<br />

sung nach ist soziale Kompetenz viel weniger eine Frage<br />

von Verhaltenstechniken, als von Wissen. Dieses Wissen<br />

umfaßt u.a. Bereiche wie Kommunikation (vgl. Schulz v.<br />

Thun, 1981; ders., 1989) oder Konfliktlösung (Fischer &<br />

Ury, 1984) sowie Beschreibungsdimensionen menschlichen<br />

Verhaltens. Hier besteht eine Aufgabe für Psychologen, ent-<br />

sprechendes Wissen fundiert und "kundennah" in die tech-<br />

nischen und kaufmännischen Bereiche zu transportieren.<br />

Gerade Fachhochschulen, die im technischen Bereich eine<br />

große Praxisnähe verwirklichen, sollten aufgeschlossen für<br />

diese Form der "praktischen Psychologie" sein.<br />

Zusammenfassung<br />

Das Einzel-Assessment bietet wie sonst kein Instrument der<br />

Personalentwicklung Gelegenheit, eine individuelle Ein-<br />

schätzung von Führungspotential vorzunehmen. Durch<br />

die intensive Beschäftigung mit einem einzigen Kandidaten<br />

an einem Tag läßt sich ein differenziertes Persönlichkeits-<br />

bild erstellen, das nicht nur die Basis für Benennungsent-<br />

scheidungen sondern auch Ausganspunkt für einen indivi-<br />

- 9 -<br />

duellen Entwicklungsplan sein kann.<br />

Die bisherigen Erfahrungen mit dem Instrument lassen<br />

drei Hauptbereiche erkennen, in denen Engpässe bei Füh-<br />

rungskräften existieren: die mangelnde Fähigkeit zum ver-<br />

netzten Denken, die fehlende Risikobereitschaft und unzu-<br />

reichendes fachbereichsübergreifendes Wissen.<br />

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24-27.<br />

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Schmid, F.W. (1990). Einzel-Assessment. In: Werner Sarges,<br />

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Schulz von Thun, Friedemann (1989). Miteinander reden lernen<br />

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Weinert, Ansfried B. & Gough, H.G. (Hrsg.) (in Vorbereitung).<br />

Testmanual zum revidierten Deutschen CPI 462 . Bern, Göttingen:<br />

Huber/Hogrefe.

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