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Spurensuche Teil 1. Eine Studienreise in "Das Kapital ... - pol-oek.de

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Auf <strong>de</strong>m Weg langen zur Geldwirtschaft 55"<strong>Das</strong> Geheimnis aller Wertform…" 57Felle? Viehzeug? Gold! 60"Sie wissen das nicht, aber sie tun es": Die Sache mit <strong>de</strong>m Fetisch 62Geld: Wertmaß und Maßstab <strong>de</strong>r Preise 67Der Preis betritt die Bühne 69Der alltägliche To<strong>de</strong>ssprung 71Wertgesetz (I) 73Noch e<strong>in</strong>mal: Wert und Preis 75Geld und Schatzbildung 77Geld als Zahlungsmittel, Weltgeld und Kredit 79Kapitel 6: Vom Geld zum <strong>Kapital</strong>: Mehrwerttheorie 81Auftritt <strong>de</strong>r Händler 81Vom W-G-W zum G-W-G': Was soll's? 82Wie kommt <strong>de</strong>r Strich ans G'? 84Die Raupe Nimmersatt 86Die doppelte Freiheit 88"...historisches und moralisches Element..." 91Endlich: <strong>Kapital</strong>! 92Kapitel 7: Woher kommen die Arbeitskräfte? Wie geraten sie unter die Herrschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s? 94Mehr Glück als Verstand 94Die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation" 96Formelle Subsumtion 98Kooperation 100Reelle Subsumtion und Fabriksystem 101Kapitel 8: <strong>Kapital</strong> und Verwertung 102Der kle<strong>in</strong>e Unterschied 102Was be<strong>de</strong>utet <strong>Kapital</strong> als gesellschaftliches Verhältnis? 102Arbeitsprozess und Verwertungsprozess 104Wertbildungsprozess 106<strong>Kapital</strong> ist nicht gleich <strong>Kapital</strong> 107Konstantes <strong>Kapital</strong> und variables <strong>Kapital</strong> 108Fixes <strong>Kapital</strong> und zirkulieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> 110Kapitel 9: Arbeitskraft, Gesamtarbeiter, Mehrwert 111"Charaktermaske" und soziale Klassen 111"...ke<strong>in</strong> Glück, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> Pech" 114Der Reiz e<strong>in</strong>er Schöpfung aus Nichts 115Mehrwert und Klassenstruktur 118Romantische Freiheitsduselei und e<strong>in</strong>e Menge Dressur 121Was ist normal am Normalarbeitstag? 125"...revolutioniert durch und durch..." 126Die dichtere Ausfüllung <strong>de</strong>r Poren <strong>de</strong>r Arbeitszeit 1293


Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität 132Lohnsenkung 134Triebkraft "Extramehrwert" 136Freisetzung und Aus<strong>de</strong>hnung und Gully<strong>de</strong>ckel 138Verschärfte Konkurrenz am Arbeitsmarkt 142Die Sache mit <strong>de</strong>r Ausbeutung 144"Exploitationsgrad" 146"Materiatur unbezahlter Arbeit" 146Kapitel 10: Akkumulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s 149Für e<strong>in</strong> paar Striche mehr... 149Produktion und Reproduktion 151Akkumulation und Wertgesetz 152Organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s 154Extensive Akkumulation 155Intensive Akkumulation 158Konzentration und Zentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s 159Von <strong>de</strong>r "Beihilfe" zur "Waffe" 160Kapitel 11: Zwei Pole <strong>de</strong>r Akkumulation 165Arbeitslosigkeit 165Industrielle Reservearmee 168Antworten auf e<strong>in</strong> Dauerproblem 171Zurück zu alten Fragen... 172<strong>Das</strong> "absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation" 173Alles zu se<strong>in</strong>er Zeit 174...und zu unserer Zeit? 177Schlußfolgerungen 178Kapitel 12: Der Zirkulationsprozeß <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s 182<strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> Bewegung 182Kreislauf <strong>de</strong>s Geldkapitals 183Verschie<strong>de</strong>ne Sorten <strong>Kapital</strong>? 188"...Verschl<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Metamorphosen..." 191E<strong>in</strong>heit von Produktion und Zirkulation 192Zwang zur Kont<strong>in</strong>uität 193Kapitel 13: Ökonomie <strong>de</strong>r Umschlagszeit 194Die Zeit im Nacken - Mehrwert im Blick 194Produktionszeit und Funktionszeit 195Arbeitsperio<strong>de</strong> und Produktionszeit 198Umlaufszeit und Zirkulationsagenten 200Zirkulationskosten 203Transport<strong>in</strong>dustrie und Transportkosten 204Kapitel 14: E<strong>in</strong>gebaute Verwertungsprobleme 2074


Fixes <strong>Kapital</strong> mit Tücken 207Mal wie<strong>de</strong>r Gully<strong>de</strong>ckel 209Schmierstoff und Lösungsmittel 210Geldschatz, Bleigewicht und die 'Papierchens' 211<strong>Kapital</strong>fixierung und Kredit 214Vergesellschaftung und Gully<strong>de</strong>ckel 217Kapitel 15: H<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Krise 220Verkörperter Wi<strong>de</strong>rspruch 220Wertrevolution, <strong>Kapital</strong>fixierung und Spekulation 222Krise ist, wenn... 227Vom Zirkulationsprozess zur Reproduktion 229Reproduktion <strong>de</strong>s Gesamtkapitals 230Erweiterte Reproduktion und Rückkopplungen 232Kompass und Regulator 235Antworten zu <strong>de</strong>n Zwischenfragen 238Biografische Anmerkungen 293Texte für die Zwischenlektüre 3015


H<strong>in</strong>weise zur <strong>Studienreise</strong>Für unsere <strong>Studienreise</strong> <strong>in</strong> "<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>" brauchen Sie ke<strong>in</strong>e Vorkenntnisse. Auch aka<strong>de</strong>mische Ehrenzeichen s<strong>in</strong>dnicht erfor<strong>de</strong>rlich. E<strong>in</strong>zige Bed<strong>in</strong>gung: Sie s<strong>in</strong>d neugierig und wollten immer schon mal wissen, was Karl Marx <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em wichtigsten Werk eigentlich geschrieben hat. Was wir brauchen, um Marx zu folgen, lernen wir unterwegs.Doch wie für je<strong>de</strong> Reise <strong>in</strong> unbekannte Gegen<strong>de</strong>n müssen wir natürlich auch ausreichend Zeit und etwas Konditionmitbr<strong>in</strong>gen, versteht sich. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Hopplahopp-Tour wird das nicht.Darum geht es auf unserer Reise: Wir wollen uns Marx' Arbeit nutzbar machen, die Produktivität <strong>de</strong>r Marx' schenMetho<strong>de</strong> erproben, h<strong>in</strong>ter die Kulissen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise blicken und mehr über unsere eigeneGesellschaft erfahren.Wer nach dieser ersten Reise Lust verspürt, sich mit <strong>de</strong>m Orig<strong>in</strong>al noch e<strong>in</strong>mal auf <strong>de</strong>n Weg zu machen und dieReiseveranstalter vielleicht zu verbessern: Nur zu!Warum digital?Wir haben die digitale Buchform gewählt, um <strong>de</strong>n Text kostenfrei zu halten. "Marx for free" ist die Losung. Außer<strong>de</strong>mbietet diese Form <strong>de</strong>r Präsentation viele Möglichkeiten. Wir können parallel zum Haupttext weitere Informationenanbieten, ausführliche Zitate ohne stören<strong>de</strong> Fußnoten e<strong>in</strong>blen<strong>de</strong>n. Wir können FAQs diskutieren,Marx und Engels <strong>in</strong> längeren Textauszügen zwischendurch genießen, mit Bil<strong>de</strong>rn und Dokumenten die Reise anschaulicherund hoffentlich auch unterhaltsamer gestalten.Alle Seitenwege führen immer wie<strong>de</strong>r zum Haupttext zurück. Ob man als Neul<strong>in</strong>g erst <strong>de</strong>m Haupttext folgt unddann, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Durchgang, auch mal auf <strong>de</strong>n Seitenwegen spazieren geht, o<strong>de</strong>r ob man sofort die volleBreitseite auf sich e<strong>in</strong>stürmen lasst, mag je<strong>de</strong>r für sich halten wie <strong>de</strong>r sprichwörtliche Kutscher se<strong>in</strong>e Peitsche.Unsere "<strong>Spurensuche</strong>" for<strong>de</strong>rt die Leser zur Mitarbeit und Kritik auf. Was ist falsch o<strong>de</strong>r schief dargestellt? Wasmüßte ausführlicher se<strong>in</strong>? Wo wäre e<strong>in</strong>e Zwischenfrage zu beantworten? Hat jemand eigene Vorschläge zur Darstellung?- Postanschrift und Email-Adresse f<strong>in</strong><strong>de</strong>n Sie auf <strong>de</strong>r Impressum-Seite. Was von allgeme<strong>in</strong>em Interesseist, wer<strong>de</strong>n wir <strong>in</strong> die nächste Ausgabe <strong>de</strong>r "<strong>Spurensuche</strong>" e<strong>in</strong>arbeiten. Auch die schnelle Aktualisierbarkeit iste<strong>in</strong> großer Vorteil <strong>de</strong>s digitalen Buches.Warum "<strong>Spurensuche</strong>"?Marx hat durch se<strong>in</strong> 40jähriges Wirken als Gesellschaftswissenschaftler e<strong>in</strong>e breite Spur h<strong>in</strong>terlassen. Die ist m<strong>in</strong><strong>de</strong>stensso unübersehbar, wie die Spur <strong>de</strong>r Elefantenpatrouille <strong>de</strong>s Colonel Hathi. Warum muss da überhauptnach Spuren gesucht wer<strong>de</strong>n?Weil zigtausen<strong>de</strong> von Marx-Folgern (und vielleicht noch mehr Marx-Verfolger) ihre eigenen Spuren h<strong>in</strong>zugefügthaben. Darunter s<strong>in</strong>d viele wichtige Beiträge; auf e<strong>in</strong>ige von ihnen kommen wir im Text zu sprechen. Aber dieSpur ist ebenso durch scholastische Holzwege und dogmatische Betonrampen, durch seicht-sumpfige Philosophentümpel,<strong>in</strong>tellektuelle Spielwiesen und Fluchtburgen, h<strong>in</strong>terlassene Regierungs- und Parteil<strong>in</strong>ien und orthodoxeZitatenste<strong>in</strong>brüche ver<strong>de</strong>ckt.Wenn wir von "<strong>Spurensuche</strong>" sprechen, ist das zunächst unser persönliches Programm. Auf unserer Reise wollenwir Marx ganz und gar als Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r kritischen <strong>pol</strong>itischen Ökonomie begegnen. Denn die Analyse <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise ist <strong>de</strong>r Dreh- und Angelpunkt <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>". Von ihr geht alles aus.Unsere Reise ist <strong>de</strong>nnoch ke<strong>in</strong>e Besichtigung von Denkmälern. Im Gegenteil, wir wer<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>e Menge über dieProbleme erfahren, mit <strong>de</strong>nen diese merkwürdige kapitalistische Produktionsweise auch unsere eigene Gesellschaftbelastet.Warum <strong>in</strong> mehreren <strong>Teil</strong>en?Eigentlich sollte e<strong>in</strong>e <strong>Studienreise</strong> ohne Unterbrechung erfolgen. Eigentlich... Jetzt wer<strong>de</strong>n es aber doch zwei <strong>Teil</strong>e.Und e<strong>in</strong> dritter <strong>Teil</strong> soll <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall folgen. Der nämlich mit <strong>de</strong>n Schlußfolgerungen... Aber das alles benötigte<strong>in</strong>e Menge Zeit, und die steht e<strong>in</strong>em gründlich berufstätigen Menschen nach Feierabend nur sehr begrenzt zurVerfügung.6


So wie e<strong>in</strong> guter Detektiv für je<strong>de</strong>s große Verbrechen neu <strong>de</strong>r Spur <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaftenfolgt, ist es Aufgabe <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie, <strong>de</strong>r Spur <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und <strong>de</strong>s Profitsimmer neu zu folgen, "en gros & en <strong>de</strong>tail". <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>e Spur, die heute wie zu M.s Zeiten nichtnur e<strong>in</strong>e Spur <strong>de</strong>s Aufbaus und <strong>de</strong>r technischen Erneuerung, son<strong>de</strong>rn immer auch e<strong>in</strong>e Spur <strong>de</strong>rVernichtung und <strong>de</strong>s Verbrechens ist. Ganz so, wie es im bekanntesten Marx-Zitat heißt, das kurioserweisegar nicht von M. selbst, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>m Gewerkschafter T.J.Dunn<strong>in</strong>g stammt: "Mitentsprechen<strong>de</strong>m Profit wird <strong>Kapital</strong> kühn… 300 Prozent, und es existiert ke<strong>in</strong> Verbrechen, dases nicht riskiert, selbst auf Gefahr <strong>de</strong>s Galgens." 7"<strong>Das</strong> ökonomische Bewegungsgesetz…"Politische Ökonomie ist nicht M.s Erf<strong>in</strong>dung. Schließlich trägt "<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>" <strong>de</strong>n Untertitel "Kritik<strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie", und kritisieren kann man nur das, was es schon gibt. 8 Aber mitM.s ökonomischen Studien <strong>in</strong> London beg<strong>in</strong>nt auf je<strong>de</strong>n Fall e<strong>in</strong>e neue Etappe <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichtedieser Wissenschaft.Als M. im August 1849 <strong>in</strong> London e<strong>in</strong>trifft, waren ökonomische Themen für ihn ke<strong>in</strong> Neuland.Schon aus <strong>de</strong>m Jahre 1844 stammen se<strong>in</strong>e ökonomisch-philosophischen Manuskripte 9 . Und werdas "Kommunistische Manifest" von 1848 liest, müßte schon viele kräftige Hiebe mit <strong>de</strong>mZaunpfahl h<strong>in</strong>ter sich haben, um nicht zu bemerken, welche zentrale Rolle die ökonomischeEntwicklung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Überlegungen <strong>de</strong>r Autoren Marx und Engels spielt. 10se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>neren Wi<strong>de</strong>rsprüche und Grenzen auf<strong>de</strong>cken. Und natürlich: Die Zusammenhänge zwischen <strong>de</strong>m ökonomischen System auf <strong>de</strong>re<strong>in</strong>en und Eroberung und Kriegen auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite zu untersuchen.7Die Entgegnung <strong>de</strong>s Gewerkschafters T.J.Dunn<strong>in</strong>g auf die Behauptung, das <strong>Kapital</strong> sei "ängstlicher Natur" und fliehe vor Tumult undStreit, hat M. so gut gefallen, dass er sie als Fußnote <strong>in</strong> <strong>de</strong>n <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" aufgenommen hat. Selbstverständlich mit korrekterAngabe <strong>de</strong>s Autors. Dunn<strong>in</strong>g erwi<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Friedfertigkeits-These: "<strong>Das</strong> ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> hate<strong>in</strong>en Horror vor Abwesenheit von Profit o<strong>de</strong>r sehr kle<strong>in</strong>em Profit, wie die Natur vor <strong>de</strong>r Leere. Mit entsprechen<strong>de</strong>m Profit wird <strong>Kapital</strong>kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwen<strong>de</strong>n; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozentstampft es alle menschlichen Gesetze unter se<strong>in</strong>en Fuß; 300 Prozent, und es existiert ke<strong>in</strong> Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst aufGefahr <strong>de</strong>s Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit br<strong>in</strong>gen, wird es sie bei<strong>de</strong> encouragieren (=för<strong>de</strong>rn). Beweis: Schmuggel und Sklavenhan<strong>de</strong>l."(MEW 23, S.788) Soweit das Zitat. Ist es aktuell? Gewiß, aber mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schränkung. All das geschieht bereits für e<strong>in</strong>e wesentlichger<strong>in</strong>gere Profitrate.8Allerd<strong>in</strong>gs kann man "Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie" auch zweifach verstehen: E<strong>in</strong>mal als Kritik an <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie, die M.vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Zum an<strong>de</strong>rn als Kritik an <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Verhältnissen mit Hilfe <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie.Auch <strong>de</strong>r Titel, <strong>de</strong>n M. <strong>de</strong>m <strong>1.</strong> Band se<strong>in</strong>es '<strong>Kapital</strong>' gegeben hat, paßt <strong>in</strong> die Serie <strong>de</strong>r Mehr<strong>de</strong>utigkeiten. 'Der Produktionsprozeß <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s'me<strong>in</strong>t ja nicht nur die Art und Weise, wie <strong>de</strong>r Produktionsprozess durch das <strong>Kapital</strong> gestaltet wird, son<strong>de</strong>rn me<strong>in</strong>t auch <strong>de</strong>n historischenProzess, <strong>de</strong>r das <strong>Kapital</strong> selbst hervorbr<strong>in</strong>gt, und <strong>de</strong>n Prozess, <strong>de</strong>r das <strong>Kapital</strong> immer wie<strong>de</strong>r reproduziert.M.s Vorliebe für solche sprachlichen Mehr<strong>de</strong>utigkeiten und Wortspiele s<strong>in</strong>d bekannt und auch berüchtigt. Sie sollen im Fortgang unserer<strong>Spurensuche</strong> nicht weiter vertieft wer<strong>de</strong>n. Die Angelegenheit ist auch so schon kompliziert genug.9Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus <strong>de</strong>m Jahre 1844 f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich im MEW Ergänzungsband, <strong>1.</strong> <strong>Teil</strong>, S.465-58810In weiten <strong>Teil</strong>en ist das "Kommunistische Manifest" so etwa wie e<strong>in</strong> Loblied auf die historischen Leistungen <strong>de</strong>r Bourgeoisie. Um nure<strong>in</strong>ige Beispiele zu zitieren:"Die große Industrie hat <strong>de</strong>n Weltmarkt hergestellt, <strong>de</strong>n die Ent<strong>de</strong>ckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>r Schiffahrt,<strong>de</strong>n Landkommunikationen e<strong>in</strong>e unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wie<strong>de</strong>r auf die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Industrie zurückgewirkt,und <strong>in</strong> <strong>de</strong>mselben Maße, wor<strong>in</strong> Industrie, Han<strong>de</strong>l, Schiffahrt, Eisenbahnen sich aus<strong>de</strong>hnten, <strong>in</strong> <strong>de</strong>mselben Maße entwickelte sich dieBourgeoisie, vermehrte sie ihre <strong>Kapital</strong>ien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n H<strong>in</strong>tergrund.""Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktions<strong>in</strong>strumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichenVerhältnisse fortwährend zu revolutionieren.""Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation <strong>de</strong>s Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Län<strong>de</strong>r kosmo<strong>pol</strong>itisch gestaltet. Sie hatzum großen Bedauern <strong>de</strong>r Reaktionäre <strong>de</strong>n nationalen Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Industrie unter <strong>de</strong>n Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industriens<strong>in</strong>d vernichtet wor<strong>de</strong>n und wer<strong>de</strong>n noch täglich vernichtet." (MEW 4, S.463ff)Man muß das Manifest immer mal wie<strong>de</strong>r lesen und sich klar machen, dass es schon über 160 Jahre alt ist, obwohl es so "mo<strong>de</strong>rn"kl<strong>in</strong>gt… Wir kommen auf dieses echte Jahrtausendwerk später noch zurück.10


Als das "Kommunistische Manifest" erschien und <strong>de</strong>n Traum <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s von ewiger Herrschaft<strong>in</strong> Frage stellte, war M. erst 30 Jahre alt. Dennoch war er bereits mit zahlreichen Publikationen 11hervorgetreten, nahm an <strong>de</strong>n revolutionären Aktionen <strong>de</strong>r 1840er Jahre teil und war dabei zue<strong>in</strong>em <strong>de</strong>r meistgesuchten Staatsfe<strong>in</strong><strong>de</strong> <strong>in</strong> Preußen gewor<strong>de</strong>n. Über die e<strong>in</strong>zuschlagen<strong>de</strong> <strong>pol</strong>itischeRichtung war er sich im Klaren: Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft. Nur von e<strong>in</strong>erauch nur halbwegs begrün<strong>de</strong>ten <strong>pol</strong>itisch-ökonomischen Theorie, die <strong>de</strong>n Weg und se<strong>in</strong>e Etappenbeschreibt, war M. tatsächlich noch weit entfernt. 12Zwischenfrage 2: Bei Marx und Engels f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir sehr oft das Wort "Kritik" <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Titeln ihrer Veröffentlichungen.Und <strong>de</strong>r Text ihrer Arbeiten ist meist sehr scharf und <strong>pol</strong>emisch formuliert. Han<strong>de</strong>lte essich bei <strong>de</strong>n Herren um extreme Streithammel? (S.240)Er war sich dieser Defizite bewußt. Die Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r revolutionären Bewegungen <strong>in</strong> Europawährend <strong>de</strong>r Jahre 1848 bis 1850 warf viele neue Fragen auf. Zum Beispiel: Kann man das bürgerliche<strong>pol</strong>itisch-ökonomische System überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n, ohne <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Zusammenhang vonÖkonomie, Gesellschaft und Politik zu begreifen? Für M. machte die Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r Revolutionnur <strong>de</strong>utlich, dass e<strong>in</strong>e sehr viel gründlichere Untersuchung <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itisch-ökonomischen Verhältnissenotwendig war. Die Nie<strong>de</strong>rlage gab <strong>de</strong>n letzten Ansporn und, Glück im Unglück, auch dienötige Zeit für diese große Aufgabe. M. will nicht mehr und nicht weniger, als das ökonomischeBewegungsgesetz <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft 13 auf<strong>de</strong>cken, um <strong>de</strong>r revolutionären Bewegunge<strong>in</strong>e wissenschaftliche Grundlage zu geben."Die ganze ökonomische Scheiße…"M. beg<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> London zu unser aller Nutzen mit systematischen ökonomischen Studien. Dochse<strong>in</strong>e Hoffnung, "mit <strong>de</strong>r ganzen ökonomischen Scheiße“ 14 <strong>in</strong> 5 Wochen fertig zu se<strong>in</strong>, erfüllten11Als M. <strong>in</strong> London e<strong>in</strong>traf hatte, er bereits zahlreiche Arbeiten verfasst. Um nur die wichtigsten neben <strong>de</strong>m "Kommunistischen Manifest"zu nennen: Zur Kritik <strong>de</strong>r Hegelschen Rechtsphilosophie (1843), Die heilige Familie (1845, mit Engels), Die <strong>de</strong>utsche I<strong>de</strong>ologie(1845-1846, mit Engels), <strong>Das</strong> Elend <strong>de</strong>r Philosophie (1846-1847)12Vielleicht schließen e<strong>in</strong>ige gleich empört unseren Text. Aber wir müssen fairerweise festhalten: Die <strong>pol</strong>itische Ökonomie alle<strong>in</strong> wird unsnoch ke<strong>in</strong>en Weg zur Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise vorzeichnen. Sie wird uns nur (?) sagen, was das überhaupt ist:Bürgerliche Gesellschaft. Sie wird uns nur (?) zeigen, warum e<strong>in</strong>e solche Überw<strong>in</strong>dung überhaupt zur Debatte steht. Und sie läßt uns begreifen,dass gesellschaftliche Verän<strong>de</strong>rungen nicht e<strong>in</strong>fach unseren Wünschen folgen, mögen die noch so kampfentschlossen geäußertwer<strong>de</strong>n. Verän<strong>de</strong>rungen erfolgen <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit tieferen gesellschaftlichen Gesetzen o<strong>de</strong>r gar nicht. Nur wenn man die ökonomischenBewegungen begreift, von <strong>de</strong>nen die bürgerlichen Gesellschaften bestimmt s<strong>in</strong>d, kann man sich <strong>de</strong>n <strong>pol</strong>itischen Aktionsraum fürVerän<strong>de</strong>rungen öffnen. Wer an <strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Verhältnisse <strong>in</strong>teressiert ist, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>in</strong> M.s <strong>pol</strong>itischer Ökonomie <strong>de</strong>n Ausgangspunkt.Wie es von da aus weitergeht, ist noch e<strong>in</strong> ganz an<strong>de</strong>res Thema.13<strong>Das</strong> und nicht weniger ist M.s Zielsetzung. Er verwen<strong>de</strong>t die anspruchsvolle Formulierung im Vorwort zur <strong>1.</strong> Auflage <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>", woer über die brutale Geburtsphase <strong>de</strong>s englischen <strong>Kapital</strong>ismus spricht und Parallelen zur verspäteten Entwicklung <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren europäischenLän<strong>de</strong>rn zieht. Im Beson<strong>de</strong>ren geht es um die Frage, <strong>in</strong> welchem Maße <strong>de</strong>r amerikanische Bürgerkrieg <strong>de</strong>n <strong>pol</strong>itischen E<strong>in</strong>fluß <strong>de</strong>r jungenArbeiterklasse erhöht. M. schreibt: "In England ist <strong>de</strong>r Umwälzungsprozeß mit Hän<strong>de</strong>n greifbar. Auf e<strong>in</strong>em gewissen Höhepunkt muß erauf <strong>de</strong>n Kont<strong>in</strong>ent rückschlagen. Dort wird er sich <strong>in</strong> brutaleren o<strong>de</strong>r humaneren Formen bewegen, je nach <strong>de</strong>m Entwicklungsgrad <strong>de</strong>r Arbeiterklasseselbst. Von höheren Motiven abgesehn, gebietet also <strong>de</strong>n jetzt herrschen<strong>de</strong>n Klassen ihr eigenstes Interesse die Wegräumungaller gesetzlich kontrollierbaren H<strong>in</strong><strong>de</strong>rnisse, welche die Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeiterklasse hemmen. Ich habe <strong>de</strong>swegen u.a. <strong>de</strong>r Geschichte,<strong>de</strong>m Inhalt und <strong>de</strong>n Resultaten <strong>de</strong>r englischen Fabrikgesetzgebung e<strong>in</strong>en so ausführlichen Platz <strong>in</strong> diesem Ban<strong>de</strong> e<strong>in</strong>geräumt. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Nationsoll und kann von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn lernen. Auch wenn e<strong>in</strong>e Gesellschaft <strong>de</strong>m Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist - und esist <strong>de</strong>r letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft zu enthüllen -, kann sie naturgemäßeEntwicklungsphasen we<strong>de</strong>r überspr<strong>in</strong>gen noch weg<strong>de</strong>kretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mil<strong>de</strong>rn." (MEW 23,S.15f)14M. schreibt am 2. April 1851 an Engels: "Ich b<strong>in</strong> so weit, dass ich <strong>in</strong> 5 Wochen mit <strong>de</strong>r ganzen ökonomischen Scheiße fertig b<strong>in</strong>. Et ce lafait [Wenn das getan ist], wer<strong>de</strong> ich zu Hause die Ökonomie ausarbeiten und im Museum mich auf e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Wissenschaft werfen. Cacommence à m'ennuyer. [Es beg<strong>in</strong>nt mich zu langweilen]." Dazu s<strong>in</strong>d drei Anmerkungen nötig: Erstens ist die drastische Ausdrucksweisezwischen bei<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n durchaus üblich; je<strong>de</strong>r nutzt <strong>de</strong>n fast täglichen Austausch von Briefen immer auch dazu, um je<strong>de</strong> Menge anFrust und Beschimpfung <strong>de</strong>r geme<strong>in</strong>samen Gegner abzulassen. Zweitens wird mit <strong>de</strong>r "ökonomischen Scheiße" nicht die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>rÖkonomie <strong>in</strong> Frage gestellt. Damit beschreibt M. se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung zur scheißlichen Arbeit <strong>de</strong>s Excerpierens, also zur gründlichen Befassung11


sich bekanntlich nicht. Er arbeitete daran bis zu se<strong>in</strong>em To<strong>de</strong>, mehr als 30 Jahre lang, durch viele<strong>pol</strong>itische Aktivitäten und an<strong>de</strong>re Publikationen, aber auch durch Phasen <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rgeschlagenheitund Krankheit immer wie<strong>de</strong>r unterbrochen. Die Ökonomie blieb se<strong>in</strong> geliebtes und gehaßtesDauerthema über all die Jahre. Es beschäftigte ihn so sehr, dass Besucher berichteten, manwer<strong>de</strong> von M. statt mit Komplimenten mit ökonomischen Kategorien empfangen 15 .Schon sehr bald wur<strong>de</strong> M. die Tragweite se<strong>in</strong>es Vorhabens klar. Ke<strong>in</strong>e Re<strong>de</strong> mehr von 5 Wochen.Da türmt sich e<strong>in</strong> Berg an ökonomischer und historischer Literatur, Statistiken und Kommissionsberichten,<strong>de</strong>r abgetragen wer<strong>de</strong>n muß. Da s<strong>in</strong>d die Probleme <strong>de</strong>s Gegenstands selbst.Da wächst die Erkenntnis, dass die neuen Fragestellungen auch neuartige Metho<strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rnund von <strong>de</strong>n Vorgängern eigentlich nur zu lernen ist, wie man nicht ans Ziel gelangt.Während M. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bibliothek Excerptheft um Excerptheft 16 füllt und parallel dazu erste Entwürfese<strong>in</strong>er eigenen Theorie formuliert, schlägt sich die Größe <strong>de</strong>r selbst gestellten Aufgabe <strong>in</strong> immerneuen Konzeptionen nie<strong>de</strong>r. 17 Was voller Optimismus zunächst als Erweiterung se<strong>in</strong>er früherenArbeiten gedacht war, wird e<strong>in</strong> eigenständiges und neues, auf mehrere Bän<strong>de</strong> geplantesJahrhun<strong>de</strong>rtwerk - m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens.Monumentales VorhabenTrotz <strong>de</strong>r vieljährigen Arbeit kann M. nur e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>er Pläne realisieren. Zwar liegen für allegeplanten Bän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" umfangreiche Rohmanuskripte vor. Der Forschungsprozess ist imwesentlichen abgeschlossen. Aber die Präsentation <strong>de</strong>r Ergebnisse br<strong>in</strong>gt noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>enBerg an Arbeit. 1867 ersche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>r erste Band <strong>de</strong>s geplanten Werks von M.s eigener Hand unter<strong>de</strong>m Titel "<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>. Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie". Der Band selbst trägt <strong>de</strong>n Untertitel"Der Produktionsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s"; 1872 ersche<strong>in</strong>t das Werk <strong>in</strong> zweiter und stark überarbeiteterAuflage. Die vierte Auflage wird von Engels durch e<strong>in</strong>ige Anmerkungen aus M.s Manuskriptenergänzt; das ist die uns als MEW Bd.23 18 zur Verfügung stehen<strong>de</strong> Ausgabe. Der Fortgang<strong>de</strong>r Arbeit an <strong>de</strong>n noch ausstehen<strong>de</strong>n Bän<strong>de</strong>n wird durch M.s Erkrankungen und e<strong>in</strong>eVielzahl <strong>pol</strong>itischer Verpflichtungen immer wie<strong>de</strong>r unterbrochen.mit <strong>de</strong>n Arbeiten <strong>de</strong>r Ökonomen, <strong>de</strong>ren Kritik wesentliche Aufgabe <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" se<strong>in</strong> sollte. Excerpieren heißt: Abschreiben und Kommentieren<strong>de</strong>r wichtigen Stellen aus <strong>de</strong>n Büchern <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Ökonomen - mit <strong>de</strong>r Hand, ohne Scanner und Computer. M. hoffte im April1851 voreilig, bald mit dieser Arbeit fertig zu se<strong>in</strong>; tatsächlich sah er sich gezwungen, später auf die wichtigen Autoren noch sehr viel ausführlicherzurück zu kommen. Häufige Schreibkrämpfe und e<strong>in</strong>e (vornehm gesagt) sehr ökonomische Handschrift s<strong>in</strong>d die Folge. Drittensist mit <strong>de</strong>m erwähnten Museum natürlich das Britische Museum <strong>in</strong> London geme<strong>in</strong>t, <strong>in</strong> <strong>de</strong>ssen Bibliothek M. e<strong>in</strong>en großen <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>er Zeitverbrachte, wie wir schon erfahren haben.15Wilhelm Pieper, <strong>de</strong>utscher Journalist, schreibt am 27.<strong>1.</strong>1851: "Marx lebt sehr zurückgezogen, se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigen Freun<strong>de</strong> s<strong>in</strong>d John StuartMill und Loyd, und wenn man zu ihm kommt, wird man statt mit Komplimenten, mit ökonomischen Kategorien empfangen." (MEW 27,S.169) Bei <strong>de</strong>n genannten Herren Mill und Loyd han<strong>de</strong>lt es sich um zwei <strong>de</strong>r gründlich im Museum studierten re<strong>in</strong> literarischen Bekanntschaftenaus <strong>de</strong>r zeitgenössischen Polit-Ökonomie-Szene.16M. hat e<strong>in</strong>ige Dutzend Excerpthefte produziert, gefüllt mit wörtlichen Auszügen aus <strong>de</strong>n Werken an<strong>de</strong>rer Autoren und angereichertdurch umfangreiche Kommentare. E<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Hefte wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Rohmanuskripten zu <strong>de</strong>n "Theorien über <strong>de</strong>n Mehrwert" (s. MEW26.1/2/3) verarbeitet. An<strong>de</strong>re Vorarbeiten liegen uns als "Grundrisse <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie" vor, die M. von 1857 bis 1858verfaßte (s. MEW 42). Doch viele Excerpthefte und an<strong>de</strong>re Vorarbeiten, die als Notizbücher und Stoffsammlungen für geplante Arbeitenglücklicherweise erhalten blieben, wur<strong>de</strong>n und wer<strong>de</strong>n erst mit <strong>de</strong>r MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) seit 1975 Band für Band veröffentlicht.17<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Übersicht über die Entstehungsgeschichte <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich bei Rolf Hecker: Die Entstehungs-, Überlieferungs- und Editionsgeschichte<strong>de</strong>r ökonomischen Manuskripte und <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" (Internet). Auch für Nicht-Spezialisten ist daran zu sehen, welche AnstrengungenM. unternehmen mußte, um <strong>de</strong>n gewaltigen Stoff e<strong>in</strong>igermaßen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Griff zu bekommen.18MEW ist die Abkürzung für Marx-Engels-Werke, herausgegeben <strong>in</strong> <strong>de</strong>r DDR vom Institut für Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus beim ZK <strong>de</strong>r SED(Zentralkomitee <strong>de</strong>r Sozialistischen E<strong>in</strong>heitspartei Deutschlands). Für alle Zitate von Marx und Engels verwen<strong>de</strong>n wir die MEW-Bän<strong>de</strong>, dieman sich gut antiquarisch beschaffen o<strong>de</strong>r beim Dietz-Verlag Berl<strong>in</strong> (hrsg. von <strong>de</strong>r Rosa-Luxemburg-Stiftung) als Repr<strong>in</strong>ts kaufen kann.<strong>E<strong>in</strong>e</strong>n immer größeren <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r MEW gibt es auch im Internet, z.B. bei www.mlwerke.<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r www.zeno.org.12


Wir wer<strong>de</strong>n noch darauf zu sprechen kommen, warum <strong>de</strong>r <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" eigentlich diezuletzt erarbeiteten Ergebnisse umfaßt, während die von M. zu erst erstellten Manuskripte fürdie Folgebän<strong>de</strong> vorgesehen wur<strong>de</strong>n. M. selbst hat mehrfach darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die abschließen<strong>de</strong>Publikation <strong>de</strong>r Ergebnisse und ihre langjährige Erarbeitung genau <strong>in</strong> <strong>de</strong>r umgekehrtenReihenfolge erfolgt sei. 19M. stirbt 1883 und h<strong>in</strong>terläßt für die noch fehlen<strong>de</strong>n Bän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" umfangreiche Manuskripte,von <strong>de</strong>nen nur <strong>de</strong>r zweite Band <strong>in</strong> <strong>Teil</strong>en fertiggestellt war. 20 Friedrich Engels gibt 1885<strong>de</strong>n 2. Band und 1894 <strong>de</strong>n 3. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" heraus. Diese Ausgaben liegen uns als MEWBän<strong>de</strong> 24 und 25 vor. Während <strong>de</strong>r mühsamen Arbeit an <strong>de</strong>r Herausgabe <strong>de</strong>s 4. Ban<strong>de</strong>s stirbtEngels 1895 <strong>in</strong> London. 21Nach Engels Tod setzt Karl Kautsky die Arbeit als Herausgeber fort und veröffentlicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Jahren1904 bis 1910 e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> von M.s vorbereiten<strong>de</strong>n Manuskripten zum "<strong>Kapital</strong>" unter <strong>de</strong>mTitel "Theorien über <strong>de</strong>n Mehrwert". In überarbeiteter und stark erweiterter 22 Fassung liegt dieservierte Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" seit 1965 als MEW Bd. 26.1 bis 26.3 vor.M.s <strong>pol</strong>itisch-ökonomisches Werk umfaßt darüberh<strong>in</strong>aus zahlreiche Entwürfe und Vorstudien,aber auch parallele Arbeiten zur Technik, zur Geldtheorie und zum Kreditwesen, von <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong>igeerst <strong>in</strong> unserer Zeit als Bän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) publiziert wur<strong>de</strong>n 23 ,an<strong>de</strong>re noch gar nicht veröffentlicht s<strong>in</strong>d. Thematisch gehen diese Manuskripte über das "Kapi-19s. Fußnote 9020M. war schon kurz nach Ersche<strong>in</strong>en <strong>de</strong>s <strong>1.</strong> Bands skeptisch über <strong>de</strong>n Fortgang se<strong>in</strong>er Arbeit. Vom 2. Band sagte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief anKugelmann vom 6.3.1869, dass "<strong>de</strong>r wohl niemals ersche<strong>in</strong>en wird, wenn sich me<strong>in</strong> Zustand nicht än<strong>de</strong>rt" (MEW 32, S.539). Aber dasManuskript für Band 2 war <strong>de</strong>nnoch so weit gediehen, dass Engels ihn bereits drei Jahre nach M.s Tod herausgeben konnte.21E<strong>in</strong>ige Marxologen versuchen <strong>de</strong>n Umstand, dass die 'beson<strong>de</strong>rs wichtigen' Bän<strong>de</strong> 2 und 3 von Engels herausgegeben wur<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enMarx-Engels-Gegensatz umzu<strong>de</strong>uten. Motto: Marx war sich gar nicht sicher, hatte am En<strong>de</strong> große Zweifel an se<strong>in</strong>er Theorie usw., aberEngels hat M.s Selbstzweifel glattgebügelt und e<strong>in</strong>en vulgären Marxismus begrün<strong>de</strong>t, gegen <strong>de</strong>n sich M., da tot, nicht wehren konnte.Tatsächlich hatte M. die Manuskripte zu allen Bän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" bereits <strong>in</strong> Rohfassung erstellt, bevor <strong>de</strong>r erste Band überhaupt erschien.Engels hat nur die mühselige Arbeit übernommen, daraus e<strong>in</strong>e druckfertige Fassung zu machen. <strong>Das</strong>s M. mit se<strong>in</strong>er Arbeit niemalsrecht zufrie<strong>de</strong>n war, sollte wohl stimmen. Und wäre M. 150 Jahre alt gewor<strong>de</strong>n, hätte er bestimmt alles immer wie<strong>de</strong>r neu geschrieben.Aber "wenn" und "hätte" zählt nicht. Wir haben M.s Werk erst mal so zu nehmen, wie es uns vorliegt, gera<strong>de</strong> auch dank Friedrich Engels,<strong>de</strong>r wegen se<strong>in</strong>er Arbeit als Herausgeber auf viele geplante eigene Arbeiten selbstlos verzichtetete. Engels hat an M.s Werk <strong>in</strong>haltlichnichts geän<strong>de</strong>rt; e<strong>in</strong> Vergleich <strong>de</strong>r Urschriften mit <strong>de</strong>m "<strong>Kapital</strong>" ergibt zwar e<strong>in</strong>ige unterschiedliche Lesarten; aber die s<strong>in</strong>d ohne Belang.Be<strong>de</strong>utet: Auf allen Bän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" steht nicht nur Marx drauf, es ist auch Marx dr<strong>in</strong>.22Bevor irgendjemand se<strong>in</strong>e Phantasie strapaziert: Diese Korrekturen stellen ke<strong>in</strong>e Zensur durch staatlich bestallte Marxisten <strong>de</strong>r DDR dar.Im Gegenteil: Sie haben M.s Rohmanuskript wie<strong>de</strong>r hergestellt, das Kautsky aus nicht immer nachvollziehbaren Grün<strong>de</strong>n stark gekürzt un<strong>de</strong>ntgegen M.s und Engels Absicht auch niemals als 4. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" betrachtet hatte.Gravieren<strong>de</strong>r ist Kautskys Versuch, die "Theorien" lesbarer zu machen. Deshalb hat er sich nicht an M.s Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Materials gehalten,son<strong>de</strong>rn die verschie<strong>de</strong>nen <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s Manuskripts thematisch neu gruppiert, dabei aber mehr auf die I<strong>de</strong>engeschichte <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischenÖkonomie, weniger auf die Geschichte von M.s eigenen I<strong>de</strong>en geachtet.Aber ob man die "Theorien" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Kautsky-Ordnung o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r mehr als doppelt so umfangreichen heutigen Urfassung liest: In je<strong>de</strong>mFall merkt man mit <strong>de</strong>r ersten Zeile <strong>de</strong>s Textes, dass es sich nicht um e<strong>in</strong>en fertigen Text han<strong>de</strong>lt. Doch für je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich mit M.s Forschungs-und Denkweise <strong>in</strong>tensiver beschäftigt, s<strong>in</strong>d die "Theorien über <strong>de</strong>n Mehrwert" unverzichtbares Material, aus <strong>de</strong>m sich dieschrittweise Herausbildung <strong>de</strong>r typisch Marx'schen Metho<strong>de</strong> und se<strong>in</strong>e Lösung <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>it-ökonomischen Grundfragen rekonstruieren läßt.Um M.s <strong>pol</strong>itisch-ökonomische Theorie zu verstehen, die er <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ersten drei Bän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" vor uns ausbreitet, s<strong>in</strong>d die "Theorienüber <strong>de</strong>n Mehrwert" nicht erfor<strong>de</strong>rlich.23<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Bän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" <strong>in</strong> <strong>de</strong>n bekannten blauen MEW-Bän<strong>de</strong>n. Wie schon erwähnt, be<strong>de</strong>utet MEW nichts an<strong>de</strong>res als Marx-Engels-Werke. Obwohl die <strong>in</strong>zwischen auf mehr als 40 Bän<strong>de</strong> angewachsen ist, enthält sie nur <strong>de</strong>n kle<strong>in</strong>eren <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Arbeiten von Marxund Engels. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Schritt weiter geht die MEGA. Die Abkürzung be<strong>de</strong>utet Marx-Engels-Gesamtausgabe, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r alle schriftlichen Äußerungen<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Superhirne <strong>in</strong> <strong>de</strong>n jeweiligen Publikationssprachen zusammengefaßt wer<strong>de</strong>n sollen. Die Herausgabe <strong>de</strong>r MEGA wur<strong>de</strong>1975 <strong>in</strong> <strong>de</strong>r UdSSR und DDR begonnen und war durch <strong>de</strong>n Zusammenbruch <strong>de</strong>r sozialistischen Staaten lange Zeit gefähr<strong>de</strong>t. Heute wirddie Herausgabe <strong>de</strong>r MEGA durch die Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES) <strong>in</strong> Amsterdam fortgesetzt und hoffentlich auch zu En<strong>de</strong>geführt. Aktuelle Informationen zum Stand <strong>de</strong>r MEGA f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man im Internet.Wenn die MEGA <strong>in</strong>zwischen auch zu e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong> aka<strong>de</strong>mischen Geschäft auf nicht-marxistischer (teilweise auch anti-marxistischer) Grundlagegewor<strong>de</strong>n ist, so s<strong>in</strong>d bisher je<strong>de</strong>nfalls die editorischen Leistungen gut. Diverse marx-töten<strong>de</strong> Vorworte und drollige Sachregisternehmen wir gerne h<strong>in</strong>, wenn nur die bisher unveröffentlichten Manuskripte endlich zugänglich wer<strong>de</strong>n.13


tal" h<strong>in</strong>aus, das ja auch nicht <strong>de</strong>n Endpunkt, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e erste Etappe <strong>de</strong>r Analyse markiert,und sie bezeugen <strong>in</strong>sgesamt M.s ehrgeiziges, gera<strong>de</strong>zu monumentales Vorhaben."Soll ich es Glück o<strong>de</strong>r Unglück nennen?"Jetzt soll aufge<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, was es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Überschrift zu diesem E<strong>in</strong>leitungskapitel mit <strong>de</strong>r"miesen Handschrift" auf sich hat. Wir s<strong>in</strong>d es gewohnt, M.s Schriften <strong>in</strong> gedruckter Form zulesen. Doch bevor es dazu kam, waren se<strong>in</strong>e Schriften wirklich Geschriebenes. Schreibmasch<strong>in</strong>enwaren erst <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Entwicklung 24 . <strong>Das</strong> Geld, um e<strong>in</strong>em Sekretär zu diktieren, gab es nur ausnahmsweise.Für M. war Schreiben und Denken außer<strong>de</strong>m viel zu eng verwoben, se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>fällezu purzelnd, um an geordnete Manuskripte auch nur zu <strong>de</strong>nken. Die Vielzahl und die Verschachtelung<strong>de</strong>r Manuskripte, wodurch sich zusammenhängen<strong>de</strong> Texte auf viele verschie<strong>de</strong>neBlätter verteilten, war aber nur das e<strong>in</strong>e Problem. <strong>Das</strong> an<strong>de</strong>re war M.s Handschrift.Welche Schwierigkeiten Engels und Kautsky und spätere Herausgeber mit <strong>de</strong>n nachgelassenenManuskripten zu bewältigen haben, zeigt die abgebil<strong>de</strong>te Manuskriptseite zum "<strong>Kapital</strong>". ImVorwort zum 2. Band bezeichnet Engels das zurückhaltend als "die bekannte, <strong>de</strong>m Verfasserselbst manchmal unleserliche Handschrift." Ke<strong>in</strong> Wun<strong>de</strong>r, wenn mit <strong>de</strong>r Herausgabe von M.sSchriften <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten 60 Jahren zahlreiche nachträgliche Korrekturen gegenüber früheren Lesartennotwendig wur<strong>de</strong>n. Wir je<strong>de</strong>nfalls s<strong>in</strong>d bereit, diese Handschrift ohne zu zögern e<strong>in</strong>e Sauklauezu nennen.Nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht müssen wir für M.s charakterstarke Handschrift ausgesprochen dankbarse<strong>in</strong>. Als er nämlich wegen <strong>de</strong>s amerikanischen Bürgerkriegs se<strong>in</strong>en Nebenerwerb als Korrespon<strong>de</strong>nt<strong>de</strong>r "New York Tribune" 25 verlor, mußte er "e<strong>in</strong>e Masse W<strong>in</strong>kelarbeiten" übernehmen,wie er an Ludwig Kugelmann schrieb, um <strong>de</strong>r stets klammen Familienkasse Geld zuzuführen:"Ich hatte mich sogar entschlossen, 'Praktiker' zu wer<strong>de</strong>n und sollte anfangs nächsten Jahres <strong>in</strong>24Die erste wirklich funktionstüchtige Schreibmasch<strong>in</strong>e gab es zwar schon 1865; M. hätte also das Schlußmanuskript tippen können. Aberdiese ersten Masch<strong>in</strong>en gab es nur <strong>in</strong> handwerklicher Stückzahl und spielten e<strong>in</strong>e Außenseiterrolle. Sogar die ersten fabrikmäßig produziertenSchreibmasch<strong>in</strong>en <strong>de</strong>r Firma Rem<strong>in</strong>gton von 1874 waren ke<strong>in</strong>e Option; sie nutzten (wie die allerersten Computerdrucker) nurGroßbuchstaben. M. hätte noch e<strong>in</strong>ige Jahre länger leben müssen; dann hätte er e<strong>in</strong>em Typisten se<strong>in</strong>e Manuskripte <strong>in</strong> die Masch<strong>in</strong>e diktierenkönnen und allen Herausgebern wäre e<strong>in</strong>e Menge Arbeit erspart und Sehkraft erhalten wor<strong>de</strong>n.25Der amerikanische Bürgerkrieg begann 1861 und g<strong>in</strong>g 1865 mit <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>r Nordstaaten zu En<strong>de</strong>. Der Postverkehr zwischen USA undEuropa war zeitweilig unterbrochen. Die US-Presse war ganz auf die Ereignisse im eigenen Land konzentriert. M.s Auftraggeber verließendie Zeitung und übernahmen an<strong>de</strong>re Posten. So en<strong>de</strong>ten M.s und Engels Beiträge zur amerikanischen Publizistik 186<strong>1.</strong> Engels schreibtüber M.s Tätigkeit, se<strong>in</strong>e eigenen Beiträge dabei vergessend:"Von 1852 an war Marx Londoner Korrespon<strong>de</strong>nt und jahrelang gewissermaßen Redakteur für Europa <strong>de</strong>r 'New-York Tribune'. Se<strong>in</strong>e Artikels<strong>in</strong>d teils mit se<strong>in</strong>em Namen unterzeichnet, teils figurieren sie als Leitartikel; es s<strong>in</strong>d nicht gewöhnliche Korrespon<strong>de</strong>nzen, son<strong>de</strong>rn aufgründlichen Studien beruhen<strong>de</strong>, oft e<strong>in</strong>e ganze Artikelreihe umfassen<strong>de</strong> Darlegungen <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen und ökonomischen Lage <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelneneuropäischen Län<strong>de</strong>r. "(MEW 22, S.340)Insgesamt waren es 321 Beiträge, die Marx und Engels für die Tribune verfassten, die mit e<strong>in</strong>er Auflage von 200.000 Exemplaren täglichzu <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>flußreichsten Presseorganen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA zählte und tatsächlich ganz wesentlich zur Herausbildung <strong>de</strong>r Republikanischen Parteibeitrug. Im Spitzelbericht <strong>de</strong>s preußischen Innenm<strong>in</strong>isteriums heißt es <strong>de</strong>nn auch erstaunt: "Die New-York Tribune, Zeitung und Wochenblatt,ist e<strong>in</strong> Organ <strong>de</strong>r whigistischen Parthei*, gefällt sich aber son<strong>de</strong>rbarer Weise <strong>in</strong> socialistischen Extravaganzen."Dank dieser Extravaganzen konnte M. nebenbei etwas erf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, das später als Konjunkturanalyse zur Mo<strong>de</strong> wird und heute große Forschungs<strong>in</strong>stitutemit hun<strong>de</strong>rten von Mitarbeitern am Leben erhält. M. hat das alles noch als 1-Mann-Betrieb erledigt, was von äußersterBe<strong>de</strong>utung für se<strong>in</strong>e "privaten Konjunkturen" war, da die New York Tribune zu <strong>de</strong>n wenigen Zeitungen zählte, die zwar auch ke<strong>in</strong>e wirklichangemessenen Honorare, dafür aber sehr zuverlässig zahlte.*Whigistische Partei spielt auf die Whigs an, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> England schon im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt entstan<strong>de</strong>ne <strong>pol</strong>itische Gruppierung, die im 19.Jahrhun<strong>de</strong>rt für wirtschaftlichen Liberalismus und Freihan<strong>de</strong>l e<strong>in</strong>trat und zur Liberal Party wur<strong>de</strong>.Der preußische Verfassungsschutz (zwar noch ohne Verfassung, aber <strong>de</strong>nnoch kräftig an <strong>de</strong>r Arbeit) wun<strong>de</strong>rt sich nicht zu unrecht, warume<strong>in</strong>e wirtschaftsliberale Zeitung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA sich ausgerechnet mit weltbekannten sozialistischen Autoren schmückt. Vielleicht war <strong>de</strong>r S<strong>in</strong>nfür Qualität doch noch ausgeprägter?14


e<strong>in</strong> Eisenbahnoffice e<strong>in</strong>treten. Soll ich es Glück o<strong>de</strong>r Unglück nennen? Me<strong>in</strong>e schlechte Handschriftwar <strong>de</strong>r Grund, dass ich die Stelle nicht erhielt." 26E<strong>in</strong> dickes Lob <strong>de</strong>r unternehmerischen Weitsicht jenes namenlosen Officers <strong>de</strong>r Eisenbahn. Wirsehen ihn vor uns, mit trauriger Miene, wie er bedauernd tönt: "Wirklich, <strong>de</strong>ar Mr. Marx, Kanzleischriftist das aber nicht, was Sie zu produzieren belieben! Wollen Sie uns ru<strong>in</strong>ieren?" Rechtso! M.s Handschrift ist für je<strong>de</strong>n geordneten Bürobetrieb ebenso unzumutbar, wie sie e<strong>in</strong> großesPech für se<strong>in</strong>e Herausgeber ist. Aber die weise Entscheidung <strong>de</strong>s Managers ist <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall e<strong>in</strong>Glück für uns.Nicht fertig? Natürlich nicht.Es gibt e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Sorte von Marx-Forschern, die salbungsvoll und irgendwie bedauernd alldas aufzählen, was M. nicht geschafft hat. Kalter Kaffee! 27 Uns genügen <strong>in</strong> diesem Zusammenhangzwei schlichte Feststellungen:Erstens liegt mit <strong>de</strong>m "<strong>Kapital</strong>" als M.s zentralem Werk das wirkungsreichste gesellschaftswissenschaftlicheWerk vor, das bisher geschrieben wur<strong>de</strong>. <strong>Das</strong>s es unvollen<strong>de</strong>t blieb, spornt unsnur an. M.s Ausstrahlung geht weit über <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r erklärten Marxisten h<strong>in</strong>aus. <strong>Das</strong> wirdnicht nur durch die unproduktiven Bemühungen e<strong>in</strong>er Armee von Marxologen, son<strong>de</strong>rn auchdurch die umfangreiche, wirklich produktive Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung mit M.s Schriften <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gesellschaftswissenschaftenweltweit bestätigt. M.s Werk markiert <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gesellschaftswissenschaftene<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>schnitt. Nach M. war nichts mehr so wie vorher. Selbst <strong>de</strong>r borniertesteBrotschreiber, ob er will o<strong>de</strong>r nicht, unterliegt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Denken M.s E<strong>in</strong>fluß. 28Zwischenfrage 3: Gibt es überhaupt e<strong>in</strong>en „Marxismus“? Was könnte dafür, was könnte dagegen sprechen?(S.240)Zweitens ist sowieso nichts an M.s Werk <strong>in</strong> irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne "fertig" o<strong>de</strong>r "abgeschlossen".Solche Vorstellungen verbieten sich. Nicht etwa, weil M. selbst (siehe oben) se<strong>in</strong> Vorhaben nichtwie geplant realisieren konnte. Alle<strong>in</strong> <strong>de</strong>shalb, weil M.s Analyse <strong>de</strong>n wirklichen geschichtlichenGang zu entschlüsseln versucht.Wie sollte e<strong>in</strong> solches Werk jemals fertig se<strong>in</strong>, wo doch Geschichte immer neu passiert? Daranmüssen wir uns er<strong>in</strong>nern, wenn wir versuchen, M.s Erkenntnisse für unsere Zeit anzuwen<strong>de</strong>n.M.s "<strong>Kapital</strong>" ist ke<strong>in</strong> Born ewiger Weisheit, aus <strong>de</strong>m man e<strong>in</strong>fach nur tr<strong>in</strong>ken muß, um erleuchtetzu wer<strong>de</strong>n. Der Autor selbst hatte se<strong>in</strong>em Werk gegenüber e<strong>in</strong>e ganz an<strong>de</strong>re E<strong>in</strong>stellung.Nach<strong>de</strong>m M. <strong>de</strong>n <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" 1867 endlich <strong>in</strong> Druck gegeben hatte, nahm er für die2. Auflage fünf Jahre später bereits <strong>de</strong>utliche Korrekturen vor. Und schon 1881, also vierzehn26M.s Brief vom 28.12.1862 an Ludwig Kugelmann (MEW 30, S.640).27Je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne dieser Marxologen gäbe vieles dafür, wenn er auch nur e<strong>in</strong>ziges Werk von ähnlicher Qualität zustan<strong>de</strong> brächte, wie sie M.im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens dutzendweise veröffentlichte.Und sie sollten m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens wöchtlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kirche ihrer Wahl e<strong>in</strong>e Kerze anzün<strong>de</strong>n aus Dankbarkeit für M.s bloße Existenz. Ihr alle<strong>in</strong>verdanken im Laufe <strong>de</strong>r letzten 120 Jahre weltweit zehntausen<strong>de</strong> von Marx-Kritikern und Marx-Verstehern und Marx-Erforschern ihrenLebensunterhalt.M. ist noch 126 Jahre nach se<strong>in</strong>em Tod e<strong>in</strong> eigenes Arbeitsbeschaffungsprogramm. Wir je<strong>de</strong>nfalls haben <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht unsere spirituelleDankespflicht (Kerze!) längst erfüllt, wenn für unseren eigenen Marx-Arbeitsplatz auch die Bezahlung zu wünschen läßt.28<strong>E<strong>in</strong>e</strong>r <strong>de</strong>r erfolgreichen literarischen Marx-Verwerter <strong>de</strong>r letzten Jahre, Francis Wheen, verweist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er sehr kurzen und lei<strong>de</strong>r auch e<strong>in</strong>wenig schiefen "<strong>Kapital</strong>"-E<strong>in</strong>führung völlig zu Recht darauf, dass "weite <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s westlichen Bürgertums Marxsches Gedankengut <strong>in</strong> ihrenI<strong>de</strong>enhaushalt aufgenommen" haben, "ohne dies je bemerkt zu haben." Die von Wheen ebenfalls als Zeugen genannten erzkonservativenAutoren, die sich bei M.s Analyse erfolgreich bedienten (wenn auch unter Vermeidung se<strong>in</strong>er Schlußfolgerungen), können nieman<strong>de</strong>nüberraschen, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m traurigen Zustand <strong>de</strong>r bürgerlichen "Volkswirtschaft" vertraut ist.15


Jahre später, trug er sich mit <strong>de</strong>m Plan, <strong>de</strong>n Band komplett umzuarbeiten, um das seit 1867 angefallenegeschichtliche und statistische Material e<strong>in</strong>zuarbeiten und das Werk auf die Höhe se<strong>in</strong>erZeit zu heben. 29 Schon nach 14 Jahren!So lange die Geschichte nicht "fertig" o<strong>de</strong>r "abgeschlossen" ist, kann es auch die marxistischeAnalyse nicht se<strong>in</strong>. Aber sie stets up-to-date zu halten ist alles an<strong>de</strong>re als e<strong>in</strong>fach. Selbst wennsich M.s Metho<strong>de</strong> so e<strong>in</strong>fach wie e<strong>in</strong> Kuchenrezept anwen<strong>de</strong>n ließe - auch dann müßte die Arbeiterst e<strong>in</strong>mal geleistet wer<strong>de</strong>n.Mit <strong>de</strong>m neoliberalen Siegeszug nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r sozialistischen Staaten g<strong>in</strong>g es <strong>de</strong>mMarxismus an <strong>de</strong>n Hochschulen und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Forschungs<strong>in</strong>stituten mit umfassen<strong>de</strong>n Säuberungenans Le<strong>de</strong>r. Die meisten Marxisten s<strong>in</strong>d zu Feierabend-Marxisten gewor<strong>de</strong>n, müssen tagsüber erstmal die Brötchen verdienen, bevor sie sich (leicht ermü<strong>de</strong>t) <strong>de</strong>n spannen<strong>de</strong>n Tätigkeiten zuwen<strong>de</strong>ndürfen. Nur ist lei<strong>de</strong>r auch wissenschaftliche Arbeit zu allererst Arbeit. Und Arbeit brauchtKraft und Zeit. So verwun<strong>de</strong>rt es nicht, dass <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten e<strong>in</strong>e ganze Menge Arbeitliegen geblieben ist und unsere eigenen analytischen Bemühungen noch ke<strong>in</strong>eswegs auf <strong>de</strong>rHöhe unserer Zeit s<strong>in</strong>d.Wir wollen uns <strong>in</strong> <strong>de</strong>n nächsten Kapiteln mit <strong>de</strong>n wichtigsten Erkenntnissen ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzen,die M.s Politische Ökonomie anbietet. Deshalb müssen wir uns die Grundlagen <strong>de</strong>r PolitischenÖkonomie aneignen. Aber wir wollen ke<strong>in</strong>e Marx-Forscher wer<strong>de</strong>n. 30 Wir wollen wissen, was M.wirklich gesagt hat und ob sich mit se<strong>in</strong>er Theorie heute noch was anfangen läßt. Die Frage istdoch die: Ist M.s Politische Ökonomie nur Geschichte? Ist sie e<strong>in</strong> alter Hut aus <strong>de</strong>r Mottenkiste?O<strong>de</strong>r gibt sie uns immer noch e<strong>in</strong>en Schlüssel zum besseren Verständnis unserer Zeit?29Als se<strong>in</strong> <strong>de</strong>utscher Verleger die 3. Auflage <strong>de</strong>s <strong>1.</strong> Ban<strong>de</strong>s ankündigte, war das M. gar nicht recht, da se<strong>in</strong>e schlechte Gesundheit und diedrängen<strong>de</strong> Arbeit am 2. Band e<strong>in</strong>e Bearbeitung <strong>de</strong>s <strong>1.</strong> Ban<strong>de</strong>s nicht möglich machte. Er schreibt an Danielson, se<strong>in</strong>en russischen Übersetzer,am 13.12.1881: "Auf je<strong>de</strong>n Fall wer<strong>de</strong> ich mit me<strong>in</strong>em Verleger vere<strong>in</strong>baren, dass ich für die 3.Auflage nur so wenig Än<strong>de</strong>rungen undErgänzungen wie möglich mache, dass er aber an<strong>de</strong>rerseits diesmal nur 1000 Exemplare statt 3000, wie er ursprünglich wollte, ausdruckt.Wenn diese 1000 Exemplare <strong>de</strong>r 3.Auflage verkauft s<strong>in</strong>d, wer<strong>de</strong> ich vielleicht das Buch so umarbeiten, wie ich es jetzt unter an<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>ngetan hätte." (MEW 35, S.246)30Schon gar nicht wollen wir uns e<strong>in</strong>en Marxismus <strong>de</strong>r Art aneignen, <strong>de</strong>n Brecht se<strong>in</strong>er Figur Ziffel, <strong>de</strong>m dicken Physiker, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n "Flüchtl<strong>in</strong>gsgesprächen"<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Mund legt. Der schwadroniert drauf los:"Me<strong>in</strong>e Kenntnis vom Marxismus ist unvollkommen", sagt Ziffel, "so seiens lieber vorsichtig. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> halbwegs komplette Kenntnis <strong>de</strong>s Marxismuskostet heut, wie mir e<strong>in</strong> Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark und das ist dann ohne dieSchikanen. Drunter kriegen sie nichts Richtiges, höchstens so e<strong>in</strong>en m<strong>in</strong><strong>de</strong>rwertigen Marxismus ohne Hegel o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en, wo <strong>de</strong>r Ricardofehlt usw. Me<strong>in</strong> Kollege rechnet übrigens nur die Kosten für die Bücher, die Hochschulgebühren und die Arbeitsstun<strong>de</strong>n und nicht wasIhnen entgeht durch Schwierigkeiten <strong>in</strong> Ihrer Karriere o<strong>de</strong>r gelegentliche Inhaftierung, und er läßt weg, daß die Leistungen <strong>in</strong> bürgerlichenBerufen be<strong>de</strong>nklich s<strong>in</strong>ken nach e<strong>in</strong>er gründlichen Marxlektüre; <strong>in</strong> bestimmten Fächern wie Geschichte o<strong>de</strong>r Philosophie wer<strong>de</strong>ns nie wie<strong>de</strong>rwirklich gut se<strong>in</strong>, wenns <strong>de</strong>n Marx durchgegangen s<strong>in</strong>d" (Bertolt Brecht, Flüchtl<strong>in</strong>gsgespräche, 1940/41).So weit Ziffel, <strong>de</strong>r h<strong>in</strong>ters<strong>in</strong>nige Schlauberger. Wir machen das sehr viel preiswerter und ganz ohne Hegel und an<strong>de</strong>re Schikanen. Dafürs<strong>in</strong>d auch unsere Ziele beschei<strong>de</strong>ner. Uns wür<strong>de</strong> es schon reichen, am En<strong>de</strong> besser zu begreifen, was da um uns herum geschieht, warumetwa Massenarbeitslosigkeit zur Normalität wird, warum Unternehmen zwar Gew<strong>in</strong>ne machen, aber <strong>de</strong>nnoch "Rote Zahlen" schreiben,o<strong>de</strong>r warum aus e<strong>in</strong>er Tour <strong>de</strong> Profit, die sche<strong>in</strong>bar gar nicht aufhören will, plötzlich e<strong>in</strong>e miese Krise all over the world wird. Die Gefahrfreilich, am En<strong>de</strong> unserer Beschäftigung mit M.s Analysen für die Alltagssicht <strong>de</strong>r D<strong>in</strong>ge und <strong>de</strong>n gesun<strong>de</strong>n Menschenverstand zum Problemfallzu wer<strong>de</strong>n, ist nicht von <strong>de</strong>r Hand zu weisen.16


Kapitel 2: Was untersucht die Politische Ökonomie?Wir klären die Frage, was Politische Ökonomie überhaupt ist und wo sie her kommt.Wir erfahren, welche pe<strong>in</strong>lichen Fragen die Politische Ökonomie vor M. bereits hervorgebrachthat und welche Erbschaft er antritt.M. erklärt uns selbst, was die Politische Ökonomie untersuchen sollte. Dabei lernenwir Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und die Gesellschaft kennen. Undwir machen uns erste Gedanken über <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluß <strong>de</strong>r Interessen auf die Formulierung<strong>de</strong>r sozialen Fragen, auf ihre Untersuchung und auf ihre Beantwortung.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> "Plötzlich-war-sie-weg"-WissenschaftBisher haben wir ganz unbefangen von "Politischer Ökonomie" gesprochen. Aber was heißt daseigentlich? Im Gabler Wirtschaftslexikon suchen wir diesen Begriff vergebens, obwohl das renommierteWerk für sich <strong>in</strong> Anspruch nimmt, "die ganze Welt <strong>de</strong>r Wirtschaft" zu umfassen. 31Versuchen wir unser Glück bei Wikipedia. Dort sagt man über Politische Ökonomie:"Lange Zeit war <strong>de</strong>r Ausdruck gleichbe<strong>de</strong>utend mit <strong>de</strong>r Klassischen Nationalökonomie... Seit<strong>de</strong>m späten 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt setzte sich <strong>de</strong>r Begriff Volkswirtschaftslehre durch für dasjenige<strong>Teil</strong>gebiet <strong>de</strong>r Wirtschaftswissenschaften, das die gesamte Wirtschaft e<strong>in</strong>er Gesellschaft zumGegenstand hat. In <strong>de</strong>r universitären Wissenschaft h<strong>in</strong>gegen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ausdruck 'PolitischeÖkonomie' weitgehend ungebräuchlich... Die Neoklassiker verstehen die Ökonomik als un<strong>pol</strong>itischeWissenschaft und orientieren sich an naturwissenschaftlich-mathematischen Metho<strong>de</strong>n." 32Korrektur 1: Mit <strong>de</strong>m Wechsel von <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie zur "Nationalökonomie" o<strong>de</strong>r"Volkswirtschaftslehre" f<strong>in</strong><strong>de</strong>t nicht nur e<strong>in</strong> Etikettenwechsel, son<strong>de</strong>rn gleichzeitig e<strong>in</strong>e Neubestimmungstatt. Unter <strong>de</strong>m Namen "Politische Ökonomie" betrat die von uns behan<strong>de</strong>lte Wissenschaftdie historische Bühne; das zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st steht <strong>in</strong> ihren Geburtsurkun<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>-31Gabler Wirtschaftslexikon (15.Auflage), Wiesba<strong>de</strong>n 2000. Wir f<strong>in</strong><strong>de</strong>n zwar die etwas abseitigen E<strong>in</strong>träge "<strong>pol</strong>itische Ökonomie <strong>de</strong>r Protektion"und "<strong>pol</strong>itische Ökonomie <strong>de</strong>r Umwelt". Doch Politische Ökonomie pur kommt nicht vor. Es sche<strong>in</strong>t, als habe zwar die Protektionund die Umwelt, nicht aber die Ökonomie etwas "Politisches". Vom Wirtschaftslexikon ebenfalls unbemerkt blieb <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m erweitertenEtikett Internationale Politische Ökonomie (IPÖ) etablierte Versuch, die mit <strong>de</strong>r "Globalisierung" auftreten<strong>de</strong>n neuartigen Fragestellungenzu <strong>in</strong>ternationalen Wirtschaftsbeziehungen und die Wechselwirkungen zwischen <strong>in</strong>ternationaler Politik und ökonomischen Prozessenzu untersuchen. Mit unserer Politischen Ökonomie hat aber auch diese Richtung ke<strong>in</strong>e bewußten Berührungspunkte. Die a<strong>pol</strong>itischeWirrnis makroökonomischer Perspektiven wird bloß <strong>in</strong>ternationalisiert.E<strong>in</strong> Kenner <strong>de</strong>r Szene schreibt: "Offiziell haben die Fachvertreter stets bestritten, die Weltökonomie könne etwas mit <strong>de</strong>r <strong>in</strong>ternationalenPolitik zu tun haben, sie gar bestimmen." Trotz <strong>in</strong>zwischen zahlreicher Lehrstühle und wissenschaftlicher Kongresse und ungezählter Publikationen"ist die Internationale Politische Ökonomie e<strong>in</strong> theorieloses 'Gebiet' ohne klare Grenzen, ohne Forschungsprogramm, ohneStruktur, e<strong>in</strong>e Ansammlung von Wissen und Wissenswertem, das <strong>de</strong>n Namen Wissenschaft nicht verdient. Völlig kritiklos wird <strong>de</strong>r kategorialeWirrwarr <strong>de</strong>r etablierten sozialwissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en aufgegriffen und munter reproduziert: 'Politik' und 'Ökonomie', 'Staat'und 'Markt', das 'Nationale' wie das 'Internationale' gelten fraglos als erste, nicht weiter zu befragen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r analysierbare Kategorien. Siereihen sich <strong>in</strong> die etablierten Denkschemata dieser Diszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>, die sich damit zufrie<strong>de</strong>n gibt, ab und an neue verbale Verknüpfunge von'Markt' und 'Staat' zu verkün<strong>de</strong>n." (Michael R. Krätke, Erneuerung <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie: Wo Marx unersetzlich bleibt, 2007).32Der E<strong>in</strong>trag zur Politischen Ökonomie lautet vollständig (Stand 3.2008): "Lange Zeit war <strong>de</strong>r Ausdruck gleichbe<strong>de</strong>utend mit <strong>de</strong>r KlassischenNationalökonomie, als <strong>de</strong>ren Hauptvertreter Adam Smith und David Ricardo gelten. Karl Marx griff die Ergebnisse <strong>de</strong>r klassischenNationalökonomie kritisch auf und nannte se<strong>in</strong>e Untersuchungsergebnisse 'Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie'. Seit <strong>de</strong>m späten 19. Jahrhun<strong>de</strong>rtsetzte sich <strong>de</strong>r Begriff Volkswirtschaftslehre durch für dasjenige <strong>Teil</strong>gebiet <strong>de</strong>r Wirtschaftswissenschaften, das die gesamte Wirtschafte<strong>in</strong>er Gesellschaft zum Gegenstand hat. In <strong>de</strong>r universitären Wissenschaft h<strong>in</strong>gegen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ausdruck 'Politische Ökonomie' weitgehendungebräuchlich, seit <strong>de</strong>r neoklassische Ökonom Alfred Marshall se<strong>in</strong> Werk 'Pr<strong>in</strong>ciples of Economics' betitelte und sich vom herkömmlichen'Political Economy' distanzierte. Die Neoklassiker die Ökonomik als un<strong>pol</strong>itische Wissenschaft und orientieren sich an naturwissenschaftlich-mathematischenMetho<strong>de</strong>n. Von marxistischen Autoren h<strong>in</strong>gegen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ausdruck 'Politische Ökonomie' bewusst beibehalten."Mit <strong>de</strong>n "Neoklassikern" s<strong>in</strong>d die Wirtschaftslehren geme<strong>in</strong>t, die sich zwar auf Smith und Ricardo berufen, sich aber durch Verzichtauf je<strong>de</strong> Werttheorie, die Ausgrenzung von Politik und das Primat <strong>de</strong>s Marktes (statt <strong>de</strong>r Produktion wie bei Smith und Ricardo) ganz entschei<strong>de</strong>nddavon absetzen.17


ung <strong>de</strong>s Namens wird nicht nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Distanzierung vollzogen; es entsteht e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>reWissenschaft. 33 Der Namenswechsel war nur die logische Konsequenz. Die alte Politische Ökonomiewird <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Maß zur Nationalökonomie, dann zur Volkswirtschaftslehre, wie sie aufhört,kritisch zu se<strong>in</strong>. Sie wird ganz und gar dienstbar, und zwar <strong>de</strong>m Nationalen und <strong>de</strong>r Klasse, <strong>de</strong>rsie entstammt; <strong>de</strong>m "Volk" weniger, <strong>de</strong>m ja auch die "Wirtschaft" ke<strong>in</strong>eswegs zu eigen ist.Zwischenfrage 4: Übertreiben die Marxisten mit ihrer Kritik an <strong>de</strong>r Volkswirtschaftslehre nicht erheblich?(S.241)Korrektur 2: Sogar die "Volks"wirtschaftslehre führt heute nur noch e<strong>in</strong> Schattendase<strong>in</strong> undverkümmert an <strong>de</strong>n Universitäten und Forschungs<strong>in</strong>stituten zur Makroökonomik. Im Unterschiedzur alles dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>n "Betriebswirtschaft", die e<strong>in</strong>e willige und nützliche Wissenschaft <strong>de</strong>sUnternehmens und <strong>de</strong>r Unternehmer ist und auch nichts an<strong>de</strong>res se<strong>in</strong> will. Aber trotz<strong>de</strong>m istauch diese unternehmen<strong>de</strong> Wissenschaft (beim Klapperstorch) objektiv, un<strong>pol</strong>itisch, wertneutralund emotionsfrei.Wäre zu klären, warum ausgerechnet jene Leute, die ansonsten gerne auf alles und je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>nStempel <strong>de</strong>s Copyrights drücken, auf ihr Urheberrecht an <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie bereitwilligverzichtet haben.Pe<strong>in</strong>liche FragenIn England war schon im 18. und frühen 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, aufbauend auf <strong>de</strong>n Arbeiten von WilliamPetty, Adam Smith und David Ricardo, die Arbeitswertlehre verbreitet und weith<strong>in</strong> akzeptiert.Die Arbeit galt ganz selbstverständlich als Quelle <strong>de</strong>s materiellen Reichtums. 34 Diese Lehrewar nicht nur <strong>de</strong>r Versuch, die ökonomische Realität <strong>de</strong>r Zeit gedanklich zu erfassen. Sie dientegleichzeitig als i<strong>de</strong>ologische Waffe gegen die schmarotzen<strong>de</strong> (eben nicht arbeiten<strong>de</strong>) Klasse <strong>de</strong>rGrundbesitzer, die mit ihrem Bo<strong>de</strong>nmono<strong>pol</strong> <strong>de</strong>r jungen Bourgeoisie e<strong>in</strong>en großen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Gew<strong>in</strong>nsals Pacht und Miete abknöpfte. 35In <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie <strong>de</strong>r neu entstehen<strong>de</strong>n englischen Bourgeoisie wur<strong>de</strong> nicht die e<strong>in</strong>zelneUnternehmung, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Zusammenhang <strong>de</strong>r Ökonomie behan<strong>de</strong>lt. Ausgangspunktwar die praktische Frage, welche öffentlichen Maßnahmen <strong>de</strong>n Wohlstand <strong>de</strong>r Gesellschaft (nation)för<strong>de</strong>rn und welche ihn hemmen. <strong>Das</strong> Klassen<strong>in</strong>teresse und das Gesellschafts<strong>in</strong>teresse lie-33Im Meyers Konversationslexikon von 1905 gibt es die <strong>pol</strong>itische Ökonomie nur noch als Nebene<strong>in</strong>trag und wird als veraltete Bezeichnung<strong>de</strong>r "mo<strong>de</strong>rnen Volkswirtschaftslehre" zugeschlagen. Über die heißt es kurios: "Für <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>r literarischen Darstellung, <strong>in</strong>sbes.aber im Interesse e<strong>in</strong>er guten Verteilung <strong>de</strong>s Stoffes auf <strong>de</strong>m Lehrstuhl mit Rücksicht auf die Semestere<strong>in</strong>teilung, ist es <strong>in</strong> Deutschland üblichgewor<strong>de</strong>n, die Volkswirtschaftslehre im weitern S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong> drei <strong>Teil</strong>e zu schei<strong>de</strong>n, und zwar <strong>in</strong>: 1) die theoretische, re<strong>in</strong>e o<strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>eV... 2) Die praktische o<strong>de</strong>r spezielle V... 3) Die F<strong>in</strong>anzwissenschaft."Was für e<strong>in</strong> Glück, dass die objektive Wissenschaft sich so voll und ganz nach <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>r Ka<strong>de</strong>rschulung semestergerecht teilenläßt. <strong>Das</strong> er<strong>in</strong>nert an Karl Valent<strong>in</strong>s Bemerkung: "Es ist doch erstaunlich, daß je<strong>de</strong>n Tag genauso viel passiert, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Zeitung paßt."34Gera<strong>de</strong>zu programmatisch kl<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r Satz, mit <strong>de</strong>m Adam Smith se<strong>in</strong> Werk über <strong>de</strong>n "Wohlstand <strong>de</strong>r Nationen" eröffnet. Er schreibt:"Die jährliche Arbeit e<strong>in</strong>es Volkes ist die Quelle, aus <strong>de</strong>r es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen D<strong>in</strong>gen <strong>de</strong>s Lebens versorgtwird, die es im Jahr über verbraucht."35Der Gegensatz zwischen <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>isten und Grundbesitzern dom<strong>in</strong>iert <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Frühphase <strong>de</strong>s englischen <strong>Kapital</strong>ismus. Darauserklärt sich auch das anhalten<strong>de</strong> Interesse <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie an <strong>de</strong>r Rentenfrage. <strong>Das</strong> hat nichts mit unseren heutigen "Rentenfragen"zu tun.Als Rente bezeichnete man <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ökonomie die Abgabe, die <strong>de</strong>r Grundbesitzer für die Nutzung se<strong>in</strong>es Bo<strong>de</strong>ns vom Bo<strong>de</strong>nnutzer verlangte,gleichgültig, ob <strong>de</strong>r darauf wohnen, Wasserkraft nutzen, Landwirtschschaft betreiben o<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>nschätze ausbeuten wollte. Die Bo<strong>de</strong>nrentewird als Pacht o<strong>de</strong>r Miete auf die Dauer <strong>de</strong>r Nutzung gezahlt.18


ßen sich <strong>in</strong> dieser Phase <strong>de</strong>s Aufstiegs <strong>de</strong>r Bourgeoisie noch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itical economy vere<strong>in</strong>igen.36Die Unbefangenheit <strong>de</strong>r bürgerlichen Politischen Ökonomie 37 <strong>in</strong> ihrer rebellischen Phase kommtam <strong>de</strong>utlichsten bei Ricardo zum Ausdruck. Der beschäftigte sich mit e<strong>in</strong>em <strong>de</strong>r Kernprobleme<strong>de</strong>r frühen <strong>pol</strong>itischen Ökonomie: Warum lassen sich die unterschiedlichsten Arten von Warengegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r tauschen? Er g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeitswertlehre bereits davon aus, dass sich <strong>de</strong>rWert je<strong>de</strong>r Ware durch die dar<strong>in</strong> stecken<strong>de</strong> Arbeit bemessen und sich daher mit diesem geme<strong>in</strong>samenMaßstab gegen an<strong>de</strong>re Waren völlig unterschiedlicher Art tauschen läßt.Die praktische Anwendung <strong>de</strong>r Arbeitswertlehre br<strong>in</strong>gt allerd<strong>in</strong>gs nach <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>r bürgerlichenProduktionsverhältnisse e<strong>in</strong>ige Fragen hervor: Wenn die Arbeit Maß <strong>de</strong>s Wertes und Quelle<strong>de</strong>s Reichtums ist, warum macht dieser Reichtum um diejenigen, die <strong>de</strong>n schweißtreiben<strong>de</strong>n <strong>Teil</strong><strong>de</strong>r Sache erledigen, e<strong>in</strong>en großen Bogen? Und wenn Arbeit <strong>de</strong>n Reichtum schafft, dann schafftArbeit auch das <strong>Kapital</strong>, o<strong>de</strong>r? Und wäre <strong>Kapital</strong> dann nichts an<strong>de</strong>res als gestohlene Arbeit?Pe<strong>in</strong>liche Fragen.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> ganz an<strong>de</strong>re PerspektiveWas ist passiert? Die Klassiker <strong>de</strong>r bürgerlichen Ökonomie wie Petty, Smith o<strong>de</strong>r Ricardo warengestan<strong>de</strong>ne <strong>Kapital</strong>isten, aber zu e<strong>in</strong>er Zeit, als <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ismus noch jung war und noch nichtdurch <strong>de</strong>n neuen Klassengegensatz zwischen Bourgeosie und Proletariat überschattet wur<strong>de</strong>. Siebetrieben ganz selbstverständlich Political Economy und trugen mit ihren Arbeiten dazu bei, dieletzten feudalen Überreste wegzuräumen. 38 Schon wenige Jahrzehnte später gerät <strong>de</strong>r Firmenname<strong>in</strong> Verruf. Die alten Gegensätze zu <strong>de</strong>n Grundbesitzern verlieren an Be<strong>de</strong>utung. Der Fabrikanthat bald se<strong>in</strong> eigenes Anwesen <strong>in</strong> ländlicher Idylle mit meilenlanger gekiester Zufahrt. BaronetD<strong>in</strong>genskirchen ist e<strong>in</strong> geschätzter Geschäftspartner, Duke Schreckenste<strong>in</strong> Mitbesitzer <strong>de</strong>rHausbank. Da wird es Zeit, sich vom "Politischen" an <strong>de</strong>r Ökonomie zu verabschie<strong>de</strong>n. Man präsentiertsich als "echte Wissenschaft", also als "objektiv", "wertneutral" usw., obwohl man <strong>in</strong><strong>de</strong>r Praxis alles an<strong>de</strong>re als un<strong>pol</strong>itisch ist.Die Trennung <strong>de</strong>r Firma vom alten Namen hat nachvollziehbare Grün<strong>de</strong>: Denken wir bei Politiknicht sofort an Interessen? An Machtstrukturen? An Eigentum? An Kampf <strong>de</strong>r Interessen? An36Dieser Zusammenhang spielt heute als "Volkswirtschaft" <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wirtschaftswissenschaften (Mehrzahl!) nur noch e<strong>in</strong>e Rolle am Ran<strong>de</strong>.An die Stelle e<strong>in</strong>er übergreifen<strong>de</strong>n Perspektive ist die Zerglie<strong>de</strong>rung <strong>in</strong> "Betriebswirtschaft" und "Volkswirtschaft" und für bei<strong>de</strong> <strong>in</strong> immerweitere <strong>Teil</strong>bereiche getreten; bei durchaus bewußter H<strong>in</strong>tanstellung <strong>de</strong>s Zusammenhangs, <strong>de</strong>r nur als Markt und <strong>pol</strong>itische Regulationmal mehr, mal weniger thematisiert wird.Liebend gern verzichtet man auf e<strong>in</strong>e übergreifen<strong>de</strong>, womöglich historische Analyse. Da muss im Studium e<strong>in</strong> bißchen (optionale) Wirtschaftsgeschichtereichen. <strong>Kapital</strong>ismus ist e<strong>in</strong>fach da, basta! Und damit ke<strong>in</strong>er auf dumme Gedanken kommt, nennen wir <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>fach"Wirtschaft", die es schließlich zu allen Zeiten gegeben hat.37Als bürgerliche <strong>pol</strong>itische Ökonomie bezeichnen wir alle Richtungen <strong>de</strong>r ökonomischen Theorie, <strong>de</strong>nen die kapitalistische Produktionsweiseals alternativlos gilt, wenn sie nicht sogar mit Berufung auf das "Wesen <strong>de</strong>s Menschen" als e<strong>in</strong>zig angemessene Produktionsweisedargestellt wird.38Allerd<strong>in</strong>gs brachten auch schon die Ökonomen vor Marx, sobald es heikel wur<strong>de</strong> und es etwa um die Frage nach <strong>de</strong>m Ursprung vonProfit und Wertschöpfung g<strong>in</strong>g, gerne mal e<strong>in</strong>en klassenlosen Rob<strong>in</strong>son auf e<strong>in</strong>samer Insel mit folgsamen Freitag <strong>in</strong>s Gespräch. Sozusagene<strong>in</strong>e Analyse <strong>de</strong>r ökonomischen Fragen als Analyse zeitlos-menschlicher Beziehungen; später e<strong>in</strong> spezielles Menschenbild gezeichnet, dasBild <strong>de</strong>s Homo Oeconomicus. Diesen vorgestellten Menschen konnte man mit allen Eigenschaften wie "Tauschbedürfnis" o<strong>de</strong>r "Nutzenoptimierung"ausstatten, um mit <strong>de</strong>m Popanz die Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>de</strong>r eigenen Wirtschaftsmo<strong>de</strong>lle mit <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n menschlichenBedürfnissen zu "beweisen".19


Klassenkampf womöglich? Für M.s Perspektive s<strong>in</strong>d das wesentliche Elemente, ohne die e<strong>in</strong>eökonomische Analyse leer bleibt. 39Für die Parteigänger <strong>de</strong>s Systems war das spätestens dann nicht mehr akzeptabel, als die neueArbeiterklasse aufhörte, nur zu arbeiten, son<strong>de</strong>rn selbst <strong>de</strong>n <strong>pol</strong>itischen Kampfplatz betrat un<strong>de</strong>igene For<strong>de</strong>rungen anmel<strong>de</strong>te. Der daraus sich entwickeln<strong>de</strong> neue Klassenkampf "läutete dieTotenglocke <strong>de</strong>r wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie". 40 Da ist man plötzlich an "Politik"nicht mehr <strong>in</strong>teressiert, verkriecht sich lieber h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>e mathematischen Mo<strong>de</strong>lle 41 , plustertsich als "objektive Wisssenschaft" und erklärt aller Welt und beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n Opfern die Sachzwänge.Zwischenfrage 5: Was ist <strong>de</strong>r Gegenstand <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie? Was s<strong>in</strong>d die Unterschie<strong>de</strong> zur"bürgerlichen" Wirtschaftswissenschaft? (S.243)Wer sich mit M. e<strong>in</strong>läßt, wird auch viel über die Denkweise und Interessen <strong>de</strong>r Unternehmer undihre Wurzeln <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise lernen, gewiß. Aber es war niemals M.sZiel, "unternehmerisches Han<strong>de</strong>ln" zu verstehen, um dann durch gezielte Ratschläge <strong>de</strong>m Absatzo<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Betriebsklima auf die Sprünge zu helfen. M. analysiert ke<strong>in</strong>e Kostenfaktoren, erbetreibt ke<strong>in</strong> Market<strong>in</strong>g. Ja: Er betreibt nicht e<strong>in</strong>mal Wirtschafts<strong>pol</strong>itik. 42 M.s Perspektive gilt <strong>de</strong>r39Als beiläufigen Kommentar zum Streit <strong>de</strong>r Regierungsberater über die "richtige Rententheorie", also um die richtige Metho<strong>de</strong>, um Pachtund Miete zu berechnen, schreibt M. an Engels am 10.10.1868: "Nur dadurch, daß man an die Stelle <strong>de</strong>r conflict<strong>in</strong>g dogmas dieconflict<strong>in</strong>g facts und die realen Gegensätze stellt, die ihren verborgenen H<strong>in</strong>tergrund bil<strong>de</strong>n, kann man die <strong>pol</strong>itische Ökonomie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>epositive Wissenschaft verwan<strong>de</strong>ln." (MEW 32, S.181) <strong>Das</strong> ist auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht, was M.s Politische Ökonomie von se<strong>in</strong>en Vorläufern,vor allem aber von <strong>de</strong>r heutigen bürgerlichen Ökonomie unterschei<strong>de</strong>t: Der Wechsel vom aka<strong>de</strong>mischen Streit zur historischen Analyse,vom Lehrgebäu<strong>de</strong> (heute: Mo<strong>de</strong>ll) zur Analyse <strong>de</strong>r wirklichen Interessen, von <strong>de</strong>r Rechtfertigung zum Klassenkampf.40Im Nachwort zur 2. Auflage <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" will M. se<strong>in</strong>em <strong>de</strong>utschen Publikum die Grün<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Verfall <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie nahebr<strong>in</strong>gen:"Die Bourgeoisie hatte <strong>in</strong> Frankreich und England <strong>pol</strong>itische Macht erobert. Von da an gewann <strong>de</strong>r Klassenkampf, praktischund theoretisch, mehr und mehr ausgesprochne und drohen<strong>de</strong> Formen. Er läutete die Totenglocke <strong>de</strong>r wissenschaftlichen bürgerlichenÖkonomie. Es han<strong>de</strong>lte sich jetzt nicht mehr darum, ob dies o<strong>de</strong>r jenes Theorem wahr sei, son<strong>de</strong>rn ob es <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> nützlich o<strong>de</strong>r schädlich,bequem o<strong>de</strong>r unbequem, ob <strong>pol</strong>izeiwidrig o<strong>de</strong>r nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei*, an dieStelle unbefangner wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht <strong>de</strong>r A<strong>pol</strong>ogetik**." (MEW 23, S.21)Seit<strong>de</strong>m tut man <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Volkswrtschaftslehre so, als sei das, was wir kapitalistische Produktionsweise nennen, das natürlichste von <strong>de</strong>rWelt, gleichsam <strong>de</strong>m menschlichen Wesen implantiert und daher, bei allem Wan<strong>de</strong>l <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form, im Kern doch ewig. Und weil das so ist,muß man sich auch nicht mit <strong>de</strong>m Ganzen, son<strong>de</strong>rn nur mit <strong>de</strong>n Details beschäftigen. Für je<strong>de</strong>s Detail e<strong>in</strong>en eigenen Lehrstuhl an irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>erHochschule.*Klopffechterei bezeichnet e<strong>in</strong>e früher übliche Form <strong>de</strong>s Schaukampfs <strong>de</strong>r Fechtschulen. Wur<strong>de</strong> dann zu e<strong>in</strong>em Schimpfwort für Leute, diemit großen Gesten und Luftwirbeln nur so taten, als ob sie fechten. Wir kennen das heute als Sche<strong>in</strong><strong>de</strong>batten aus <strong>de</strong>n Medien.**A<strong>pol</strong>ogetik steht hier abwertend für e<strong>in</strong>e Rechtfertigung, <strong>de</strong>r es nur um die Verteidigung <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n, nicht um die Erkenntnisgeht.41Damit das klar ist: Wir haben nichts gegen Mathematik. Die wun<strong>de</strong>rbare Hardware und Software, mit <strong>de</strong>r wir dieses Buch erstellt haben,wäre ohne Mathematik schlicht unmöglich. Aber <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gesellschaftswissenschaften, zu <strong>de</strong>nen auch die Ökonomie gehört, ist sie das, wasEngels von <strong>de</strong>r Statistik sagt: E<strong>in</strong> "notwendiges Hülfsmittel". Wer aber glaubt, im mathematischen Mo<strong>de</strong>ll etwas über die Wirklichkeit zuerfahren, verspottet sich selbst. Da kommt nur raus, was man vorher re<strong>in</strong> getan hat. Mathematische Mo<strong>de</strong>lle können ausgesprochen anregendse<strong>in</strong> und zu neuen Fragestellen führen, wenn sie durch e<strong>in</strong>e anregen<strong>de</strong> Theorie begrün<strong>de</strong>t s<strong>in</strong>d. Wer das vergißt (weil es bequem istund unangenehme Fragen ausblen<strong>de</strong>t), reklamiert für sich nur das alte Bonmot, <strong>de</strong>mzufolge die fortschreiten<strong>de</strong> Mathematisierung <strong>de</strong>ngroßen Vorteil habe, sich viel exakter irren zu können. Und am En<strong>de</strong> erkennt man <strong>de</strong>n Irrtum nicht e<strong>in</strong>mal, weil man durch "mathematischeGenauigkeit" geblen<strong>de</strong>t wird.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> wirkliche Sternschnuppenstun<strong>de</strong> hatte diese Art mathematischer Mo<strong>de</strong>llierung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Dort hatte man<strong>in</strong> allen Banken und Versicherungen zur Absicherung <strong>de</strong>r Risiken mathematisch-statistisch fundierte Mo<strong>de</strong>lle implementiert. Dazu e<strong>in</strong> Vorstandsmitglied<strong>de</strong>r Allianz SE: "Dadurch hat sich jedoch <strong>de</strong>r Irrglaube verbreitet, dass Risiken nicht mehr vorhan<strong>de</strong>n seien, sobald diesemathematisch mo<strong>de</strong>lliert s<strong>in</strong>d." Natürlich ist das unerschütterliche Vertrauen <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzmarktakteure <strong>in</strong> statistische und mathematischeMo<strong>de</strong>lle nicht die Ursache <strong>de</strong>r Krise; aber die Naivität hat zur Reibungslosigkeit <strong>de</strong>s Übergangs <strong>in</strong> die Krise und zu ihrer schlagartigen Verschärfunggenauso beigetragen, wie die fast vollständige Computerisierung <strong>de</strong>s Börsen- und Devisenhan<strong>de</strong>ls. Und natürlich ist das bl<strong>in</strong><strong>de</strong>Vertrauen <strong>in</strong> solche Mo<strong>de</strong>lle e<strong>in</strong> Symptom für die tiefgreifen<strong>de</strong> Verständnislosigkeit, mit <strong>de</strong>r die Akteure am F<strong>in</strong>anzmarkt ihren eigenenalltäglichen Handlungen gegenüberstehen. Wir greifen diesen Aspekt im Kapitel zum Warenfetischismus wie<strong>de</strong>r auf.42Allerd<strong>in</strong>gs sollte man M.s praktische Kenntnisse <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens und se<strong>in</strong> Interesse daran nicht unterschätzen. Wenn auch immerwie<strong>de</strong>r die Geschichte se<strong>in</strong>er verunglückten Börsenspekulation kolportiert wird: Für se<strong>in</strong>e langjährige Tätigkeit als Wirtschaftskorrespon<strong>de</strong>nt<strong>de</strong>r New York Tribune hat er sich beachtliche Detailkenntnisse angeeignet. Er selbst sagt: "In<strong>de</strong>s bil<strong>de</strong>ten Artikel über auffallen<strong>de</strong>20


Gesellschaft als Ganzes, <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft und ihren ökonomischen Bewegungsgesetzen.Nicht mehr, nicht weniger.Alle Wissenschaft, die nur aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Unternehmens betrieben wird, bezeichnet M. als"Vulgärökonomie", die sich darauf beschränkt, "die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen<strong>de</strong>r bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren,pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren." 43Was Betriebs- und Volkswirte, Mikro- und Makroökonomen treiben, hat mit M.s PolitischerÖkonomie we<strong>de</strong>r die Perspektive noch <strong>de</strong>n Gegenstand geme<strong>in</strong>sam. <strong>Das</strong> e<strong>in</strong>e ist selbstbeschränkteUnternehmenswissenschaft, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r "Gesellschaft" bestenfalls als e<strong>in</strong> Satz externer Variablenvorkommt. <strong>Das</strong> an<strong>de</strong>re ist Gesellschaftswissenschaft. Deshalb heißt es im bereits erwähntenBeitrag bei wikipedia zu Recht: "Von marxistischen Autoren h<strong>in</strong>gegen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ausdruck'Politische Ökonomie' bewusst beibehalten." Nur, dass es sich dabei nicht e<strong>in</strong>fach um e<strong>in</strong>en an<strong>de</strong>renAusdruck, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>n Ausdruck e<strong>in</strong>er ganz an<strong>de</strong>ren Perspektive han<strong>de</strong>lt.Un<strong>pol</strong>itische contra Politische ÖkonomieZwischenfrage 6: Ist M.s Politische Ökonomie e<strong>in</strong>e "Weltanschauung"? O<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> davon? (S.244)Sicher geht es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r "un<strong>pol</strong>itischen" wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie irgendwie um Arbeit undAustausch, um Produktion und Konsum, um Technik und Fabriken, aber auf gänzlich an<strong>de</strong>reWeise.In <strong>de</strong>r "un<strong>pol</strong>itischen" Ökonomie geht es um das e<strong>in</strong>zelne Unternehmen und <strong>de</strong>ssen Optimierung.<strong>Das</strong> Drumherum (die "Makroebene") spielt nur e<strong>in</strong>e Rolle, wenn es darum geht, <strong>de</strong>n Unternehmenbeste Bed<strong>in</strong>gungen zu schaffen ("Standort Deutschland"). Dann kommt auch <strong>de</strong>rStaat <strong>in</strong>s Spiel, <strong>de</strong>r ansonsten wie Privateigentum o<strong>de</strong>r Lohnarbeit o<strong>de</strong>r Unternehmergew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>fachals gegeben vorausgesetzt wird. Man ist eifrig und mit viel Intelligenz und E<strong>in</strong>fallsreichtumbemüht, <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zelnen Unternehmen <strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>n zu erhöhen und allen Unternehmen dafürbeste Voraussetzungen zu schaffen. Die regelmäßige Begründung (sofern überhaupt gegeben)mün<strong>de</strong>t stets <strong>in</strong> zeitlose Feststellungen <strong>de</strong>r Art: "<strong>Das</strong> ist nun e<strong>in</strong>mal die Grundlage je<strong>de</strong>r Wirtschaft."Demgegenüber fragen M. und se<strong>in</strong>e Erben nach <strong>de</strong>m Ursprung <strong>de</strong>s Gew<strong>in</strong>ns und wem er zufließtund warum. Woher kommen die Unternehmer? Warum können sie überhaupt Arbeitskräftebeschäftigen? Woher kommen die Arbeitskräfte? Und warum lassen sich Menschen überhauptals Arbeitskräfte nutzen? Was spr<strong>in</strong>gt für <strong>de</strong>n Unternehmer, was spr<strong>in</strong>gt für die Arbeitskräftedabei heraus?ökonomische Ereignisse <strong>in</strong> England und auf <strong>de</strong>m Kont<strong>in</strong>ent e<strong>in</strong>en so be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n <strong>Teil</strong> me<strong>in</strong>er Beiträge, daß ich genötigt ward, mich mitpraktischen Details vertraut zu machen, die außerhalb <strong>de</strong>s Bereichs <strong>de</strong>r eigentlichen Wissenschaft <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie liegen."(MEW 13, S.11) Wer von M. Anlageberatung erwartet, wird enttäuscht. Nicht wegen M.s Pleiten <strong>in</strong> persönlichen Geldd<strong>in</strong>gen, son<strong>de</strong>rn ausgrundsätzlichen Erwägungen gilt: Wer <strong>Kapital</strong>ist ist, braucht das "<strong>Kapital</strong>" nicht zu lesen. Wer ke<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>ist ist, wird auch durch <strong>in</strong>tensiveLektüre <strong>de</strong>s Werks ke<strong>in</strong>er wer<strong>de</strong>n. Trost: Wir wissen am En<strong>de</strong> wenigstens, warum wir ke<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d. Und vielleicht auch, warum wir ke<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>wollen.43"Um es e<strong>in</strong> für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer <strong>pol</strong>itischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die <strong>de</strong>n <strong>in</strong>nernZusammenhang <strong>de</strong>r bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s sche<strong>in</strong>barenZusammenhangs herumtreibt, für e<strong>in</strong>e plausible Verständlichmachung <strong>de</strong>r sozusagen gröbsten Phänomene und <strong>de</strong>n bürgerlichenHausbedarf das von <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Ökonomie längst gelieferte Material stets von neuem wie<strong>de</strong>rkaut, im übrigen aber sich daraufbeschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen <strong>de</strong>r bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren,pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren." (MEW 23, S.95)21


Uns geht es auch um die Art und Weise, wie e<strong>in</strong>e Gesellschaft ihre materielle Existenz gewährleistet.Aber nicht über-historisch: Nicht "<strong>de</strong>r Mensch an sich", nicht "Gesellschaft schlechth<strong>in</strong>",son<strong>de</strong>rn historisch konkret: Wer produziert wie unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen? Und für wen produzierter? In wessen Interesse? Wem gehört dabei was? Es geht um all das, was M. die Produktionsverhältnisse44 e<strong>in</strong>er Gesellschaft nennt, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte je<strong>de</strong>r Gesellschaft ständigenVerän<strong>de</strong>rungen unterworfen s<strong>in</strong>d.Produktivkräfte und ProduktionsverhältnisseLassen wir an dieser Stelle M. selbst sprechen. In <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>leitung "Zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie",die 1859 als Vorläufer <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" erschien 45 , skizziert er <strong>de</strong>n Gegenstand <strong>de</strong>r PolitischenÖkonomie. Achten wir dabei vor allem auf die Perspektive, mit <strong>de</strong>r M. se<strong>in</strong>e Analyse betreibt.Dabei geht es we<strong>de</strong>r um re<strong>in</strong>e Erkenntnislust noch um aka<strong>de</strong>mischen Zeitvertreib.Lektüre: Karl Marx: S.301Zwischenfrage 7: Welche an<strong>de</strong>ren wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en tummeln sich auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r PolitischenÖkonomie? O<strong>de</strong>r ist das e<strong>in</strong> alle<strong>in</strong>iges Privileg <strong>de</strong>r Marxisten? (S.245)Die Politische Ökonomie untersucht, wie die <strong>in</strong> Gesellschaft leben<strong>de</strong>n Menschen durch die ständigeAuse<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Natur ihre Lebensbed<strong>in</strong>gungen schaffen und dabei sich unddiese Lebensbed<strong>in</strong>gungen reproduzieren, also von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation,immer wie<strong>de</strong>r die materiellen Bed<strong>in</strong>gungen ihres Zusammenlebens auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Naturbed<strong>in</strong>gungenherstellen.Die Politische Ökonomie untersucht, mit Hilfe welcher technischen und organisatorischen Mitteldas geschieht; diese Mittel und ihre Anwendung durch Arbeit nennen wir zusammenfassendProduktivkräfte. Die wichtigste, alles erst <strong>in</strong> Bewegung setzen<strong>de</strong> Produktivkraft ist <strong>de</strong>r Menschselbst, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e eigene Kraft zur Produktion erweitert: Durch Pfeil und Bogen, durch Hammerund Säge, durch Elektromotor und Computer.Die Politische Ökonomie untersucht, welche Beziehungen die Menschen <strong>in</strong> Anwendung <strong>de</strong>rProduktivkräfte mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>gehen, wie sich die Menschen zu sozialen Klassen gruppierenund welche Eigentumsverhältnisse 46 sich herausbil<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> nennen wir die Produktionsverhältnisse.44M. spricht immer wie<strong>de</strong>r von "Verhältnissen". Dabei geht es um die Beziehungen zwischen Menschen, genauer: zwischen Menschengruppen!Diese Beziehungen wer<strong>de</strong>n oft durch D<strong>in</strong>ge vermittelt, wobei die "D<strong>in</strong>ge" sche<strong>in</strong>bar an die Stelle <strong>de</strong>r Verhältnisse treten. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>von M.s großen Leistungen ist es, die Verhältnisse h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>n D<strong>in</strong>gen wie<strong>de</strong>r sichtbar zu machen! Wir wer<strong>de</strong>n sehen, dass <strong>Kapital</strong> für M.nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Faktor <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion und nicht e<strong>in</strong>fach Masch<strong>in</strong>en o<strong>de</strong>r Geld ist, son<strong>de</strong>rn nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Beziehung von <strong>Kapital</strong>ist und Arbeitskräften,und dann auch nur als Privateigentum (und daher gleichzeitig als Beziehung von <strong>Kapital</strong>ist und Staat) existiert. Auch <strong>de</strong>shalbdie programmatische Bezeichnung "Politische Ökonomie". Auf diesem Punkt wer<strong>de</strong>n wir noch häufiger herumreiten.45Seit 1851 lag M.s Arbeitsschwerpunkt auf <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie. Aber trotz se<strong>in</strong>er zahlreichen Publikationen lagen bis 1857 nochke<strong>in</strong>e zusammenhängen<strong>de</strong>n Ergebnisse vor. Nicht nur Engels drängte ihn. Auch die <strong>pol</strong>itischen Gefährten for<strong>de</strong>rten immer häufiger, dochendlich mit Ergebnissen herauszukommen. Die erste Weltwirtschaftskrise von 1857, durch die man e<strong>in</strong>en Aufschwung <strong>de</strong>r Arbeiterbewegungerwartete, brachte M. dazu, se<strong>in</strong>e Forschungsergebnisse für die Veröffentlichung vorzubereiten. Um die Sache zu beschleunigen,plante er die Herausgabe e<strong>in</strong>er Fortsetzungsreihe <strong>in</strong> Heften "Zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie". Erschienen ist davon allerd<strong>in</strong>gs nur daserste Heft; aus se<strong>in</strong>em berühmten Vorwort haben wir <strong>de</strong>n Zwischentext. Warum blieb es nur bei e<strong>in</strong>em Heft? Zum e<strong>in</strong>en war <strong>de</strong>r verlegerischeund publizistische Erfolg <strong>de</strong>s Heftes eher beschei<strong>de</strong>n. Auch erwiesen sich die Zeiten nach <strong>de</strong>r Krise als viel ruhiger; revolutionäre Entwicklungenje<strong>de</strong>nfalls blieben aus. Wichtiger aber waren M.s neuerliche Unsicherheiten, was die Darstellung se<strong>in</strong>er Ergebnisse, aber vermutlichauch e<strong>in</strong>zelne Aspekte se<strong>in</strong>er Analyse betraf. Er g<strong>in</strong>g noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Stoff zurück, und es dauerte dann wie<strong>de</strong>r fast 10 Jahre,bis M. mit <strong>de</strong>m <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" se<strong>in</strong>e Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie zur Diskussion stellte, die bis heute andauert und an <strong>de</strong>r wirselber heute teilnehmen.46E<strong>in</strong> kurzes Wort zu <strong>de</strong>n Eigentumsverhältnissen, die e<strong>in</strong>e so zentrale Rolle <strong>in</strong> M.s Überlegungen spielen. Uns begegnen sie <strong>in</strong> Form vonGesetzen und Paragraphen, als Justizapparat und Polizei und Gefängnis. Aber das ist hier zunächst nicht geme<strong>in</strong>t. <strong>Das</strong> alles erwächst zwar22


Zwischenfrage 8: Wo haben Natur, Ökologie und Biologie ihren Platz <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie? Gibtes das überhaupt? (S.246)Die Politische Ökonomie schreibt allerd<strong>in</strong>gs genauso wenig e<strong>in</strong>e Geschichte <strong>de</strong>r Technik, wie siee<strong>in</strong>e Geschichte <strong>de</strong>r Wirtschaft schreibt. Sie untersucht auch nicht die Naturbed<strong>in</strong>gungen selbsto<strong>de</strong>r die "Natur <strong>de</strong>s Menschen". Sie analysiert die <strong>in</strong>neren Wechselwirkungen zwischen Produktivkräftenund Produktionsverhältnissen, die <strong>de</strong>r Gesellschaft ihre jeweilige soziale Struktur, aberauch ihre historischen Bruchstellen geben. Sie hat die <strong>in</strong>neren Antriebskräfte <strong>de</strong>r Gesellschaftzum Gegenstand, die sich dank dieser Antriebskräfte aus sich heraus beständig verän<strong>de</strong>rt.Lektüre: Friedrich Engels: S.302Im Jahre 1878, also elf Jahre nach <strong>de</strong>m Ersche<strong>in</strong>en <strong>de</strong>s <strong>1.</strong> Bands <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>", gibt Friedrich Engelse<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition für Politische Ökonomie. Sie sei allgeme<strong>in</strong> "die Wissenschaft von <strong>de</strong>n Gesetzen,welche die Produktion und <strong>de</strong>n Austausch <strong>de</strong>s materiellen Lebensunterhalts <strong>in</strong> <strong>de</strong>r menschlichenGesellschaft beherrschen." Um diesen Gesetzen auf die Spur zu kommen, ist sie wesentliche<strong>in</strong>e historische Wissenschaft, die "e<strong>in</strong>en geschichtlichen, das heißt e<strong>in</strong>en stets wechseln<strong>de</strong>nStoff" behan<strong>de</strong>lt.Auch für Engels ist die Politische Ökonomie ke<strong>in</strong> aka<strong>de</strong>mischer Zeitvertreib. Auch ihm kommt esdarauf an, jene Bruchstellen ausf<strong>in</strong>dig zu machen, an <strong>de</strong>nen "diese Produktionsweise durch ihreeigne Entwicklung <strong>de</strong>m Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht" und "<strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>rsich auflösen<strong>de</strong>n ökonomischen Bewegungsform die Elemente <strong>de</strong>r zukünftigen, jene Mißstän<strong>de</strong>beseitigen<strong>de</strong>n, neuen Organisation <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>s Austausches aufzu<strong>de</strong>cken." 47<strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>rselbe Punkt, auf <strong>de</strong>n M. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bestimmung <strong>de</strong>s Gegenstands h<strong>in</strong>weist: "Auf e<strong>in</strong>ergewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rspruchmit <strong>de</strong>n vorhan<strong>de</strong>nen Produktionsverhältnissen o<strong>de</strong>r, was nur e<strong>in</strong> juristischer Ausdruckdafür ist, mit <strong>de</strong>n Eigentumsverhältnissen, <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>ren sie sich bisher bewegt hatten.Aus Entwicklungsformen <strong>de</strong>r Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse <strong>in</strong> Fesseln <strong>de</strong>rselbenum. Es tritt dann e<strong>in</strong>e Epoche sozialer Revolution e<strong>in</strong>."Bleibt für uns zu prüfen: Gilt das auch für für die kapitalistische Produktionsweise? Und wenn ja:Wie leitet sich das aus <strong>de</strong>n ökonomischen Bewegungsgesetzen ab? O<strong>de</strong>r ist nicht im Gegenteildie kapitalistische Produktionsweise, was die Freisetzung von Produktivkraft angeht, ohne Beispiel<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte? Woher sollten da irgendwelche Entwicklungsgrenzen kommen?Ihre Totalität, die GesellschaftZwischenfrage 9: Gibt es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r marxistischen Theorie feststehen<strong>de</strong> Wahrheiten? (S.247)Bezugspunkt <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie ist nicht <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne Mensch, schon gar nicht das e<strong>in</strong>zelneUnternehmen, son<strong>de</strong>rn die Gesellschaft, aufbauend auf <strong>de</strong>r uralten Erkenntnis, dass <strong>de</strong>rdaraus, aber als Eigentumsverhältnisse bezeichnen wir die <strong>in</strong> die sozialen Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Gruppen selbst e<strong>in</strong>geprägten Beziehungen,die sich auch als Beziehungen <strong>de</strong>r sozialen Gruppen zu <strong>de</strong>n Sachen äußern, aus <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Reichtum e<strong>in</strong>er Gesellschaft besteht.Noch vor <strong>de</strong>r Polizei und <strong>de</strong>m Gefängnis gibt es bereits das sich im historischen Prozess selbst entwickeln<strong>de</strong> und legitimieren<strong>de</strong> Eigentum.Es ist bereits <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r sozialen Konfiguration, die wir Produktionsverhältnisse nennen. Polizei und Gefängnis und an<strong>de</strong>re staatliche Institutionenentwickeln sich als Instrumente zur Sicherung <strong>de</strong>r Eigentumsverhältnisse, br<strong>in</strong>gen sie aber nicht hervor und dürfen auch nicht mit <strong>de</strong>nEigentumsverhältnissen i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rs gesagt: Die Verstaatlichung e<strong>in</strong>es Konzerns schafft zwar neue Eigentümerverhältnisseim juristischen S<strong>in</strong>ne, aber noch ke<strong>in</strong>e neuen Eigentumsverhältnisse <strong>in</strong> M.s S<strong>in</strong>ne. Dazu müßten sich auch die Beziehungen zwischen <strong>de</strong>nKlassen und damit die Formen verän<strong>de</strong>rn, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r gesellschaftliche Reichtum angeeignet und genutzt wird.47Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühr<strong>in</strong>gs Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft (MEW 20, S.136f und S.139)23


Mensch e<strong>in</strong> durch und durch gesellschaftliches Wesen ist, das nur <strong>in</strong> Gesellschaft mit an<strong>de</strong>renMenschen existieren kann. Die Vorstellung von "Gesellschaft" ist umfassend. Marxisten sprechenauch von Gesellschaft als Totalität <strong>de</strong>r Verhältnisse. Kl<strong>in</strong>gt gefährlich, hat aber nichts mit"Totalitarismus" o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichen zu tun. <strong>Das</strong> be<strong>de</strong>utet nichts an<strong>de</strong>res, als dass e<strong>in</strong>e Trennung<strong>in</strong> Wirtschaft, Kultur, Politik, Wissenschaft, Soziales usw., von <strong>de</strong>r wir im Alltag selbstverständlichausgehen, zunächst nicht gegeben ist. <strong>Das</strong> ist nur unsere Metho<strong>de</strong>, uns <strong>in</strong> komplexen Gesellschaftenzurecht zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Unabhängig von <strong>de</strong>r Notwendigkeit, uns das tägliche Leben und dasRe<strong>de</strong>n über die Gesellschaft e<strong>in</strong>facher zu machen, gilt aber <strong>de</strong>r schlaue Satz: Alles hängt mit allemzusammen.Niemand braucht M. darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass sich die "Totalität" <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verhältnissee<strong>in</strong>er ebenso "totalen" Erkenntnis entzieht. Soviel kann auch <strong>de</strong>r klügste Kopf aufe<strong>in</strong>mal nicht erfassen. Und trotz<strong>de</strong>m ist es wichtig, sich klar zu machen, dass je<strong>de</strong> Analyse <strong>de</strong>rGesellschaft die tatsächliche Gesamtheit <strong>de</strong>r Gesellschaft reduziert. Wer analysiert, muß unbed<strong>in</strong>gtdarauf achten, wie er durch Reduktion das Wesentliche heraus- und nichth<strong>in</strong>wegarbeitet. 48 Wenn wir aus <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Totalität bestimmte Seiten herauslösenund gedanklich verselbständigen, müssen wir <strong>de</strong>shalb vorher e<strong>in</strong> paar Fragen zufrie<strong>de</strong>nstellendbeantworten:Stehen alle <strong>Teil</strong>e <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft gleichberechtigt nebene<strong>in</strong>aner? Wie s<strong>in</strong>d sie mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rverwoben? Gibt es dabei Elemente <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens, die e<strong>in</strong>e zentrale Be<strong>de</strong>utunghaben? An<strong>de</strong>rs gesagt: Welche Elemente e<strong>in</strong>er Gesellschaft s<strong>in</strong>d diejenigen, die allen an<strong>de</strong>renElementen ihre Stellung zuweisen? Was ist das Wesentliche, sozusagen das Fundament <strong>de</strong>r Gesellschaft?Und was ist das weniger Wichtige, das Nachgeordnete? 49 Wo haben wir bei e<strong>in</strong>er48Vielen selbsternannten Analytikern kommt es gera<strong>de</strong> auf das "h<strong>in</strong>wegarbeiten" an. So brauste 2007 die Überalterungswelle überDeutschland. Dank mächtig gerührter Werbetrommeln und rühriger Medienpromotion war plötzlich die "Methusalem-Gesellschaft" <strong>in</strong> allerMun<strong>de</strong>. Sterben die Deutschen aus? Muß <strong>de</strong>mnächst e<strong>in</strong> Erwerbstätiger nicht nur se<strong>in</strong>e Familie, son<strong>de</strong>rn auch noch wildfrem<strong>de</strong> Greise imDutzend durchfüttern? Können wir die Rentenlasten noch schultern? usw. Geme<strong>in</strong>t war <strong>de</strong>r simple Umstand, dass die wachsen<strong>de</strong> Lebenserwartungund e<strong>in</strong> gehobener Lebensstandard mit <strong>de</strong>m Rückgang <strong>de</strong>r K<strong>in</strong><strong>de</strong>rzahlen e<strong>in</strong>e verän<strong>de</strong>rte Altersstruktur erzeugt. Gut und schön;das ist seit Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r 1980er Jahre wissenschaftlich aufgearbeitet. Aber warum ersche<strong>in</strong>t das plötzlich von so zentraler Be<strong>de</strong>utung zuse<strong>in</strong>, dass man daraus <strong>de</strong>n Dreh- und Angelpunkt <strong>de</strong>r gesellschafts<strong>pol</strong>itischen Debatte schnitzte? Und sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise, die es gera<strong>de</strong>zuals persönliches Unglück ersche<strong>in</strong>en läßt, länger leben zu dürfen? Da sollte man nicht nur als Nach<strong>de</strong>nker, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>fach als irgendwannBetroffener hellhörig wer<strong>de</strong>n. Warum will man uns ausgerechnet die Errungenschaft längeren Lebens mit angeblicher ökonomischerVernunft madig machen?Zweifellos muß man über die <strong>de</strong>mographischen Verän<strong>de</strong>rungen und ihre gesellschaftlichen Folgen sprechen. Unbed<strong>in</strong>gt sogar, schließlichstecken wir persönlich ja mitten dr<strong>in</strong>. Aber warum die Leichenbittermiene? Wer über <strong>de</strong>mographischen Wan<strong>de</strong>l re<strong>de</strong>t, muß gleichzeitigüber die Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität re<strong>de</strong>n, die das alles ja erst möglich gemacht hat. Und wer me<strong>in</strong>t, dass sich unsere Gesellschaftalte Menschen nicht leisten kann, <strong>de</strong>r muss klipp und klar sagen, wie er sich <strong>de</strong>ren Entsorgung (und das be<strong>de</strong>utet: unsere eigeneEntsorgung!) und überhaupt die Verteilung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums vorstellt. Ansonsten kommt nur <strong>de</strong>r gewöhnliche Talk-Show-Uns<strong>in</strong>n dabei heraus. Aber vermutlich ist das sowieso <strong>de</strong>r eigentliche Zweck. Alternativ schlagen wir vor, <strong>in</strong> gleicher medienwirksamerWeise darüber zu <strong>de</strong>battieren, ob sich unsere Gesellschaft wirklich e<strong>in</strong>e weiter wachsen<strong>de</strong> Zahl von Millionären und Milliardären undüberhaupt von Investoren mit ihren stets unbefriedigten Ansprüchen leisten kann.Durch die Dramatisierung von Problemen, die man zu immer neuen "Schicksalsfragen" aufpustet, wird regelmäßig von <strong>de</strong>r Debatte <strong>de</strong>rwichtigen Punkte abgelenkt, z.B. von <strong>de</strong>r Frage nach Quelle und Verteilung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums. Dem schrumpfen<strong>de</strong>n <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>rÖffentlichkeit, <strong>de</strong>r überhaupt noch an gesellschafts<strong>pol</strong>itischen Fragen <strong>in</strong>teressiert ist, wer<strong>de</strong>n statt<strong>de</strong>ssen von Medienagenturen speziell<strong>de</strong>signte "kontroverse Knaller-Themen" <strong>in</strong> schneller Folge als Beschäftigungstherapie verordnet: Methusalem-Gesellschaft, Drogen-Mafia,Heuschrecken, islamistische Unterwan<strong>de</strong>rung, Stasi-Akten, Kampftr<strong>in</strong>ken, Russen-Mafia, Sterbehilfe, Pisa-Studie, Manager-Boni, Steueroasen,Killerspiele... Offenbar han<strong>de</strong>ln unsere Zeitgeist-Designer auf ihre Weise nach Chandlers Ratschlag für Krimi-Autoren: Wenn du nichtmehr weißt, wie es weitergehen soll, lass e<strong>in</strong>en Kerl mit Knarre auftreten.49Die Frage ist <strong>de</strong>shalb so wichtig, weil die nachgeordneten Elemente für das Funktionieren <strong>de</strong>r Gesellschaft nicht so wichtig s<strong>in</strong>d unddaher viel mehr Raum zur Entwicklung haben. <strong>Das</strong> weniger Wichtige präsentiert sich daher meist variantenreich und macht e<strong>in</strong>e Mengevon sich her. Es dom<strong>in</strong>iert unsere Wahrnehmung, während die zentralen Elemente, immer unter <strong>de</strong>m Druck, ständig funktionieren zu müssen,weniger Gestaltungsraum besitzen und bisweilen gera<strong>de</strong>zu unsichtbar wer<strong>de</strong>n.Tagtäglich s<strong>in</strong>d zehntausen<strong>de</strong> Menschen damit beschäftigt, uns mit tr<strong>in</strong>kbarem Wasser und Heizung und Strom zu versorgen. Wir me<strong>in</strong>ennicht die Absahner im obersten Stockwerk <strong>de</strong>r Konzernzentralen, son<strong>de</strong>rn die Arbeiter und Ingenieure, die wirklich die Arbeit machen.24


Analyse gesellschaftlicher o<strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischer Vorgänge zu beg<strong>in</strong>nen, wenn wir e<strong>in</strong>en analytisch ergiebigenAusgangspunkt haben wollen?Zur Beantwortung dieser Fragen nimmt M.s Politische Ökonomie e<strong>in</strong>e zentrale Stellung e<strong>in</strong>. <strong>Das</strong>heißt nicht, dass wir etwa aus <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>m Liebesleben <strong>de</strong>r Deutschen e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> <strong>pol</strong>itökonomischeStudie machen wollen. <strong>Das</strong> wäre <strong>de</strong>nn doch zu arg. <strong>Das</strong> heißt nur, dass (wegen<strong>de</strong>r Totalität) sogar e<strong>in</strong>e Studie dieser Art die ökonomisch bestimmten Lebensumstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>rKlassen und sozialen Gruppen eigentlich nicht ignorieren dürfte.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> solche Studie müßte fragen, welche ökonomischen Verhältnisse überhaupt erst "Liebe",also emotional selbstbestimmte Partnerwahl ermöglichen und was auch heute an dieser Vorstellunge<strong>in</strong>er emotional selbstbestimmten Partnerwahl noch re<strong>in</strong>e Illusion ist. Sie müßte berücksichtigen,dass auch "Liebe" als Ware und "Liebesleben" als beachtlicher Life-Style-Markt existiert.Sie sollte untersuchen, <strong>in</strong> welchen i<strong>de</strong>ologischen Verb<strong>in</strong>dungen "Liebe" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaftexistiert und wie "Liebe" durch die Eigentumsverhältnisse, durch Geld und Macht geformtund sozial kanalisiert wird. <strong>Das</strong> reicht von <strong>de</strong>r Partnerwahl als Investition bis h<strong>in</strong> zum Ehevertrag,von <strong>de</strong>r Mitgiftzahlung bis zu Unterhalts-, Vermögens- und Erbstreitigkeiten - <strong>in</strong> allerLiebe. Kurz gesagt: Sogar e<strong>in</strong>e wisssenschaftliche Studie über das Liebesleben <strong>de</strong>r Deutschenbliebe ohne Rückgriffe auf Erkenntnisse <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie genaugenommen unvollständig.Aktive Wissenschaft - parteiliche Wissenschaft?Zwischenfrage 10: Will man als "parteilicher Wissenschaftler" nicht vieleicht <strong>de</strong>n gewünschten Verän<strong>de</strong>rungenmit passen<strong>de</strong>n "Erkenntnissen" auf die Sprünge helfen? (S.248)Die Politische Ökonomie ist we<strong>de</strong>r "Lehnstuhl-" noch "Lehrstuhlforschung". O<strong>de</strong>r um e<strong>in</strong>enSatz von M. hier anzuwen<strong>de</strong>n: Die Wirklichkeit drängt sich nur dann zum Gedanken, wenn mansich ihr auch aussetzt. Es gibt e<strong>in</strong>en an<strong>de</strong>ren berühmten Satz von M., <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r wohl schone<strong>in</strong>mal gehört hat: "Die Philosophen haben die Welt nur verschie<strong>de</strong>n <strong>in</strong>terpretiert; es kommtdrauf an, sie zu verän<strong>de</strong>rn." 51 Dieser Erkenntnis von 1845 fühlte sich M. zeitlebens verbun<strong>de</strong>n.Wieviel Aufmerksamkeit ist über diesen Personenkreis h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> unserer Gesellschaft auf solche fundamentalen Aufgaben gerichtet? Was<strong>in</strong>formative Berichte aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Arbeit angeht, beschränkt sich das fast schon auf die "Sendung mit <strong>de</strong>r Maus". Wieviel Raum nehmenaber <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Medien alle<strong>in</strong> die diversen Wehwehchen sogenannter Promis e<strong>in</strong>?Zum Thema wer<strong>de</strong>n die wichtigen D<strong>in</strong>ge erst, wenn sie nicht mehr funktionieren. Bei Stromausfall o<strong>de</strong>r Wirtschaftskrise dämmert uns,dass die subjektiven Prioritäten unseres Alltags ke<strong>in</strong>eswegs mit <strong>de</strong>n objektiven Prioritäten <strong>de</strong>r Gesellschaft übere<strong>in</strong>stimmen.50Zum Thema "Ökonomie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Liebe" hätte auch M. etwas beitragen können. Se<strong>in</strong>e Frau Jenny heiratete mit M. unter ihrem Stand, gegendie Erwartungen ihrer Familie. Wenn M. auch auf Grund se<strong>in</strong>er eigenen Herkunft stets bemüht war, das Leben e<strong>in</strong>es Kle<strong>in</strong>bürgers mitEsszimmer und Dienstmädchen zu führen, so konnte er doch se<strong>in</strong>er Frau niemals <strong>de</strong>n Lebensstil bieten, <strong>de</strong>n sie von K<strong>in</strong>dheit an gewohntwar. Hier setzte sich die <strong>in</strong>dividuelle Zuneigung über die gesellschaftlichen Konventionen h<strong>in</strong>weg – und wur<strong>de</strong> ökonomisch dafür hart bestraft.Jenny Marx (1814-1881)<strong>Das</strong>s M. ganz und gar nicht darüber erhaben war, kann man se<strong>in</strong>en Briefen entnehmen. Es wurmte ihn und verletzte se<strong>in</strong>en Stolz, weil erse<strong>in</strong>er Ehefrau nicht mehr zu bieten hatte. Viele Marx-Biografen pflegen diese "kle<strong>in</strong>bürgerliche Ten<strong>de</strong>nz" bei Herrn M. zu geißeln. Für siehat e<strong>in</strong> Revolutionär <strong>de</strong>m bürgerlichen Zerrbild <strong>de</strong>s Revoluzzers zu entsprechen, <strong>de</strong>r auf gesellschaftliche Konventionen pfeift, beim Essenfurzt und se<strong>in</strong> Leben mit We<strong>in</strong>, Weib und revolutionären Lie<strong>de</strong>rn füllt. Ach ja: Zwischendurch auch noch Bomben wirft...M. war nichts davon (am ehesten käme er diesem Bild <strong>in</strong> Sachen "Weib" nahe), son<strong>de</strong>rn vor allem e<strong>in</strong> revolutionärer Pfadf<strong>in</strong><strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>nGesellschaftswissenschaften, <strong>de</strong>r diese wissenschaftliche Arbeit mit <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Praxis zu verb<strong>in</strong><strong>de</strong>n suchte und daher zu beson<strong>de</strong>renLeistungen fähig war. Nicht trotz se<strong>in</strong>er merkwürdigen <strong>pol</strong>itischen Neigungen, son<strong>de</strong>rn wegen.51MEW 3, S.7: <strong>Das</strong> ist die berühmte These 11 <strong>de</strong>r "Thesen über Feuerbach", die M. 1845 im Brüsseler Exil schrieb und die von Engels1888 (leicht redigiert) veröffentlicht wur<strong>de</strong>n (MEW 3, S.533). <strong>Das</strong> Faksimile <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift aus M.s Notizbuch ist gleichzeitig wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>schönes Beispiel für Freud und Leid <strong>de</strong>r Herausgeber <strong>in</strong> Sachen Klaue.25


Was aber selbstverständlich nicht be<strong>de</strong>utet, sich im Eifer <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungswünsche die Realitätengedanklich zurecht zu biegen. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d schwere Fehler, die sich lei<strong>de</strong>r auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Praxisantikapitalistischer Bewegungen und Parteien häufig f<strong>in</strong><strong>de</strong>n lassen. M. wür<strong>de</strong> solche Indienstnahmeund Verbiegung <strong>de</strong>r Wissenschaft schlicht als Geme<strong>in</strong>heit 52 bezeichnen.Tatsächlich erfor<strong>de</strong>rt die Politische Ökonomie wie alle Wissenschaft e<strong>in</strong>e nüchterne Denkweiseund e<strong>in</strong>e nachprüfbare Metho<strong>de</strong>, vor allem aber stetige, unvore<strong>in</strong>genommene Analyse <strong>de</strong>r wirklichenBewegungen, gera<strong>de</strong> weil sie auf Verän<strong>de</strong>rung ausgerichtet ist. Wenn's mehr nicht ist...M.s Politische Ökonomie berücksichtigt dabei immer, dass alle Erkenntnis über die Gesellschaftgesellschaftliche Erkenntnis ist. Erkenntnis wird durch Individuen vollzogen. Klar. Alles, wasMenschen tun, muss zunächst durch ihren Kopf h<strong>in</strong>durch. Aber dort entsteht die Erkenntnisnicht. Erkenntnisse wer<strong>de</strong>n durch die gesellschaftliche Praxis hervorgebracht und dadurch ersterkennbar und kopffähig. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong> gewaltiger Unterschied zu allen Versuchen, <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>rGeschichte durch urplötzlich auftauchen<strong>de</strong> I<strong>de</strong>en zu erklären. 53Zwischenfrage 11: Was gehört außer <strong>de</strong>m "großen Kopf" noch zu e<strong>in</strong>er großen Ent<strong>de</strong>ckung? (S.250)"Denken" und "Ent<strong>de</strong>cken" ist auch für M. nicht <strong>in</strong>dividualistische I<strong>de</strong>enschmie<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn gesellschaftlicheProduktion von Wissen und immer gebun<strong>de</strong>n an gesellschaftliche Interessen. Wirkommen darauf im nächsten Kapitel zurück. M. sah sich als jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Schulternse<strong>in</strong>er Vorgänger stehend, all die Erkenntnisse zusammenfasst und systematisiert, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaftund durch die Gesellschaft im historischen Prozess <strong>de</strong>r alltäglichen Praxis hervorgebrachtwor<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d.Wer auf <strong>de</strong>n Schultern se<strong>in</strong>er Vorgänger steht, sieht auch weiter, selbst wenn er nicht M.s Größehat. Und wenn es uns gel<strong>in</strong>gt, auf M.s Schultern zu steigen, wer<strong>de</strong>n wir vielleicht erkennen,was M. noch nicht sehen konnte, und wer<strong>de</strong>n so auch zu e<strong>in</strong>em besseren Verständnis <strong>de</strong>s heutigen<strong>Kapital</strong>ismus gelangen. Zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st erhoffen wir uns das.Die Wirklichkeit drängt zum GedankenJe<strong>de</strong>m Ent<strong>de</strong>cken liegt die gesellschaftliche Produktion von Wissen zugrun<strong>de</strong>. <strong>Das</strong> gilt auch fürbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Ent<strong>de</strong>cker wie Marx. Sehen wir uns etwas genauer an, welche Umstän<strong>de</strong> M. zu se<strong>in</strong>erGroßtat befähigten.Es ist ke<strong>in</strong> Zufall, dass die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Beiträge zur Politischen Ökonomie im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rtaus England kamen. Dabei waren es drei sich allgeme<strong>in</strong> aufdrängen<strong>de</strong> Fragen, mit <strong>de</strong>nen dieökonomische Debatte seit <strong>de</strong>m 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt konfrontiert wur<strong>de</strong>:52In <strong>de</strong>r Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m englischen Ökonomen Malthus als Vertreter e<strong>in</strong>er eigennützigen Pseudo-Wissenschaft (heute wür<strong>de</strong>man die neoliberalen Vorbeter und Talkshow-Turner wie S<strong>in</strong>n und Konsorten nennen) schreibt M.: "<strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Menschen aber, <strong>de</strong>r die Wissenschafte<strong>in</strong>em nicht aus ihr selbst (wie irrtümlich sie immer se<strong>in</strong> mag), son<strong>de</strong>rn von außen, ihr frem<strong>de</strong>n, äußerlichen Interessen entlehntenStandpunkt zu akkomodieren sucht, nenne ich 'geme<strong>in</strong>'." (MEW 26.2, S.112) Und wenn nicht 'geme<strong>in</strong>', dann auf gut <strong>de</strong>utsch 'vulgär'(aus <strong>de</strong>m late<strong>in</strong>ischen vulgaris gleich gewöhnlich, alltäglich). Daher bezeichnet M. Leute wie Malthus hartnäckig und unhöflich als Vulgärökonomen.53Nehmen wir die Europäische Union: In <strong>de</strong>n Jubiläumsre<strong>de</strong>n ist stets vom "Sieg <strong>de</strong>r europäischen I<strong>de</strong>e", von <strong>de</strong>r "I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r europäischenE<strong>in</strong>heit" usw. die Re<strong>de</strong>. Tatsächlich ist die EU Ergebnis e<strong>in</strong>es Prozesses, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m größer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Wirtschaftsunternehmen nach größerenB<strong>in</strong>nenmärkten verlangten. Die "Europäische I<strong>de</strong>e" erweist sich nur als Vehikel dieser ökonomischen Interessen. Ohne solche durchsetzungsfähigenInteressen bleiben alle I<strong>de</strong>en, ob dumm o<strong>de</strong>r gutgeme<strong>in</strong>t o<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong>zu brilliant, lediglich Füllstoff für <strong>de</strong>n Krabbeltisch.26


Die erste Frage befaßt sich mit <strong>de</strong>m schnellen Wachstum von Produktion und Han<strong>de</strong>l und <strong>de</strong>nnicht m<strong>in</strong><strong>de</strong>r rasant wachsen<strong>de</strong>n Vermögen <strong>de</strong>r Fabrikanten, Händler und Geldgeber: Woherkommt dieser neue Reichtum <strong>de</strong>r Nationen? 54Es gab zu M.s Zeit e<strong>in</strong>e Reihe mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r konkurrieren<strong>de</strong>r Erklärungen: Wichtig <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Frühphasewar die Arbeitswertlehre, mit <strong>de</strong>r bereits die Arbeit als Quelle <strong>de</strong>s Reichtums erkannt wur<strong>de</strong>.<strong>Das</strong> ist auch M.s Ansatzpunkt. An<strong>de</strong>re, damit verbun<strong>de</strong>ne Erklärungen nannten <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>rdie Industrie (im S<strong>in</strong>ne von neuer Produktionstechnik), die Kolonisierung o<strong>de</strong>r die Tatkraft <strong>de</strong>rFabrikanten als Reichtumsquelle.Es gab auch schon nationalistische und rassistische Deutungen wie "englischer Erf<strong>in</strong>dungsreichtum"o<strong>de</strong>r die "Überlegenheit <strong>de</strong>s Europäers" o<strong>de</strong>r "<strong>de</strong>r weißen Rasse", die uns auch heutenoch <strong>in</strong> gleicher Form begegnen, wenn etwa herablassend-bedauernd und be<strong>de</strong>utungsschwervon <strong>de</strong>r "afrikanischen Tragödie" die Re<strong>de</strong> ist. Solche Denkmuster f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich aber auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>nvergleichsweise bie<strong>de</strong>ren Dauerbrennern von <strong>de</strong>r Art "<strong>de</strong>utscher Fleiß" o<strong>de</strong>r "schweizer Präzision".Die zweite Frage ergibt sich aus <strong>de</strong>r ersten und macht erst <strong>de</strong>n Reiz <strong>de</strong>r Sache aus: Woherkommt die zunehmen<strong>de</strong> Verarmung <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Bevölkerung parallel zum wachsen<strong>de</strong>n"Reichtum <strong>de</strong>r Nation"? Diese Frage wur<strong>de</strong> mit Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts angesichts <strong>de</strong>rwachsen<strong>de</strong>n Arbeitermassen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Großstädten so brisant, dass man ihr als "soziale Frage" sogare<strong>in</strong>e Son<strong>de</strong>rkarriere spendierte, sorgsam darauf bedacht, sie von <strong>de</strong>n übrigen Fragen getrenntzu halten. 55Die dritte Frage: Woher kommen die wechseln<strong>de</strong>n Preise und Geldwerte? mün<strong>de</strong>t spätestensmit <strong>de</strong>r ersten zyklischen Krise <strong>de</strong>s englischen <strong>Kapital</strong>ismus im Jahre 1825 <strong>in</strong> die Frage nach <strong>de</strong>nUrsachen dieser Krisen.Auch für die Fragen zwei und drei gab es zu M.s Zeit zahlreiche Erklärungen auf <strong>de</strong>m Me<strong>in</strong>ungsmarkt:Habgier <strong>de</strong>r Fabrikanten, Trunksucht o<strong>de</strong>r Faulheit <strong>de</strong>r Arbeiter, Verfall <strong>de</strong>r moralischenWerte usw. bis h<strong>in</strong> zu Bevölkerungswachstum, Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r Landwirtschaft o<strong>de</strong>r Mißernten56 , das Privateigentum an Grund und Bo<strong>de</strong>n, falsche Entscheidungen <strong>de</strong>r Fabrikanten54"<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Untersuchung über Natur und Ursachen <strong>de</strong>s Reichtums <strong>de</strong>r Nationen" (An Inquiry <strong>in</strong>to the Nature and Causes of the Wealth ofNations) ist auch <strong>de</strong>r Titel <strong>de</strong>s berühmten Werks von Adam Smith, das 1776 erstmals erschien und <strong>in</strong> Deutschland meist unter <strong>de</strong>m Titel"Der Wohlstand <strong>de</strong>r Nationen" veröffentlicht wur<strong>de</strong>. Dabei hat Smith nur die beschei<strong>de</strong>nen Anfänge <strong>de</strong>s Wachstums <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Manufakturperio<strong>de</strong>erlebt. Bereits 1825, 50 Jahre nach Ersche<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>es Werks, ist die gewerbliche Produktion mit <strong>de</strong>m Übergang zur Fabrik um dasVierfache gestiegen. Aber das eigentlich rasante Wachstum <strong>de</strong>s Reichtums wie auch <strong>de</strong>r Diskrepanz zwischen arm und reich erleben wir <strong>in</strong><strong>de</strong>n letzten fünf Jahrzehnten. Dabei wird freilich auch <strong>de</strong>utlich, dass <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong> "Reichtum <strong>de</strong>r Nationen" nur die Kulisse für <strong>de</strong>nwachsen<strong>de</strong>n Abstand zwischen arm und reich ist. Im historischen Vergleich zwischen <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>kommens <strong>de</strong>s ärmsten Fünftel und <strong>de</strong>mreichsten Fünftel <strong>de</strong>r Weltbevölkerung wird das Verhältnis für 1820 auf 3:1, für 1960 schon auf 30:1 und für 1994 auf 78:1 geschätzt.<strong>Das</strong> läßt sich auch an<strong>de</strong>rs ausdrücken: Die 447 reichsten Personen <strong>de</strong>r Welt hatten zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r 1990er Jahre e<strong>in</strong> Nettovermögen, das<strong>de</strong>m jährlichen E<strong>in</strong>kommen <strong>de</strong>r ärmeren Hälfte <strong>de</strong>r Weltbevölkerung entsprach (UNDP, 1997, S.111). Ten<strong>de</strong>nz steigend.55Wikipedia dazu: "Der Begriff Soziale Frage entstand ab etwa 1830 und umschreibt zunächst die mit <strong>de</strong>m Bevölkerungs- und Städtewachstumentstehen<strong>de</strong> Verelendung." Als wollte <strong>de</strong>r gewiß gut geme<strong>in</strong>te Wikipedia-Beitrag <strong>de</strong>n Trick, <strong>de</strong>r h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>r "Sozialen Frage"steckt, noch e<strong>in</strong>mal anwen<strong>de</strong>n, verdreht auch er Ursache und Wirkung. Da ist zum Besipiel von <strong>de</strong>r "massenhaften Abwan<strong>de</strong>rung vomLan<strong>de</strong> <strong>in</strong> die städtischen Industriezentren" als "Begleitersche<strong>in</strong>ungen <strong>de</strong>r Großstadtbildung" die Re<strong>de</strong>. Nun s<strong>in</strong>d aber die Massen vomLan<strong>de</strong> nicht <strong>in</strong> die Großstädte gezogen, um diese zu bil<strong>de</strong>n. Sie wur<strong>de</strong>n massenhaft vertrieben und hatten ke<strong>in</strong>e Wahl. <strong>Das</strong> Elend schafftsich nicht selbst, auch wenn alle bürgerlichen Schönredner uns immer wie<strong>de</strong>r genau das weis zu machen versuchen. Dieselben Prozesse,die für die Vertreibung <strong>de</strong>r Landbevölkerung verantwortlich waren, brachten auch die Industrien hervor, <strong>de</strong>ren wachsen<strong>de</strong>r Reichtum vomständigen Zustrom <strong>de</strong>r Arbeitskräfte abh<strong>in</strong>g. Dadurch wur<strong>de</strong>n die Städte zu Industriestädten und zur Elendsheimat. Man sieht: Sogar <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Wikipedia-Artikel vom Mai 2008 f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir wohlme<strong>in</strong>en<strong>de</strong> Kulissenschieberei an Stelle präziser Fragen nach <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r Armut.Man muß ja nicht gleich Karl Marx zitieren. Man könnte sich an e<strong>in</strong>en Satz von Groucho Marx er<strong>in</strong>nern: "<strong>Das</strong> Gegenteil von gut istnicht schlecht son<strong>de</strong>rn gut geme<strong>in</strong>t" und es dann etwas besser machen.56<strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>de</strong>r drolligsten Krisentheorien entwickelte William Stanley Jevons (1835-1882) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hauptwerk "The Theory of Political Economy"von 187<strong>1.</strong> Er führt dar<strong>in</strong> die ökonomischen Krisen auf die Intensität <strong>de</strong>r Sonnenflecken zurück, die für gute o<strong>de</strong>r schlechte Ernten27


("Managementfehler"), dumme Politiker, Kriegsfolgen, mal zu hohe, mal zu niedrige Löhne undso fort. Für je<strong>de</strong> dieser alten f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir heute ganz ähnliche, aber mo<strong>de</strong>rn gewan<strong>de</strong>te "Erklärungen".Zwischenfrage 12: S<strong>in</strong>d die Ausgangsfragen <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts: "Woher kommt <strong>de</strong>r Reichtum?" und"Warum gehen Reichtum und Armut parallel?" für unsere Zeit alte Hüte? O<strong>de</strong>r <strong>in</strong> welcher Form begegnenuns diese Fragen heute? (S.251)Die Diskussion <strong>de</strong>r Fragen war zu M.s Zeit ke<strong>in</strong>e Geheim<strong>de</strong>batte. Wie auch? In <strong>de</strong>r früh entwickeltenund noch ungeschm<strong>in</strong>kten bürgerlichen Gesellschaft Englands trat <strong>de</strong>r krasse Gegensatzvon Armut und Reichtum unübersehbar zu Tage. 57 Mit diesen Fragen beschäftigten sich nichtnur die <strong>in</strong>tellektuellen Kommentatoren <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft und die kritischen Zirkel <strong>de</strong>rfrühen Arbeiterbewegung. <strong>Das</strong> offenbare Elend weckte alle Arten reformerischen und mildtätigenEifers. Es war, wie M. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er frühen Arbeiten schrieb, die Wirklichkeit selbst, die sichzum Gedanken drängte 58 , und im Denken entwe<strong>de</strong>r verarbeitet o<strong>de</strong>r ignoriert o<strong>de</strong>r irgendwiegerechtfertigt wer<strong>de</strong>n mußte.Zwischenfrage 13: Kommen uns die zu M.s Zeit angebotenen Erklärungen für Armut bekannt vor?(S.253)M. g<strong>in</strong>g es um die Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Ursachen als Voraussetzung für die richtige Therapie. Mankonnte die vielen Formen <strong>de</strong>s Elends nicht übersehen: Die Schnapsleichen und Huren, die übervölkertenHäuser <strong>de</strong>r Slums, die Fabrik<strong>in</strong>vali<strong>de</strong>n und Bergbauopfer, die Toten <strong>de</strong>r Choleraepi<strong>de</strong>mienund die unterernährten Straßenk<strong>in</strong><strong>de</strong>r, die ihr Hungerleben auf <strong>de</strong>r Straße e<strong>in</strong>em elen<strong>de</strong>renLeben <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Arbeitshäusern, aber auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Fabriken und Bergwerken vorzogen. Die englischeBourgeoisie und ihr Parlament haben <strong>in</strong> vielen Berichten und Statistiken dieses Elend <strong>de</strong>rarbeiten<strong>de</strong>n und arbeitslosen Bevölkerung ausführlich dokumentiert. 59 Die Ursachen <strong>de</strong>s Elendssorgen und daher über die wechseln<strong>de</strong>n Preise für organische Rohstoffe die Krisen auslösen. <strong>Das</strong> passte zwar zu Mo<strong>de</strong>themen <strong>de</strong>r Zeit,hatte aber gar ke<strong>in</strong>e empirische Grundlage. <strong>Das</strong> ganze wäre wie so vieles an<strong>de</strong>re auch lediglich e<strong>in</strong>e Anekdote <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>engeschichte. Dochgilt Jevons immerh<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>r Stammväter <strong>de</strong>r sogenannten Neoklassik, die uns <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Spielart <strong>de</strong>s Neoliberalismus seit Jahren bedrückt.Deshalb hat man se<strong>in</strong>e pe<strong>in</strong>liche "Krisentheorie" unauffällig entsorgt. Beim neoliberalen Liberty Fund bietet man Jevons' Werkje<strong>de</strong>nfalls e<strong>in</strong>er ahnungslosen Leserschaft nur <strong>in</strong> bere<strong>in</strong>igter Fassung ohne je<strong>de</strong> Sun-Spot-Theorie.Jevons steht nicht alle<strong>in</strong>, was kuriose Krisentheorien angeht. Der Ökonom Henry L. Moore ("Generat<strong>in</strong>g Economic Cycles", 1923) machte<strong>de</strong>n Stand <strong>de</strong>r Venus zu Er<strong>de</strong> und Sonne für <strong>de</strong>n Krisenzyklus verantwortlich und brachte dafür bee<strong>in</strong>drucken<strong>de</strong> mathematische "Beweise".Freilich, noch kurioser als die kuriosen Theorien s<strong>in</strong>d jene, für die es <strong>in</strong>nere Krisen im <strong>Kapital</strong>ismus e<strong>in</strong>fach nicht gibt, bestenfalls solche,die durch "Fehler <strong>de</strong>r Politik" o<strong>de</strong>r durch "habgierige Banker" o<strong>de</strong>r durch Hausbau-besessene Amerikaner o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re "exogeneFaktoren" hervorgebracht wer<strong>de</strong>n.57London wächst zwischen 1800 und 1835 durch Zuwan<strong>de</strong>rung um das doppelte auf 2 Millionen E<strong>in</strong>wohner, die meisten von ihnen ehemaligeLandarbeiter und Kle<strong>in</strong>bauern. Noch e<strong>in</strong>mal hören wir He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en englischen Reisebil<strong>de</strong>rn von 1828: "Ich habe dasMerkwürdigste gesehen, was die Welt <strong>de</strong>m staunen<strong>de</strong>n Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer – noch immerstarrt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Gedächtnisse dieser ste<strong>in</strong>erne Wald von Häusern und dazwischen <strong>de</strong>r drängen<strong>de</strong> Strom lebendiger Menschengesichtermit all ihren bunten Lei<strong>de</strong>nschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast <strong>de</strong>r Liebe, <strong>de</strong>s Hungers und <strong>de</strong>s Hasses – ich spreche von London."(aus: He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e, Reisebil<strong>de</strong>r 4.<strong>Teil</strong>, 1828)58In se<strong>in</strong>er frühen Arbeit "Zur Kritik <strong>de</strong>r Hegelschen Rechtsphilosophie" befaßt sich M. erstmals mit <strong>de</strong>n materiellen Voraussetzungen revolutionärerVerän<strong>de</strong>rungen und f<strong>in</strong><strong>de</strong>t, selbst noch suchend, für die Notwendigkeit materialistischer Analyse diese wun<strong>de</strong>rbare Formulierung:"Es genügt nicht, daß <strong>de</strong>r Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." (MEW 1,S.386)59Der Londoner Journalist Henry Mayhew erstellte e<strong>in</strong> 2000-seitiges Kompendium über die Armen von London, das <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1860er Jahrenrecht bekannt war. Dar<strong>in</strong> unterschei<strong>de</strong>t Mayhew alle<strong>in</strong> für das auf <strong>de</strong>r Straße leben<strong>de</strong> "Londoner Straßenvolk" sechs große Gruppen, von<strong>de</strong>nen die Straßenverkäufer e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d. Nach <strong>de</strong>r Art ihres Erwerbs klassiert Mayhew alle<strong>in</strong> für diese Gruppe von etwa 40.000 Straßenhändlernacht Untergruppen, vor allem nach Art <strong>de</strong>r Waren und nach Art <strong>de</strong>r Warenbeschaffung.Die Kle<strong>in</strong>händler <strong>in</strong> London und <strong>in</strong> allen an<strong>de</strong>ren Industriestädten spielten e<strong>in</strong>e sehr wichtige Rolle für die langsame, aber stetige Herausbildung<strong>de</strong>s Massenmarkts für <strong>in</strong>dustrielle Massenware. Sie füllten die Nischen, verkauften Waren aus zweiter und dritter Hand und saugtendie letzten Farth<strong>in</strong>gs an Kaufkraft. Sie waren e<strong>in</strong> wichtiger <strong>Teil</strong> jener Zirkulationsagenten, von <strong>de</strong>nen wir noch hören wer<strong>de</strong>n, undkonnten flexibel <strong>de</strong>r wechseln<strong>de</strong>n Kaufkraft <strong>in</strong> <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen sozialen Gruppen folgen.28


lagen aber h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>n Türen <strong>de</strong>r Börse und <strong>de</strong>r Bankkontore, h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>n Fabriktoren und <strong>de</strong>nElendsquartieren von London und Manchester erst noch verborgen. Sie mußten mit <strong>de</strong>n richtigenFragen und e<strong>in</strong>er geeigneten Untersuchungsmetho<strong>de</strong> erst noch erschlossen wer<strong>de</strong>n. M. liefertuns <strong>de</strong>n Schlüssel dazu.Produktive VerachtungDie Grundlagen für diesen großen Schritt waren schon Jahrzehnte vorher gelegt wor<strong>de</strong>n. Dennals M. mit se<strong>in</strong>em monumentalen Vorhaben begann, hatte die Vorstellung von <strong>de</strong>r Arbeit alsQuelle <strong>de</strong>s Reichtums <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeitswertlehre bereits Tradition und sich bestens als Kampfi<strong>de</strong>ologiegegen die englischen Grundbesitzer und die Reste ihres Feudalsystems bewährt.Zwischenfrage 14: Warum ist es vernünftig, moralische Kategorien wie "gut", "gerecht", "anständig"usw. aus <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie herauszuhalten? (S.253)In <strong>de</strong>m Maße aber, wie sich <strong>de</strong>r neue Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgoisie bemerkbarmachte 60 , verschwand auch die Arbeitswerttheorie langsam <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Versenkung. Schonzwanzig Jahre nach Ricardos Tod fand man die Theorien <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>stigen Superstars <strong>de</strong>r PolitÖkonomieauf <strong>de</strong>m Krabbeltisch angeblich unbrauchbarer Theorien wie<strong>de</strong>r. Wie wir schon sahen,wan<strong>de</strong>lte sich <strong>in</strong> dieser Zeit <strong>in</strong>sgesamt die ehemals kämpferische Political Economy zu e<strong>in</strong>er "un<strong>pol</strong>itischen",die neuen Klassengegensätze verkleistern<strong>de</strong>n Wissenschaft.Aber auch die frühe Arbeitswertlehre, so groß ihr Beitrag gewesen ist, war nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lage, dieentschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Frage <strong>de</strong>r neu entstan<strong>de</strong>nen bürgerlichen Gesellschaft zu beantworten: Warumbr<strong>in</strong>gt die schnell wachsen<strong>de</strong> Produktivität <strong>de</strong>r neuen Industrien gleichzeitig Reichtum und Elendhervor? Selbst Ricardo, <strong>de</strong>r Lösung greifbar nahe, konnte letztlich nicht über <strong>de</strong>n Schatten se<strong>in</strong>erKlasse spr<strong>in</strong>gen, <strong>de</strong>r er als gelernter Börsenspekulant ganz und gar zugehörte.Zwischenfrage 15: Spielt <strong>de</strong>nn die Moral für die Politische Ökonomie überhaupt ke<strong>in</strong>e Rolle? (S.254)Die Antwort auf diese Frage liefert uns erst M.s Mehrwerttheorie und se<strong>in</strong>e Analyse <strong>de</strong>s Akkumulationsprozesses.Nicht, obwohl er <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft fe<strong>in</strong>dlich gegenüberstand,son<strong>de</strong>rn weil. Hier wur<strong>de</strong> die Verachtung für e<strong>in</strong> <strong>pol</strong>itisch-ökonomisches System wirklich erkenntnisför<strong>de</strong>rnd.Wie Karl Kraus e<strong>in</strong>mal sagte: "Haß muß produktiv se<strong>in</strong>. Sonst ist es gleich gescheiterzu lieben."Mayhews Buch ist mit Statistiken (wie die abgebil<strong>de</strong>te über die Straßenhändler), mit anekdotischen Beschreibungen und viel Unterwelt-Schau<strong>de</strong>r angefüllt. Der Lesestoff für die Mittelschichten ist ke<strong>in</strong>eswegs frei von bornierten Vorurteilen, aber Mayhews ungebremste Lei<strong>de</strong>nschaftfür Zahlen macht das Buch <strong>de</strong>nnoch zu e<strong>in</strong>er Fundgrube. In mancher H<strong>in</strong>sicht f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man dar<strong>in</strong> die viktorianische Variante e<strong>in</strong>erEntwicklung, die sich heute <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Großstädten Afrikas, Asiens und Late<strong>in</strong>amerikas auf neue Weise vollzieht.Wer sich e<strong>in</strong> Bild über Mayhew's London machen will, das ja auch M.s London war, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t das Buch bei Google. Allerd<strong>in</strong>gs zeigt uns Mayhewnur e<strong>in</strong> "so sieht es aus"-London. Bei M. haben wir es mit <strong>de</strong>m "warum ist das so?" London zu tun. Verschie<strong>de</strong>ne Perspektiveneben.Henry Mayhew, London Labour and the London Poor. Cyclopaedia of the Condition and Earn<strong>in</strong>gs of those that will work, those that connotwork, and those that will not work. Volume II; London: Griff<strong>in</strong>, Bohn & Co. 186<strong>1.</strong> Von <strong>de</strong>r stark gekürzten <strong>de</strong>utschen Ausgabe ist wegen<strong>de</strong>r merkwürdigen Textauswahl abzuraten.60Schon zu Lebzeiten Ricardos war <strong>de</strong>r neu entstan<strong>de</strong>ne Klassenkonflikt zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse nicht mehr zu übersehen.Spätestens <strong>de</strong>r drei Wochen dauern<strong>de</strong> Weberstreik von 1812, an <strong>de</strong>m 40.000 Arbeiter teilnahmen, war für die herrschen<strong>de</strong> Klasse e<strong>in</strong><strong>de</strong>utliches Zeichen, dass die geruhsamen Zeiten vorbei waren. Der e<strong>in</strong>stige schroffe Gegensatz zu <strong>de</strong>n Grundbesitzern verlor an Be<strong>de</strong>utung,natürlich auch <strong>de</strong>shalb, weil viele <strong>de</strong>r neureichen Bourgeois sich längst <strong>in</strong> die alte Grundbesitzerklasse e<strong>in</strong>gekauft hatten.29


Liebe <strong>in</strong> vielen Formen war M. gewiß nicht fremd. 62 Aber Liebe o<strong>de</strong>r auch nur Sympathie gegenübere<strong>in</strong>em kannibalischen ökonomischen System war für ihn ganz sicher ke<strong>in</strong>e Option. 63 Beialler Begeisterung, die M. gegenüber <strong>de</strong>n historischen Leistungen <strong>de</strong>r englischen <strong>Kapital</strong>istenunumwun<strong>de</strong>n zeigt, wenn es um die Entwicklung <strong>de</strong>r technischen Produktivkräfte geht: Zu ke<strong>in</strong>emZeitpunkt vergaß er, welche brutalen Opfer dieselben <strong>Kapital</strong>isten an<strong>de</strong>ren dafür abverlangten.Es war M.s großes Projekt 64 , diesen Brutalitäten und <strong>de</strong>m Mißbrauch menschlicher Schöpferkrafte<strong>in</strong> En<strong>de</strong> zu bereiten. Endlich sollten die mit <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise entwickeltenProduktivkräfte genutzt wer<strong>de</strong>n, um Produktion und Verteilung nach gesellschaftlichen Bedürfnissenund nicht nach <strong>de</strong>n beengten Interessen e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Klasse zu organisieren. Für diesesProjekt erhoffte sich M. von <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie e<strong>in</strong> wissenschaftliches Fundament.61En<strong>de</strong> 1856 verläßt Familie Marx die enge Behausung <strong>in</strong> Soho und bezieht e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> Grafton Terrace 9 <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Nähe vonHampstead Hill. Es ist e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>utliche Verbesserung <strong>de</strong>r Wohnverhältnisse, die wegen Jennys Erbe nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>r Mutter möglich wur<strong>de</strong>.Die Wohnung hat e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Garten und 7 Räume, e<strong>in</strong>schließlich Küche. Jennys sarkastischer Kommentar: "Wir s<strong>in</strong>d unentwegtdabei, bürgerlich zu wer<strong>de</strong>n". Die E<strong>in</strong>weihungsparty wird wegen <strong>de</strong>r Geschenke, die Engels aus Manchester sen<strong>de</strong>t (We<strong>in</strong> und Champagner)sehr ausgelassen. Es geht aufwärts. Die letzten Jahre se<strong>in</strong>es Lebens wohnt M. mit se<strong>in</strong>er Familie ab 1875 <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Maitland Park Road<strong>in</strong> soli<strong>de</strong>n kle<strong>in</strong>bürgerlichen Wohnverhältnissen. Endlich auch aus Europa zufließen<strong>de</strong> Tantiemen und Engels Zuschüsse machen <strong>de</strong>n beschei<strong>de</strong>nenAufstieg möglich. Jenny Marx (1814-1881)62In e<strong>in</strong>em <strong>de</strong>r gar nicht seltenen "Männer-Briefe" an Engels bezeichnet M. sich als "len<strong>de</strong>nstarken Familienvater", <strong>de</strong>ssen Ehe produktiversei als se<strong>in</strong> Gewerbe. <strong>Das</strong> war 1851, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Frühzeit <strong>de</strong>s Londoner Exils, als es <strong>de</strong>r Familie an allem Nötigen fehlte, auf das <strong>de</strong>r gelernteKle<strong>in</strong>bürger M. und se<strong>in</strong>e aus e<strong>in</strong>er A<strong>de</strong>lsfamilie stammen<strong>de</strong> Ehefrau Jenny nur schwer verzichten konnten (MEW 27, S.173). M.s an<strong>de</strong>reSeite tritt <strong>in</strong> Liebesgedichten und Briefen an Jenny von Westphalen hervor, mit <strong>de</strong>r er seit 1836 verlobt und seit 1843 verheiratet war. Wirf<strong>in</strong><strong>de</strong>n M.s Brief vom 15.12.1863 an se<strong>in</strong>e "liebe gute Herzensjenny" aufschlußreich. Um <strong>de</strong>n Nachlaß se<strong>in</strong>er verstorbenen Mutter zu regeln,war M. nach Trier gereist. Er schreibt als alter Gockel: "Ich b<strong>in</strong> täglich zum alten Westphalschen Hause gewallfahrt (<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Römerstraße),das mich mehr <strong>in</strong>teresiert hat als alle römischen Altertümer, weil es mich an die glücklichste Jugendzeit er<strong>in</strong>nert und me<strong>in</strong>en bestenSchatz barg. Außer<strong>de</strong>m fragt man mich täglich, l<strong>in</strong>ks und rechts, nach <strong>de</strong>m quondam 'schönsten Mädchen von Trier' und <strong>de</strong>r 'Ballkönig<strong>in</strong>'.Es ist verdammt angenehm für e<strong>in</strong>en Mann, wenn se<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Phantasie e<strong>in</strong>er ganzen Stadt so als 'verwunschene Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>'fortlebt." (MEW 30, S.643) Und nicht zuletzt schmeichelt es <strong>de</strong>r eigenen Eitelkeit, Herr M., o<strong>de</strong>r? Jenny Marx (1814-1881)63Akribisch hat M. Statistiken über die Schandtaten <strong>de</strong>s englischen <strong>Kapital</strong>ismus studiert und immer wie<strong>de</strong>r zur Illustration <strong>in</strong> das <strong>Kapital</strong>übernommen. So weist er im Kapitel "Ersparnis an <strong>de</strong>n Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen auf Kosten <strong>de</strong>r Arbeiter" darauf h<strong>in</strong>, dass zwischen 1852 und1861 die Bergwerks<strong>in</strong>spektoren von m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens 8466 tödlichen Unfällen berichten: "Diese Menschenopfer s<strong>in</strong>d größtenteils geschul<strong>de</strong>t<strong>de</strong>m schmutzigen Geiz <strong>de</strong>r Grubenbesitzer." (MEW 25, S.98) <strong>Das</strong> nur zur Begründung, warum wir das Wort "kannibalisch" ohne E<strong>in</strong>schränkungauf die kapitalistische Produktionsweise anwen<strong>de</strong>n. Ähnliche Statististiken könnte man für die Gegenwart <strong>in</strong> vielen <strong>Teil</strong>en <strong>de</strong>rWelt erstellen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen sich kapitalistische Produktionsweise unbehelligt wie <strong>in</strong> alten europäischen Zeiten austobt. Es war e<strong>in</strong> System, dasMillionen Menschenleben vernichtet, um <strong>de</strong>n Profit zu sichern. Und es ist e<strong>in</strong> solches System nach wie vor, wenn sich auch se<strong>in</strong>e übelstenSchandtaten besser verbergen und sich für uns, die Bewohner <strong>de</strong>r privilegierten Kernlän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus, sche<strong>in</strong>bar nur noch als Probleme<strong>de</strong>r Peripherie darstellen. Wir wer<strong>de</strong>n auf unserer Reise durch das "<strong>Kapital</strong>" jedoch ke<strong>in</strong> laufen<strong>de</strong>s Schul<strong>de</strong>nkonto <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismusführen. Die globalisierungskritische Literatur liefert dafür reichhaltiges Material.64Im heutigen Polit-Jargon wür<strong>de</strong> man vermutlich von M.s Vision re<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> er<strong>in</strong>nert uns aber zu sehr an <strong>de</strong>n Genuß von Fliegenpilzen.Und vermutlich hätte Engels uns flugs mit "Die Entwicklung <strong>de</strong>s Sozialismus von <strong>de</strong>r Vision zur Wissenschaft" die passen<strong>de</strong> Antwort geschrieben.Auch das Wort "Projekt" hätte M. nicht behagt. Se<strong>in</strong>e Bezeichnungen waren allemal schwungvoller und mitreißen<strong>de</strong>r. "Aus<strong>de</strong>m Reich <strong>de</strong>r Notwendigkeit <strong>in</strong> das Reich <strong>de</strong>r Freiheit!" <strong>Das</strong> hat was... wenn man M.s Zusatz beachtet: "das aber nur auf jenem Reich<strong>de</strong>r Notwendigkeit als se<strong>in</strong>er Basis aufblühn kann." (MEW 25, S.828) Ob die Politische Ökonomie für dieses Projekt wirklich <strong>de</strong>r erhofftezuverlässige Wegweiser se<strong>in</strong> kann? Wir wer<strong>de</strong>n sehen.30


Kapitel 3: Die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Politischen ÖkonomieWir erfahren, warum man vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigt und hören vielvom historischen Stoff. Wir erfahren, dass M.s "historische Perspektive" nichts mit Zukunftsvisionen,son<strong>de</strong>rn mit Erkenntnisgrenzen und <strong>de</strong>ren Überw<strong>in</strong>dung zu tun hat.Im Selbstversuch machen wir uns klar, warum M. im "<strong>Kapital</strong>" nicht mit <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>anfängt und warum M.s Begriffsbildung nichts mit Deduktionen nach Art <strong>de</strong>sSherlock Holmes zu tun hat.Vom anschaulich Konkreten zum BegriffM. hat uns ke<strong>in</strong> Handbuch h<strong>in</strong>terlassen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m beschrieben wird, wie man <strong>pol</strong>it-ökonomischeAnalysen durchführt. Er war, wie e<strong>in</strong> Kritiker nett formulierte, "allen prälim<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>n methodologischenund erkenntnistheoretischen Ausführungen abhold". 65 Er hat diese Analysen gemacht,sich dabei immer wie<strong>de</strong>r selbst korrigiert und <strong>de</strong>n Fortgang se<strong>in</strong>er Analyse <strong>in</strong> zahlreichen vorbereiten<strong>de</strong>nund begleiten<strong>de</strong>n Manuskripten nie<strong>de</strong>rgelegt. 66 Nur ausnahmsweise hat er se<strong>in</strong>e Vorüberlegungennotiert. Problem: Auch das diente mehr <strong>de</strong>r Verständigung mit sich selbst, <strong>de</strong>r <strong>in</strong>nerenDebatte, und war nicht für die Veröffentlichung gedacht. Dazu gehört auch <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>Text, <strong>de</strong>n wir zur Lektüre empfehlen. Aber bitte Zeit lassen und nicht verzweifeln.Lektüre: Karl Marx: S.304Zwischenfrage 16: Woher kommen die Kategorien, mit <strong>de</strong>nen M.s Analyse arbeitet: Arbeit, Produktion,Distribution, aber auch Ware, Lohn, Preis usw.? (S.255)Zwischenfrage 17: S<strong>in</strong>d diese Kategorien fest vorgegeben o<strong>de</strong>r käme man mit an<strong>de</strong>ren Ansätzen auch zuan<strong>de</strong>ren Kategorien? (S.255)M.s Ausgangspunkt ist klar: Für ihn ist das sche<strong>in</strong>bar "Konkrete", besser: das anschaulich Konkretewie "Bevölkerung" o<strong>de</strong>r "unternehmerisches Han<strong>de</strong>ln" o<strong>de</strong>r "Warenabsatz", tatsächlichnur wie e<strong>in</strong>e Hülle. Den historischen und sozialen Inhalt muß man zunächst enthüllen, um zuvernünftigen Begriffen zu kommen. <strong>Das</strong> müßten dann Begriffe se<strong>in</strong>, die nicht die allgeme<strong>in</strong>eVorstellung von <strong>de</strong>n D<strong>in</strong>gen wie<strong>de</strong>rgeben, son<strong>de</strong>rn die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihrer historischen Form selbstzum Ziel haben. Deshalb macht es ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, die Analyse mit re<strong>in</strong> anschauen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Alltagsverständnisentnommenen Begriffen zu beg<strong>in</strong>nen. Wür<strong>de</strong>n die ausreichen, wären ja bereits alleFragen beantwortet und <strong>de</strong>r Alltagsverstand wür<strong>de</strong> die wissenschaftliche Analyse gleichmiterledigen.Bleibt nur e<strong>in</strong> Problem: Wenn nämlich <strong>de</strong>r Gegenstand <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie "e<strong>in</strong>e reicheTotalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen" ist, wie M. schreibt, wie kann man dann65Es war Franz Petry, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er wirklich klugen Marx-Kritik <strong>de</strong>ssen reiche H<strong>in</strong>terlassenschaft so beschrieben hat: "Daß die ökonomischeTheorie von Marx bei <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>nung ihrer Ergebnisse e<strong>in</strong>e eigen geartete Metho<strong>de</strong> verfolge, hat Marx <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Betonung se<strong>in</strong>es Gegensatzessowohl gegenüber <strong>de</strong>r klassischen Schule als auch <strong>de</strong>r von ihm als 'Vulgärökonomie' bezeichneten Richtung ausdrücklich hervorgehoben.Schwieriger ist es aber nun, diese Metho<strong>de</strong> selbst klar zu charakterisieren, <strong>de</strong>nn Marx' positivistisch gerichteter S<strong>in</strong>n ließ ihnallen prälim<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>n methodologischen und erkenntnistheoretischen Ausführungen abhold se<strong>in</strong>; er verwob sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Stoff selbst, aus<strong>de</strong>m wir sie nun herausarbeiten müssen." (Franz Petry, Der soziale Gehalt <strong>de</strong>r marxschen Werttheorie; 1916)66M.s Gewohnheit, se<strong>in</strong>e Gedanken und <strong>in</strong>nere Diskussion zu notieren und Zwischenergebnisse im Briefwechsel mit vielen Personen, vornehmlichmit Engels, zu testen, führten zwar zu e<strong>in</strong>em ungeheuerlichen Durche<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r an Manuskripten und an<strong>de</strong>ren schriftlichen Zeugnissen.Aber die <strong>in</strong> weiten <strong>Teil</strong>en <strong>de</strong>r sozialistischen Bewegung herrschen<strong>de</strong> Verehrung für Marx führte gleichzeitig dazu, dass <strong>de</strong>r größte<strong>Teil</strong> dieser Texte erhalten blieb. Jetzt schon und immer mehr bei weiterem Fortgang <strong>de</strong>r MEGA verfügen wir vermutlich für ke<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>reForschungsarbeit über so viel Material wie für das "<strong>Kapital</strong>". <strong>E<strong>in</strong>e</strong> längst noch nicht erschlossene Fundgrube für alle, die mehr über dasZustan<strong>de</strong>kommen gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse wissen wollen.31


aus diesem sche<strong>in</strong>bar wirren Knäuel von Zusammenhängen überhaupt zu vernünftigen Erkenntnissenkommen? Wie f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man <strong>in</strong> diesem Knäuel <strong>de</strong>n Anfang <strong>de</strong>s Fa<strong>de</strong>ns?Strukturelle und historische AnalyseM.s spezielles Herangehen besteht aus zwei Elementen, <strong>de</strong>nen wir im "<strong>Kapital</strong>" immer wie<strong>de</strong>rbegegnen:<strong>Das</strong> erste Element wird <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Literatur über M. meist als logische Analyse bezeichnet. Wir sprechenlieber von struktureller Analyse 67 , auch wenn "strukturell" zu e<strong>in</strong>em Allerweltswort gewor<strong>de</strong>nist und wir M.s Analyse damit ke<strong>in</strong>eswegs unlogisch nennen wollen. 68 Aber "logisch"unterstellt entwe<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren, bereits gegebenen Zusammenhang <strong>de</strong>r Begriffe, <strong>de</strong>r nuraufzu<strong>de</strong>cken sei und mißachtet das Primat <strong>de</strong>r Empirie, also <strong>de</strong>s wirklichen historischen Stoffes.69 Diese Art <strong>de</strong>s logischen Herangehens ist zwar <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Marx betreffen<strong>de</strong>n Literatur 70 reichlichvertreten; wir können sie aber mit M.s eigener Analyse nicht <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung br<strong>in</strong>gen. Auf<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite wird "logisch" allzu leicht mit "<strong>Kapital</strong>logik" übersetzt; und das ist gewiß e<strong>in</strong>eArgumentation, um die wir e<strong>in</strong>en weiten Bogen machen. 7167Die Charakterisierung von M.s Metho<strong>de</strong> als E<strong>in</strong>heit von historischer und logischer Analyse geht auf Engels zurück, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rezensionzu M.s Arbeit "Zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie" von 1859 zu dieser Frage e<strong>in</strong>e Menge Werbung betreibt. Er kommt dann zu <strong>de</strong>r Feststellung:"Die logische Behandlungsweise war also alle<strong>in</strong> am Platz. Diese aber ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat nichts andres als die historische, nur entklei<strong>de</strong>t<strong>de</strong>r historischen Form und <strong>de</strong>r stören<strong>de</strong>n Zufälligkeiten. Womit diese Geschichte anfängt, damit muß <strong>de</strong>r Gedankengang ebenfalls anfangen,und se<strong>in</strong> weiterer Fortgang wird nichts se<strong>in</strong> als das Spiegelbild, <strong>in</strong> abstrakter und theoretisch konsequenter Form, <strong>de</strong>s historischenVerlaufs; e<strong>in</strong> korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die <strong>de</strong>r wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, <strong>in</strong><strong>de</strong>mje<strong>de</strong>s Moment auf <strong>de</strong>m Entwicklungsmoment se<strong>in</strong>er vollen Reife, se<strong>in</strong>er Klassizität betrachtet wer<strong>de</strong>n kann." (MEW 13, S.475) M.s tatsächlichesVorgehen (das, was am En<strong>de</strong> übrig blieb und das "<strong>Kapital</strong>" bil<strong>de</strong>t) ist für uns nicht auf das "Logische" zurückgeführte, verdünnteGeschichte, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Versuch, das Allgeme<strong>in</strong>e, die "ökonomische Struktur" im historischen Stoff zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Ob das gelungen istund ob das für heutige Analysen ausreicht, wird zu prüfen se<strong>in</strong>. Wir gehen davon aus, dass <strong>de</strong>m historischen Stoff, von <strong>de</strong>m das empirischeWissen über unsere eigene Gesellschaft immer e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> ist, unbed<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r Vorrang e<strong>in</strong>geräumt wird. Deshalb wählen wir "strukturelleAnalyse", die sich am Stoff bewähren muß, und greifen damit M.s Formulierung von <strong>de</strong>r "ökonomischen Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft" auf.Allen E<strong>in</strong>lassungen mit <strong>de</strong>m Bombast Hegel'scher Begriffshuberei gehen wir für diese E<strong>in</strong>führung aus <strong>de</strong>m Weg. Wir wollen <strong>de</strong>m Polit-Ökonomen Marx begegnen und uns se<strong>in</strong>e ökonomische Theorie zunutze machen. <strong>Das</strong>s <strong>de</strong>rselbe Marx <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ökonomischen Schriftenzweifellos auch Beachtliches zur Methodologie und Erkenntnistheorie leistet, ist e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res Thema.68Mit <strong>de</strong>m Begriff Struktur bezeichnen wir allgeme<strong>in</strong> Elemente <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er übergeordneten E<strong>in</strong>heit, die <strong>in</strong> erkennbarer Verb<strong>in</strong>dungzue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r stehen. Was diese Elemente und was die übergeordnete E<strong>in</strong>heit ist, muß immer neu bestimmt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn Elemente undübergeordnete E<strong>in</strong>heit s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e feststehen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn von uns je<strong>de</strong>smal zu bestimmen<strong>de</strong> Objekte. Auch hier begegnen wir also wie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>m ständigen Wechsel <strong>de</strong>r Perspektive. Mal betrachten wir Arbeitsmittel als strukturelles Element <strong>de</strong>s Arbeitsprozessess, mal als Element<strong>de</strong>r Produktivkräfte. Mal betrachten wir die Produktivkräfte als strukturelles Element <strong>de</strong>r Gesellschaft, mal selbst als übergeordnetes Element,die durch spezifische Verb<strong>in</strong>dung von Produktionsmitteln und Arbeitskraft strukturiert wer<strong>de</strong>n.69Wenn wir hier und im weiteren vom "historischen Stoff" sprechen, me<strong>in</strong>t das natürlich nicht nur Rückgriff auf vergangene Zeiten. DieGegenwart gehört dazu. Aber alles Wissen, das wir über unsere Gegenwart besitzen, ist ebenfalls historischer Stoff, da ihm die materielleKont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>r Geschichte zugrun<strong>de</strong> liegt. Zur Bekräftigung: "Historische Analyse" ist ke<strong>in</strong>e Spezialität für Historiker, son<strong>de</strong>rn Kern vonM.s Metho<strong>de</strong>.70<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Arbeiten, <strong>in</strong> <strong>de</strong>ren Titeln und Klappentexten meist von "Dialektik" o<strong>de</strong>r "Hegel" die Re<strong>de</strong> ist, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Entwicklung und Ableitungvon Begriffen aus an<strong>de</strong>ren Begriffen e<strong>in</strong>e große Rolle spielen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r historische Stoff, also etwa <strong>de</strong>r wirkliche Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Arbeitsprozessesund <strong>de</strong>r sozialen Strukturen, <strong>de</strong>r Kampf <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse mit allen Mitteln von Ökonomie und Politik um <strong>de</strong>n Mehrwertund die Profitrate, also die <strong>pol</strong>itische Ökonomie, nur e<strong>in</strong>e Nebenrolle spielt. Als seien das Fragen gewesen, die M. nur mal eben als Spielwiesese<strong>in</strong>er eigentlich philosophischen Ambitionen gewählt habe. Damit ist die Katze aus <strong>de</strong>m Sack: Ja, wir behan<strong>de</strong>ln M. als <strong>de</strong>n Begrün<strong>de</strong>r<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen <strong>pol</strong>itischen Ökonomie, nicht als Welten<strong>de</strong>uter und nicht als Überw<strong>in</strong><strong>de</strong>r Hegels. Ja, an <strong>de</strong>r Dialektik <strong>in</strong>teressiert uns(nur?) ihr Nutzen für die Analyse <strong>de</strong>s empirischen Stoffs. Ja, Philosophie kommt <strong>in</strong> diesem Text nur am Ran<strong>de</strong> vor; die überlassen wir an<strong>de</strong>ren.71Es gibt e<strong>in</strong>e merkwürdige Art <strong>de</strong>r Argumentation unter <strong>Kapital</strong>ismuskritikern, die, wenn irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e Schwe<strong>in</strong>erei passiert, das mit <strong>de</strong>r"<strong>Kapital</strong>logik" begrün<strong>de</strong>n. So weit, so gut. Damit soll wohl gesagt wer<strong>de</strong>n, dass es sich bei dieser Schwe<strong>in</strong>erei eben nicht um persönlicheEigenarten e<strong>in</strong>es Managers, son<strong>de</strong>rn um Folgen <strong>de</strong>s kapitalistischen Systems han<strong>de</strong>lt.Es wird aber mit <strong>de</strong>m Begriff "Logik" auch nahegelegt, es seien diese Folgen nicht nur unvermeidbar, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong>zu berechenbar, undnur völlige Systemüberw<strong>in</strong>dung sei dazu die Alternative. <strong>Das</strong> wäre aber erstens Uns<strong>in</strong>n und zweitens <strong>de</strong>primierend. In diesem S<strong>in</strong>ne wäre"<strong>Kapital</strong>logik" nur die l<strong>in</strong>ke Übersetzung für die allbekannten "Sachzwänge". Wenn es aber überhaupt irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e "Logik" gibt, so ist esdie <strong>de</strong>s Klassenkampfs, <strong>de</strong>r ja immer Element <strong>de</strong>r ökonomischen Prozesse ist. <strong>Das</strong> sich aus <strong>de</strong>m Klassenkampf ergeben<strong>de</strong> Kräfteverhältnis32


Mit struktureller Analyse me<strong>in</strong>en wir die Sichtbarmachung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>neren Zusammenhänge, z.B.zwischen Warenproduktion und Arbeitsteilung o<strong>de</strong>r zwischen Warentausch und Geld. Die <strong>in</strong>nerenZusammenhänge wer<strong>de</strong>n durch Bildung von Begriffen herausgearbeitet, die diesen wirklichen,aber eben nicht direkt sichtbaren Zusammenhang umfassen sollen. Wir er<strong>in</strong>nern uns: M.bezeichnet solche Begriffe als verständige Abstraktionen.Zwischenfrage 18: Ist M.s analytischer Ansatz <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zig <strong>de</strong>nkbare? O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zig wissenschaftliche?O<strong>de</strong>r doch nur <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zige uns zusagen<strong>de</strong> Ansatz? (S.255)Zwischenfrage 19: Wie entschei<strong>de</strong>t man, welcher analytische Ansatz "richtig" o<strong>de</strong>r "falsch" ist? WelcheTrennl<strong>in</strong>ien für verschie<strong>de</strong>ne Ansätze gibt es? Welche Rolle spielt dabei das "Historische"? (S.256)Nehmen wir als Beispiel die Feststellung: Alle Menschen müssen essen. Dem ist kaum zu wi<strong>de</strong>rsprechen.Dann ist aber auch klar, dass es zwischen <strong>de</strong>n unabweisbaren Lebensbedürfnissenund <strong>de</strong>n Handlungen <strong>de</strong>r Menschen e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Zusammenhang geben muß, was auch immerdie Menschen selbst darüber me<strong>in</strong>en. Sie mögen sich e<strong>in</strong>bil<strong>de</strong>n, von Luft und Liebe undgroßen I<strong>de</strong>en zu leben. Aber irgendwo wird gegessen und irgendwo wird das Essen produziertund irgendwie wird es verteilt. Deshalb muß <strong>in</strong> allen Gesellschaften e<strong>in</strong>e Produktion von Nahrungsmittelnerfolgen. Und es müssen soziale Strukturen existieren, die für die Verteilung <strong>de</strong>sproduzierten Reichtums sorgen. Solche allgeme<strong>in</strong>en Feststellungen s<strong>in</strong>d unerläßlich; sie s<strong>in</strong>d ohneweiteres nachvollziehbar, aber <strong>de</strong>nnoch längst nicht ausreichend.Deshalb kommt als zweites Element die historische Analyse h<strong>in</strong>zu: <strong>Das</strong> ist die Frage nach <strong>de</strong>rEntwicklung und <strong>de</strong>n tatsächlichen Ausprägungen (Formen) jener notwendigerweise vorhan<strong>de</strong>nenStrukturen zur Erzeugung und Verteilung von Nahrungsmitteln. Produktion muß se<strong>in</strong>. Aberwie wird tatsächlich produziert? Was s<strong>in</strong>d die materiellen Voraussetzungen zu e<strong>in</strong>em bestimmtenZeitpunkt? Wie wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gegebenen Gesellschaft die Produktionsziele bestimmt?Welchen Regeln folgt die Verteilung <strong>de</strong>r Produktion? Fragen dieser Art s<strong>in</strong>d nur aus <strong>de</strong>m historischen(empirischen) Stoff heraus zu beantworten; dieser Stoff s<strong>in</strong>d unsere tatsächlichen Kenntnisseüber die Gesellschaft und ihre Entwicklung. Ohne e<strong>in</strong>e solche Menge an historischem Wissenist auch M.s Metho<strong>de</strong> nur Gere<strong>de</strong>. Dieser Stoff aber soll über die Bildung geeigneter Begriffe<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Zusammenhängen "begriffen" wer<strong>de</strong>n. Die Vielfalt <strong>de</strong>s Stoffs wird auf dasWesentliche reduziert, da wir ja nicht Geschichtsschreibung im Detail betreiben. <strong>Das</strong> ist die E<strong>in</strong>wirkung<strong>de</strong>r strukturellen Analyse auf <strong>de</strong>n historischen Stoff.Bei<strong>de</strong> Elemente, strukturelle und historische Analyse, existieren nicht nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r nache<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r,son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Wie sollte <strong>de</strong>r nahezu unendliche historische Stoff geglie<strong>de</strong>rt, selektiert,auf das Wesentliche zurückgeführt wer<strong>de</strong>n, wenn nicht se<strong>in</strong>e Aneignung durch strukturelleAnalyse gelenkt wür<strong>de</strong>? An<strong>de</strong>rerseits: Wie sollten wir auf unsere verständigen Abstraktionenwie Produktion, Distribution, Eigentum, Staat und an<strong>de</strong>re kommen, wenn nicht aus Kenntnis<strong>de</strong>s historischen Stoffs? Und wie an<strong>de</strong>rs könnten wir, von unseren verständigen Abstraktionenausgehend, e<strong>in</strong>en Begriff wie "Produktion" so fortentwickeln, dass er über das Allgeme<strong>in</strong>eh<strong>in</strong>aus dann auch das historisch Beson<strong>de</strong>re e<strong>in</strong>er Produktionsweise erschließt und zu e<strong>in</strong>em Begriffvon <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise wird?Nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Komb<strong>in</strong>ation von struktureller und historischer Analyse schützt man sich auch vor leblosenAbstraktionen und logisch vielleicht befriedigen<strong>de</strong>n Ableitungen, die sich tatsächlich abersteckt die Grenzen <strong>de</strong>ssen ab, was durchsetzbar ist und was nicht, was vermeidbar ist und was zähneknirschend h<strong>in</strong>genommen wer<strong>de</strong>nmuss. Bei entsprechen<strong>de</strong>m Kräfteverhältnis lassen sich nicht nur diverse Schwe<strong>in</strong>ereien vermei<strong>de</strong>n, es läßt sich dann sogar die Systemfragestellen und beantworten. Nur aus <strong>de</strong>r Ökonomie heraus kann e<strong>in</strong> sozialer Prozess nicht verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Ohne se<strong>in</strong>e ökonomischenVoraussetzungen auch nicht. E<strong>in</strong> weiterer Grund, warum wir nicht e<strong>in</strong>fach von "Ökonomie", son<strong>de</strong>rn von Politischer Ökonomie sprechen.33


von <strong>de</strong>r historischen Realität entfernen, statt zu ihrem besseren Verständnis h<strong>in</strong> zu führen. Amhistorischen (empirischen) Stoff entwickelt M. se<strong>in</strong>e Abstraktionen. Woran sonst? Er versuchtdabei, aus <strong>de</strong>m Allgeme<strong>in</strong>en <strong>de</strong>r Produktion das Beson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweiseherauszuarbeiten. Dabei bleibt <strong>de</strong>r historische Stoff <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall <strong>de</strong>r Ausgangspunkt und <strong>de</strong>rPrüfste<strong>in</strong> unserer Analyse. 72Zwischenfrage 20: Hat die marxistische Theorie eigene Verfahren entwickelt, Fehler zu erkennen?(S.256)M. wählte die bürgerliche Gesellschaft Englands als Stofflieferant se<strong>in</strong>er Analyse. Es ist auf <strong>de</strong>re<strong>in</strong>en Seite Analyse <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise <strong>in</strong> England. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aberauch Analyse <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise überhaupt, für die England das fortgeschrittensteund <strong>de</strong>shalb das analytisch ergiebigste Beispiel liefert. 73 Hätte es M. nach Mexico <strong>in</strong>s Exilverschlagen, hätten wir mit <strong>de</strong>m "<strong>Kapital</strong>" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r uns vorliegen<strong>de</strong>n Form wohl nicht rechnenkönnen.Historische PerspektiveWenn wir von <strong>de</strong>r historischen Perspektive <strong>in</strong> M.s Metho<strong>de</strong> sprechen, gilt das <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r H<strong>in</strong>sichtund macht <strong>de</strong>n fe<strong>in</strong>en, aber gewaltigen Unterschied aus. Tatsächlich übernimmt M. (fast) alleBegriffe, die se<strong>in</strong>er Analyse die Richtung geben, von se<strong>in</strong>en Vorgängern. Er prüft sie, kritisiertsie, än<strong>de</strong>rt sie, br<strong>in</strong>gt sie <strong>in</strong> neue Zusammenhänge. Gut. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschied aber,<strong>de</strong>r M. zu Ent<strong>de</strong>ckungen führte, die se<strong>in</strong>en doch auch sehr klugen Vorgängern und Kontrahentenverwehrt waren, ist die untrennbare E<strong>in</strong>bettung se<strong>in</strong>er Analyse <strong>in</strong> <strong>de</strong>n historischen Stoff, dievon uns als E<strong>in</strong>heit von struktureller und historischer Analyse bezeichnet wird.Wer sich zusätzliche Anregungen von außen wünscht, sollte an dieser Stelle die Lektüre e<strong>in</strong>esTextes von Paul M. Sweezy e<strong>in</strong>schieben.Lektüre: Paul M. Sweezy:


sionärer Blick <strong>in</strong> die Zukunft, son<strong>de</strong>rn hängt mit <strong>de</strong>n i<strong>de</strong>ologischen B<strong>in</strong>dungen zusammen. 74 Wer<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus für unausweichlich und ewig hält, kann sich Alternativen dazu nicht vorstelleno<strong>de</strong>r empf<strong>in</strong><strong>de</strong>t alternative Konzepte nur als belustigen<strong>de</strong> Illusionen von Weltverbesserern. 75Welche Fragen man überhaupt stellt und welche D<strong>in</strong>ge man überhaupt sieht, hat zuallererst mit<strong>de</strong>r Perspektive zu tun. Und die besteht für uns nicht nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ausrichtung auf e<strong>in</strong>en Gegenstand,son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>s Gegenstands als Resultat und Ausgangspunkt, als Produktund mitwirken<strong>de</strong>s Element <strong>de</strong>s geschichtlichen Prozesses.Zwischenfrage 21: M.s Ansatz ist historisch. Gilt das auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Richtung? Sagt er mit se<strong>in</strong>er<strong>pol</strong>itischen Ökonomie die Zukunft voraus? (S.257)Wer die Entstehung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise <strong>in</strong> die Analyse e<strong>in</strong>bezieht und dabeierkennt, auf welchen sozialen Voraussetzungen sie basiert und wann diese entstan<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, <strong>de</strong>r74Wir wollen ke<strong>in</strong> Wörterbuch schreiben. Aber hier wäre e<strong>in</strong>e Anmerkung zum Begriff "I<strong>de</strong>ologie" angebracht. Im herrschen<strong>de</strong>n Sprachgebrauchist es e<strong>in</strong>e abwerten<strong>de</strong> Bezeichnung für Theorien und Ansichten, <strong>de</strong>nen man nicht trauen kann. "I<strong>de</strong>ologe" wird <strong>de</strong>mnachgleichbe<strong>de</strong>utend mit "geistiger Verführer" gebraucht. Witzelnd könnte man sagen: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> I<strong>de</strong>ologie als I<strong>de</strong>ologie zu beschimpfen ist e<strong>in</strong>eganz gängige I<strong>de</strong>ologie.Marxisten bezeichnen als I<strong>de</strong>ologien die aus <strong>de</strong>n Lebensbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er Gesellschaft heraus entstehen<strong>de</strong>n Auffassungen über Gesellschaftund Natur; <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r UdSSR und DDR von "offiziellen" Marxisten <strong>de</strong>r Marxismus als wissenschaftliche I<strong>de</strong>ologie<strong>de</strong>r Arbeiterklasse bezeichnet. Richtig ist daran, dass I<strong>de</strong>ologien von sozialen Klassen und Gruppen vervorgebracht wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ren Interessenauf mehr o<strong>de</strong>r weniger geschlossene Weise ausdrücken. Klar, dass I<strong>de</strong>ologien, die auf die Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweiseabzielen, nur von Klassen und Gruppen hervorgebracht wer<strong>de</strong>n können, die ke<strong>in</strong>e existentiellen B<strong>in</strong>dungen an dieses Systemhaben.Daher gibt es im gesellschaftlichen S<strong>in</strong>ne, wenn es um Denken und Erkennen geht, überhaupt nur I<strong>de</strong>ologien. Denn was auch immer gedachto<strong>de</strong>r geglaubt, veröffentlicht o<strong>de</strong>r gesen<strong>de</strong>t wird, ist ebensosehr gesellschaftliches Produkt wie es <strong>in</strong>dividuelle Vorstellung ist. Auchdie Wissenschaften bil<strong>de</strong>n da ke<strong>in</strong>e Ausnahme, obwohl sie durch Entwicklung entsprechen<strong>de</strong>r Regeln dafür sorgen, <strong>de</strong>n wissenschaftlichenErkenntnisweg so weit als möglich von <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>flussnahem durch äußere Interessen unabhängig zu machen.Es wäre also nicht zwischen "I<strong>de</strong>ologien" und "richtigen Auffassungen" zu unterschei<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn zwischen I<strong>de</strong>ologien, die <strong>de</strong>n wirklichenVerhältnissen mehr o<strong>de</strong>r weniger entsprechen, und solchen, die das nicht tun o<strong>de</strong>r sogar neben je<strong>de</strong>r Spur liegen.75Hier geht es nicht darum, die D<strong>in</strong>ge für unverän<strong>de</strong>rbar zu halten. Im Gegenteil, was bestimmte Verän<strong>de</strong>rungen betrifft, lassen sich <strong>Kapital</strong>istenso schnell nicht übertreffen. Aber es s<strong>in</strong>d Verän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es festen Konzepts, das heute mit <strong>de</strong>n Begriffen Markt, Privateigentumund unternehmerische Freiheit umrissen wird und von <strong>de</strong>m man behauptet, es entspräche direkt <strong>de</strong>r menschlichen Natur. Ess<strong>in</strong>d Technik und Formen, Marken und Mo<strong>de</strong>n die sich rasant verän<strong>de</strong>rn. Im Schutz dieser Verän<strong>de</strong>rungen konservieren sich die Produktionsverhältnisse,die für unverän<strong>de</strong>rbar erklärt wer<strong>de</strong>n.Edmund Burke, e<strong>in</strong> sehr populärer Zeitgenosse von Adam Smith, bezeichnete vor über 200 Jahren ratzfatz "die Gesetze <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls" als"die Gesetze <strong>de</strong>r Natur und folglich die Gesetze Gottes." ("the laws of commerce, which are the laws of nature, and consequently thelaws of God"; Edmund Burke, Thoughts and Details on Scarcity; 1795) Bei Smith selbst f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir Sätze dieser Art: "Die Arbeitsteilung,die so viele Vorteile mit sich br<strong>in</strong>gt, ist <strong>in</strong> ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche <strong>de</strong>n allgeme<strong>in</strong>en Wohlstand,zu <strong>de</strong>m erstere führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig, wenn auch langsam und schrittweise, aus e<strong>in</strong>ernatürlichen Neigung <strong>de</strong>s Menschen, zu han<strong>de</strong>ln und D<strong>in</strong>ge gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r auszutauschen… Jene Eigenschaft ist allen Menschen geme<strong>in</strong>sam…"(Adam Smith, Der Wohlstand <strong>de</strong>r Nationen; 1776) So wird <strong>de</strong>r Warenaustausch nicht zu e<strong>in</strong>er Folge <strong>de</strong>r sozial sich verfestigen<strong>de</strong>nArbeitsteilung, wie es <strong>de</strong>m historischen Gang entspricht. Der Tausch <strong>de</strong>r Waren selbst wird als "menschliche Grun<strong>de</strong>igenschaft" gesehen,die offenbar die Arbeitsteilung (wenn auch langsam) <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv hervorbr<strong>in</strong>gt, um <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns frönen zu können. Als "natürlicheNeigung" wird auch beim großen Adam Smith die Warenproduktion und <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l zu e<strong>in</strong>em Naturgesetz und damit zu e<strong>in</strong>em<strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r ewigen göttlichen Ordnung.Jetzt zur Gegenwart: Seit mehr als 20 Jahren lassen neoliberale Propagandisten mit viel Aufwand die TINA Botschaft für ihre Weltwirtschaftsordnungunter die Leute br<strong>in</strong>gen: There Is No Alternative! Aber wenn e<strong>in</strong>e Ordnung als alternativlos dargestellt wird, ist das von<strong>de</strong>n zitierten älteren Auffassungen gar nicht weit entfernt. Man verzichtet auf das göttliche Attribut, aber nicht auf <strong>de</strong>n Anspruch ewigerDauer. Wie<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d es Markt, Privateigentum und unternehmerische Freiheit, die zu alternativlosen, irgendwie ur-menschlichen Qualitätengestempelt wer<strong>de</strong>n.Die For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s SPD-Politikers Müntefer<strong>in</strong>g Anfang 2005, <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluß <strong>de</strong>r Hedgefonds, die er medienwirksam als Heuschrecken bezeichnete,stärker zu kontrollieren, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Hedgefounds-Boß Stanley F<strong>in</strong>k mit <strong>de</strong>n markigen Worten bedacht: "Die Kritik er<strong>in</strong>nertmich e<strong>in</strong> wenig an e<strong>in</strong>en alten König <strong>in</strong> England, <strong>de</strong>r dachte, er könnte Ebbe und Flut verbieten und erwartete, das Meer wür<strong>de</strong> auf ihnhören, weil er König sei. Gegen Naturgesetze kommt man jedoch nicht an." (FAZNet v. 27.5.2005)In diesem S<strong>in</strong>ne hat Anfang Mai 2009 auf <strong>de</strong>m St.-Gallen-Symposium, regelmäßiger Treffpunkt neoliberaler Theoretiker und Praktiker, <strong>de</strong>rChef <strong>de</strong>s <strong>in</strong>ternationalen Konzerns ABB, unter Beifall <strong>de</strong>r Anwesen<strong>de</strong>n auch <strong>de</strong>n Freihan<strong>de</strong>l als "Naturgesetz" bezeichnet (NZZ 9.5.2009).Edmund Burke läßt grüßen! Wehe, man stellt diese beste aller Welten <strong>in</strong> Frage...dann gibt es was mit <strong>de</strong>m Polizeiknüppel, <strong>in</strong> Heiligendammund sonstwo!35


erkennt auch, dass sie we<strong>de</strong>r immer schon bestan<strong>de</strong>n haben noch das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gesellschaftlichenEntwicklung markieren. <strong>Das</strong> schafft e<strong>in</strong>en an<strong>de</strong>ren Blick: Nur dann kann e<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>barharmloser Wertbegriff, <strong>de</strong>n auch M.s Vorgänger schon kannten, geradl<strong>in</strong>ig zum ten<strong>de</strong>nziellenFall <strong>de</strong>r Profitrate führen, jener klassischen Formel, mit <strong>de</strong>r die historischen Grenzen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>systemsauf <strong>de</strong>n <strong>pol</strong>it-ökonomischen Punkt gebracht wer<strong>de</strong>n.Zwischenfrage 22: Ist M.s Politische Ökonomie überhaupt zu wi<strong>de</strong>rlegen? O<strong>de</strong>r ist so "flexibel" angelegt,dass sie am En<strong>de</strong> immer Recht hat? (S.259)Dabei dürfen wir als M.s Erben aber e<strong>in</strong>es nicht vergessen: "Historisch" heißt auch, M.s Theorieselbst historisch zu sehen, se<strong>in</strong>e Erkenntnisse zu prüfen und se<strong>in</strong>e Metho<strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r neufruchtbar zu machen. Ja, "historisch" be<strong>de</strong>utet: Uns selbst, unsere Erkenntnisse und Ansichten,als historisch bed<strong>in</strong>gt, also ke<strong>in</strong>eswegs als zeitlos und als <strong>de</strong>r Weisheit letzten Schluß zu betrachten.Auch für uns müssen wir akzeptieren, dass wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Grenzen unserer Zeit befangen s<strong>in</strong>d.Aber was soll's? Die Grenzen s<strong>in</strong>d vorhan<strong>de</strong>n, aber längst nicht ausgelotet.Was ist <strong>Kapital</strong>? E<strong>in</strong> SelbstversuchLassen wir M. e<strong>in</strong>fach mal l<strong>in</strong>ks liegen. Versuchen wir es selbst. Nehmen wir e<strong>in</strong>eAllerweltsfrage: Was ist <strong>Kapital</strong>? Darauf wer<strong>de</strong>n wohl die meisten Menschen etwas <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Artantworten "<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Menge Geld"! Wer von uns e<strong>in</strong>mal zu e<strong>in</strong>er Menge Geld kommen sollte, vielleichtdurch Erbschaft o<strong>de</strong>r Lottogew<strong>in</strong>n, wür<strong>de</strong> von je<strong>de</strong>m zweiten vermutlich mit <strong>de</strong>n Worten"Jetzt bist du e<strong>in</strong> richtiger <strong>Kapital</strong>ist" beglückwünscht o<strong>de</strong>r benei<strong>de</strong>t. Wären wir das wirklich?Ist je<strong>de</strong>r Drache, <strong>de</strong>r auf e<strong>in</strong>em Haufen Gold und Diamanten se<strong>in</strong>en Drachenschlaf schläft, e<strong>in</strong><strong>Kapital</strong>ist? Wohl kaum. Unsere Erfahrung sagt uns, dass e<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>ist vor allem jemand ist, <strong>de</strong>rnicht nur Geld hat, son<strong>de</strong>rn Geld macht. Wir wer<strong>de</strong>n bei M. dafür später die e<strong>in</strong>fache Formel G-G' f<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Soll sagen: Aus e<strong>in</strong>er Menge Geld (besser: Geldkapital) wird am En<strong>de</strong> noch mehrGeldkapital. Der Zuwachs wird durch <strong>de</strong>n Strich ver<strong>de</strong>utlicht. Aber wie geschieht das? <strong>Das</strong> istgenau e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r oben bereits genannten Kernfragen <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie nach <strong>de</strong>m wachsen<strong>de</strong>nReichtum <strong>de</strong>r Gesellschaft. O<strong>de</strong>r genauer: Nach <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Na bitte,auf die Frage zu kommen ist also nicht so schwierig. Weiter:Der je<strong>de</strong>m bekannte Weg, Geld zu machen, ist <strong>de</strong>r, se<strong>in</strong> Geld zu verleihen. Entwe<strong>de</strong>r an e<strong>in</strong>eBank; dann bekommt man Z<strong>in</strong>sen. O<strong>de</strong>r an e<strong>in</strong>en an<strong>de</strong>ren <strong>Kapital</strong>isten; dann bekommt man etwasvon <strong>de</strong>ssen Gew<strong>in</strong>n ab. Aber woher haben Bank und <strong>Kapital</strong>ist das Geld, mit <strong>de</strong>m sie uns,als ihre freundlichen Geldgeber, reicher machen?Irgendwas stimmt noch nicht. Zwar kann man durch Haareschnei<strong>de</strong>n Geld verdienen. Und mankann vielleicht, wenn man an<strong>de</strong>rer Leute Steuererklärung frisiert, selber wohlhabend wer<strong>de</strong>n.Aber ke<strong>in</strong>e Gesellschaft <strong>de</strong>r Welt kann dadurch leben, dass sich ihre Mitglie<strong>de</strong>r gegenseitig dieHaare schnei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r gegenseitig ihre Steuerklärungen frisieren. Also geht das auch nicht,wenn man sich gegenseitig Geld leiht.Nun gut, wer<strong>de</strong>n jetzt e<strong>in</strong>ige sagen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Realität funktioniert das ja auch an<strong>de</strong>rs: Der e<strong>in</strong>enimmt fürs Haareschnei<strong>de</strong>n 10 Euro, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re 8 Euro. Klar doch, dass <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m teurenHaarschnitt reicher wird als <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re. Mal unterstellt, das wür<strong>de</strong> funktionieren: Dann hättenwir zwar e<strong>in</strong>e Erklärung dafür, dass am En<strong>de</strong> e<strong>in</strong>ige Friseure mehr Geld haben als an<strong>de</strong>re. Aberwie sollten alle zusammen dann von Jahr zu Jahr reicher wer<strong>de</strong>n? Und genau das ist <strong>de</strong>r Fakt,<strong>de</strong>n unsere fleißigen PolitÖkonomen seit <strong>de</strong>m 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt erklären müssen. Unsere Erklä-36


ung aber ist bisher nicht besser als Eschers Treppen. <strong>Das</strong> sieht auf <strong>de</strong>n ersten Blick überzeugendaus. Aber man kommt damit nirgendwo h<strong>in</strong>.Spätestens jetzt wer<strong>de</strong>n wir e<strong>in</strong>ige <strong>de</strong>r Bruchstücke an <strong>pol</strong>itischer Ökonomie reaktivieren, die wirirgendwann schon mal aufgenommen haben. <strong>Kapital</strong>, er<strong>in</strong>nern wir uns, ist ja nicht nur Geld, dasGeld macht. Auch Masch<strong>in</strong>en, Fabriken, Aktienbesitz an Unternehmen s<strong>in</strong>d <strong>Kapital</strong>. Es geht alsonicht nur darum, dass aus Geld mehr Geld wird. Es geht darum, <strong>de</strong>n Schritt dazwischen zu untersuchen.Überspr<strong>in</strong>gen wir die Banken und die Börsen. Wir ahnen bereits, dass es da auch nurvon Friseuren wimmelt, die sich gegenseitig über <strong>de</strong>n Löffel balbieren - vornehm formuliert. 76Versuchen wir es sofort mit <strong>de</strong>r Produktion. <strong>Das</strong> Ergebnis <strong>de</strong>r Produktion s<strong>in</strong>d Produkte. Vielleichtkommt <strong>de</strong>r Zuwachs an Geld dadurch zu stan<strong>de</strong>, dass man am En<strong>de</strong> die Produkte zu höherenPreisen verkauft als man selbst an Geld hat ausgeben müssen, um sie herzustellen?Gute I<strong>de</strong>e. Dann hätten wir e<strong>in</strong>e neue Formel G-P-H-G', wobei P für die Produktion und H für<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l, also <strong>de</strong>n Verkauf <strong>de</strong>r Produkte steht. Denn das ist klar: Ohne <strong>de</strong>n Verkauf <strong>de</strong>r Produkteam En<strong>de</strong> macht <strong>de</strong>r ganze Vorgang ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n. Nur müssen wir uns jetzt entschei<strong>de</strong>n:Wird <strong>de</strong>r Zugew<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion o<strong>de</strong>r im Han<strong>de</strong>l mit diesen Produkten gemacht?Die allgeme<strong>in</strong>e Auffassung tendiert wohl zum Han<strong>de</strong>l. <strong>Das</strong> entspräche auch unserer Wahrnehmung.Der Händler kauft <strong>de</strong>m Produzenten die Produkte zu e<strong>in</strong>em Preis ab, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Produzentene<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n läßt, bei <strong>de</strong>m aber für <strong>de</strong>n Händler durch Endverkauf <strong>de</strong>r Produkte ebenfallsgenügend übrig bleibt. Also entsteht <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>n erst durch <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l, sofern es <strong>de</strong>m Händlergel<strong>in</strong>gt, zu entsprechen<strong>de</strong>n Preisen zu verkaufen. Gel<strong>in</strong>gt es ihm nicht, steht erst "Stark reduziert"auf <strong>de</strong>m Schaufenster und wenig später "Zu vermieten".Nehmen wir an, <strong>de</strong>r geschickte Händler sei für <strong>de</strong>n Zugew<strong>in</strong>n zuständig. Abwegig ist das nicht.Je<strong>de</strong>r ist schon mal bei irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>em Kauf über <strong>de</strong>n Tisch gezogen wor<strong>de</strong>n. Aber das Strich amG' kann so eigentlich nicht entstehen. Gewiß, unsere Unkenntnis verschafft <strong>de</strong>m raff<strong>in</strong>iertenVerkäufer e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Zubrot. Aber mehr nicht. Schließlich müssen alle Käufer gleichzeitig auchVerkäufer se<strong>in</strong>. Woher sollten sie sonst das Geld haben, um als Käufer auftreten zu können?Dann aber kommt auf je<strong>de</strong>n Abzocker e<strong>in</strong>er, <strong>de</strong>r abgezockt wird. In Fürstenberg'scher Re<strong>de</strong>: <strong>E<strong>in</strong>e</strong>rbescheißt <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren. Dabei schnei<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>ige besser ab als an<strong>de</strong>re. Alles zusammen ergibtaber nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Metapher e<strong>in</strong>en großen Haufen. In <strong>de</strong>r ökonomischen Wirklichkeit bleibt es e<strong>in</strong>Nullsummenspiel. Aber wir wissen doch, verflixt, dass alle zusammen reicher wer<strong>de</strong>n. Neuer Versuch:Es gibt e<strong>in</strong>e Menge "Theorien", <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen das "unternehmerische Geschick", die "geniale Erf<strong>in</strong>dungskraft",die "neuartige Verkaufsstrategie", die "wissenschaftlich fundierten Managementmetho<strong>de</strong>n"o<strong>de</strong>r schlicht die beson<strong>de</strong>re Skrupellosigkeit o<strong>de</strong>r glückliche Umstän<strong>de</strong> herangezogenwer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>gew<strong>in</strong>n zu erklären. Und alles das ist natürlich richtig, soweit es darumgeht zu erklären, warum dieses o<strong>de</strong>r jenes Unternehmen erfolgreicher ist als an<strong>de</strong>re. Aberso, wie e<strong>in</strong>e Gesellschaft durch gegenseitiges Haareschnei<strong>de</strong>n nicht lebensfähig wird, erklärensich durch spezielle Fertigkeiten zwar die Unterschie<strong>de</strong> im e<strong>in</strong>zelnen, nicht aber das Wachstum<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s im Ganzen.Spätestens jetzt wen<strong>de</strong>n wir uns <strong>de</strong>m P <strong>in</strong> <strong>de</strong>r selbst geschnitzten Formel G-P-H-G' zu, <strong>de</strong>r Produktion.Dabei fällt uns endlich e<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e Produktion, wie wir sie kennen, vor allem E<strong>in</strong>satz76Dem Bankier Fürstenberg wird e<strong>in</strong>e weniger höfliche Umschreibung nachgesagt. Als <strong>de</strong>r nämlich von e<strong>in</strong>em Besucher se<strong>in</strong>er Bank nach<strong>de</strong>r Toilette gefragt wur<strong>de</strong>, soll er kenntnisreich geantwortet haben: "Wozu Toilette? Hier bescheißt e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren."37


von Masch<strong>in</strong>en be<strong>de</strong>utet. Vielleicht s<strong>in</strong>d es die Masch<strong>in</strong>en, die für <strong>de</strong>n Zuwachs an Geldkapitalsorgen? Schließlich ist das doch auch e<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen kapitalistischenProduktion zu früheren."Glaub ich nicht", wer<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re e<strong>in</strong>werfen, um unserer Debatte e<strong>in</strong> paar theologische Körnerbeizumengen. Und sie weisen richtig darauf h<strong>in</strong>, dass es Geldkapitalisten doch auch schon <strong>in</strong>vor<strong>in</strong>dustrieller Zeit gegeben hat.Nun wird, sofern wir uns als L<strong>in</strong>ke fühlen, die eigentliche Trumpfkarte gezogen. Müssen nichtMasch<strong>in</strong>en, auch die höchstentwickelten, gebaut und <strong>in</strong> Bewegung gesetzt wer<strong>de</strong>n? Bedarf esnicht entsprechen<strong>de</strong>r Arbeitskräfte für all das? Vielleicht liegt hier die Quelle für das <strong>Kapital</strong>wachstum?Dann wür<strong>de</strong>n also die <strong>Kapital</strong>isten ihren Arbeitern weniger bezahlen, als diese eigentlichverdienen müßten. Und aller <strong>Kapital</strong>zuwachs wäre dann gestohlener Arbeitslohn, o<strong>de</strong>rnicht?Schluß-aus-En<strong>de</strong>. Bevor wir durch die Ventilationen unseres gesun<strong>de</strong>n Menschenverstands immertiefer <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Sumpf rutschen und bei <strong>de</strong>n wohl<strong>in</strong>formierten Marxisten Schreikrämpfe auslösen,hören wir lieber auf. Wir wür<strong>de</strong>n ohneh<strong>in</strong> für unsere Bemühungen um <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>begriffke<strong>in</strong>en Lorbeerkranz ernten. Obwohl wir doch e<strong>in</strong>ige hübsche E<strong>in</strong>sichten gewonnen haben.Erste E<strong>in</strong>sicht: Mißtraue <strong>de</strong>m "gesun<strong>de</strong>n Menschenverstand" und halte <strong>de</strong><strong>in</strong>e Alltagserfahrungennicht für <strong>de</strong>n Dreh- und Angelpunkt. Knapp vorbei ist immer noch daneben. Erst h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>mdirekt Sichtbaren liegen die wirklich <strong>in</strong>teressanten D<strong>in</strong>ge. Auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie, wie<strong>in</strong> je<strong>de</strong>r Wissenschaft, kommt es darauf an, das nicht Sichtbare erst e<strong>in</strong>mal aufzu<strong>de</strong>cken, stattsich mit <strong>de</strong>m ersten Ansche<strong>in</strong> zufrie<strong>de</strong>n zu geben. Zweite wichtige E<strong>in</strong>sicht: So e<strong>in</strong>fach ist dieFrage nach <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> nicht. Und auch die Frage nach <strong>de</strong>m Ursprung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>wachstumshat ihre eigenen Fallstricke.Wir merken uns auch, dass die Frage nach <strong>de</strong>m Gew<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten etwas an<strong>de</strong>resist, als die Frage nach <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s Gesamtkapitals <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft. <strong>Das</strong> wirdhäufig verwechselt, weil wir immer bemüht s<strong>in</strong>d, uns die D<strong>in</strong>ge "konkret" vorzustellen unddann auf Beispiele verfallen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong>zelne Unternehmen die Rolle <strong>de</strong>s Ganzen spielen sollen.Aber wir müssen vorsichtig damit se<strong>in</strong>, um nicht auf die falsche Spur zu geraten.Außer<strong>de</strong>m hat uns unser Selbstversuch klar gemacht, warum M. se<strong>in</strong> "<strong>Kapital</strong>" eben nicht mit<strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> beg<strong>in</strong>nt, obwohl man genau das erwarten könnte. Aber niemand kann erklären,was <strong>Kapital</strong> ist, ohne dabei auf e<strong>in</strong>e Menge an<strong>de</strong>rer Begriffe zurückzugreifen. Im Selbstversuchwar bereits von Geld, Produktion, Produkten, Han<strong>de</strong>l, Gew<strong>in</strong>n, Z<strong>in</strong>sen, Wachstum, Arbeitern,Arbeitslohn, Masch<strong>in</strong>en usw. die Re<strong>de</strong>. Auch wenn wir es schlauer angefangen hätten: Wir hättenimmer wie<strong>de</strong>r zur Erklärung <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en Elements <strong>de</strong>r Ökonomie auf viele noch nicht erklärteElemente zurückgreifen müssen. Hätte M. se<strong>in</strong>e Darstellung mit <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> o<strong>de</strong>r gar mit <strong>de</strong>rProduktion begonnen, wäre nicht nur e<strong>in</strong> dröges, son<strong>de</strong>rn auch e<strong>in</strong> verwirren<strong>de</strong>s Werk die Folge,bei <strong>de</strong>m am Anfang trockene Def<strong>in</strong>itionen gestan<strong>de</strong>n hätten, die erst viele Kapitel später erklärtwor<strong>de</strong>n wären.Alles <strong>in</strong> allem geben wir es auf, das "<strong>Kapital</strong>" neu zu schreiben und Karl <strong>de</strong>n Zweiten zu spielen.Wir kehren ernüchtert auf <strong>de</strong>n Weg zurück, <strong>de</strong>n M. e<strong>in</strong>geschlagen hat, als er uns im "<strong>Kapital</strong>"se<strong>in</strong>e Antworten auf die Kernfragen <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus gab.38


Sherlock Marx?M. ist mit <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft im England <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts wohl vertraut. Die 16Londoner Jahre vor <strong>de</strong>r Veröffentlichung <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" waren mit <strong>in</strong>tensiven Studien angefüllt.Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte und statistische Berichte, vor allem über die englische Wirtschaft,nahmen dabei e<strong>in</strong>en breiten Raum e<strong>in</strong>. 77 Über die Komplexität <strong>de</strong>s englischen Wirtschaftssystemszur Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts war sich M. <strong>de</strong>shalb vollständig im klaren. 78Wie wir im Kapitel zur Metho<strong>de</strong> von M. selbst erfahren haben, besteht se<strong>in</strong> Weg zur Erkenntnisnicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>taillierter Beschreibung dieses Systems. Er will se<strong>in</strong>e Grun<strong>de</strong>lemente begrifflich herauslösen,das komplexe System also auf die wesentlichen Elemente zurückführen, um dann Schrittfür Schritt <strong>de</strong>n Zusammenhang und die Wechselbeziehungen zwischen <strong>de</strong>n Elementen zu untersuchen.Er<strong>in</strong>nern wir uns: M. nannte das <strong>de</strong>n (mühsamen) Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten.Die Erklärung e<strong>in</strong>es komplexen Systems aus se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen Elementen führte viele Leser <strong>de</strong>s"<strong>Kapital</strong>" zu <strong>de</strong>r irrigen Annahme, M.s Werk sei e<strong>in</strong>e Art Sherlock-Holmes'scher Deduktion. 79Der Super<strong>de</strong>tektiv konnte bekanntlich aus <strong>de</strong>r Taschenuhr e<strong>in</strong>es Mannes <strong>de</strong>ssen gesamte Biografieableiten. 80 Aber von e<strong>in</strong>em Sherlock Marx kann nur re<strong>de</strong>n, wer die argumentative Darstellung<strong>de</strong>r Forschungsergebnisse im "<strong>Kapital</strong>" mit <strong>de</strong>m Forschungs- und Erkenntnisprozess selbst verwechselt.M. geht im Nachwort zur 2. Ausgabe <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" auf das Mißverständnis e<strong>in</strong>, er präsentiere soetwas wie e<strong>in</strong> <strong>de</strong>duktives Gedankensystem als Kopfgeburt. Er schreibt: "Allerd<strong>in</strong>gs muß sich die77Sogar während <strong>de</strong>r häufiger wer<strong>de</strong>nen Krankheitsphasen versuchte M., die Arbeit fortzusetzen. In se<strong>in</strong>em gewohnt schnoddrigen Tonbeschreibt er se<strong>in</strong>e Arbeitssituation gegenüber se<strong>in</strong>em Freund Kugelmann so: "Während me<strong>in</strong>es Unwohlse<strong>in</strong>s (das jetzt hoffentlich baldganz aufhören wird) habe ich nicht schreiben können (= am 2. Band), aber enorme Massen 'Stoff', statistischen und an<strong>de</strong>ren, heruntergewürgt,<strong>de</strong>r Leuten, die nicht an diese Art Futter und rasche Verdauung <strong>de</strong>sselben gewöhnten Magen besitzen, alle<strong>in</strong> schon hätte sick(= krank) machen können. Me<strong>in</strong>e Verhältnisse s<strong>in</strong>d sehr pe<strong>in</strong>lich, weil ich ke<strong>in</strong>e Geld e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>n Nebenarbeiten machen konnte unddoch stets, <strong>de</strong>r K<strong>in</strong><strong>de</strong>r wegen, e<strong>in</strong>en gewissen Sche<strong>in</strong> aufrechterhalten muß. Wenn ich nicht noch die 2 verdammten Bän<strong>de</strong> zu liefern hätte(außer<strong>de</strong>m englischen Verleger suchte), wofür London alle<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ort, g<strong>in</strong>ge ich nach Genf, wo ich sehr gut mit <strong>de</strong>n mir disponiblen(= verfügbaren) Mitteln leben könnte." (Brief vom 6.3.1868; MEW 32, S.539) Die schwierige Lebenssituation und die angegriffene Gesundheiterzeugen starke Stimmungsschwankungen bei M., verständlich. Der Brief unterstreicht aber auch M.s Auffassung, dass stets dieaktuelle Situation Grundlage <strong>de</strong>r Analyse se<strong>in</strong> muß: Warum sonst die schwerverdauliche Kost aus Statistiken und an<strong>de</strong>rem Stoff? M. hatdas "<strong>Kapital</strong>" nicht als Jahrhun<strong>de</strong>rtwerk, son<strong>de</strong>rn für die aktuellen Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungen geschrieben. Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb hat es weit überse<strong>in</strong> eigenes Jahrhun<strong>de</strong>rt h<strong>in</strong>ausgehen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung.78Daher gehen alle Versuche, M.s Theorie durch die Behauptung zu entwerten, sie gelte "nur für <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>fachen <strong>Kapital</strong>ismus", am Kernvorbei. Schon zu M.s Zeit war <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ismus alles an<strong>de</strong>re als e<strong>in</strong>fach. Und trotz aller Verän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten 150 Jahren bleibt esdoch immer noch, wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, <strong>Kapital</strong>ismus.79Vielleicht wur<strong>de</strong> diese Fehl<strong>de</strong>utung von M.s Metho<strong>de</strong> durch das Gerücht verstärkt, Marx und Holmes seien sich 1881 persönlich begegnet.Je<strong>de</strong>nfalls geht e<strong>in</strong> gewisser Lewis S.Feuer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bericht "The Case of the Revolutionist's Daughter" (Prometheus Books: NewYork 1983) mit diesem Gerücht hausieren.Wir halten das Machwerk aus <strong>de</strong>n USA jedoch für e<strong>in</strong>e Fälschung, offenbar geschaffen, um an<strong>de</strong>ren Veröffentlichungen <strong>de</strong>sselben Autorsüber die La<strong>de</strong>ntheke zu helfen, die sich mit <strong>in</strong>tellektuellen Subkulturen im viktorianischen England und ähnlich obskuren Themen befassen.Im übrigen war Holmes e<strong>in</strong> viel zu ausgeprägter <strong>pol</strong>itischer Ignorant und krim<strong>in</strong>ologischer Fachidiot, um die von Feuer unterstellten Kenntnissezu besitzen. Man <strong>de</strong>nke nur an die Feststellungen Dr.Watsons, <strong>de</strong>r Holmes' Kenntnisse <strong>in</strong> Philosophie als gleich Null und <strong>in</strong> Politik alsnur sehr schwach e<strong>in</strong>stuft (vgl. Watson, J.H.: A Study <strong>in</strong> Scarlet; London 1887).Und falls sich M. und Holmes tatsächlich 1881 begegnet s<strong>in</strong>d, so wäre ja wohl e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>fluß Holmes' auf M. so kurz vor <strong>de</strong>ssen Tod e<strong>in</strong>ealberne Vermutung. Wenn überhaupt, dürfte M.s Metho<strong>de</strong> bei Holmes e<strong>in</strong>iges bewirkt haben. Vielleicht verdient diese Frage mal e<strong>in</strong>egründliche Untersuchung durch die umtriebigen Sherlockianer?80In "<strong>Das</strong> Zeichen <strong>de</strong>r Vier" übergibt Dr.Watson die Uhr se<strong>in</strong>es Bru<strong>de</strong>rs an Holmes mit <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung, daraus auf die Person <strong>de</strong>s Besitzerszu schließen. Holmes erkennt natürlich sofort, dass es sich um die Uhr von Watsons älterem Bru<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt. Und obwohl die Uhr kurzzuvor gere<strong>in</strong>igt wor<strong>de</strong>n war, ent<strong>de</strong>ckt er das bittere Familiengeheimnis: "Er war e<strong>in</strong> lie<strong>de</strong>rlicher Mensch – sehr lie<strong>de</strong>rlich und nachlässig. Erhatte ursprünglich gute Aussichten, aber er vertat se<strong>in</strong> Glück, lebte längere Zeit <strong>in</strong> Armut, kam ab und zu mal für kurze Zeit zu Geld, verfielschließlich <strong>de</strong>r Trunksucht und starb. <strong>Das</strong> ist alles, was ich herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n kann." (Watson, J.H.: The Sign of Four; London 1890) Dr.Watsonist pikiert - aber so ist das nun mal, wenn man Genies um Auskunft bittet.39


Darstellungsweise formell von <strong>de</strong>r Forschungsweise unterschei<strong>de</strong>n." Die Aneignung <strong>de</strong>s Stoffsund se<strong>in</strong>e Analyse gehe <strong>de</strong>r Darstellung voraus. Wenn aber die Analyse gelungen sei und sich <strong>in</strong><strong>de</strong>n dabei gewonnenen Begriffen <strong>de</strong>r Stoff lebendig (wirklich) wie<strong>de</strong>rspiegele, "mag es aussehn,als habe man es mit e<strong>in</strong>er Konstruktion a priori zu tun." 81Was vielen als Sherlock-Marx-Trick ersche<strong>in</strong>t und von manchen sogar bewun<strong>de</strong>rt wird, erweistsich bei näherem H<strong>in</strong>sehen als Resultat e<strong>in</strong>es langwierigen Forschungs- und Erkenntnisprozesses.Was uns das "<strong>Kapital</strong>" bietet, ist nicht Wissen a priori, also aus <strong>de</strong>m re<strong>in</strong>en Denken geschaffen,son<strong>de</strong>rn Ergebnis e<strong>in</strong>es mühseligen Schürfens im historischen Stoff, wozu sowohl die materielleGeschichte <strong>de</strong>r Gesellschaft als auch <strong>de</strong>ren Reflexion <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s ökonomischen Denkensgehört. Und e<strong>in</strong>e Menge Marx'sche Denkarbeit ist es außer<strong>de</strong>m.Noch e<strong>in</strong> Wort zum Stil <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>": Wenn man M.s Darstellung se<strong>in</strong>er Ergebnisse heute liest,könnte man sie bei oberflächlicher Lektüre 82 als Werk e<strong>in</strong>es Mannes ansehen, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Welt<strong>de</strong>r Begriffe zu Hause ist und sich im Kopf e<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>ismusbild zurecht konstruiert. Viele <strong>de</strong>r aktuellenMarx-Kritiken gehen <strong>in</strong> diese Richtung. Lei<strong>de</strong>r haben Eigenarten <strong>de</strong>r Formulierung, M.sgroßer Spaß an Wortspielen und se<strong>in</strong>e kühnen Metaphern auch viele se<strong>in</strong>er ernsthaften Stu<strong>de</strong>ntenauf <strong>de</strong>n Holzweg <strong>de</strong>r re<strong>in</strong>en Begriffs<strong>de</strong>batte geführt. So wur<strong>de</strong> und wird viel Zeit und Mühedarauf verwen<strong>de</strong>t, sich über die e<strong>in</strong>zig korrekte Ableitung <strong>de</strong>r Marx'schen Kategorien zu streiten,statt ihre Ergiebigkeit für die konkrete Analyse zu prüfen. Der "Aufstieg zum Konkreten"wird zwar immer wie<strong>de</strong>r beschwörungshaft zitiert, bleibt aber vor lauter Begriffsdisput auf <strong>de</strong>rStrecke.M. selbst betreibt trotz se<strong>in</strong>er philosophischen Vergangenheit ke<strong>in</strong>eswegs Begriffshuberei ausLei<strong>de</strong>nschaft. Was uns gera<strong>de</strong> im ersten Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" präsentiert wird, ist M.s Versuch, <strong>in</strong><strong>de</strong>r Fülle <strong>de</strong>s von ihm studierten Materials begriffliche Ordnung zu schaffen. Dafür entwickelt erbegriffliche Kategorien, die eben nicht durch re<strong>in</strong> gedankliche Analyse, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Anwendungvon struktureller und historischer Analyse herausgearbeitet wer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Kategorien,mit <strong>de</strong>ren Hilfe er die <strong>in</strong>neren Regeln auf<strong>de</strong>cken will, die <strong>in</strong> allen Gesellschaften wirken, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen,wie M. so nett im ersten Satz <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" schreibt, "kapitalistische Produktionsweiseherrscht".81M. schreibt: "Allerd<strong>in</strong>gs muß sich die Darstellungsweise formell von <strong>de</strong>r Forschungsweise unterschei<strong>de</strong>n. Die Forschung hat <strong>de</strong>n Stoffsich im Detail anzueignen, se<strong>in</strong>e verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und <strong>de</strong>ren <strong>in</strong>nres Band aufzuspüren. Erst nach<strong>de</strong>m dieseArbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt wer<strong>de</strong>n. Gel<strong>in</strong>gt dies und spiegelt sich nun das Leben <strong>de</strong>s Stoffsi<strong>de</strong>ell wi<strong>de</strong>r, so mag es aussehn, als habe man es mit e<strong>in</strong>er Konstruktion a priori zu tun." (MEW Bd. 23, S. 27) M.s Forschungs- und Erkenntnisprozessspiegelt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gesamtwerk. Wer die "Grundrisse zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie" (MEW 42) o<strong>de</strong>r die "Theorienüber <strong>de</strong>n Mehrwert" (MEW 26.1-3) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n umfangreichen Briefwechsel mit Engels über ökonomische Fragen liest, wird Zeuge dieseskomplizierten Vorgangs.82Und diese Art Lektüre soll ja nicht selten se<strong>in</strong>. Wie <strong>de</strong>r Ökonom Galbraith e<strong>in</strong>mal anmerkte, gehört das "<strong>Kapital</strong>" (neben <strong>de</strong>r "Bibel"und <strong>de</strong>m "Wohlstand <strong>de</strong>r Nationen") zu <strong>de</strong>n drei Büchern, auf die sich die Menschen nach Belieben berufen dürfen, ohne sie gelesen zuhaben. Nicht selten f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man unter diesen Eigentlich-nicht-Lesern viele, die M.s brillianten, fast schon genialen Stil bewun<strong>de</strong>rn und gernebereit s<strong>in</strong>d, das "<strong>Kapital</strong>" o<strong>de</strong>r das "Kommunistische Manifest" für e<strong>in</strong> literarisches Meisterwerk zu halten, solange sie es nicht verdauenund sich mit se<strong>in</strong>em Inhalt ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzen müssen.40


Kapitel 4: Ware und WertWir nehmen die bunte Welt <strong>de</strong>r Waren zum Ausgangspunkt und fragen uns, was Warenüberhaupt s<strong>in</strong>d. Wir lernen Gebrauchswert und Tauschwert kennen und wen<strong>de</strong>nuns e<strong>in</strong>er alten Frage zu: Was macht Waren gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r tauschbar?Wir geraten <strong>in</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Feuerwerk neuer Begriffe: Dabei lernen wir <strong>de</strong>n Wert vonallen Seiten kennen, <strong>de</strong>r uns <strong>in</strong> Zukunft e<strong>in</strong> ständiger Begleiter se<strong>in</strong> wird.Werbung nach GewichtWir haben es gemessen: E<strong>in</strong> Haushalt <strong>in</strong> Castrop-Rauxel-Obercastrop, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e örtliche Tageszeitungabonniert hat, erhielt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Woche En<strong>de</strong> Januar 2008 <strong>in</strong>sgesamt 28 meist vielseitige farbigeWerbeprospekte im Gesamtgewicht von 950 Gramm. Kostenlos. Entwe<strong>de</strong>r als Zeitungsbeilageo<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fach so <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Briefkasten gestopft. Nicht e<strong>in</strong>gerechnet zwei Ausgaben <strong>de</strong>s kostenlosenAnzeigenblatts. Nicht e<strong>in</strong>gerechnet die Werbung <strong>de</strong>r Tageszeitung, die weit mehr als dieHälfte ihres Inhalts ausmacht. Dazu Werbung <strong>in</strong> Fernsehen und Radio und Internet. Werbungauf Plakatwän<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> Schaufenstern, auf Häusern und Autos <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Umfang, <strong>de</strong>r das Bild je<strong>de</strong>rStadt bestimmt, ohne dass wir das noch beson<strong>de</strong>rs merken.Zweifellos spielt das Anpreisen und Kaufen von Waren <strong>in</strong> unserem Leben e<strong>in</strong>e fast übermächtigeRolle. Aber was uns da so vielfältig als Kaufangebot präsentiert wird, ist selbst nur das En<strong>de</strong> e<strong>in</strong>erlangen Kette: Bevor uns e<strong>in</strong> Prospekt irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>en Kauf empfehlen kann, ob Mantel o<strong>de</strong>rDVD-Player o<strong>de</strong>r Dauerwurst, hat ja bereits die Produktion stattgefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ebenfalls zahlloseKäufe vorangehen: Rohstoffe, Masch<strong>in</strong>en und E<strong>in</strong>zelteile wer<strong>de</strong>n gekauft. Zu <strong>de</strong>ren Herstellungwur<strong>de</strong>n ebenfalls Rohstoffe, Masch<strong>in</strong>en und E<strong>in</strong>zelteile gekauft. Und zu <strong>de</strong>ren Herstellung… Wirschenken uns die weitere Aufzählung. E<strong>in</strong> verwobenes Netz von vielen Millionen Käufen undVerkäufen, Tag für Tag, mit Millionen verschie<strong>de</strong>ner Waren, die von e<strong>in</strong>er Hand <strong>in</strong> die an<strong>de</strong>regehen. Dazwischen je<strong>de</strong>smal die Kasse, um die Rechnung zu bezahlen.Der sichtbare Konsummarkt mit se<strong>in</strong>em schon nicht überschaubaren Angebot basiert auf e<strong>in</strong>emdirekt nicht sichtbaren Markt für alles, was <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion, was für Han<strong>de</strong>l und Verkehr benötigtwird. Niemand hat bisher gezählt, was da im E<strong>in</strong>zelnen an Waren angeboten wird. Es wäree<strong>in</strong> hoffnungsloser Versuch. Wenn wir uns das alles vor Augen führen, ist M.s erster Satz im"<strong>Kapital</strong>" vielleicht immer noch überraschend, aber merkwürdig o<strong>de</strong>r abson<strong>de</strong>rlich ist er gewißnicht."ungeheure Warensammlung"M. beg<strong>in</strong>nt se<strong>in</strong>e Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie mit <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Ware. Mit <strong>de</strong>m ersten Satzmacht er das klar:"Der Reichtum <strong>de</strong>r Gesellschaften, <strong>in</strong> welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, ersche<strong>in</strong>tals e<strong>in</strong>e 'ungeheure Warensammlung', die e<strong>in</strong>zelne Ware als se<strong>in</strong>e Elementarform. UnsereUntersuchung beg<strong>in</strong>nt daher mit <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Ware." 8383MEW 23, S.49. Die Anführungszeichen zu 'ungeheure Warensammlung' markieren diese Formulierung als Übernahme aus M.s frühererArbeit "Zur Kritik <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie" von 1859, die mit <strong>de</strong>m Satz beg<strong>in</strong>nt: "Auf <strong>de</strong>n ersten Blick ersche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>r bürgerliche Reichtumals e<strong>in</strong>e ungeheure Warensammlung, die e<strong>in</strong>zelne Ware als se<strong>in</strong> elementarisches <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>." (MEW 13, S.15)41


Wir können das Zitat mehrmals lesen. Die Begründung bleibt unbefriedigend. <strong>Das</strong>s uns die Wareals Elementarform <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums präsentiert wird, mag angehen. Zumal M.das ausdrücklich auf Gesellschaften beschränkt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die kapitalistische Produktionsweisenicht nur Produktionsweise unter an<strong>de</strong>ren, son<strong>de</strong>rn herrschen<strong>de</strong> Produktionsweise ist. 84 Abermüssen wir <strong>de</strong>shalb wirklich mit <strong>de</strong>r Ware beg<strong>in</strong>nen? Wir kommen auf diese Frage im nächstenKapitel zurück. Fragen wir uns zunächst, mit welcher Perspektive uns M. <strong>in</strong> das "<strong>Kapital</strong>" e<strong>in</strong>führt.In<strong>de</strong>m er vom "Reichtum <strong>de</strong>r Gesellschaften" ausgeht, verhält er sich traditionell. <strong>Das</strong> ist dasklassische Thema <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie seit Adam Smith und se<strong>in</strong>em epochalen Werk 85 . Mit<strong>de</strong>m Fokus auf <strong>de</strong>r Ware als <strong>de</strong>m Repräsentanten dieses Reichtums, se<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>sten E<strong>in</strong>heit o<strong>de</strong>rElementarform, gew<strong>in</strong>nt M. aber e<strong>in</strong>en neuen Blickw<strong>in</strong>kel.Es ist <strong>de</strong>r Blick <strong>in</strong> das große Schaufenster; die Perspektive e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>de</strong>r durch e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kaufscenter,e<strong>in</strong>e Mall flaniert: R<strong>in</strong>gs um uns breitet sich e<strong>in</strong>e Welt <strong>de</strong>r Waren aus. <strong>Das</strong> gesellschaftlicheLeben sche<strong>in</strong>t sich um das Kaufen und Verkaufen zu drehen. Und diese Perspektivegilt nicht nur für M.s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn auch für uns heute, gilt nicht nur für London undParis, son<strong>de</strong>rn für Castrop-Rauxel-Obercastrop genauso wie für je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Ort, an <strong>de</strong>m kapitalistischeProduktionsweise herrscht. 86Der ganze Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>r ProduktionsweiseEs ist ke<strong>in</strong>eswegs abwegig, M.s Ausgangspunkt als Schaufensterperspektive zu bezeichnen. Auf<strong>de</strong>m Weg von se<strong>in</strong>er Wohnung zum Britischen Museum ist er vermutlich oft genug <strong>de</strong>m ununterbrochenenWarenverkehr <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Morgenstun<strong>de</strong>n begegnet, <strong>de</strong>r die Stadt London täglich versorgte,ist an <strong>de</strong>n prallen Verkaufstän<strong>de</strong>n, Luxuslä<strong>de</strong>n und Stores vorbeigegangen, und mußtedabei wohl mehr als e<strong>in</strong>mal <strong>de</strong>n Schnapsleichen 87 <strong>de</strong>r letzten Nacht ausweichen. Auch so drängtesich ihm die Wirklichkeit zum Gedanken. 8884So nebenbei haben wir damit auch e<strong>in</strong>e erste Bestimmung <strong>de</strong>ssen, was heute allgeme<strong>in</strong> als "<strong>Kapital</strong>ismus" o<strong>de</strong>r "kapitalistische Gesellschaft"bezeichnet wird: Gesellschaft, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen kapitalistische Produktionsweise herrscht. <strong>Das</strong> letzte Wort ist entschei<strong>de</strong>nd. Und M. machtuns klar, von welchem Standpunkt aus se<strong>in</strong>e Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie erfolgt: Vom Standpunkt <strong>de</strong>r entwickelten kapitalistischenProduktionsweise nämlich. Daran sollten wir uns <strong>in</strong> <strong>de</strong>n nächsten Kapiteln immer wie<strong>de</strong>r er<strong>in</strong>nern, die uns sche<strong>in</strong>bar <strong>in</strong> die graue Vorzeite<strong>in</strong>er Warenproduktion führen.Etwas an<strong>de</strong>res halten wir für spätere Verwendung fest: M. macht e<strong>in</strong>en klare Trennung zwischen <strong>de</strong>r Produktionsweise und <strong>de</strong>r Gesellschaft.<strong>Kapital</strong>istische Produktionsweise und Gesellschaft s<strong>in</strong>d nicht dasselbe. Wenn auch die kapitalistische Produktionsweise <strong>in</strong> vielenGesellschaften herrscht, so s<strong>in</strong>d doch die sich darauf entwickeln<strong>de</strong>n Gesellschaften vielgestaltig und durch ihre ganz eigene Geschichtegeprägt, die durchaus wie<strong>de</strong>r auf die Formen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise zurückwirken.85Adam Smith: "An Inquiry <strong>in</strong>to the Nature and Causes of the Wealth of Nations" (<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Untersuchung über die Natur und die Ursachen<strong>de</strong>s Reichtums <strong>de</strong>r Nationen); London 177686Unsere Schaufensterperspektive er<strong>in</strong>nert nicht zufällig an Walter Benjam<strong>in</strong>s "E<strong>in</strong>kaufspassagenperspektive". Der hat M.s E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong>s"<strong>Kapital</strong>" <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em lei<strong>de</strong>r unvollen<strong>de</strong>ten "Passagen-Werk" auf eigene Weise aufgegriffen. <strong>Das</strong> war <strong>de</strong>r großartige Versuch, e<strong>in</strong>e Kulturgeschichte<strong>de</strong>r bürgerlichen Warengesellschaft <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu entfalten, repräsentiert duch die Architektur und sozialen Funktionen<strong>de</strong>r Pariser E<strong>in</strong>kaufspassagen. Walter Benjam<strong>in</strong> (1892-1940)Auch unsere heutigen E<strong>in</strong>kaufspassagen und E<strong>in</strong>kaufszentren verraten <strong>in</strong> ihrer Architektur und Anlage e<strong>in</strong>e Menge, nicht nur über die Kulturunserer Gesellschaft und ihre Prioritäten. Die Aufnahme sakraler Elemente, die Preisgabe <strong>de</strong>s menschlichen Maßes, die Schaustellungdurch Dom-artige Überbauten wie im Berl<strong>in</strong>er Sony-Center... das alles verrät uns e<strong>in</strong>e Menge von <strong>de</strong>r Selbstüberhebung und e<strong>in</strong>gebil<strong>de</strong>tenWichtigkeit <strong>de</strong>r Veranstalter.87Weniger die Religion, als vielmehr <strong>de</strong>r billige G<strong>in</strong> waren im 18. und 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt das beliebteste "Opium" <strong>de</strong>r englischen Arbeiterklasse.Billiger G<strong>in</strong> wur<strong>de</strong> erstmals En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts nach London aus <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n importiert und systematisch zum Getränkfür die Massen entwickelt. Für die 1720er Jahre gibt es Zahlen, nach <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong> Viertel <strong>de</strong>r Haushalte <strong>in</strong> London irgendwie mit <strong>de</strong>rProduktion und <strong>de</strong>m Vertrieb von G<strong>in</strong> zu tun hatten. Ke<strong>in</strong> Wun<strong>de</strong>r, dass mit <strong>de</strong>r Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse <strong>de</strong>rAlkoholismus e<strong>in</strong> profitables soziales Massenphänomen wur<strong>de</strong>.88He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e erlebte diese Welt schon vierzig Jahre vor <strong>de</strong>m Ersche<strong>in</strong>en <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>". Er schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Reisebericht aus London:42


Mit <strong>de</strong>r Schaufensterperspektive nehmen wir nicht nur die Quellen <strong>de</strong>s Reichtums <strong>in</strong>s Visier. Wirzielen auch auf die zweite <strong>de</strong>r zentralen Fragen <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie: Die Frage nach <strong>de</strong>mNebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r von Armut und Reichtum. Wer hätte nicht schon e<strong>in</strong>mal jenes wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>Bild gesehen, auf <strong>de</strong>m e<strong>in</strong> zerlumptes K<strong>in</strong>d mit großen Augen vor <strong>de</strong>n unerreichbaren Schätzene<strong>in</strong>es bunten Schaufensters steht? Ob <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em An<strong>de</strong>rsen-Märchen o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>em Misereor-Bildkalen<strong>de</strong>r: In diesem Bildmotiv ist <strong>de</strong>r ganze Wi<strong>de</strong>rspruch e<strong>in</strong>er Produktionsweise e<strong>in</strong>gefangen,die enormen gesellschaftlichen Reichtum hervorbr<strong>in</strong>gt, <strong>de</strong>n Zugang dazu aber strikt kanalisiert.<strong>Das</strong> Ziel dieser Produktionsweise ist eben nicht Wohlstand für die Gesellschaft, son<strong>de</strong>rn dieVermehrung privaten <strong>Kapital</strong>s. Ohne Moos nix los. 89Zwischenfrage 23: Warum beg<strong>in</strong>nt M. se<strong>in</strong>e Analyse nicht mit <strong>de</strong>n Elementen <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft,die uns geschichtlich als erste begegnen, z.B. mit Han<strong>de</strong>l und Z<strong>in</strong>s? (S.261)Greifen wir die Frage <strong>de</strong>s vorigen Kapitels erneut auf: Ist die Ware <strong>de</strong>r zw<strong>in</strong>gen<strong>de</strong> Ausgangspunktfür M.s Darstellung? Ne<strong>in</strong>, das ist sie nicht. M. hätte, wie Smith <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hauptwerk, mit<strong>de</strong>r Arbeitsteilung beg<strong>in</strong>nen können, o<strong>de</strong>r wie Ricardo mit <strong>de</strong>m Wertbegriff.In<strong>de</strong>m M. die Ware zum Ausgangspunkt nimmt, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t er aber e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>rs vorteilhafte Form<strong>de</strong>r Darstellung. Die Begriffe, die er für die Analyse <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise bereits"Die Armut <strong>in</strong> Gesellschaft <strong>de</strong>s Lasters und <strong>de</strong>s Verbrechens schleicht erst <strong>de</strong>s Abends aus ihren Schlupfw<strong>in</strong>keln. Sie scheut das Tageslichtum so ängstlicher, je grauenhafter ihr Elend kontrastiert mit <strong>de</strong>m Übermute <strong>de</strong>s Reichtums, <strong>de</strong>r überall hervorprunkt; nur <strong>de</strong>r Hunger treibtsie manchmal um Mittagszeit aus <strong>de</strong>m dunkeln Gäßchen, und da steht sie mit stummen, sprechen<strong>de</strong>n Augen und starrt flehend empor zu<strong>de</strong>m reichen Kaufmann, <strong>de</strong>r geschäftig-geldklimpernd vorübereilt, o<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m müßigen Lord, <strong>de</strong>r, wie e<strong>in</strong> satter Gott, auf hohem Roße<strong>in</strong>herreitet und auf das Menschengewühl unter ihm dann und wann e<strong>in</strong>en gleichgültig vornehmen Blick wirft, als wären es w<strong>in</strong>zige Ameiseno<strong>de</strong>r doch nur e<strong>in</strong> Haufen niedriger Geschöpfe, <strong>de</strong>ren Lust und Schmerz mit se<strong>in</strong>en Gefühlen nichts geme<strong>in</strong> hat – <strong>de</strong>nn über <strong>de</strong>m Menschenges<strong>in</strong><strong>de</strong>l,das am Erdbo<strong>de</strong>n festklebt, schwebt Englands Nobility, wie Wesen höherer Art, die das kle<strong>in</strong>e England nur als ihr Absteigequartier,Italien als ihren Sommergarten, Paris als ihren Gesellschaftssaal, ja die ganze Welt als ihr Eigentum betrachten. Ohne Sorgenund ohne Schranken schweben sie dah<strong>in</strong>, und ihr Gold ist e<strong>in</strong> Talisman, <strong>de</strong>r ihre tollsten Wünsche <strong>in</strong> Erfüllung zaubert. Arme Armut! wiepe<strong>in</strong>igend muß <strong>de</strong><strong>in</strong> Hunger se<strong>in</strong>, dort, wo andre im höhnen<strong>de</strong>n Überflusse schwelgen!" (He<strong>in</strong>e: Reisebil<strong>de</strong>r, Vierter <strong>Teil</strong>; 1828)Was für He<strong>in</strong>e die englische Nobility war, ist für unsere Zeit <strong>de</strong>r JetSet, s<strong>in</strong>d die Familien mit ererbtem und erkungeltem Vermögen. <strong>Das</strong>s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong> paar hun<strong>de</strong>rttausend Leute weltweit mit e<strong>in</strong>em freilich großen Kometenschweif von Speichelleckern, selbstverliebten undkünstlich erzeugten Promis, von Kulturschickeria und <strong>pol</strong>itischen Handlangern.Im globalen Zeitalter reicht die W<strong>in</strong>tersaison an <strong>de</strong>r Cote d'Azur nicht mehr. Die bevölkern beständig die First Class <strong>de</strong>r L<strong>in</strong>ienflüge o<strong>de</strong>rhaben e<strong>in</strong>en eigenen Jet o<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d mit eigener Großyacht unterwegs. Die bevölkern die VIP-Lounges <strong>de</strong>r Flughäfen und Superhotels. Diezirkulieren ständig zwischen 5th Avenue, Champs Elysees, zwischen St.Moritz, Monaco, Bermuda und Aspen. Wenn es die mal langweilt,kaufen sie sich e<strong>in</strong>en Fußballvere<strong>in</strong> o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en teuren neuen Begleiter o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Rennstall o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e weitere Insel <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Karibik o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>enGhostwriter für die eigene Biografie.Nur e<strong>in</strong>es unterschei<strong>de</strong>t sie von He<strong>in</strong>es Nobility: Sie s<strong>in</strong>d noch reicher und sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihren mit Geld abgeschotteten Luxuswelten <strong>de</strong>m Anblick<strong>de</strong>r Armut längst nicht mehr ausgesetzt.89Ohne Frage: Auch das materielle Lebensniveau <strong>de</strong>r Gesellschaft im Ganzen ist gestiegen. Zwar außeror<strong>de</strong>ntlich ungleich, aber gestiegen.Auf diesen Umstand weisen uns die Neo- und Ordoliberalen, die Unternehmerverbän<strong>de</strong> und an<strong>de</strong>re Advokaten <strong>de</strong>s Systems immer wie<strong>de</strong>rh<strong>in</strong>. Wir könnten im Gegenzug darauf h<strong>in</strong>weisen, dass <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Kampf um höhere Löhne und soziale Rechte dieselben Advokaten Vorzeichen<strong>de</strong>s Weltuntergangs erkennen. Wir könnten auf die weltweiten sozialen Katastrophen verweisen, die von <strong>de</strong>nselben Advokaten offenbarals Preis dieses "Fortschritts" akzeptiert wer<strong>de</strong>n, natürlich verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r festen Überzeugung, das irgendwann e<strong>in</strong>mal alleMenschen davon Nutzen haben und die Opfer früherer Generationen dann nachträglich irgendwie e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n bekommen.Um sich klar zu machen, dass <strong>de</strong>r gewachsene Lebensstandard <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Metro<strong>pol</strong>en tatsächlich nur e<strong>in</strong> hart umkämpfter Nebeneffekt, ke<strong>in</strong>eswegsdas Hauptanliegen ist, muss man die Reaktion <strong>de</strong>rselben Advokaten beobachten, wenn die Renditen purzeln, wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigenWirtschaftskrise. Da ist man ohne Zau<strong>de</strong>rn bereit, Massenentlassungen, Stillegungen o<strong>de</strong>r Verlagerungen ohne Abwägung <strong>de</strong>rsozialen Folgen zu beschließen. Da wer<strong>de</strong>n die Sozialausgaben <strong>de</strong>r Zukunft für die aktuelle Rettung von Banken und Gläubigern ausgegeben.Da wer<strong>de</strong>n arme Län<strong>de</strong>r ohne Zögern <strong>de</strong>s wenigen <strong>Kapital</strong>s wie<strong>de</strong>r beraubt, das man mit verme<strong>in</strong>tlicher Großzügigkeit gegen or<strong>de</strong>ntlicheRendite zuvor bereitgestellt hatte. In kürzester Zeit wur<strong>de</strong>n Millionen Menschen, die zuvor wenigstens beschei<strong>de</strong>ne Löhne erhielten,während <strong>de</strong>r Krise wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong>s Elend gestürzt. <strong>Das</strong> Ziel, bis 2015 die Zahl <strong>de</strong>r Personen, die täglich weniger als 1,25 $ zur Verfügung haben,zu halbieren, ist gefähr<strong>de</strong>t. Wegen <strong>de</strong>r Krise ist man um Jahre zurückgeworfen. Der Internationale Währungsfond rechnet mit e<strong>in</strong>igenJahren, die es dauern wird, um nur <strong>de</strong>n alten Zustand wie<strong>de</strong>r herzustellen. Wenn man überhaupt soviel Zeit hat bis zur nächsten Krise.Im Falle e<strong>in</strong>es Falles geht allemal Rendite vor Gesellschaft. Denn <strong>de</strong>r S<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s Ganzen ist die Rendite für Eigentümer und Investoren: GesellschaftlichenWohlstand gibt es nur dann und soweit, wie er mit <strong>de</strong>n Renditefor<strong>de</strong>rungen vere<strong>in</strong>bar ist. O<strong>de</strong>r soweit, wie dieser Wohlstan<strong>de</strong>rkämpft wird.43


entwickelt hat, lassen sich mit diesem Ausgangspunkt <strong>de</strong>r Reihe nach vorstellen, ohne je<strong>de</strong>smalvorgreifen zu müssen. Wir er<strong>in</strong>nern uns an unseren wenig rühmlichen Selbstversuch, als wirdurch eigene Bemühungen klären wollten, was <strong>Kapital</strong> ist. Wir hüpften dabei von e<strong>in</strong>em Begriffzum nächsten, und statt zu erklären, häuften wir immer neuen Erklärungsbedarf an. Was ke<strong>in</strong>Wun<strong>de</strong>r war. Denn wir haben ja unseren Erklärungsversuch selbst beschrieben, <strong>de</strong>n krummenWeg unserer spärlichen Erkenntnisse.M. geht an<strong>de</strong>rs vor. Er hat se<strong>in</strong> "<strong>Kapital</strong>" nicht als Forschungstagebuch konzipiert, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m erse<strong>in</strong>en Erkenntnisweg mit allen Sackgassen und Wendungen beschreibt. Es ist Darstellung <strong>de</strong>rErgebnisse, Darstellung <strong>de</strong>r Marx'schen Lösung alter Probleme. Insofern ist es gar nicht überraschend,wenn wir erfahren, dass <strong>de</strong>r <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" tatsächlich <strong>de</strong>r zuletzt geschriebeneist. 90 Denn um zu dieser raff<strong>in</strong>ierten Form <strong>de</strong>r Darstellung zu gelangen, muß selbstverständlich<strong>de</strong>r gesamte Stoff und die vollständige Lösung <strong>de</strong>r Probleme vorher h<strong>in</strong>reichend bekannt se<strong>in</strong>.Dennoch ist <strong>de</strong>r Startpunkt "Ware" ke<strong>in</strong> bloßer didaktischer Kniff. Abgesehen von <strong>de</strong>n großenVorteilen für die Darstellung <strong>de</strong>s Stoffs liegt auch M.s Ausgangspunkt "Ware" durchaus nochauf <strong>de</strong>r Traditionsl<strong>in</strong>ie. Wir wer<strong>de</strong>n sehen, dass gera<strong>de</strong> dar<strong>in</strong> die klassischen Ausgangspunktevere<strong>in</strong>igt wer<strong>de</strong>n: E<strong>in</strong>mal die Arbeitsteilung, die Smith an <strong>de</strong>n Anfang se<strong>in</strong>es Werks setzt, zuman<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Wert, mit <strong>de</strong>m Ricardo se<strong>in</strong> Hauptwerk eröffnet. 91Mit diesem Startpunkt stehen wir auf <strong>de</strong>r untersten Stufe unseres Aufstiegs vom Abstraktenzum Konkreten. Aber auch hier bewahrt M. die Verb<strong>in</strong>dung von struktureller und historischerAnalyse. Denn je<strong>de</strong> Ware, die sich uns zum Kauf anbietet, ruft uns viele Fragen zu:Wodurch wird e<strong>in</strong> Produkt zu e<strong>in</strong>er Ware? Was ist das beson<strong>de</strong>re am Warenreichtum? Dazu gehört:Wodurch wird e<strong>in</strong>e Gesellschaft zu e<strong>in</strong>er warenproduzieren<strong>de</strong>n Gesellschaft? Welches s<strong>in</strong>ddie historischen Voraussetzungen <strong>de</strong>r Warenproduktion? 92Und wir hören die alte Frage, mit <strong>de</strong>r sich schon M.s Vorgänger herumschlugen: Warum s<strong>in</strong>dWaren überhaupt gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r tauschbar? Was ist allen Waren geme<strong>in</strong>sam und was unterschei<strong>de</strong>tsie? Und wenn die Waren als "Elementarform" <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums ersche<strong>in</strong>en:Wo entspr<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r wirkliche Reichtum und wie verteilt er sich auf die bürgerliche Gesellschaft?Was ist Warenproduktion?Waren s<strong>in</strong>d Produkte, die gekauft wer<strong>de</strong>n. "Kauf" ist nichts an<strong>de</strong>res als e<strong>in</strong>e entwickelte Form90In e<strong>in</strong>em Brief an Siegmund Schott vom 3.1<strong>1.</strong>1877 schreibt M. dazu: "In <strong>de</strong>r Tat begann ich '<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>' privatim genau <strong>in</strong> <strong>de</strong>r umgekehrtenReihenfolge (beg<strong>in</strong>nend mit <strong>de</strong>m 3ten historischen <strong>Teil</strong>), wor<strong>in</strong> es <strong>de</strong>m Publikum vorgelegt wird, nur mit <strong>de</strong>r Beschränkung, dass<strong>de</strong>r erste, zuletzt <strong>in</strong> Angriff genommene Band gleich für <strong>de</strong>n Druck zurechtgemacht wur<strong>de</strong>, während die bei<strong>de</strong>n andren <strong>in</strong> <strong>de</strong>r rohen Formblieben, welche alle Forschung orig<strong>in</strong>aliter besitzt." (MEW 34, S.307) Mit <strong>de</strong>m "historischen <strong>Teil</strong>" ist hier speziell <strong>de</strong>r spätere 4. Band <strong>de</strong>s"<strong>Kapital</strong>" geme<strong>in</strong>t, die "Theorien über <strong>de</strong>n Mehrwert", <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sich M. mit se<strong>in</strong>en Vorgängern und <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Politischen Ökonomiebis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Gegenwart ausführlich ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzt. <strong>Das</strong> gilt aber auch Allgeme<strong>in</strong>: Der Analyse im <strong>Kapital</strong>, mag sie noch so logischund abstrakt daherkommen, liegt immer die wirkliche historische Entwicklung <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft zugrun<strong>de</strong>. Und wäre das nicht<strong>de</strong>r Fall, wäre das Werk nichts wert.91Adam Smith: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Untersuchung über Natur und Ursachen <strong>de</strong>s Reichtums <strong>de</strong>r Nationen (An Inquiry <strong>in</strong>to the Nature and Causes of theWealth of Nations), 1776; David Ricardo: Grundsätze <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie und <strong>de</strong>r Besteuerung (Pr<strong>in</strong>ciples of Political Economy andTaxation), 1817.92Man muß immer wie<strong>de</strong>r daran er<strong>in</strong>nern, dass M. mit <strong>de</strong>m Ausgangspunkt "Ware" und "Warenproduktion" nicht nur e<strong>in</strong>en strukturellen,son<strong>de</strong>rn vor allem e<strong>in</strong>en historischen Ausgangspunkt gefun<strong>de</strong>n hat. Nur <strong>de</strong>shalb kann er auf die bei an<strong>de</strong>ren ökonomischen Autorenso beliebten märchenhaften, sche<strong>in</strong>bar außerhalb von Raum und Zeit spielen<strong>de</strong>n Rob<strong>in</strong>son-Crusoe-Geschichten und Jäger-Fischer-Anekdotenverzichten. Nicht zu vergessen: Mit <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>n Voraussetzungen <strong>de</strong>r Warenproduktion ist implizit schon die Frage nach ihremEn<strong>de</strong> enthalten.44


<strong>de</strong>s Tausches. Es macht ke<strong>in</strong>en grundsätzlichen Unterschied, ob Kartoffeln gegen Schwe<strong>in</strong>efleischo<strong>de</strong>r gegen Geld getauscht wer<strong>de</strong>n. In je<strong>de</strong>m Fall s<strong>in</strong>d Waren solche Produkte, die für<strong>de</strong>n Austausch gegen an<strong>de</strong>re Waren produziert wer<strong>de</strong>n, ob dieser Austausch direkt alsNaturaltausch o<strong>de</strong>r gegen Geld erfolgt. Die Frage nach <strong>de</strong>n historischen Voraussetzungen <strong>de</strong>rWarenproduktion läßt sich daher leicht beantworten:Zwischenfrage 24: Ist die "e<strong>in</strong>fache Warenproduktion" von <strong>de</strong>r M.s Analyse <strong>de</strong>r Ware auszugehensche<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Abstraktion o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e historische Perio<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r was? (S.261)Erste Voraussetzung ist die Herausbildung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung. Solange je<strong>de</strong>r Produzent (obStamm o<strong>de</strong>r Familie o<strong>de</strong>r Hofgeme<strong>in</strong>schaft) alles selbst herstellt, was zum Leben benötigt wird,f<strong>in</strong><strong>de</strong>t Austausch höchstens ausnahmsweise statt. 93Es gehört ebenfalls zu <strong>de</strong>n Voraussetzungen, dass sich die Produzenten (ob Familien, Bauernhöfe,Handwerker etc.) als selbständige Produzenten gegenüberstehen, die Privateigentum an <strong>de</strong>nhergestellten Produkten haben. 94Zwischenfrage 25: Gibt es Arbeitsteilung ohne Warenproduktion? Und wenn ja: Wo? (S.262)Privateigentum setzt gesellschaftlich akzeptierte und h<strong>in</strong>reichend gesicherte Eigentumsverhältnissevoraus. Wie sonst sollte garantiert wer<strong>de</strong>n, dass sich die privaten Produzenten e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r alsprivate Eigentümer akzeptieren, statt sich gewaltsam zu holen, was sie benötigen? 95Regelmäßiger Austausch verlangt nach h<strong>in</strong>reichend organisiertem Austausch, <strong>de</strong>n wir Marktnennen und <strong>de</strong>r sich je nach Bevölkerungsdichte und Siedlungsstruktur sowohl als ursprünglicherMarkt, <strong>de</strong>m Treffpunkt <strong>de</strong>r Produzenten und Käufer, o<strong>de</strong>r im vermitteln<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l verwirklicht,<strong>de</strong>r selbst Glied <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird.Für die unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen hergestellten Produkte können wir zwei unabd<strong>in</strong>gbare Merkmaleje<strong>de</strong>r Ware ableiten: Produkte müssen als Waren frem<strong>de</strong> Bedürfnisse befriedigen. Sie müssensich daher auf <strong>de</strong>m Markt durch Verkauf bewähren. Da Waren gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r tauschbar93"In <strong>de</strong>r Gesamtheit <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nartigen Gebrauchswerte o<strong>de</strong>r Warenkörper ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Gesamtheit ebenso mannigfaltiger, nachGattung, Art, Familie, Unterart, Varietät verschiedner nützlicher Arbeiten – e<strong>in</strong>e gesellschaftliche <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit. Sie ist Existenzbed<strong>in</strong>gung<strong>de</strong>r Warenproduktion, obgleich Warenproduktion nicht umgekehrt die Existenzbed<strong>in</strong>gung gesellschaftlicher Arbeitsteilung." (MEW23, S.56)94"Nur Produkte selbständiger und vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängiger Privatarbeiten treten e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als Waren gegenüber." (MEW 23, S.57)Deswegen reicht es nicht aus "für an<strong>de</strong>re" zu produzieren. E<strong>in</strong> Produkt wird erst zur Ware, wenn es für <strong>de</strong>n Austausch gegen an<strong>de</strong>re Wareno<strong>de</strong>r Geld produziert wird.95M. formuliert diese Abhängigkeit <strong>de</strong>r Warenproduktion von akzeptierten Eigentumsverhältnissen so: "Die Waren können nicht selbst zuMarkte gehn und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehn, <strong>de</strong>n Warenbesitzern. Die Waren s<strong>in</strong>dD<strong>in</strong>ge und daher wi<strong>de</strong>rstandslos gegen <strong>de</strong>n Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, <strong>in</strong> andren Worten, sie nehmen.Um diese D<strong>in</strong>ge als Waren aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als Personen verhalten, <strong>de</strong>ren Willen <strong>in</strong> jenenD<strong>in</strong>gen haust, so daß <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e nur mit <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>s andren, also je<strong>de</strong>r nur vermittelst e<strong>in</strong>es, bei<strong>de</strong>n geme<strong>in</strong>samen Willensakts sich diefrem<strong>de</strong> Ware aneignet, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis,<strong>de</strong>ssen Form <strong>de</strong>r Vertrag ist, ob nun legal entwickelt o<strong>de</strong>r nicht, ist e<strong>in</strong> Willensverhältnis, wor<strong>in</strong> sich das ökonomische Verhältniswi<strong>de</strong>rspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- o<strong>de</strong>r Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben." (MEW 23, S.99)Geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d hier nicht die Rechtsverhältnisse <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Überbaus, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen sich die gedankliche und soziale Verarbeitungdieser Beziehungen <strong>in</strong> Institutionen manifestieren. <strong>Das</strong> "ökonomische Verhältnis" tritt nicht als Bürgerliches Gesetzbuch fertig <strong>in</strong> die Welt,son<strong>de</strong>rn ist <strong>in</strong>neres Element <strong>de</strong>r Warenproduktion selbst, lange bevor geschriebene Gesetze und Gerichte sich dieser Fragen annehmen.Warenproduktion kann nur als soziales und privateigentümliches Verhältnis existieren. Es gibt ke<strong>in</strong>e Ware und ke<strong>in</strong>en Austausch ohnedieses Verhältnis <strong>de</strong>r privaten Produzenten als Wareneigentümer zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Deshalb läuft historisch die Herausbildung <strong>de</strong>r Warenproduktion<strong>de</strong>r Herausbildung von Klassen und Staat als <strong>de</strong>m obersten Hüter <strong>de</strong>r Eigentumsverhältnisse parallel. Die staatliche Sicherung <strong>de</strong>r Eigentumsverhältnissesorgt dafür, dass <strong>de</strong>r Tausch auch Tausch bleibt und <strong>de</strong>r Raub so selten als möglich an se<strong>in</strong>e Stelle tritt.45


s<strong>in</strong>d, muß irgen<strong>de</strong>twas da se<strong>in</strong>, das unabhängig von <strong>de</strong>r physischen Beschaffenheit <strong>de</strong>r jeweiligenWare ihren Austausch <strong>in</strong> bestimmten Quantitäten regelt. 96Gebrauchswert und TauschwertSpätestens jetzt sollten wir herausstellen, was bislang unausgesprochene Grundlage von allemist: Die menschliche Arbeit. Denn das ist mit Produktion geme<strong>in</strong>t: Anwendung menschlicher Arbeitunter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen. Alle Waren s<strong>in</strong>d das Produkt menschlicher Arbeit unter <strong>de</strong>nBed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Arbeitsteilung, ausgeführt von privaten, vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängigen Produzenten.Die Arbeit leistet unter diesen Voraussetzungen zweierlei:Zwischenfrage 26: Welche Rolle spielt <strong>de</strong>r Gebrauchswert im Austauschprozess? Hängt "Gebrauchswert"eher mit Bedarf o<strong>de</strong>r mit Bedürfnis zusammen? (S.262)Sie br<strong>in</strong>gt das konkrete Produkt mit konkreten Eigenschaften hervor. M. nennt das <strong>de</strong>n Gebrauchswert<strong>de</strong>r Ware, ohne <strong>de</strong>n sie für nieman<strong>de</strong>n nützlich und damit für <strong>de</strong>n Tausch ungeeignetwäre. Nur mit Gebrauchswert für an<strong>de</strong>re können sich die Waren auf <strong>de</strong>m Markt durchTausch bewähren.Aber gleichzeitig stellt die Arbeit auch das quantitative Verhältnis <strong>de</strong>s Tausches, <strong>de</strong>n Tauschwerther. <strong>Das</strong> ist bereits Grundannahme aller objektiven Werttheorien vor M., an die er anknüpt: Der<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Waren enthaltene Anteil an gesellschaftlicher Arbeit bil<strong>de</strong>t die Wertgröße, über die <strong>de</strong>rAustausch geregelt wird, <strong>de</strong>r ja nicht nur Austausch von Gebrauchswerten ist, son<strong>de</strong>rn von Gebrauchswerten<strong>in</strong> bestimmter Quantität, die e<strong>in</strong> bestimmtes Maß an geleisteter Arbeit verkörpern.Darüber wird genauer zu re<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>.Die Hervorbr<strong>in</strong>gung von Gebrauchswert und Tauschwert nennt M. <strong>de</strong>n Doppelcharakter <strong>de</strong>r warenproduzieren<strong>de</strong>nArbeit: Um die zwei Seiten zu unterschei<strong>de</strong>n, spricht er von "konkreter Arbeit",die für das Produkt mit se<strong>in</strong>en vielfältigen materiellen Gebrauchseigenschaften verantwortlichist, die er im Begriff Gebrauchswert zusammenfaßt. Unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Warenproduktionwird die konkrete Arbeit immer als private Arbeit geleistet, obwohl sie gleichzeitigauch gesellschaftliche Arbeit für frem<strong>de</strong> Bedürfnisse ist, die sich im erfolgreichen Tausch bewährenmuß.Nur unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Warenproduktion übernimmt die Arbeit e<strong>in</strong>e weitere Aufgabe,<strong>in</strong><strong>de</strong>m sie als Maß <strong>de</strong>s Werts fungiert und für die Austauschbarkeit <strong>de</strong>r Waren, für <strong>de</strong>n Tauschwertsorgt. M. bezeichnet die warenproduzieren<strong>de</strong> Arbeit <strong>in</strong> dieser Perspektive als abstrakte Arbeit,als <strong>Teil</strong> jener gesellschaftlichen Gesamtarbeit, die von <strong>de</strong>n unabhängigen Produzenten,mehr o<strong>de</strong>r weniger unbewußt und planlos, <strong>in</strong>sgesamt geleistet wer<strong>de</strong>n muß, um die gesellschaftlichenBedürfnisse wechselseitig zu befriedigen. Um diesen Zusammenhang auszudrücken,verwen<strong>de</strong>t M. für die abstrakte Arbeit auch <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit.96Zu sagen, dieser geme<strong>in</strong>same Maßstab sei das Geld, ist erstens historisch unkorrekt. Warenaustausch gab es schon, als es Geld nochnicht gegegeben hat. Und es gibt Warenaustausch dort, wo das Geld zeitweilig verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t, etwa im Schwarzhan<strong>de</strong>l nach <strong>de</strong>m 2. Weltkrieg,wo für kurze Zeit wie<strong>de</strong>r Naturaltausch herrschte und auch Zigaretten o<strong>de</strong>r Nylonstrümpfe nur unvollkommener Gel<strong>de</strong>rsatz waren.Wir wer<strong>de</strong>n aber auch ohne Schwarzhan<strong>de</strong>l sehen, wie sich das Geld erst aus <strong>de</strong>m Warenaustausch heraus entwickelt. Zweitens löst <strong>de</strong>rRückgriff auf das Geld nicht unser Problem. Denn dann bleibt immer noch ungeklärt, worauf sich <strong>de</strong>r allen Waren geme<strong>in</strong>same Geldmaßstabgrün<strong>de</strong>t.46


Wert als Regulator <strong>de</strong>r WarenproduktionWas die gesellschaftliche Akzeptanz e<strong>in</strong>es Produkts als marktgängige Ware im erfolgreichenAustausch sichert, was als kont<strong>in</strong>uierlicher Austauschprozess aus <strong>de</strong>r Vielzahl <strong>de</strong>r isolierten Privatproduzentenüberhaupt e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Produktion mit wechselseitiger Bedürfnisbefriedigungmacht: Genau das nennt M. <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Ware. Als Wert bezeichnet M. (wir kennendas schon) ke<strong>in</strong>e ökonomische Sache, son<strong>de</strong>rn Verhältnisse, Beziehungen zwischen Menschen.In diesem Fall fasst M. im Wertbegriff die Spezifik <strong>de</strong>r Warenproduktion zusammen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r durch<strong>de</strong>n Austausch <strong>de</strong>r Waren die private Zersplitterung <strong>de</strong>r Produzenten aufgehoben und <strong>de</strong>r gesellschaftlicheZusammenhang <strong>de</strong>r privaten Produktionen immer wie<strong>de</strong>r hergestellt wer<strong>de</strong>n muß.Wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, ist es <strong>de</strong>r Wert, <strong>de</strong>r auf die Produktion <strong>de</strong>r privaten Produzenten immerwie<strong>de</strong>r regulierend e<strong>in</strong>wirkt und dafür sorgt, dass sich die vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r isolierten Produktionenimmer wie<strong>de</strong>r neu auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse ausrichten.Der Wert ist <strong>de</strong>r <strong>in</strong>nere Regulator für <strong>de</strong>n massenweisen gesellschaftlichen Austausch aller Warene<strong>in</strong>er arbeitsteiligen Gesellschaft. Und er regelt, über <strong>de</strong>n Erfolg o<strong>de</strong>r Mißerfolg <strong>de</strong>s Warentauschs,auch die Verteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit auf die Herstellung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nenWaren."Der Wert als objektiver Regulator <strong>de</strong>r Warenproduktion!" 97 <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt<strong>de</strong>r Sache, <strong>de</strong>r uns später als Wertgesetz und als zentraler und strittiger Punkt <strong>de</strong>r Marx'schenPolitischen Ökonomie noch erheblich beschäftigen wird.Wert mal drei?Freilich begegnen wir im "<strong>Kapital</strong>" nicht nur <strong>de</strong>m Wertbegriff. Neben Gebrauchswert undTauschwert begegnen uns mit Wertsubstanz, Wertgröße und Wertform um <strong>de</strong>n Wertbegriffherum weitere Begriffe. Damit folgt M. e<strong>in</strong>er Neigung, mit <strong>de</strong>r er se<strong>in</strong>e Leser nicht immer glücklichmacht. <strong>Das</strong> ist die Neigung zur begrifflichen Son<strong>de</strong>rung <strong>in</strong>nerer Bestimmtheiten <strong>de</strong>s übergeordnetenWertbegriffs. Klar?Formulieren wir es gemäßigter: Mit weiteren Begriffen beleuchtet M. die verschie<strong>de</strong>nen Seiten<strong>de</strong>s Wertbegriffs. Man kann das als M.s dialektische F<strong>in</strong>essen genießen o<strong>de</strong>r (wie viele Marx-Leser) gera<strong>de</strong>zu übelnehmen. 98 Man kann aber nicht leugnen, dass es sich allemal lohnt, se<strong>in</strong>enÜberlegungen gegenüber aufmerksam zu se<strong>in</strong>. Sehen wir uns an, worum es geht.Mit Gebrauchswert und Tauschwert wer<strong>de</strong>n die "Lebensbed<strong>in</strong>gungen" für je<strong>de</strong> Ware benannt:Sie muß für e<strong>in</strong>en an<strong>de</strong>ren Warenproduzenten nützlich se<strong>in</strong> und sie muß etwas aufweisen, was97Wir haben im vorigen Kapitel bereits von <strong>de</strong>r objektiven Werttheorie gesprochen. Mit diesem Zusatz wollen wir ke<strong>in</strong>eswegs das Wertgesetz<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art Naturgesetz verwan<strong>de</strong>ln. <strong>Das</strong> wäre das allerletzte. "Objektiv" besagt: <strong>Das</strong> Wertgesetz wirkt unabhängig vom menschlichenDafürhalten, ob wir daran glauben o<strong>de</strong>r nicht. <strong>Das</strong>s es kurioserweise durch das Han<strong>de</strong>ln all <strong>de</strong>r Menschen realisiert wird, die se<strong>in</strong>eExistenz weit von sich weisen wür<strong>de</strong>n, gehört nicht nur zu <strong>de</strong>n Ironien gesellschaftlicher Verhältnisse, son<strong>de</strong>rn stellt auch <strong>de</strong>n objektivenCharakter dieses Gesetzes nicht <strong>in</strong> Frage.Im Grund ist das e<strong>in</strong>e alte Kiste, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong> verwurzeltes Mißverstehen zugrun<strong>de</strong> liegt. Nehmen wir als Beispiel die gera<strong>de</strong> von strikten Gegnerne<strong>in</strong>es objektiven Wertgesetzes immer wie<strong>de</strong>r gern zitierte Metapher von <strong>de</strong>r unsichtbaren Hand <strong>de</strong>s Marktes. Mit dieser Formulierung,die allen Neoliberalen so gut gefällt, obwohl ihnen offenbar die Po<strong>in</strong>te entgangen ist, fokussiert Adam Smith selbst die subjektivobjektivBeziehung ökonomischer Gesetze: Auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite die Vielzahl <strong>de</strong>r subjektiven Handlungen <strong>de</strong>r Marktteilnehmer, die sich ihrerHandlungen sehr wohl bewusst s<strong>in</strong>d, und ganz eigene Intentionen damit verfolgen. Aber gera<strong>de</strong> die Vielzahl dieser subjektiven Handlungenobjektivieren sich auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite zu <strong>de</strong>n Bewegungsgesetzen <strong>de</strong>s Marktes, eben zu se<strong>in</strong>er unsichtbaren Hand. Doch halt, wirs<strong>in</strong>d hier etwas vorausgeeilt; später mehr davon.98Es ist auch nicht zu leugnen, dass M. <strong>in</strong> formaler H<strong>in</strong>sicht durchaus mal nachlässig ist. Auch im "<strong>Kapital</strong>" ist etwa die Verwendung <strong>de</strong>sBegriffs Tauschwert im Verhältnis zu Wertgröße nicht immer stabil. In je<strong>de</strong>m Fall ist aber klar, was geme<strong>in</strong>t ist und warum die jeweiligebegriffliche Son<strong>de</strong>rung vollzogen wird.47


sie tauschbar macht. Mit Wertsubstanz präzisiert M. diesen Aspekt <strong>de</strong>r Tauschbarkeit. Er unterstellt,dass es die <strong>in</strong> allen Waren enthaltene abstrakte Arbeit ist, die sie mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r tauschbarmacht. Denn was auch immer zur Erstellung e<strong>in</strong>er Ware an konkreter Arbeit geleistet wur<strong>de</strong>, esist Arbeit, die sich mit <strong>de</strong>m Verkauf <strong>de</strong>r Ware als <strong>Teil</strong> jener gesellschaftlichen Gesamtarbeit erweisenmuß, die von allen Produzenten, getrennt und ohne Wissen vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nnoch geme<strong>in</strong>samerbracht wird.Die Wertsubstanz ist natürlich ke<strong>in</strong> beson<strong>de</strong>res physisches Merkmal <strong>de</strong>r Ware. Es ist <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>rWare als Privatarbeit stecken<strong>de</strong> Anteil an <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Gesamtarbeit, <strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>nTausch von an<strong>de</strong>ren als solcher bestätigt wird. Es ist, als wür<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m erfolgreichen Verkaufje<strong>de</strong>r Ware e<strong>in</strong> unsichtbarer Stempel aufgedrückt, <strong>de</strong>r etwa lautet: "Als nützliches Produkt und<strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit anerkannt!"<strong>Das</strong> kl<strong>in</strong>gt wi<strong>de</strong>rsprüchlich? Dann ist es gut, <strong>de</strong>nn dieser Wi<strong>de</strong>rspruch zeichnet je<strong>de</strong> Warenproduktionaus. Die Wertsubstanz wird als private Arbeit <strong>de</strong>r Ware mitgegeben, sozusagen auf Verdacht.Ob aber die privat geleistete Arbeit als e<strong>in</strong> bestimmter Anteil an <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitakzeptiert wird, erweist sich erst dann, wenn die Ware e<strong>in</strong>en Käufer f<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Wenn nicht, istalles h<strong>in</strong>fällig: Ke<strong>in</strong> Käufer, ke<strong>in</strong>e Ware, ke<strong>in</strong>e Wertsubstanz. 99Mit Wertgröße hebt M. die quantitative Seite <strong>de</strong>s Tausches hervor. Denn es ist ja nicht bloß so,dass sich alle Waren irgendwie gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r tauschen lassen. Es wer<strong>de</strong>n immer bestimmteQuantitäten <strong>de</strong>r Waren gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r getauscht. Viele Marx-Interpreten haben sich damit abgemüht,diesen quantitativen Maßstab zu bestimmen, <strong>de</strong>r die Wertgröße und im Austausch <strong>de</strong>rWaren <strong>de</strong>n Tauschwert bestimmt. Es wur<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong>zu physiologische Quantentheorien entwickelt,energetische Mo<strong>de</strong>lle, die die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ware stecken<strong>de</strong> abstrakte Arbeit messen sollten -und das natürlich nicht konnten. Für M. ist aber die physiologische Seite <strong>de</strong>r Arbeit als Verausgabungvon Nerven- und Muskelkraft lediglich die allgeme<strong>in</strong>e Voraussetzung je<strong>de</strong>r Arbeit undwe<strong>de</strong>r Gegenstand noch sonstwie e<strong>in</strong> Thema <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie. 100Für ihn ist die Wertgröße die Seite <strong>de</strong>s Werts, die nicht nur die Tauschbarkeit <strong>de</strong>r Waren an sich,son<strong>de</strong>rn die Tauschbarkeit <strong>in</strong> jenen Quantitäten reguliert, die sich aus <strong>de</strong>m Anteil <strong>de</strong>r Waren an<strong>de</strong>r gesellschaftichen Gesamtarbeit ergeben. Die Bestimmung dieser Quantitäten ist aber diewichtigste Funktion <strong>de</strong>s ständigen Austauschprozesses selbst. <strong>Das</strong> ist nicht etwa Aufgabe staatlicho<strong>de</strong>r sonstwie bestallter Arbeitsquantenmesser. Wertgröße steht für <strong>de</strong>n kont<strong>in</strong>uierlichenAustauschprozess von Quantitäten gesellschaftlicher Arbeit und <strong>de</strong>ssen fortlaufen<strong>de</strong> Regulation.Deshalb verwen<strong>de</strong>t M. an vielen Stellen Wert und Wertgröße wie austauschbare Begriffe.Bleibt <strong>de</strong>r Begriff "Wertform": Damit betrachtet M. <strong>de</strong>n Wert vom Standpunkt <strong>de</strong>r Produktionsverhältnisseund ihrem Entwicklungsstand. Besser gesagt: Wir betrachten mit M. <strong>de</strong>n Wert als99Solche Formulierungen können manche schwer verdauen. "Was <strong>de</strong>nn nun", rufen sie, "Ware o<strong>de</strong>r nicht Ware? Die Sache kann dochnicht plötzlich ganz an<strong>de</strong>rs wer<strong>de</strong>n, nur weil das D<strong>in</strong>g unverkäuflich war." Doch, sie kann. Wer jemals als Verkäufer tätig war, kennt <strong>de</strong>nUnterschied. Wer jemals <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Unternehmen arbeitete, das plötzlich auf se<strong>in</strong>en Waren sitzenblieb, weiß natürlich, dass die Produktedieselben blieben. Nur fan<strong>de</strong>n sie ke<strong>in</strong>e zahlen<strong>de</strong> Nachfrage mehr und wur<strong>de</strong>n, wenngleich als Waren, also für <strong>de</strong>n Austausch produziert,niemals zu Waren. Die geleistete Arbeit (sprich: Wertsubstanz) ist zum Teufel, das Unternehmen pleite.100Allerd<strong>in</strong>gs hat M. durch e<strong>in</strong>ige Formulierungen im "<strong>Kapital</strong>" diesen physiologischen Interpretationen e<strong>in</strong>en Ansatzpunkt gegeben. Soschreibt er: "Alle Arbeit ist e<strong>in</strong>erseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im physiologischen S<strong>in</strong>n, und <strong>in</strong> dieser Eigenschaft gleichermenschlicher o<strong>de</strong>r abstrakt menschlicher Arbeit bil<strong>de</strong>t sie <strong>de</strong>n Warenwert. Alle Arbeit ist andrerseits Verausgabung menschlicher Arbeitskraft<strong>in</strong> besondrer zweckbestimmter Form, und <strong>in</strong> dieser Eigenschaft konkreter nützlicher Arbeit produziert sie Gebrauchswerte." (MEW23, S.61) Aus <strong>de</strong>m ersten Satz zu schließen, <strong>de</strong>r Wert sei messbare Anhäufung von Lebenskraft und daraus ergebe sich das Tauschverhältnis,ist abwegig. <strong>Das</strong> Tauschverhältnis ergibt sich immer wie<strong>de</strong>r neu, wie wir schon gesehen haben, durch das ständige vergleichen<strong>de</strong>Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Akteure als Produzenten, Konsumenten, Kreditgeber, Aktienspekulanten, Investoren usw.usf. <strong>Das</strong> gesamte Ensemble <strong>de</strong>s kapitalistischenWirtschaftstheaters ist daran beteiligt.48


mitbestimmen<strong>de</strong>s Element <strong>de</strong>r Produktionsverhältnisse. Ke<strong>in</strong>e Frage, dass <strong>de</strong>r Warentausch e<strong>in</strong>ermittelalterlichen Feudalwirtschaft nicht mit <strong>de</strong>m frühbürgerlichen o<strong>de</strong>r gar heutigen Warenaustauschgleichgesetzt wer<strong>de</strong>n kann. Zwar haben alle Warenproduktionen geme<strong>in</strong>same Merkmale,die wir oben zusammengefaßt haben. Ohne diese Geme<strong>in</strong>samkeiten könnten wir ke<strong>in</strong>e "e<strong>in</strong>facheWarenproduktion" abstrahieren und daraus Begriffe ableiten, die uns die Analyse <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise erschließen sollen.Aber neben <strong>de</strong>n Geme<strong>in</strong>samkeiten gibt es wichtige Unterschie<strong>de</strong>, die uns sehr viel mehr als dieGeme<strong>in</strong>samkeiten <strong>in</strong>teressieren. Die verständigen Abstraktionen s<strong>in</strong>d schließlich nur <strong>de</strong>r Ausgangspunkt.Denn wir wissen, dass zu unterschiedlichen Zeiten bei unterschiedlichem Stand <strong>de</strong>rEntwicklung auch die Warenproduktion e<strong>in</strong>e wechseln<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung für die Gesellschaften hatte.Art und Umfang <strong>de</strong>r Arbeitsteilung waren unterschiedlich. Diese Unterschie<strong>de</strong> wirken auf dieHerausbildung <strong>de</strong>s Werts. Sie verän<strong>de</strong>rn die Art und Weise, wie <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>n Zusammenhang<strong>de</strong>r Warenproduktion reguliert. Sie verleihen <strong>de</strong>m Wertgesetz unterschiedliche Kraft und Reichweiteund br<strong>in</strong>gen jeweils eigene Regulierungen hervor, über die sich das Wertgesetz Geltungverschafft. All diese Unterschie<strong>de</strong> sollen über <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Wertform erfaßt wer<strong>de</strong>n. Die Entwicklung<strong>de</strong>r Wertform ist die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, nämlich die historische Perspektive, und sie wirduns noch ausgiebig beschäftigen.Der Ansche<strong>in</strong> i<strong>de</strong>alistischer ManierErst mal anhalten! Schon auf <strong>de</strong>n ersten zwölf Seiten <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" bietet M. uns e<strong>in</strong>e Mengean Begriffen, die sich alle um die Ware drehen. S<strong>in</strong>d die Begriffe verläßlich? Wir beg<strong>in</strong>nen mit<strong>de</strong>r Ware als angeblicher Elementarform <strong>de</strong>s Reichtums, erfahren dann etwas über Gebrauchswertund Tauschwert und <strong>de</strong>n Doppelcharakter <strong>de</strong>r Arbeit. Bekommen Wertsubstanz, Wertgrößeund Wertform serviert. <strong>Das</strong> geht fix… S<strong>in</strong>d wir am En<strong>de</strong> doch bei Sherlock Marx, <strong>de</strong>r unszwar nicht aus <strong>de</strong>r Taschenuhr e<strong>in</strong>es Mannes <strong>de</strong>ssen Lebensgeschichte, dafür aber aus <strong>de</strong>m Warenbegriffdie kapitalistische Produktionsweise <strong>de</strong>duziert? O<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d wir, noch Ärger, bei purerBegriffsspielerei gelan<strong>de</strong>t?Der Verdacht ist nicht abwegig. In <strong>de</strong>n "Grundrissen <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie" von1857, wichtiger <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r umfangreichen Forschungsprotokolle, die <strong>de</strong>m "<strong>Kapital</strong>" vorausgehen,sieht M. selbst diese Gefahr sehr <strong>de</strong>utlich, und zwar genau dort, wo er sich über die BegriffeWare, Tauschwert und Geld und ihre Zusammenhänge klar zu wer<strong>de</strong>n versucht. Er schreibtselbstkritisch: "Es wird später nötig se<strong>in</strong>…, die i<strong>de</strong>alistische Manier <strong>de</strong>r Darstellung zu korrigieren,die <strong>de</strong>n Sche<strong>in</strong> hervorbr<strong>in</strong>gt, als handle es sich nur um Begriffsbestimmungen und die Dialektikdieser Begriffe." 101In<strong>de</strong>m wir ausführlicher als M. die Frage nach <strong>de</strong>n historischen Grundlagen <strong>de</strong>r Warenproduktionvoranstellten, wollten wir <strong>de</strong>m Ansche<strong>in</strong> "i<strong>de</strong>alistischer Manier" ebenfalls vorbeugen. Wirwollten <strong>de</strong>utlich machen, dass auf <strong>de</strong>n ersten zwölf Seiten <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" wie auch auf allen folgen<strong>de</strong>nnicht über Begriffe spekuliert, son<strong>de</strong>rn historischer Stoff abstrahiert wird. Auch M.s ei-101MEW 42, S.85f. Die zitierte Selbstermahnung ist von M. <strong>in</strong> Klammern gesetzt wor<strong>de</strong>n: Solche geklammerten Textstellen und E<strong>in</strong>schübes<strong>in</strong>d <strong>in</strong> M.s Manuskripten zahlreich und stellten so etwas wie M.s persönliche "to-do"-Liste dar. Der Selbstermahnung geht übrigens unmittelbardieser Abschnitt voraus: "Wir sehn also, wie es <strong>de</strong>m Geld immanent ist, se<strong>in</strong>e Zwecke zu erfüllen, <strong>in</strong><strong>de</strong>m es sie zugleich negiert;sich zu verselbständigen gegen die Waren; aus e<strong>in</strong>ern Mittel zum Zweck zu wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>n Tauschwert <strong>de</strong>r Waren zu realisieren, <strong>in</strong><strong>de</strong>m essie von ihm lostrennt; <strong>de</strong>n Austausch zu erleichtern, <strong>in</strong><strong>de</strong>m es ihn spaltet; die Schwierigkeiten <strong>de</strong>s unmittelbaren Warenaustauschs zuüberw<strong>in</strong><strong>de</strong>n, <strong>in</strong><strong>de</strong>m es sie verallgeme<strong>in</strong>ert; <strong>in</strong> <strong>de</strong>mselben Grad, wie die Produzenten vom Austausch abhängig wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Austausch gegendie Produzenten zu verselbständigen." Vor allem sehen wir an diesem Abschnitt, wie berechtigt M.s Selbstermahnung ist.49


gene Bemühungen, das Mißverständnis von <strong>de</strong>r "i<strong>de</strong>alistischen Manier" zu vermei<strong>de</strong>n, bestehtgenau dar<strong>in</strong>: Rückgriff auf <strong>de</strong>n historischen Stoff, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die Argumentation wurzelt. Je weiterwir mit M. vorangehen, <strong>de</strong>sto stärker wird diese <strong>in</strong>nere Verb<strong>in</strong>dung mit <strong>de</strong>m historischen Stoff,<strong>de</strong>m alle Analysen entspr<strong>in</strong>gen.Wenn uns die bisherigen Überlegungen zur Ware als sehr abstrakt ersche<strong>in</strong>en, dann nur <strong>de</strong>shalb,weil sie abstrakt s<strong>in</strong>d. Wir entfernen ja an <strong>de</strong>r Produktion, die <strong>de</strong>n Waren zugrun<strong>de</strong> liegt,zunächst alles, was uns auf dieser Stufe die Grundbeziehungen ver<strong>de</strong>ckt. Es <strong>in</strong>teressiert unsnicht, was da produziert wird und von wem, ob die Produktion von Bauern o<strong>de</strong>r Handwerkern,mit o<strong>de</strong>r ohne Lohnarbeit geleistet wird, ob Naturaltausch o<strong>de</strong>r Geldtausch, direkter Tauscho<strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l vorliegt. All das lassen wir <strong>in</strong> Gedanken erst e<strong>in</strong>mal fort. 102Diese gedanklich erzeugte Warenproduktion firmiert <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Debatte als "e<strong>in</strong>fache Warenproduktion".Es hat immer mal wie<strong>de</strong>r Streit darüber gegeben, ob diese e<strong>in</strong>fache Warenproduktion e<strong>in</strong>enwirklichen historischen Entwicklungsabschnitt markiert o<strong>de</strong>r voll und ganz das Ergebnis gedanklicherBemühungen ist. Zweifellos hat die unentwickelte, also noch weitgehend ohne Geldund mit e<strong>in</strong>fachem Austausch funktionieren<strong>de</strong> Warenproduktion <strong>de</strong>utliche Ähnlichkeit mit unseremGedankenmo<strong>de</strong>ll. Aber wo immer wir zur Stützung <strong>de</strong>r Argumentation auf <strong>de</strong>n historischenStoff zurückgreifen, verlassen wir das Mo<strong>de</strong>ll. Dieser Wechsel fällt nicht schwer, weil das Mo<strong>de</strong>llselbstverständlich nichts enthält, was nicht auch <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r warenproduzieren<strong>de</strong>n Gesellschaft <strong>in</strong>dieser o<strong>de</strong>r jener Form existiert. Um es schon mal zu sagen: <strong>Das</strong> Absehen von <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Warenproduktion(wir er<strong>in</strong>nern uns: Wertform!) ist <strong>in</strong> dieser Phase s<strong>in</strong>nvoll, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r wir unsere Werkzeugefür die Analyse schärfen und ordnen. Später wird uns vor allem diese Form mehr undmehr beschäftigen.Die e<strong>in</strong>fache Warenproduktion ist unsere verständige Abstraktion, e<strong>in</strong>e Zwischenetappe <strong>de</strong>rAnalyse. Wir wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Analyseschritten, ausgehend von dieser Elementarform,weitere Bestimmungen h<strong>in</strong>zunehmen, damit aus <strong>de</strong>r abstrakten Warenproduktion am En<strong>de</strong>wie<strong>de</strong>r die kapitalistische Produktionsweise wird, von <strong>de</strong>r wir ja eigentlich ausg<strong>in</strong>gen. Ob sichdann unser Weg als wirklich produktiv erweist und Erkenntnisse vermittelt, die wir auf an<strong>de</strong>reWeise nicht gewonnen hätten, wer<strong>de</strong>n wir erst später entschei<strong>de</strong>n können.Warum nicht Trew?Der Wert ist ke<strong>in</strong>e stoffliche Eigenschaft <strong>de</strong>r Waren, nichts, was man wiegen o<strong>de</strong>r abkratzenkönnte, ke<strong>in</strong> angeklebtes Etikett o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichen. "Man mag daher e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Ware drehenund wen<strong>de</strong>n, wie man will, sie bleibt unfaßbar als Wertd<strong>in</strong>g. Er<strong>in</strong>nern wir uns jedoch, daß dieWaren nur Wertgegenständlichkeit besitzen, sofern sie Ausdrücke <strong>de</strong>rselben gesellschaftlichenE<strong>in</strong>heit, menschlicher Arbeit, s<strong>in</strong>d, daß ihre Wertgegenständlichkeit also re<strong>in</strong> gesellschaftlich ist,102<strong>Das</strong> Abstraktionsverfahren, mit <strong>de</strong>m M. se<strong>in</strong>e Ergebnisse präsentiert, hat viel Kritik hervorgerufen. Merkwürdigerweise war diese Kritikbisweilen gera<strong>de</strong>zu vernichtend, obwohl e<strong>in</strong>e vergleichbare Kritik gegenüber <strong>de</strong>n nun wirklich s<strong>in</strong>nlosen Jäger-Fischer-Anekdoten und Inselwitzen<strong>de</strong>r bürgerlichen "National"-Ökonomie offenbar wegen <strong>in</strong>nerer Übere<strong>in</strong>stimmung wegfiel. Sei's drum. M.s Verfahren <strong>de</strong>r Abstraktionist wissenschaftlich nicht nur legitim; es ist unverzichtbar. Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> for<strong>de</strong>rt zur Erklärung <strong>de</strong>r Relativitätstheorie se<strong>in</strong>e Leserauf, sich zwei Züge vorzustellen, die mit Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit ane<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r vorbeifahren, während <strong>de</strong>r Leser auf <strong>de</strong>m Bahnsteig auf und abgehen soll. Warum sollte mich dann e<strong>in</strong>e auf ihre elementaren Merkmale zurückgeführte Warenproduktion erschrecken? Auch M.s Abstraktionist <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne nichts an<strong>de</strong>res als e<strong>in</strong> vernünftiges Gedankenexperiment Marke Albert. Wie an<strong>de</strong>rs sollte man über sehr komplexeZusammenhänge überhaupt nach<strong>de</strong>nken, die man schließlich nicht experimentell o<strong>de</strong>r im Mo<strong>de</strong>ll testen kann? Da geht es Albert sowie Karl.50


so versteht sich auch von selbst, daß sie nur im gesellschaftlichen Verhältnis von Ware zu Wareersche<strong>in</strong>en kann." 103Wert ist unfaßbar, buchstäblich. Wert ist nicht sichtbar. Wert tritt erst im Austausch zutage.Wert ist <strong>de</strong>r Begriff, <strong>de</strong>n M. von se<strong>in</strong>en Vorgängern erbt, <strong>de</strong>n er aber präzise verwen<strong>de</strong>t, um dasgesellschaftliche Verhältnis zu bezeichnen, das die Warenproduktion bestimmt. Es ist das Verhältnisunabhängiger Privatproduzenten, die Waren für <strong>de</strong>n Austausch produzieren, und dadurchvone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abhängig wer<strong>de</strong>n. 104Deshalb ist für die selbständigen Privatproduzenten <strong>de</strong>r Tausch zwar e<strong>in</strong>e alltägliche Angelegenheit,aber e<strong>in</strong>e von allergrößter Be<strong>de</strong>utung. Warenproduzenten leben vom erfolgreichen Tausch.Als Käufer und Verkäufer s<strong>in</strong>d sie aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r angewiesen. Fällt e<strong>in</strong>e Gruppe <strong>de</strong>r Produzentenaus (aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer) 105 s<strong>in</strong>d womöglich auch die an<strong>de</strong>ren gefähr<strong>de</strong>t, weil ihnen<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rpart für <strong>de</strong>n Tausch fehlt. Mit Entwicklung <strong>de</strong>r Warenproduktion entwickelt siche<strong>in</strong> System gegenseitiger Abhängigkeiten. Ob sich die Akteure dieser Abhängigkeiten bewußts<strong>in</strong>d o<strong>de</strong>r nicht: Sie existieren unabhäng vom Bewußtse<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Akteure, eben objektiv. All das istim Begriff Wert enthalten.Wenn wir mit <strong>de</strong>m Wertbegriff arbeiten, müssen wir uns unbed<strong>in</strong>gt von allen alltagssprachlichenBe<strong>de</strong>utungen, die dar<strong>in</strong> mitschw<strong>in</strong>gen, distanzieren. 106 Es ist jetzt <strong>in</strong> M.s Verwendung e<strong>in</strong> Begriffmit fester Be<strong>de</strong>utung. E<strong>in</strong> Instrument für unsere weiteren Analysen. M. hätte statt Wert auchTrew sagen können, nur hätte das recht grotesk gewirkt und das Verständnis für M.s Kritik anse<strong>in</strong>en Vorgängern, die bereits e<strong>in</strong>en Wertbegriff verwen<strong>de</strong>ten, noch mehr erschwert.Unsichtbarer Wert… Wertmystik?Bekanntlich s<strong>in</strong>d Verhältnisse nicht zu sehen. Und erstaunlicherweise bereitet vielen Menschen,wenn es um Gesellschaft geht, e<strong>in</strong> Begriff, <strong>de</strong>r das nicht Sichtbare erfassen will, große Be<strong>de</strong>nken.Viele Kritiker reiten auf diesem Punkt herum. "Geheimnisvoller Wert" rufen sie und sprechensogar von "Wertmystik". Was solls? M. war sich im klaren darüber, dass die "Unfassbarkeit<strong>de</strong>r Ware als Wertd<strong>in</strong>g" (wie er es selbst formulierte) schwer zu schlucken se<strong>in</strong> wür<strong>de</strong>. Fürdie e<strong>in</strong>en, weil sie die Konsequenzen schon ahnen. Für die an<strong>de</strong>ren, weil es offenbar schwerfällt,so sche<strong>in</strong>bar konkrete D<strong>in</strong>ge, wie es Waren doch s<strong>in</strong>d, mit unsichtbaren Eigenschaften auszustatten.An<strong>de</strong>rerseits macht es uns nichts aus, alltäglich mit <strong>de</strong>m Unsichtbaren lässig umzugehen: Wirre<strong>de</strong>n über elektrischen Strom, Liebe o<strong>de</strong>r Hauseigentum wie über ganz selbstverständliche D<strong>in</strong>ge.Aber sehen kann man nur die leuchten<strong>de</strong> Glühbirne, <strong>de</strong>n schüchtern-roten Kopf und das103MEW 23, S.62104An dieser Stelle gehen wir nicht darauf e<strong>in</strong>, dass die Produzenten <strong>de</strong>rselben Waren zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r auch <strong>in</strong> Konkurrenz stehen. Diese Seite<strong>de</strong>r Produktionsverhältnisse führt M. erst später <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Überlegungen e<strong>in</strong>. <strong>Das</strong> hat zwei Grün<strong>de</strong>: Zum e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d wir noch ganz mit <strong>de</strong>rAnalyse <strong>de</strong>r Tauschbeziehungen beschäftigt, die durch die Konkurrenz zwar komplizierter, aber nicht grundsätzlich an<strong>de</strong>rs wer<strong>de</strong>n. Zuman<strong>de</strong>rn spielt diese Konkurrenz, sofern wir uns gedanklich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r vorkapitalistischen Warenproduktion bewegen, auch historisch längereZeit e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle und wur<strong>de</strong> sogar aktiv e<strong>in</strong>geschränkt, z.B. über die Zunftorganisationen <strong>de</strong>r Handwerker o<strong>de</strong>r die Kaufmannsgil<strong>de</strong>n,wenngleich sie niemals vollständig ausgeschaltet wer<strong>de</strong>n konnte.105Denken wir an Mißernten, die das Volumen <strong>de</strong>r tauschbaren Agrarprodukte e<strong>in</strong>grenzen. Denken wir an Kriege: Der Zusammenbruchvon Han<strong>de</strong>lswegen reduziert <strong>de</strong>n Zustrom von tauschbaren Waren o<strong>de</strong>r von Rohstoffen, die zur Produktion solcher Waren benötigt wer<strong>de</strong>n.106Wir müssen spätestens jetzt beg<strong>in</strong>nen, "<strong>pol</strong>it-ökonomisch" zu <strong>de</strong>nken. <strong>Das</strong> ist ke<strong>in</strong> Trick, um <strong>in</strong> dialektische Fallen zu locken. <strong>Das</strong> iste<strong>in</strong>e Grundvoraussetzung <strong>in</strong> allen Wissenschaften. Je<strong>de</strong>m Physiker ist zum Beispiel klar, dass sich Arbeit o<strong>de</strong>r Leistung als physikalischeBegriffe von <strong>de</strong>r alltäglichen Be<strong>de</strong>utung unterschei<strong>de</strong>n und ke<strong>in</strong>esfalls vermischt wer<strong>de</strong>n dürfen. Zu schweigen davon, dass viele Begriffewie Arbeit und Leistung <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Wissenschaften zusätzlich <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>ner Be<strong>de</strong>utung verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.51


ewohnte Haus. Wir wissen nur aus Erfahrung o<strong>de</strong>r durch erworbenes Wissen, dass dort elektrischerStrom fließt und hier zärtliche Gefühle wirken. Aber Elektrizität o<strong>de</strong>r Gefühle sehen wirgenausowenig, wie wir durch Betrachtung <strong>de</strong>s Hauses o<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>er Bewohner schon wissen,wem es gehört.Nun wird man e<strong>in</strong>wen<strong>de</strong>n, dass schließlich je<strong>de</strong>r Bastler mit e<strong>in</strong>em Voltmeter <strong>de</strong>n Strom messenkann. Und je<strong>de</strong>r hat hoffentlich schon aus eigener Erfahrung das Gefühl gespürt, verliebt zuse<strong>in</strong>. Und das Hauseigentum: Muß man dafür etwa ke<strong>in</strong>e Grundbesitzabgaben leisten? Gibt eske<strong>in</strong>e Grundbücher, die man sich ansehen kann? Na bitte.Gutes Argument. Aber folgen<strong>de</strong>s gilt auch: Um zwischen <strong>de</strong>r Glühbirne und <strong>de</strong>m elektrischenStrom, zwischen rotem Kopf und Verliebtse<strong>in</strong>, zwischen Grundbuch und Hauseigentum e<strong>in</strong>enZusammenhang zu sehen, bedarf es <strong>de</strong>r Kenntnisse und Erfahrungen o<strong>de</strong>r eigener Forschung.Und darum geht es ja. E<strong>in</strong> großer <strong>Teil</strong> aller wissenschaftlichen Bemühungen besteht dar<strong>in</strong>, dasnicht Sichtbare im doppelten S<strong>in</strong>ne erkennbar zu machen, ob es sich um die Gravitation o<strong>de</strong>r<strong>de</strong>n menschlichen Genco<strong>de</strong> han<strong>de</strong>lt. Und was wir <strong>de</strong>r naturwissenschaftlichen Forschung zugestehen,sollte auch für die Analyse <strong>de</strong>r Gesellschaft akzeptiert wer<strong>de</strong>n.Warum soll bei <strong>de</strong>r Behandlung gesellschaftlicher Fragen immer alles sofort sichtbar und greifbarund daher auch sofort e<strong>in</strong>sichtig se<strong>in</strong>? Weil wir selbst täglich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft leben? Weil wirglauben, als Mitglie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>er Gesellschaft automatisch auch e<strong>in</strong> Experte für Gesellschaftsfragenzu se<strong>in</strong> und Bescheid zu wissen? Gibt nicht auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft mehr H<strong>in</strong>tergründiges, mehrVer<strong>de</strong>cktes als das, was wir unmittelbar sehen? Darauf darf man wetten.Machen wir <strong>de</strong>n Test mit <strong>de</strong>m Thema Nummer E<strong>in</strong>s. Wer sich mal "Romeo und Julia" o<strong>de</strong>r "Kabaleund Liebe" gegönnt (o<strong>de</strong>r angetan) hat, weiß von <strong>de</strong>n tragischen Folgen <strong>in</strong>dividueller Zuneigung.Den zunächst glückstrahlen<strong>de</strong>n, später aber toten Liebespaaren sieht man die gesellschaftlichenVerhältnisse, die ihnen Gewalt antun, nicht an. Glücklicherweise bleiben <strong>de</strong>n meistenvon uns tragische Erfahrungen dieser Art erspart. Aber auch heute spielt sich ke<strong>in</strong>e Liebesgeschichtefrei von <strong>de</strong>n unsichtbaren ökonomischen, sozialen und kulturellen Zwängen ab, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nenwir leben.Also ist Liebe viel mehr als die Zuneigung zweier Menschen. Sie ist immer auch gesellschaftlichesVerhältnis. Je<strong>de</strong>r Familienrichter o<strong>de</strong>r Anwalt für Familienrecht könnte uns dafür reichlichen Forschungsstoffliefern. Was e<strong>in</strong> durchschnittlich begabter Psychologe zur Analyse e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigenTrennungsgeschichte bemüht, um die H<strong>in</strong>tergrün<strong>de</strong> wenigstens anzu<strong>de</strong>uten (soziokulturelle Unterschie<strong>de</strong>,divergente Persönlichkeitsbil<strong>de</strong>r, psychosoziale Stressoren pipapo), läßt M.s Bemühungenum <strong>de</strong>n Wertbegriff als gera<strong>de</strong>zu spartanisch ersche<strong>in</strong>en.So lan<strong>de</strong>n wir wie<strong>de</strong>r beim Wertbegriff. Mit <strong>de</strong>r zunächst abstrakten (von allen Details absehen<strong>de</strong>n)begrifflichen Konstruktion soll das nicht Sichtbare h<strong>in</strong>ter je<strong>de</strong>r Ware begriffen wer<strong>de</strong>n: Sieist e<strong>in</strong> Produkt <strong>de</strong>r Arbeitsteilung, von e<strong>in</strong>em privaten Produzenten für <strong>de</strong>n Tausch hergestellt,damit die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ware stecken<strong>de</strong> Arbeit als Wert zurückfließt. Und erst mit <strong>de</strong>m Verkauf und<strong>de</strong>m damit verbun<strong>de</strong>nen Rückfluß <strong>de</strong>s Werts <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>ren werthaltigen Ware (dieheute Geld heißt) ist das Lebensziel <strong>de</strong>r Ware erfüllt. Sehen kann man das alles nicht, trotz <strong>de</strong>sWertbegriffs. Man kann es damit nur gedanklich erfassen.Wertgröße und TauschwertObwohl untrennbar mit je<strong>de</strong>r Ware verbun<strong>de</strong>n, ist <strong>de</strong>r Wert nichts, was man mit e<strong>in</strong>er Waagewiegen o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Zollstock messen könnte. Und trotz<strong>de</strong>m ist <strong>de</strong>r Wert als Tauschwert immer52


auch e<strong>in</strong>e quantitative Wertgröße, ohne die ke<strong>in</strong> Tauschvorgang funktionieren wür<strong>de</strong>. Auf dasMessen wird also nicht verzichtet. Nur: Wo und wie f<strong>in</strong><strong>de</strong>t es statt? Wie wird die Wertgröße bestimmt?Der zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong> Gedanke ist e<strong>in</strong>fach: Wenn <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e Produzent e<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong> mästet,schlachtet und daraus Sch<strong>in</strong>ken herstellt, ist das je<strong>de</strong> Menge an konkreter Arbeit. <strong>Das</strong>selbe giltfür <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Gerste anbaut und daraus Bier braut. 107 Wenn <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e Bier zum Sch<strong>in</strong>ken und <strong>de</strong>ran<strong>de</strong>re Sch<strong>in</strong>ken zum Bier genießen möchte, müssen sie sich e<strong>in</strong>igen. Mag die Lust auf Sch<strong>in</strong>kenbei <strong>de</strong>m Brauer auch groß se<strong>in</strong>: Er hat Bier nicht im Überfluß. Und er weiß genau, wieviel Arbeit<strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Krug Bier und wieviel Arbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sch<strong>in</strong>ken steckt. Aber auch <strong>de</strong>r Mäster hat nichtszu verschenken und ist über das Bierbrauen h<strong>in</strong>reichend <strong>in</strong>formiert.Obwohl die Arbeiten <strong>de</strong>s Sch<strong>in</strong>kenmachers und die <strong>de</strong>s Bierbrauers grundverschie<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, habenbei<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e Vorstellung von <strong>de</strong>r dafür zu leisten<strong>de</strong>n Arbeit. Und aus <strong>de</strong>r für e<strong>in</strong> Produktdurchschnittlich notwendigen Menge an Arbeit ergibt sich das Tauschverhältnis.Aber was ist das für e<strong>in</strong>e Arbeit? Die konkrete private Arbeit <strong>de</strong>r Produzenten, mit <strong>de</strong>r aus Le<strong>de</strong>rSchuhe, aus Schwe<strong>in</strong>emast Sch<strong>in</strong>ken und aus Gerste Bier gemacht wird, kann es nicht se<strong>in</strong>. DieseArbeit ist vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r grundverschie<strong>de</strong>n. Es muß e<strong>in</strong>e Art von Arbeit se<strong>in</strong>, die alle Warenproduzentenleisten und mit <strong>de</strong>r sie gleichzeitig untere<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r etwas geme<strong>in</strong>sam haben. M. nenntdas die abstrakte o<strong>de</strong>r auch gesellschaftliche Arbeit, mit <strong>de</strong>r die Wertgröße sich bil<strong>de</strong>t.Heißt das: E<strong>in</strong> ungeschickter Handwerker, <strong>de</strong>r 5 Tage benötigt, erhält mehr als e<strong>in</strong> geschickterHandwerker, <strong>de</strong>r nur 4 Tage braucht? Natürlich nicht. M. spricht schon auf dieser Stufe <strong>de</strong>r Analysevon <strong>de</strong>r durchschnittlich notwendigen Arbeitsmenge. E<strong>in</strong> Handwerker, <strong>de</strong>r mehr aufwen<strong>de</strong>nmuß als an<strong>de</strong>re Handwerker für dieselben Produkte, wird Probleme bekommen. E<strong>in</strong> Handwerker,<strong>de</strong>r weniger aufwen<strong>de</strong>n muß, wird besser verdienen. Wir merken, dass die arbeitsteiligeWarenproduktion mit <strong>de</strong>m Wert als Wertgröße e<strong>in</strong>en schlagkräftigen Regulator besitzt, <strong>de</strong>r nichtnur unterdurchschnittlicher Produktivität das Leben schwer macht, son<strong>de</strong>rn auch überdurchschnittlicheProduktivität belohnt, so lange sie überdurchschnittlich bleibt. Klar: Als Regulatorzwischen <strong>de</strong>n Produzenten <strong>de</strong>rselben Waren kommt die Konkurrenz zwischen ihnen <strong>in</strong>s Spiel.Dazu später e<strong>in</strong>e Menge mehr. 108Aber wie steht es dann mit <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Arbeit? Gibt es nicht Arbeit, die viel komplizierter ist, dienicht je<strong>de</strong>r beherrscht? Trägt das Produkt komplizierter Arbeit dieselbe Wertgröße wie das Produktgewöhnlicher Arbeit? An<strong>de</strong>rs gefragt: Erzeugt e<strong>in</strong>tägiges Flachskämmen <strong>de</strong>nselben Wertwie e<strong>in</strong>tägige Schmie<strong>de</strong>arbeit?M. schafft sich dieses Problem zunächst dadurch vom Hals, dass er stets von <strong>de</strong>r gesellschaftlichenDurchschnittsarbeit als <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Arbeit spricht, auf die auch die komplizierte Arbeitzurückgeführt wer<strong>de</strong>n könne, "so daß e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eres Quantum komplizierter Arbeit gleich e<strong>in</strong>emgrößeren Quantum e<strong>in</strong>facher Arbeit. Daß diese Reduktion beständig vorgeht, zeigt die Erfahrung.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Ware mag das Produkt <strong>de</strong>r kompliziertesten Arbeit se<strong>in</strong>, ihr Wert setzt sie <strong>de</strong>m Produkte<strong>in</strong>facher Arbeit gleich und stellt daher selbst nur e<strong>in</strong> bestimmtes Quantum e<strong>in</strong>facher Arbeitdar. Die verschiednen Proportionen, wor<strong>in</strong> verschiedne Arbeitsarten auf e<strong>in</strong>fache Arbeit als107Bevor an dieser Stelle bier-fachliche Kritik laut wird: Gerstenbier gab es immer. Auch unser Bier basiert meistens auf <strong>de</strong>r Gerste, seltenerauf <strong>de</strong>m Weizen als Grundstoff <strong>de</strong>r Malzgew<strong>in</strong>nung. Trotz<strong>de</strong>m gibt es große Unterschie<strong>de</strong>.Schon die Babylonier kannten acht Sorten Gerstenbier, die allerd<strong>in</strong>g neben Wasser nur (!?) Gerste als Rohstoff verwen<strong>de</strong>ten. Diesen Gerstensaftpur gab es auch im <strong>de</strong>utschen Mittelalter sozusagen als Billigbier, ohne Hopfen nämlich.108s. Fußnote 10453


ihre Maße<strong>in</strong>heit reduziert s<strong>in</strong>d, wer<strong>de</strong>n durch e<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Prozeß h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>m Rücken<strong>de</strong>r Produzenten festgesetzt und sche<strong>in</strong>en ihnen daher durch das Herkommen gegeben." 109Zwischenfrage 27: Wi<strong>de</strong>rspricht nicht das Gesetz von Angebot und Nachfrage <strong>de</strong>m von M. vertretenenTauschwert-Konzept? (S.262)Also wäre die Schmie<strong>de</strong>arbeit gegenüber <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>fachen Flachskämmen als x-mal wertiger e<strong>in</strong>zustufen.Aber wie funktioniert das? Bekommt <strong>de</strong>r Schmied e<strong>in</strong>fach <strong>de</strong>shalb mehr, weil das allenBeteiligten klar ist, <strong>de</strong>r Schmied daher mehr verlangt und auch bekommt? O<strong>de</strong>r weil die Produktekomplizierter Arbeit mehr Wert enthalten, weil mehr Werkzeuge dafür bewegt, mehr Fertigungsstufenabsolviert und <strong>de</strong>r Erwerb <strong>de</strong>r Fertigkeiten über längere Zeit erlernt wer<strong>de</strong>n muß?Auf dieser Stufe <strong>de</strong>r Abstraktion umgeht M. das Thema. Spätestens aber dann, wenn wir <strong>de</strong>nProzess <strong>de</strong>r Wertbildung untersuchen, wer<strong>de</strong>n wir diesen Punkt genauer beachten müssen.Um geistigen Verrenkungen vorzubeugen: Wir halten alle Versuche, aus M.s Begriff <strong>de</strong>r kompliziertenund e<strong>in</strong>fachen Arbeit e<strong>in</strong>e Art "physiologische Quantentheorie" zu entwickeln, um je<strong>de</strong>Art von Arbeit auf <strong>de</strong>n geme<strong>in</strong>samen Maßstab "Veräußerung von Lebenskraft" zurückzuführen,für falsch. Selbst wenn das möglich wäre und wir zu e<strong>in</strong>em brauchbaren statistischen Verfahrenkämen, wäre das folgenlos. Die Rückführung je<strong>de</strong>r warenproduzieren<strong>de</strong>n Arbeit <strong>in</strong> <strong>de</strong>n sozialenMaßstab <strong>de</strong>s Werts f<strong>in</strong><strong>de</strong>t tagtäglich im Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Akteure statt, die von e<strong>in</strong>er "physiologischenQuantentheorie" nichts ahnen und gewiß auch nichts wissen wollen. <strong>Das</strong> ist es, was M."e<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Prozeß h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>r Produzenten" und daher als "durch dasHerkommen gegeben" bezeichnet. 110Kommen wir zunächst wie<strong>de</strong>r auf unsere vorgestellte Warenproduktion zurück: M. macht imobigen Zitat schon klar, wie er sich die Bestimmung <strong>de</strong>r Wertgröße vorstellt: Durch nichts an<strong>de</strong>resals <strong>de</strong>n vieltausendfachen Austausch selbst und die dabei angewen<strong>de</strong>ten Erfahrungen <strong>de</strong>rbeteiligten Akteure. Wie sonst? In <strong>de</strong>r Soziologie wür<strong>de</strong> man das heute e<strong>in</strong> wenig gespreizt"Wertgrößenbestimmung durch soziale Interaktion" nennen.Und damit hätten wir e<strong>in</strong>en wesentlichen Punkt herausgefun<strong>de</strong>n. Wer die Werttheorie als ökonomischesGesetz betrachtet wie etwa das Gesetz von Angebot und Nachfrage, betritt e<strong>in</strong>enHolzweg. Es ist e<strong>in</strong> Gesetz <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie. M. wußte noch nichts von Soziologie. Aber<strong>de</strong>n soziologischen Gehalt <strong>de</strong>s Wertgesetzes hat er klar erkannt. Gera<strong>de</strong> das gibt M.s PolitischerÖkonomie e<strong>in</strong>e umfassen<strong>de</strong> gesellschaftliche Perspektive, die sich von <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>er Vorgänger, undbeson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich von heutiger "Volkswirtschaft" o<strong>de</strong>r Makroökonomik, unterschei<strong>de</strong>t.Friedrich Engels hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Nachtrag zum 3. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" <strong>de</strong>n Prozess <strong>de</strong>r Wertbestimmungfür die lange Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r wenig entwickelten Warenproduktion veranschaulicht. Wer esgerne etwas handgreiflicher hat, sollte sich diesen Text unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>verleiben.109MEW 23, S.59. M. vermerkt dazu <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fußnote: "Der Leser muß aufmerken, daß hier nicht vom Lohn o<strong>de</strong>r Wert die Re<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Arbeiter für etwa e<strong>in</strong>en Arbeitstag erhält, son<strong>de</strong>rn vom Warenwert, wor<strong>in</strong> sich se<strong>in</strong> Arbeitstag vergegenständlicht. Die Kategorie <strong>de</strong>sArbeitslohns existiert überhaupt noch nicht auf dieser Stufe unsrer Darstellung." Wir ahnen jetzt, dass die Fortentwicklung <strong>de</strong>s Wertbegriffsfür die kapitalistische Warenproduktion weitere Anstrengungen erfor<strong>de</strong>rt.110<strong>Das</strong>s vor <strong>de</strong>m Wertgesetz alle warenproduzieren<strong>de</strong> Arbeit gleich ist, mag sie als Arbeit e<strong>in</strong>es Schmieds o<strong>de</strong>r Kunsthandwerkers auchnoch so kompliziert se<strong>in</strong>, kann man sich durch folgen<strong>de</strong> Überlegung schon mal klar machen: Sobald es mehr Schmie<strong>de</strong> gibt als gebrauchtwer<strong>de</strong>n, wird auch Ihnen das Wertgesetz e<strong>in</strong>heizen und e<strong>in</strong>e Umverteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit weg von <strong>de</strong>r Schmie<strong>de</strong>brancheerzw<strong>in</strong>gen. Mag <strong>de</strong>r Schmied auf Kunstfertigkeit und lange Ausbildung pochen. Niemand wird ihm (bei allem Herkommen) dafür auf Daueretwas gratis zahlen, wenn es Schmie<strong>de</strong>waren im Überfluß gibt. Dann ist von Kompliziertheit nicht mehr die Re<strong>de</strong>. Übrigens s<strong>in</strong>d es genaudiese Gefahren <strong>de</strong>r Warenproduktion, die sogar e<strong>in</strong>er kunstfertigen Arbeit schnelle Entwertung br<strong>in</strong>gen kann, die <strong>in</strong> Städten <strong>de</strong>s Mittelaltersmit <strong>de</strong>r Zunftordnung zu e<strong>in</strong>er weitreichen<strong>de</strong> Ausschaltung <strong>de</strong>r Konkurrenz zwischen <strong>de</strong>n Handwerkern führte.54


Lektüre: Friedrich Engels: S.307Die Wertgröße bil<strong>de</strong>t sich erst durch die soziale Interaktion, durch das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Menschenam Markt auf <strong>de</strong>r Grundlage ihrer Erfahrungen. We<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln sie willkürlich noch han<strong>de</strong>ln sieunbewußt. Sie wer<strong>de</strong>n durch Versuch und Irrtum ebenso gelenkt wie durch Traditon und Gewohnheit.Aber dabei bleiben sie stets <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r objektiven Vorgaben. Wenn <strong>in</strong> dieserunentwickelten Warenproduktion Waren gegen Waren getauscht wer<strong>de</strong>n, wird zwar eigentlichnoch Arbeitszeit gegen Arbeitszeit getauscht, da die Unterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Kompliziertheit <strong>de</strong>r Arbeitnoch ger<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d. Aber dadurch wird e<strong>in</strong> Grundgesetz <strong>de</strong>r Warenproduktion um so <strong>de</strong>utlicher:Im Durchschnitt aller Tauschakte e<strong>in</strong>es Produzenten muß für die getauschten Produkteausreichend Wert zurückfließen, um die für diesen Zeitraum benötigten Lebens- und Produktionsmittelzu ersetzen. 111 Sonst hat <strong>de</strong>r Produzent die längste Zeit produziert.Engels weist am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s von uns zitierten Textes auch darauf h<strong>in</strong>, dass sich das durch unsereAbstraktion fast schon idyllisierte Bild <strong>de</strong>r frühen "e<strong>in</strong>fachen" Warenproduktion spürbar verän<strong>de</strong>rt,sobald die Arbeitsteilung zunimmt und sich die Spezialisierung verbreitert. Jetzt vervielfachtsich die Zahl <strong>de</strong>r Tauschakte und das Geld wird von e<strong>in</strong>em früh schon vorhan<strong>de</strong>nen, aber meistensabwesen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>shalb um so begehrteren Element zum überall wirken<strong>de</strong>n wichtigstenMotor dieser Entwicklung. Warenwirtschaft etabliert sich als Geldwirtschaft.Es ist uns <strong>in</strong> <strong>de</strong>n vorangegangen Abschnitten ohneh<strong>in</strong> immer schwerer gefallen, auf Geld undPreis zu verzichten. Es wird allerhöchste Zeit, jetzt die Warenproduktion <strong>de</strong>r schlichten Art zuverlassen und über die Analyse <strong>de</strong>s Austauschprozesses herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wie das Geld durch dieWarenproduktion hervorgebracht wird und wie das Geld <strong>de</strong>r Warenproduktion e<strong>in</strong>e neue Wertformgibt.Kapitel 5: Von <strong>de</strong>r Ware zum GeldWir folgen M.s Weg zum Geld und wohnen e<strong>in</strong>em revolutionären Wechsel <strong>de</strong>r Wertformbei. <strong>Das</strong> Geld übernimmt die Führung und mit ihm betritt <strong>de</strong>r Preis die Bühne.Starke Akteure <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz neuen Stück.Wir kommen zu e<strong>in</strong>er ersten Formulierung <strong>de</strong>s Wertgesetzes und machen uns mit e<strong>in</strong>igenFunktionen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s vertraut, die uns aber alle schon sehr vertraut vorkommen.Daher ahnen wir bereits mögliche Konsequenzen.Auf <strong>de</strong>m Weg langen zur GeldwirtschaftDie Grundstruktur <strong>de</strong>r Warenproduktion ist klar. Und ebenfalls ist klar gewor<strong>de</strong>n, dass unter diesenVerhältnissen die konkrete Beschaffenheit <strong>de</strong>r Ware und ihre daraus sich ergeben<strong>de</strong> Nützlichkeitnur als Trägerstoff fungiert, über <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wert das Kommando führt: "Alle Waren s<strong>in</strong>d111Historisch gilt das im vollen Umfang erst für die entwickelte Warenproduktion. In <strong>de</strong>r Frühphase war die Warenproduktion noch sehrstark an <strong>de</strong>n bäuerlichen Haushalt gebun<strong>de</strong>n. Die Produktion für <strong>de</strong>n Markt fand als Zuerwerb statt. Da war man flexibel, was <strong>de</strong>n Tauschang<strong>in</strong>g, solange die Lebensgrundlagen durch die bäuerliche Arbeit gesichert waren. Häufig bestand das Ziel dar<strong>in</strong>, über <strong>de</strong>n Zuerwerbdurch Tausch etwas von <strong>de</strong>m noch so seltenen Geld <strong>in</strong> die Hän<strong>de</strong> zu bekommen. Aber sobald die Arbeitsteilung voranschreitet und <strong>de</strong>rgewerbliche Warenproduzent von se<strong>in</strong>em Handwerk abhängig wird, verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n diese Spielräume <strong>de</strong>r Frühzeit. Die Warenwerte müssenzurückfließen, um <strong>de</strong>n Handwerker, se<strong>in</strong>en Haushalt und se<strong>in</strong>en Betrieb zu erhalten. Mit <strong>de</strong>n großen Vorteilen <strong>de</strong>r Arbeitsteilung wer<strong>de</strong>nauch die Risiken <strong>de</strong>r Warenproduktion spürbar. Wer die spannen<strong>de</strong> Geschichte nachlesen will, wie sich <strong>in</strong> Deutschland, beg<strong>in</strong>nend <strong>in</strong> germanischerZeit, die Warenproduktion herausbil<strong>de</strong>t, ist mit <strong>de</strong>r "Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Band 1" von Hans Mottek immernoch gut bedient.55


Nicht-Gebrauchswerte für ihre Besitzer, Gebrauchswerte für ihre Nicht-Besitzer. Sie müssen alsoallseitig die Hän<strong>de</strong> wechseln. Aber dieser Hän<strong>de</strong>wechsel bil<strong>de</strong>t ihren Austausch, und ihr Austauschbezieht sie als Werte aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r und realisiert sie als Werte. Die Waren müssen sich daherals Werte realisieren, bevor sie sich als Gebrauchswerte realisieren können." 112Warenproduktion ohne Austausch ist uns<strong>in</strong>nig; dann wäre es ke<strong>in</strong>e Warenproduktion. Zum Austauschgehört die gegenseitige Anerkennung <strong>de</strong>r Warenbesitzer als Eigentümer. Produktion undAustausch wer<strong>de</strong>n zu zwei vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r getrennten, aber unmittelbar zusammengehören<strong>de</strong>nEtappen im Leben e<strong>in</strong>er Ware. Erst im erfolgreichen Austausch erfüllt sich ihr <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>szweck. <strong>Das</strong>ist e<strong>in</strong> Merkmal aller warenproduzieren<strong>de</strong>n Gesellschaften, auch unserer, und so unsche<strong>in</strong>barund banal diese Feststellung anmutet: Sie birgt doch im Keim bereits alle Krisen- und Systemgefahren<strong>in</strong> sich. 113Mit <strong>de</strong>r Betonung <strong>de</strong>s Austausches gönnen wir <strong>de</strong>r Warenproduktion <strong>in</strong> <strong>de</strong>n nächsten Abschnittene<strong>in</strong> spürbare Weiterentwicklung. Es geht uns dann nicht mehr um E<strong>in</strong>zelproduzenten, diesich gleichsam am Ran<strong>de</strong> e<strong>in</strong>er dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>n Subsistenzwirtschaft 114 begegnen. Die Warenproduktionentfaltet sich durch wachsen<strong>de</strong> Arbeitsteilung und e<strong>in</strong>e wachsen<strong>de</strong> Zahl selbständigerProduzenten tritt auf.Warenproduktion und Warentausch wer<strong>de</strong>n zu e<strong>in</strong>er eigenständigen, wenn auch noch nicht zurherrschen<strong>de</strong>n Produktionsweise. Der Produzent entwickelt sich vom Bauern, <strong>de</strong>r auch für <strong>de</strong>nAustausch produziert, über <strong>de</strong>n Produzenten, <strong>de</strong>r auch noch Bauer ist, h<strong>in</strong> zum selbständigen,ganz von se<strong>in</strong>er Produktion leben<strong>de</strong>n Handwerker. Die ihrer Struktur nach von Anfang an gesellschaftlicheWarenproduktion erhält <strong>in</strong> <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Zahl <strong>de</strong>r Produzenten, Händler und Käufernicht nur eigenes ökonomisches Gewicht, son<strong>de</strong>rn auch e<strong>in</strong>e eigene soziale Klassenbasis. 115Als historischer Prozeß ist die Herausbildung <strong>de</strong>r entwickelten Warenproduktion vielgestaltig. InDeutschland vollzog er sich vom 7. bis zum 13. Jahrhun<strong>de</strong>rt. In an<strong>de</strong>ren <strong>Teil</strong>en <strong>de</strong>r Welt, etwa <strong>in</strong><strong>de</strong>r griechischen und römischen Antike, war er schon viel früher <strong>in</strong> Gang gekommen und auf e<strong>in</strong>112<strong>Das</strong> schreibt M. über die Position <strong>de</strong>s Warenproduzenten: "Se<strong>in</strong>e Ware hat für ihn ke<strong>in</strong>en unmittelbaren Gebrauchswert. Sonst führte ersie nicht zu Markt. Sie hat Gebrauchswert für andre. Für ihn hat sie unmittelbar nur <strong>de</strong>n Gebrauchswert, Träger von Tauschwert und soTauschmittel zu se<strong>in</strong>. Darum will er sie veräußern für Ware, <strong>de</strong>ren Gebrauchswert ihm Genüge tut. Alle Waren s<strong>in</strong>d Nicht-Gebrauchswertefür ihre Besitzer, Gebrauchswerte für ihre Nicht-Besitzer. Sie müssen also allseitig die Hän<strong>de</strong> wechseln. Aber dieser Hän<strong>de</strong>wechsel bil<strong>de</strong>tihren Austausch, und ihr Austausch bezieht sie als Werte aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r und realisiert sie als Werte. Die Waren müssen sich daher als Werterealisieren, bevor sie sich als Gebrauchswerte realisieren können." (MEW Bd. 23, S.100)113Natürlich nur die Ahnung dieser Möglichkeit. In diesem S<strong>in</strong>ne schreibt M. über die e<strong>in</strong>fachen Formen <strong>de</strong>r Zirkulation: "Diese Formenschließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit <strong>de</strong>r Krisen e<strong>in</strong>. Die Entwicklung dieser Möglichkeit zur Wirklichkeit erfor<strong>de</strong>rte<strong>in</strong>en ganzen Umkreis von Verhältnissen, die vom Standpunkt <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Warenzirkulation noch gar nicht existieren." (MEW 23,S.128)114Subsistenzwirtschaft bezeichnet e<strong>in</strong>e Produktionsweise, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r die Produzenten (Stamm, Sippe, Haushalt) nur zur Deckung <strong>de</strong>s eigenenBedarfs und nicht für <strong>de</strong>n Austausch produzieren. Diese Produktionsweise dom<strong>in</strong>ierte über <strong>de</strong>n größeren <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r menschlichen Geschichte.In Europa war noch bis <strong>in</strong> die Neuzeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Subsistenzwirtschaft vermutlich größer als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Warenwirtschaft, aber sobalddie Subsistenzwirtschaft e<strong>in</strong>en dauerhaften Überschuß produzierte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Austausch zur Verfügung stand, war sie wichtiger Motorfür die Herausbildung <strong>de</strong>r Tauschverhältnisse und für die Etablierung <strong>de</strong>r Warenproduktion.115M. setzt diese Entwicklung als historisch gegeben voraus und kann sie daher <strong>in</strong> wenigen Sätzen abhan<strong>de</strong>ln:"Die Personen existieren hier nur füre<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir wer<strong>de</strong>n überhaupt im Fortgang<strong>de</strong>r Entwicklung f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, daß die ökonomischen Charaktermasken <strong>de</strong>r Personen nur die Personifikationen <strong>de</strong>r ökonomischen Verhältnisses<strong>in</strong>d, als <strong>de</strong>ren Träger sie sich gegenübertreten." (MEW 23, S.99f)<strong>Das</strong> geht bei M. wal wie<strong>de</strong>r ratzfatz, aber er produziert sich eben nicht als Historiker. Wenn wir die Warenproduktion als Historiker untersuchen,haben wir die nach Zeit, Ort und Branche unterschiedlichen Prozesse zu beachten. In <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie suchen wir diestrukturellen Entwicklungsl<strong>in</strong>ien im historischen Stoff. Wenn wir weiterh<strong>in</strong> von "Warenproduzenten", von "Käufern" und "Verkäufern"sprechen, sehen wir e<strong>in</strong>zelne Personen vor uns, me<strong>in</strong>en aber die sozialen Klassen, die sich mit <strong>de</strong>n zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Produktionsverhältnissenherausbil<strong>de</strong>n.Die "Charaktermaske", die M. erwähnt, greift auf Formen <strong>de</strong>s Theaters zurückt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m bestimmte Charaktere durch vorgehaltene Maskendargestellt wur<strong>de</strong>n. Ähnlich treten uns <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r ökonomischen Verhältnisse Individuen als austauschbare Rollenspieler gegenüber.56


hohes Niveau gehoben. In an<strong>de</strong>ren <strong>Teil</strong>en <strong>de</strong>r Welt wird <strong>de</strong>r Übergang zur Warenproduktion erstjetzt durch die <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>r Lebensverhältnisse abgeschlossen.<strong>Das</strong> wichtigste Ergebnis dieser unterschiedlichen Entwicklungen ist die Herausbildung <strong>de</strong>r Warenproduktionals Geldwirtschaft. Für uns heute etwas Gewohntes, man könnte auch sagen:Etwas sche<strong>in</strong>bar Natürliches. Dennoch wissen wir, dass das nicht immer so gewesen ist. Auchdas Geld ist irgendwann <strong>in</strong> die Welt geholt wor<strong>de</strong>n.Vom englischen Politiker Gladstone 116 , e<strong>in</strong>em Zeitgenossen von M., wird <strong>de</strong>r Satz überliefert:"Zwei D<strong>in</strong>ge pflegen <strong>de</strong>n Menschen um <strong>de</strong>n Verstand zu br<strong>in</strong>gen: die Liebe und das Nach<strong>de</strong>nkenüber das Wesen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s." Wir hoffen, das folgen<strong>de</strong> Kapitel unbescha<strong>de</strong>t zu überstehen.Immerh<strong>in</strong> durchschreitet M. mit uns auf wenigen Seiten e<strong>in</strong>e Entwicklung, die sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>rMenschheitsgeschichte über 4 Jahrtausen<strong>de</strong> abgespielt hat."<strong>Das</strong> Geheimnis aller Wertform…"Auf etwas mehr als 20 Seiten unterzieht M. <strong>de</strong>n historischen Stoff e<strong>in</strong>er strukturellen Analyse. Erzeigt uns bei diesem Galopp, wie sich aus <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>s Warentausches heraus das Geld alsheute allgeme<strong>in</strong> anerkannte Wertform <strong>de</strong>r Ware über bestimmte Zwischenstufen nicht nur herausgebil<strong>de</strong>that, son<strong>de</strong>rn auch herausbil<strong>de</strong>n mußte. 117Se<strong>in</strong>e Analyse beg<strong>in</strong>nt mit <strong>de</strong>m, was er "e<strong>in</strong>fache, e<strong>in</strong>zelne o<strong>de</strong>r zufällige Wertform" nennt. Se<strong>in</strong>eFeststellung: "Der Warenaustausch beg<strong>in</strong>nt, wo die Geme<strong>in</strong>wesen en<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>n Punktenihres Kontakts mit frem<strong>de</strong>n Geme<strong>in</strong>wesen o<strong>de</strong>r Glie<strong>de</strong>rn frem<strong>de</strong>r Geme<strong>in</strong>wesen" markiert <strong>de</strong>nhistorischen Beg<strong>in</strong>n. Unterstellt wird e<strong>in</strong> Austausch, <strong>de</strong>r die Produkte zunächst eher zufällig zuWaren macht: "Die beständige Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>s Austausches macht ihn zu e<strong>in</strong>em regelmäßigengesellschaftlichen Prozeß. Im Laufe <strong>de</strong>r Zeit muß daher wenigstens e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Arbeitsprodukteabsichtlich zum Behuf <strong>de</strong>s Austausches produziert wer<strong>de</strong>n." 118Aber <strong>de</strong>r Austausch kann sich nur entwickeln, wenn es möglich ist, dass sich <strong>de</strong>r Wert e<strong>in</strong>er Wa-116William Ewart Gladstone (1809-1898) war <strong>in</strong>sgesamt 63 Jahre Mitglied <strong>de</strong>s britischen Unterhauses, 27 Jahre Kab<strong>in</strong>ettsmitglied undzwölf Jahre Premierm<strong>in</strong>ister von Großbritannien. Im Gegensatz zu diesem Zeitgenossen hatte M. ganz an<strong>de</strong>re Probleme. Als ihm nach Fertigstellungse<strong>in</strong>es Manuskripts "Zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie", e<strong>in</strong>em Vorläufer <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>", das Geld fürs Porto fehlte, um esnach Preußen abzusen<strong>de</strong>n, schrieb er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Engels am 2<strong>1.</strong><strong>1.</strong>1859: "Ich glaube nicht, dass unter solchem Geldmangel je über'das Geld' geschrieben wor<strong>de</strong>n ist. Die meisten autores über dies subject waren <strong>in</strong> tiefem Frie<strong>de</strong>n mit the subject of their researches (= mit<strong>de</strong>m Gegenstand ihrer Forschung)." (MEW 29, S.385)117An dieser Stelle <strong>de</strong>r übliche H<strong>in</strong>weis: Wir sprechen von struktureller Analyse <strong>de</strong>s historischen Stoffs. <strong>Das</strong> heißt eben nicht, M.s Analyseals Geschichtsschreibung zu sehen, vielmehr als Verdichtung <strong>de</strong>s historischen Stoffs. Die wirkliche Geschichte <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s sähe viel varianten-und <strong>de</strong>tailreicher aus. M. bestimmt die Funktionen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>ren Wurzeln <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Warenproduktion. Er zeigt, wie sich e<strong>in</strong>ewachsen<strong>de</strong> Warenproduktion das Geld schaffen muß, um sich selbst zu schaffen, und wie das Geld von e<strong>in</strong>em Produkt <strong>de</strong>r Warenproduktionzu ihrem wichtigsten Motor wird und die Warenwirtschaft als Geldwirtschaft etabliert. Nicht mehr, nicht weniger. Die untrennbareVerb<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Analyse mit <strong>de</strong>m historischen Stoff durchzieht gera<strong>de</strong> auch diese "abstrakten" Kapitel zur Entfaltung <strong>de</strong>r Wertform.118<strong>Das</strong> Zitat bei M. <strong>in</strong> ausführlicher Fassung: "D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d an und für sich <strong>de</strong>m Menschen äußerlich und daher veräußerlich. Damit dieseVeräußerung wechselseitig, brauchen Menschen nur stillschweigend sich als Privateigentümer jener veräußerlichen D<strong>in</strong>ge und eben dadurchals vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängige Personen gegenüberzutreten. Solch e<strong>in</strong> Verhältnis wechselseitiger Fremdheit existiert jedoch nicht fürdie Glie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>es naturwüchsigen Geme<strong>in</strong>wesens, habe es nun die Form e<strong>in</strong>er patriarchalischen Familie, e<strong>in</strong>er alt<strong>in</strong>dischen Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>, e<strong>in</strong>esInkastaates usw. Der Warenaustausch beg<strong>in</strong>nt, wo die Geme<strong>in</strong>wesen en<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>n Punkten ihres Kontakts mit frem<strong>de</strong>n Geme<strong>in</strong>weseno<strong>de</strong>r Glie<strong>de</strong>rn frem<strong>de</strong>r Geme<strong>in</strong>wesen. Sobald D<strong>in</strong>ge aber e<strong>in</strong>mal im auswärtigen, wer<strong>de</strong>n sie auch rückschlagend im <strong>in</strong>nern Geme<strong>in</strong>lebenzu Waren. Ihr quantitatives Austauschverhältnis ist zunächst ganz zufällig. Austauschbar s<strong>in</strong>d sie durch <strong>de</strong>n Willensakt ihrer Besitzer,sie wechselseitig zu veräußern. In<strong>de</strong>s setzt sich das Bedürfnis für frem<strong>de</strong> Gebrauchsgegenstän<strong>de</strong> allmählich fest. Die beständige Wie<strong>de</strong>rholung<strong>de</strong>s Austausches macht ihn zu e<strong>in</strong>em regelmäßigen gesellschaftlichen Prozeß. Im Laufe <strong>de</strong>r Zeit muß daher wenigstens e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>rArbeitsprodukte absichtlich zum Behuf <strong>de</strong>s Austausches produziert wer<strong>de</strong>n. Von diesem Augenblick befestigt sich e<strong>in</strong>erseits die Scheidungzwischen <strong>de</strong>r Nützlichkeit <strong>de</strong>r D<strong>in</strong>ge für <strong>de</strong>n unmittelbaren Bedarf und ihrer Nützlichkeit zum Austausch. Ihr Gebrauchswert schei<strong>de</strong>t sichvon ihrem Tauschwerte. Andrerseits wird das quantitative Verhältnis, wor<strong>in</strong> sie sich austauschen, von ihrer Produktion selbst abhängig.Die Gewohnheit fixiert sie als Wertgrößen." (MEW 23, S.102f)57


e durch die Quantität e<strong>in</strong>er beliebigen an<strong>de</strong>ren Ware ausdrücken läßt. Er nennt das die e<strong>in</strong>fache(e<strong>in</strong>zelne o<strong>de</strong>r zufällige) Wertform. "<strong>Das</strong> Geheimnis aller Wertform steckt <strong>in</strong> dieser e<strong>in</strong>fachenWertform. Ihre Analyse bietet daher die eigentliche Schwierigkeit." 119In <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Wertform stehen sich zwei Waren gegenüber. M. wählt dafür diese schematischeDarstellung:Er widmet dieser e<strong>in</strong>fachen Wertform immerh<strong>in</strong> 14 <strong>de</strong>r 20 Seiten, die manchem Leser weitschweifigvorkommen. Aber immerh<strong>in</strong> geht es "um das Geheimnis aller Wertform", sozusagenum das Grundschema, aus <strong>de</strong>m sich alles entwickelt. Schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Wertform, also <strong>in</strong>je<strong>de</strong>r Art von Warentausch, nehmen die sich gegenüberstehen<strong>de</strong>n Waren unterschiedliche Positionene<strong>in</strong>: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Ware nimmt die relative Wertform e<strong>in</strong>; das ist die Ware, die eigentlich getauschtwer<strong>de</strong>n soll. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> an<strong>de</strong>re Ware steht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentform; <strong>in</strong> dieser Position fungiert sie alsMaßstab <strong>de</strong>s Werts <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Ware. Welche Ware <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentform steht, ist völlig offen.Kl<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>fach, hat es aber <strong>in</strong> sich. Wir müssen das genau lesen: 20 Ellen Le<strong>in</strong>wand = 1 Rock 120 .So viel ist uns schon klar gewor<strong>de</strong>n: Die Ware, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentform als Wertausdruck <strong>de</strong>ran<strong>de</strong>ren Ware dient, muß selbst gar nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Tausch e<strong>in</strong>bezogen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn kann alslediglich vorgestellte Wertgröße <strong>de</strong>n Tausch vermitteln. Angenommen, die Le<strong>in</strong>wand steht <strong>in</strong> <strong>de</strong>rÄquivalentform, weil es sich um e<strong>in</strong> weit verbreitetes, se<strong>in</strong>er Herstellung nach bestens bekanntesProdukt han<strong>de</strong>lt. Dann wer<strong>de</strong>n Le<strong>in</strong>wand und Rock <strong>de</strong>r Wertgröße nach gleichgesetzt; ob ichnun <strong>de</strong>n Rock wirklich gegen die Le<strong>in</strong>wand tausche o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Rock gegen Sch<strong>in</strong>ken, spielt ke<strong>in</strong>eRolle, wenn ich nur für <strong>de</strong>n Sch<strong>in</strong>ken ebenfalls e<strong>in</strong>en Le<strong>in</strong>wand-Maßstab habe.Man tendiert dazu, die Gleichsetzung nur als quantitative Beziehung zu lesen. Aber da stehtnicht: 500 Äpfel = 1 Zentner Äpfel. Dann könnte man das Durchschnittsgewicht e<strong>in</strong>es Apfels berechnen.In <strong>de</strong>r Gleichung steht:20 Ellen Le<strong>in</strong>wand = 1 Rock o<strong>de</strong>r1 Elle Le<strong>in</strong>wand = 2 Pfund Kaffee.Wenn diese "ungleichen" Gleichungen wirklich gleich se<strong>in</strong> sollen, dann müssen sie nicht nurquantitativ, son<strong>de</strong>rn auch qualitativ gleich se<strong>in</strong>. So wie die 500 Äpfel und <strong>de</strong>r Zentner Äpfel vongleichem Stoff s<strong>in</strong>d, müssen auch die 20 Ellen Le<strong>in</strong>wand und <strong>de</strong>r Rock, besser: die Elle Le<strong>in</strong>wandund <strong>de</strong>r Kaffee, von gleichem "Stoff" se<strong>in</strong>. Dieser Stoff ist natürlich nicht die Le<strong>in</strong>wand. Wir s<strong>in</strong>ddiesem Stoff als Wertsubstanz bereits begegnet: Die <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r Ware enthaltene gesellschaftlich119MEW 23, S.63. An an<strong>de</strong>rer Stelle skizziert M., dass schon <strong>in</strong> dieser unentwickelten Form <strong>de</strong>s Austauschs, wenn noch Produkte von Geme<strong>in</strong>wesen(Stamm, Sippe, Hofgeme<strong>in</strong>schaft) die Hän<strong>de</strong> wechseln, die Notwendigkeit besteht, auf <strong>de</strong>n Austausch gleicher Wertgrößen zuachten. Denn sobald <strong>de</strong>r Austausch e<strong>in</strong>en bestimmten Anteil <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s Geme<strong>in</strong>wesens absorbiert, "befestigt sich e<strong>in</strong>erseits die Scheidungzwischen <strong>de</strong>r Nützlichkeit <strong>de</strong>r D<strong>in</strong>ge für <strong>de</strong>n unmittelbaren Bedarf und ihrer Nützlichkeit zum Austausch. Ihr Gebrauchswert schei<strong>de</strong>tsich von ihrem Tauschwerte. Andrerseits wird das quantitative Verhältnis, wor<strong>in</strong> sie sich austauschen, von ihrer Produktion selbst abhängig.Die Gewohnheit fixiert sie als Wertgrößen." (MEW 23, S.103) Anschaulich gesprochen: Wenn die Erzeugung <strong>de</strong>r Tauschware 10Jagdtage absorbierte, dann müssen im Austausch Lebensmittel zurückfließen, die <strong>de</strong>m Ergebnis von 10 Jagdtagen entsprechen. Lei<strong>de</strong>t dashier tauschen<strong>de</strong> Geme<strong>in</strong>wesen an Überfluß, kann es natürlich <strong>de</strong>m Wertgesetz e<strong>in</strong>e Nase drehen und sich für e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>es Überflussesertauschen, was es haben will. <strong>Das</strong> ist die Grundlage aller Märkte von Luxuswaren o<strong>de</strong>r überteuerten Markenprodukten. Aber das ist we<strong>de</strong>rdie Regel noch e<strong>in</strong> wirklich funktionieren<strong>de</strong>s Rezept, sobald <strong>de</strong>r Warentausch aufhört, Ergänzung zu se<strong>in</strong>, son<strong>de</strong>rn zur Grundlage <strong>de</strong>sgesellschaftlichen Lebens wird.120Es mag etwas irritierend wirken, dass M. hier Le<strong>in</strong>wand und Rock gleichsetzt, so als wolle er e<strong>in</strong>e Beziehung <strong>de</strong>s Materials (Le<strong>in</strong>wandals Rohstoff für <strong>de</strong>n Rock) unterstellen. <strong>Das</strong> wäre e<strong>in</strong>e falsche Annahme. Man kann bei<strong>de</strong> Seiten <strong>de</strong>r Gleichung mit beliebigen Waren füllen.In <strong>de</strong>r Vorläuferschrift "Zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie" von 1859 verwen<strong>de</strong>te M. noch die Gleichung "e<strong>in</strong>e Elle Le<strong>in</strong>wand ist wertzwei Pfund Kaffee", was nun wirklich ke<strong>in</strong>erlei stoffliche Übere<strong>in</strong>stimmung mehr be<strong>in</strong>haltet (MEW 13, S.25). Warum er später auf <strong>de</strong>nRock gewechselt ist? Ke<strong>in</strong>e Ahnung. Vielleicht haben ihm die Preise für neue Kleidung zu schaffen gemacht?58


notwendige Arbeit. Über die verausgabte Arbeitsmenge gemessen <strong>in</strong> Zeit wird das quantitativeTauschverhältnis begrün<strong>de</strong>t. Man wür<strong>de</strong> die Gleichung dann <strong>in</strong> dieser Form lesen:Abstrakte Arbeit <strong>in</strong> 1 Rock = Abstrakte Arbeit <strong>in</strong> 20 Ellen Le<strong>in</strong>wand.Erst jetzt haben wir die Entsprechung zu unserem Apfel-Beispiel. Basis <strong>de</strong>r Gleichung ist die qualitativeGleichheit <strong>de</strong>r abstrakten Arbeit.Dennoch ist sich M. darüber im klaren, dass je<strong>de</strong> Gleichung von <strong>de</strong>r Art 20 Ellen Le<strong>in</strong>wand = 1Rock, also die Grundlage aller Wertformen, kompliziert und merkwürdig bleibt. Sie beschreibte<strong>in</strong>e große soziale Leistung <strong>de</strong>r Warenproduktion, nämlich das äußerlich Ungleiche auf die <strong>in</strong>nere,verborgene Gleichheit zurückzuführen. Und diese merkwürdige Formel ist gleichzeitig dieGrundlage e<strong>in</strong>er tiefgreifen<strong>de</strong>n und fortdauern<strong>de</strong>n Irritation ihrer Akteure, auf die wir im "Fetisch"-Kapitelnäher e<strong>in</strong>gehen wer<strong>de</strong>n.Denken wir die Entwicklung <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Wertform weiter: Sie wird mit bloßer Zunahme <strong>de</strong>rTauschakte zur entfalteten Wertform. Wo <strong>in</strong> <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Wertform sich zwei Waren zufälliggegenüber stan<strong>de</strong>n, haben wir es nun mit e<strong>in</strong>er wechseln<strong>de</strong>n Besetzung dieser Positionen zutun. Jetzt s<strong>in</strong>d es viele Waren, die als Äquivalentform dienen. An<strong>de</strong>rs gesagt: Dieselbe Warekann die eigene Wertgröße <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Waren spiegeln. Dafür verwen<strong>de</strong>t M. die folgen<strong>de</strong>schematische Darstellung:In dieser Wertform wachsen Erfahrung und Vergleichsmöglichkeiten als Folge <strong>de</strong>s vermehrtenTausches, nehmen Zufall und Irrtum ab: "<strong>Das</strong> zufällige Verhältnis zweier <strong>in</strong>dividueller Warenbesitzerfällt fort. Es wird offenbar, daß nicht <strong>de</strong>r Austausch die Wertgröße <strong>de</strong>r Ware, son<strong>de</strong>rnumgekehrt die Wertgröße <strong>de</strong>r Ware ihre Austauschverhältnisse reguliert." 121In <strong>de</strong>r entfalteten Wertform wechseln die Waren von <strong>de</strong>r Äquivalentform <strong>in</strong> die relative Wertformwie <strong>de</strong>r Tausch es erfor<strong>de</strong>rt. Aber noch hat ke<strong>in</strong>e spezielle Ware die Funktion als allgeme<strong>in</strong>erWertmaßstab übernommen. Wenn aber <strong>de</strong>r Austausch zunimmt und die Zahl <strong>de</strong>r Austauschaktesteigt, wird <strong>de</strong>r Tausch selbst zu e<strong>in</strong>er Belastung, da <strong>de</strong>r Weg von e<strong>in</strong>em Produkt zue<strong>in</strong>em bestimmten an<strong>de</strong>ren Produkt von <strong>de</strong>n jeweiligen Tauschbedürfnissen <strong>de</strong>r Anbieter vorgeschriebenwird. Wer Le<strong>in</strong>wand besitzt und Sch<strong>in</strong>ken benötigt, wird selten sofort jeman<strong>de</strong>n f<strong>in</strong><strong>de</strong>n,<strong>de</strong>r Le<strong>in</strong>wand sucht und Sch<strong>in</strong>ken zu bieten hat. Die Tauschkette von <strong>de</strong>r Le<strong>in</strong>wand zumSch<strong>in</strong>ken kann aus mehreren Stufen bestehen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r immer an<strong>de</strong>re Waren sich mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rvergleichen. 122Wir können uns vorstellen, wie <strong>in</strong> diesen kürzeren o<strong>de</strong>r längeren Austauschketten bestimmteWaren zum bevorzugten Wertmaß wer<strong>de</strong>n. Wenn auch Le<strong>in</strong>wand gegen Bier getauscht wird,h<strong>in</strong><strong>de</strong>rt die beteiligten Akteure nichts daran, gedanklich diesen Austausch mit <strong>de</strong>m vorgestellten121MEW 23, S.78122Sehr schön läßt sich das Problem <strong>de</strong>s Kettentausches durch e<strong>in</strong>e (vermutlich auf Tatsachen beruhen<strong>de</strong>) Geschichte illustrieren, dieV.L.Cameron, e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>r zahllosen britischen Afrika-Forscher im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Reisebericht erzählt. Er schreibt:"Für die Fahrt über <strong>de</strong>n Tanganjikasee wollte ich e<strong>in</strong>en Kahn mieten. Ich wandte mich an Sy<strong>de</strong> ibn-Habid mit <strong>de</strong>r Bitte, mir e<strong>in</strong>en Kahn zuvermieten. Er for<strong>de</strong>rte aber Elfenbe<strong>in</strong> als Bezahlung. Ich hatte ke<strong>in</strong> Elfenbe<strong>in</strong>, erfuhr aber, daß Muhammed-ben-Salib solches hat. <strong>Das</strong> halfmir aber nichts, weil jener gegen das Elfenbe<strong>in</strong> Baumwollstoff e<strong>in</strong>getauscht haben woIlte. Stoff hatte ich ebenfalls nicht. Da sagte manmir, daß Muhammed-ibn-Garib Baumwollstoff hat, aber Draht benötigt. Zum Glück hatte ich Draht. So gab ich Muhammed-ibn-Garib dieentsprechen<strong>de</strong> Menge Draht, dieser gab Muhammed-ben-Salib <strong>de</strong>n Baumwollstoff, und dieser gab se<strong>in</strong>erseits Sy<strong>de</strong>-ibn-Habib das Elfenbe<strong>in</strong>.Letzterer erlaubte mir dann, <strong>de</strong>n Kahn zu benutzen." (V.L. Cameron: Across Africa; 1877)Die Anekdote wird bereits von Eugen Varga <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er frühen Arbeit über das Geld von 1918 augenzw<strong>in</strong>kernd zitiert. Die Anek<strong>de</strong>ote er<strong>in</strong>nertauch daran, dass die von M. präzisierten Wertformen historisch durchaus nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r existieren, dass Grad und Tempo ihrer Entwicklungvon <strong>de</strong>n jeweiligen Umstän<strong>de</strong>n abhängen und dass sogar <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Geldwirtschaft Formen <strong>de</strong>s Naturaltausches <strong>in</strong> <strong>de</strong>re<strong>in</strong>fachen Wertform fortbestehen.59


Wert von Eisen o<strong>de</strong>r Korn o<strong>de</strong>r Tierfellen o<strong>de</strong>r Schafen zu vollziehen. Je nach <strong>de</strong>m, welche Wareallgeme<strong>in</strong> bekannt und als Wertmaßstab beson<strong>de</strong>rs geeignet und akzeptiert ist. Was aber <strong>in</strong> Gedankenvollzogen wer<strong>de</strong>n kann, kann auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Praxis ausgeführt wer<strong>de</strong>n.Felle? Viehzeug? Gold!Mit <strong>de</strong>m Übergang zur allgeme<strong>in</strong>en Wertform wer<strong>de</strong>n bereits viele praktische Probleme gelöst.Jetzt f<strong>in</strong><strong>de</strong>n die verschie<strong>de</strong>nen Waren durch <strong>de</strong>n Bezug auf e<strong>in</strong>e spezielle Ware leichter e<strong>in</strong>enWertausdruck zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Wo stets dieselbe Ware, ob real o<strong>de</strong>r vorgestellt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentformsteht, nimmt die Sicherheit <strong>de</strong>s Austauschs zu. In verschie<strong>de</strong>nen Gesellschaften kamen unterschiedlicheWaren <strong>in</strong> diese Rolle: In agrarischen Gesellschaften mißt sich <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Warenoft im Wert <strong>de</strong>s Viehs; <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Gesellschaften f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir Tierfelle als allgeme<strong>in</strong>e Wertformo<strong>de</strong>r sogar Dörrfisch o<strong>de</strong>r Muscheln 124 . Wichtig war alle<strong>in</strong>, dass die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentform stehen<strong>de</strong>Ware allgeme<strong>in</strong> bekannt und ihr Wert (also die dar<strong>in</strong> stecken<strong>de</strong> Arbeit) von allen Beteiligtenh<strong>in</strong>reichend sicher e<strong>in</strong>zuschätzen war.M. setzt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schema Le<strong>in</strong>wand 125 <strong>in</strong> die allgeme<strong>in</strong>e Wertform, auch Äquivalentform genannt.Die Wahl <strong>de</strong>r Le<strong>in</strong>wand weist auch darauf h<strong>in</strong>, dass die <strong>in</strong> dieser Funktion stehen<strong>de</strong> Waream Tausch selten stofflich teilnimmt; wer läuft schon mit Le<strong>in</strong>wandballen durch die Gegend,wenn er doch nur Kartoffeln gegen Weizen tauschen will? Die Ware <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentform dient<strong>de</strong>n Beteiligten als geme<strong>in</strong>same stabile Bezugsgröße.Wir sehen, dass die von M. skizzierte Abfolge <strong>de</strong>r Wertformen aus <strong>de</strong>n strukturellen Erfor<strong>de</strong>rnissene<strong>in</strong>er sich entfalten<strong>de</strong>n Warenproduktion abgeleitet ist. Die Tauschvorgänge wer<strong>de</strong>n vere<strong>in</strong>fachtund zunehmend unabhängig von <strong>de</strong>n konkreten Umstän<strong>de</strong>n. 126 Historisch f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir die123Die Kaurischnecke war vermutlich das erfolgreichste Nicht-Metall-Geld <strong>de</strong>r Geschichte. Sie wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a über viele Jahrhun<strong>de</strong>rte alsGeld gebraucht, verbreitete sich über Indien und <strong>de</strong>n ganzen pazifischen Raum, nach Arabien und von dort nach Afrika. Dort wur<strong>de</strong> mancherortsbis <strong>in</strong> die Mitte <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts mit Kauri bezahlt.124Eugen Varga er<strong>in</strong>nert uns <strong>in</strong> <strong>de</strong>r schon erwähnten Arbeit über das Geld von 1918 an das ungarische Wort marha, das eigentlich Viehbe<strong>de</strong>utete, gleichzeitig als Sammelbegriff für alle Arten von Vermögen verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>. Auch das late<strong>in</strong>ische Wort pecunia für Geld be<strong>de</strong>utetursprünglich nichts an<strong>de</strong>res als Vieh.In <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s gab es viele verschie<strong>de</strong>ne Waren, die <strong>in</strong> die allgeme<strong>in</strong>e Wertform gestellt wur<strong>de</strong>n, und die uns heute höchstmerkwürdig anmuten: So besaß Island nach Verordnungen von 1413 und 1426 e<strong>in</strong> jahrhun<strong>de</strong>rtelang gültiges Register mit Festsetzungenfür Preise <strong>in</strong> Dörrfisch. Hufeisen kosteten je e<strong>in</strong>en Fisch, e<strong>in</strong> paar Frauenschuhe drei Dörrfische usw. In Alaska und Sibirien wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Warentauschnoch bis <strong>in</strong> das 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt über Felle geregelt, und <strong>de</strong>r russische Zar Peter (genannt "<strong>de</strong>r Große") bezahlte se<strong>in</strong>e Beamten<strong>in</strong> <strong>de</strong>n entlegenen Regionen noch mit e<strong>in</strong>em <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Felle, die von diesen zuvor als Steuern e<strong>in</strong>getrieben wor<strong>de</strong>n waren. Bunte Schneckenund Muscheln dienten an afrikanischen Küsten im 17. und 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt als Zahlungsmittel. Die Kauris, kle<strong>in</strong>e, aus <strong>de</strong>m <strong>in</strong>dischen Ozeanstammen<strong>de</strong> Schneckengehäuse, gelangten als gültiges Zahlunsmittel von Afrika bis nach Nordost<strong>in</strong>dien, Burma und Ch<strong>in</strong>a, wo sie <strong>in</strong>e<strong>in</strong>zelnen Lan<strong>de</strong>steilen noch bis um 1800 als Zahlungsmittel genutzt wur<strong>de</strong>n (Fernand Brau<strong>de</strong>l: Sozialgeschichte <strong>de</strong>s 15. - 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts.3 Bän<strong>de</strong>; Frankfurt 1990).125<strong>Das</strong> Beispiel ist ke<strong>in</strong>eswegs abwegig. Als Webprodukt, das aus <strong>de</strong>m Flachs gewonnen wird, war die Le<strong>in</strong>enherstellung über Jahrhun<strong>de</strong>rtee<strong>in</strong> weit verbreitetes Gewerbe, zunächst <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r bäuerlichen Wirtschaft, dann auch als eigenständiges Handwerk. Die Verarbeitung vonFlachs (kämmen, sp<strong>in</strong>nen, weben) war allgeme<strong>in</strong> bekannt. Zweifellos wäre Le<strong>in</strong>wand und an<strong>de</strong>re Stoffe für die Äquivalentform e<strong>in</strong>edurchaus geeignete Ware, um als Wertmaßstab zu dienen.In Ch<strong>in</strong>a waren es Sei<strong>de</strong>nballen bestimmer Größe, die für die allgeme<strong>in</strong>e Wertform genutzt wur<strong>de</strong>n. Am Golf von Gu<strong>in</strong>ea zur Zeit <strong>de</strong>s Sklavenhan<strong>de</strong>lswur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wert e<strong>in</strong>es schwarzen Sklaven zwischen 15 und 40 Jahren <strong>in</strong> <strong>in</strong>dischem Baumwollstoff gemessen; das pièce d'In<strong>de</strong>wur<strong>de</strong> sogar zum Fachbegriff <strong>de</strong>r Sklavenhändler für die Sklavenware selbst. E<strong>in</strong> Missionar berichtet 1728 von <strong>de</strong>n Maßnahmen <strong>de</strong>r englischenKaufleute, <strong>de</strong>n Sklavenhan<strong>de</strong>l zu vere<strong>in</strong>fachen. Sie setzten <strong>de</strong>n Preis e<strong>in</strong>es Sklaven e<strong>in</strong>fach auf vier Unzen Gold o<strong>de</strong>r dreißig Silberpiasterfest, was e<strong>in</strong>em Dreiviertelpfund Korallen o<strong>de</strong>r sieben Stück schottischen Stoffs entsprach. Da zur selben Zeit e<strong>in</strong> Araberpferd mit<strong>de</strong>m Wert von 15 schwarzen Sklaven berechnet wur<strong>de</strong>, sieht man sofort die Vorteile <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Wertform: Man könnte <strong>de</strong>n Gaulauch für 60 Unzen Gold o<strong>de</strong>r für 105 Stück schottischen Stoffs erwerben (Diese Beispiele und auch die oben erwähnten Beispiele mit Dörrfischund Co. entnehmen wir <strong>de</strong>r lesenswerten Wirtschaftsgeschichte von Fernand Brau<strong>de</strong>l: Sozialgeschichte <strong>de</strong>s 15. - 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts. 3Bän<strong>de</strong>; Frankfurt 1990.126Über die Geldform sagt M.: "Die Notwendigkeit dieser Form entwickelt sich mit <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Anzahl und Mannigfaltigkeit <strong>de</strong>r <strong>in</strong><strong>de</strong>n Austauschprozeß e<strong>in</strong>treten<strong>de</strong>n Waren. Die Aufgabe entspr<strong>in</strong>gt gleichzeitig mit <strong>de</strong>n Mitteln ihrer Lösung. E<strong>in</strong> Verkehr, wor<strong>in</strong> Warenbe-60


allgeme<strong>in</strong>e Wertform vorzugsweise im sogenannten "Grenzhan<strong>de</strong>l", also im Austausch zwischenabgegrenzten Wirtschaftsbereichen, die wegen bestimmter begehrter Produkte im Austauschstehen. <strong>Das</strong> mögen Felle, Holzarten, Tonwaren o<strong>de</strong>r landwirtschaftliche Spezialitäten gewesense<strong>in</strong>. Diese Produkte dienten dann oft auch als allgeme<strong>in</strong>es Äquivalent, um <strong>de</strong>m Austausch<strong>de</strong>r Waren e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Grundlage zu geben. Bei fortdauern<strong>de</strong>m Austausch g<strong>in</strong>genvom Grenzhan<strong>de</strong>l entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Impulse für <strong>de</strong>n Übergang zur Geldform aus.Der Wechsel von <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Wertform zur Geldform ist formal e<strong>in</strong>fach, da ja das spezifischeProdukt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Wertform bereits Geldfunktion ausübt. Tatsächlich aber br<strong>in</strong>gtdieser Wechsel zum Gold-Geld (o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Geldsorten) e<strong>in</strong>en ganz neuen Ausgangspunkt <strong>in</strong>die Geschichte. Sehen wir uns M.s Schema dieser Wertform an:Zwischenfrage 28: Warum ist Gold bevorzugt als Geld verwen<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n? Welche an<strong>de</strong>ren Stoffe könnten<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldform auftreten? (S.263)Man muß sich klar machen, dass mit <strong>de</strong>m Wechsel zum Geld eigentlich nichts Aufregen<strong>de</strong>s passiert.In <strong>de</strong>r Entwicklung von <strong>de</strong>r zufälligen Wertform bis zur Geldform betont M. gera<strong>de</strong> dieformale Gleichheit <strong>de</strong>r Schemata. Genau wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r zufälligen Wertform <strong>de</strong>s Naturaltauschesdient auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldform e<strong>in</strong>e Ware als Wertausdruck. Nur dass wir es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldform mit<strong>de</strong>rselben Ware zu tun haben, <strong>de</strong>ren e<strong>in</strong>ziger Gebrauchswert es ist, als Geld zu dienen. 127 DerWert dieser Ware, die wir Geld nennen, wird aber wie <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Ware bestimmt: Solangedas Geld als Gold- o<strong>de</strong>r Silbergeld stofflicher Wertträger ist, durch die dar<strong>in</strong> unmittelbar enthaltenegesellschaftliche Arbeit. Mit <strong>de</strong>m Übergang zum Geld als Wertzeichen durch die damitrepräsentierte gesellschaftliche Arbeit, gemessen <strong>in</strong> Kaufkraft.Zwischenfrage 29: Warum wäre die E<strong>in</strong>führung von Baumblättern als Geld nicht empfehlenswert? Warumeignet sich auch Vieh o<strong>de</strong>r Le<strong>in</strong>wand nur schlecht (S.263)Daran hat sich auch mit <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Währungen, die seit <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>r sogenanntenBretton-Woods Verpflichtungen 1971 128 ohne Gold<strong>de</strong>ckung auskommen, nichts geänsitzerihre eignen Artikel mit verschiednen andren Artikeln austauschen, und vergleichen, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t niemals statt, ohne daß verschiedne Warenvon verschiednen Warenbesitzern <strong>in</strong>nerhalb ihres Verkehrs mit e<strong>in</strong>er und <strong>de</strong>rselben dritten Warenart ausgetauscht und als Werte verglichenwer<strong>de</strong>n. Solche dritte Ware, <strong>in</strong><strong>de</strong>m sie Äquivalent für verschiedne andre Waren wird, erhält unmittelbar, wenn auch <strong>in</strong> engenGrenzen, allgeme<strong>in</strong>e o<strong>de</strong>r gesellschaftliche Äquivalentform. Diese allgeme<strong>in</strong>e Äquivalentform entsteht und vergeht mit <strong>de</strong>m augenblicklichengesellschaftlichen Kontakt, <strong>de</strong>r sie <strong>in</strong>s Leben rief. Abwechselnd und flüchtig kommt sie dieser o<strong>de</strong>r jener Ware zu. Mit <strong>de</strong>r Entwicklung<strong>de</strong>s Warenaustausches heftet sie sich aber ausschließlich fest an beson<strong>de</strong>re Warenarten o<strong>de</strong>r kristallisiert zur Geldform. An welcherWarenart sie kleben bleibt, ist zunächst zufällig. Jedoch entschei<strong>de</strong>n im großen und ganzen zwei Umstän<strong>de</strong>. Geldform heftet sich entwe<strong>de</strong>ran die wichtigsten E<strong>in</strong>tauschartikel aus <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>, welche <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat naturwüchsige Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>de</strong>s Tauschwerts <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>heimischenProdukte s<strong>in</strong>d, o<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Gebrauchsgegenstand, welcher das Hauptelement <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>heimischen veräußerlichen Besitztumsbil<strong>de</strong>t, wie z.B. Vieh. Noma<strong>de</strong>nvölker entwickeln zuerst die Geldform, weil all ihr Hab und Gut sich <strong>in</strong> beweglicher, daher unmittelbar veräußerlicherForm bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t, und weil ihre Lebensweise sie beständig mit frem<strong>de</strong>n Geme<strong>in</strong>wesen <strong>in</strong> Kontakt br<strong>in</strong>gt, daher zum Produktenaustauschsollizitiert. Die Menschen haben oft <strong>de</strong>n Menschen selbst <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Sklaven zum ursprünglichen Geldmaterial gemacht,aber niemals <strong>de</strong>n Grund und Bo<strong>de</strong>n. (...) In <strong>de</strong>mselben Verhältnis, wor<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Warenaustausch se<strong>in</strong>e nur lokalen Ban<strong>de</strong> sprengt, <strong>de</strong>r Warenwertsich daher zur Materiatur menschlicher Arbeit überhaupt ausweitet, geht die Geldform auf Waren über, die von Natur zur gesellschaftlichenFunktion e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Äquivalents taugen, auf die edlen Metalle." (MEW 23, S.103f) Auch dieses Zitat ist e<strong>in</strong> typischesBeispiel für die strukturelle Herleitung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Warenproduktion und aus <strong>de</strong>m historischen Stoff heraus.127"Die spezifische Warenart nun, mit <strong>de</strong>ren Naturalform die Äquivalentform gesellschaftlich verwächst, wird zur Geldware o<strong>de</strong>r funktioniertals Geld. Es wird ihre spezifisch gesellschaftliche Funktion, und daher ihr gesellschaftliches Mono<strong>pol</strong>, <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Warenwelt dieRolle <strong>de</strong>s allgeme<strong>in</strong>en Äquivalents zu spielen." (MEW 23, S.83f)128Seit <strong>de</strong>n Vere<strong>in</strong>barungen von Bretton-Woods 1944 galt <strong>de</strong>r US-Dollar als Leitwährung, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> fester Parität zum Gold stand. Alle an<strong>de</strong>renWährungen stan<strong>de</strong>n zum Doller <strong>in</strong> fester Verrechnung. Dafür gaben die USA allen beteiligten Län<strong>de</strong>rn die Garantie, je<strong>de</strong>rzeit US-Dollar<strong>in</strong> Gold e<strong>in</strong>zutauschen. Nur ist das mit Garantien so e<strong>in</strong>e Sache. Als die französische Regierung 1969 für Frankreichs Dollarbestän<strong>de</strong> diesenUmtausch <strong>in</strong> Gold e<strong>in</strong>for<strong>de</strong>rte, erwiesen sich die USA (nicht nur <strong>in</strong> Folge <strong>de</strong>s Vietnamkriegs) als zahlungsunfähig. Der US-Präsi<strong>de</strong>ntNixon kündigte kurzerhand die Verpflichtung zum Goldumtausch und brachte das System von Bretton-Woods zu Fall. Geblieben s<strong>in</strong>d unsdavon aber noch die <strong>in</strong> Bretton-Woods gegrün<strong>de</strong>te Weltbank und <strong>de</strong>r Internationale Währungsfonds (IWF), die heute auf an<strong>de</strong>re Weise ihrUnwesen treiben.61


<strong>de</strong>rt. Abgesehen davon, das alles noch etwas verwickelter gewor<strong>de</strong>n ist. <strong>Das</strong> wird uns späternoch beschäftigen. Halten wir an dieser Stelle fest:Erst mit <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s s<strong>in</strong>d alle Voraussetzungen für e<strong>in</strong>en entwickelten Warenaustauschgegeben. Mehr noch: Mit <strong>de</strong>m Geld kann sich die Wan<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Waren und <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>svon Hand zu Hand (= Zirkulation) gegenüber <strong>de</strong>r Produktion dieser Waren verselbständigen.Der Tausch von Ware gegen Ware hat endgültig ausgedient. Für me<strong>in</strong>e Ware erhalte ich Geld.Habe ich Geld <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand, kann mich ke<strong>in</strong> Verfallsdatum irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Ware mehr schrecken.<strong>Das</strong> Geld gibt neue Freiheiten. Wir riechen <strong>de</strong>n Übergang zu e<strong>in</strong>er eigenständigen Produktionsweise,<strong>in</strong> <strong>de</strong>r das Geld die führen<strong>de</strong> Rolle übernimmt. Aber so wie es seit <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>r Geldwirtschaftnoch e<strong>in</strong>ige Jahrhun<strong>de</strong>rte dauerte, bis sich Geldleute die kapitale Freiheit nahmen, brauchenwir noch e<strong>in</strong>ige Kapitel bis zum <strong>Kapital</strong>.Zwischenfrage 30: Ist Geld immer an die reale Goldform gebun<strong>de</strong>n? Kann Geld auch dann funktionieren,wenn ke<strong>in</strong>e spezielle Ware wie Gold o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re stoffliche Wertträger <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentform steht?(S.264)Er<strong>in</strong>nern wir uns zunächst mal an M.s Versprechen, die schrittweise Konkretisierung <strong>de</strong>r Begriffewer<strong>de</strong> uns e<strong>in</strong>en Weg durch die "Mannigfaltigkeit <strong>de</strong>r Ersche<strong>in</strong>ungsformen" öffnen. Mit <strong>de</strong>mGeld haben wir bereits e<strong>in</strong>en Fuß <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischen Tür und können <strong>de</strong>n Türspalt Stück fürStück erweitern. Wo wir bisher über Warenproduktion und Warenaustausch re<strong>de</strong>ten, sprechenwir jetzt bereits von Produktion und Zirkulation, also von zwei Phasen e<strong>in</strong>es Prozesses, die durchdas Geld verbun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong>, was M. <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s 129 nennt, istschon am Horizont zu erkennen. Und wir ahnen, dass unser Geld nicht alle<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Vere<strong>in</strong>fachung<strong>de</strong>s Austauschs se<strong>in</strong>e Existenz verdankt und als schlichtes Werkzeug braven Dienst verrichtet,son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise e<strong>in</strong>e zentrale Stellung erobert.Aber bevor wir dort ankommen, ist noch e<strong>in</strong>iges zu erledigen. Zum Beispiel ist noch die Rolle <strong>de</strong>sGel<strong>de</strong>s und se<strong>in</strong> Zusammenhang zum Wert genauer zu klären. <strong>Das</strong> machen wir im übernächstenKapitel. Wer noch Reserven hat, darf sich aber gerne zwischendurch <strong>de</strong>r Sache mit <strong>de</strong>m Fetischzuwen<strong>de</strong>n, die wir ke<strong>in</strong>eswegs als Schikane, son<strong>de</strong>rn M.s Aufbau folgend hier e<strong>in</strong>schieben. Manwird sehen, dass es dafür gute Grün<strong>de</strong> gibt."Sie wissen das nicht, aber sie tun es": Die Sache mit <strong>de</strong>m Fetisch<strong>Das</strong> Kapitel über <strong>de</strong>n "Fetischcharakter <strong>de</strong>r Ware und se<strong>in</strong> Geheimnis" steht am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>1.</strong> Kapitelsüber die Ware; es folgt direkt <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>r Geldform. Nicht nur auf <strong>de</strong>n ersten Blicknimmt sich das Fetisch-Kapitel etwas wun<strong>de</strong>rlich aus. Entsprechend merkwürdig steht es um dieResonanz <strong>de</strong>s Kapitels.Für die e<strong>in</strong>en ist es schlichtweg genial; sie stellen es <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, weilsie dar<strong>in</strong> alle Grundlagen verdichtet f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen sich (vielleicht) die Entstehung e<strong>in</strong>er spezifischbürgerlichen I<strong>de</strong>ologie erklären läßt. An<strong>de</strong>re Autoren, die sich ansonsten recht kundig zuM.s Politischer Ökonomie äußern, überspr<strong>in</strong>gen das Kapitel, so als stelle es e<strong>in</strong>en Fremdkörperdar, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Fluß <strong>de</strong>r Argumentation hemmt."Warenfetischismus" gehört vermutlich zu <strong>de</strong>n beliebteren l<strong>in</strong>ken Renommierfloskeln, oft treffsicherfalsch angewen<strong>de</strong>t. Halten wir daher zunächst mal fest, worum es beim "Warenfetischis-129Der Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist Thema <strong>de</strong>s II. "<strong>Kapital</strong>"-Ban<strong>de</strong>s. Wir kommen im Kapitel "Kapitel 12: Der Zirkulationsprozeß<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s" (S.1) darauf zurück.62


mus" nicht geht: Geme<strong>in</strong>t ist nicht die <strong>in</strong>dividuelle Vernarrtheit <strong>in</strong> Waren o<strong>de</strong>r die Fixierung e<strong>in</strong>erKonsumgesellschaft auf die Warenwelt. Auch nicht die feste Überzeugung von Menschen, ohne<strong>de</strong>n Besitz e<strong>in</strong>er bestimmten Ware nicht glücklich se<strong>in</strong> zu können. Auch nicht die Neigung vonMenschen, die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r eigenen Person über <strong>de</strong>n Besitz bestimmter Waren nach außenmitzuteilen und die Ware zum Sta-tussymbol zu machen. Solche Aspekte <strong>de</strong>r Warenproduktion mag man aus <strong>de</strong>m Fetisch-Kapitelableiten; wir wer<strong>de</strong>n uns damit nicht aufhalten. M. geht es um etwas an<strong>de</strong>res. Lassen wir ihn andieser Stelle mal wie<strong>de</strong>r selbst mit e<strong>in</strong>em längeren Auszug zu Wort kommen:Lektüre: Karl Marx: S.309Ne<strong>in</strong>, trotz <strong>de</strong>s übers<strong>in</strong>nlichen Tisches und <strong>de</strong>r theologischen Mucken: M. ist nicht unter die Parapsychologeno<strong>de</strong>r Geisterforscher gefallen. Wenn er sich <strong>in</strong> diesem Text auch über die zeitgenössischeSpiritisten-Szene mehr als nur lustig macht. Wer solche Texte nicht gewohnt ist, mußdiesen vermutlich zweimal lesen (m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens). Und wer nicht zu unkritischer Verehrung neigt,darf auch getrost die "Was soll's?"-Frage stellen.Schließlich ist nicht zu übersehen, dass M. im Fetisch-Kapitel recht großen literarischen Aufwandbetreibt. Die von ihm ohneh<strong>in</strong> bevorzugte Rhetorik, e<strong>in</strong>en Sachverhalt durch immer neue Formulierungene<strong>in</strong>zukreisen, wird hier beson<strong>de</strong>rs krass praktiziert. Aus unserer Sicht ist M.s Analyse<strong>de</strong>s "Fetischcharakters <strong>de</strong>r Ware" ke<strong>in</strong> Musterbeispiel für Präzision. 130 Auch <strong>de</strong>r Begriff "Fetischcharakter"...naja. Aber die Punkte, auf die es ankommt, s<strong>in</strong>d erkennbar und ke<strong>in</strong>eswegs banal.Warum "Fetischcharakter"? Als Fetisch wer<strong>de</strong>n die von Menschen geschaffenen Gegenstän<strong>de</strong>bezeichnet, <strong>de</strong>nen man <strong>in</strong> Religionen übernatürliche o<strong>de</strong>r göttliche Kräfte zuerkennt. Dabeikann es sich um die Tjurunga, die heiligen Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Australier, um Talismane <strong>de</strong>r Babyloniero<strong>de</strong>r um Heiligenknochen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r katholischen Kirche han<strong>de</strong>ln. M. spielt im Kapitel oft genugauf <strong>de</strong>n religiösen Kontext an. Denn für ihn wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r warenproduzieren<strong>de</strong>n Gesellschaftsolche sche<strong>in</strong>bar übers<strong>in</strong>nlichen o<strong>de</strong>r schicksalhaften Kräfte auf die Waren und <strong>de</strong>n Warenaustauschübertragen. 131Der Umstand, dass sich <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>s Warenproduzenten erst über die Wertseite se<strong>in</strong>er Warenund ihren Tausch <strong>in</strong> Geld e<strong>in</strong>stellt, verwan<strong>de</strong>lt je<strong>de</strong> Ware <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e "gesellschaftliche Hieroglyphe",wie M. schreibt, <strong>de</strong>ren S<strong>in</strong>n die Menschen zu entziffern suchen, um "h<strong>in</strong>ter das Geheimnis ihreseignen gesellschaftlichen Produkts zu kommen." 132 Was soll das eigentlich be<strong>de</strong>uten? Haben wires jetzt mit Marx'schen "Hieroglyphen" zu tun, die wir unsererseits erst entziffern müssen? M.macht es uns <strong>in</strong> diesem Kapitel wirklich nicht leicht.Mit <strong>de</strong>m Hieroglyphen-Vergleich betont M. die Notwendigkeit für die Warenproduzenten, e<strong>in</strong>epraktikable Deutung <strong>de</strong>r Vorgänge zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, die aus ihren eigenen Handlungen bestehen. Aber130M. mußte für dieses Kapitel nach <strong>de</strong>r ersten Ausgabe e<strong>in</strong>e Menge Extrakritik e<strong>in</strong>stecken und hat es für die zweite Ausgabe 1872 überarbeitet.Er schreibt im Nachwort zur 2. Auflage: "Der letzte Abschnitt <strong>de</strong>s ersten Kapitels, 'Der Fetischcharakter <strong>de</strong>r Ware etc.', ist großenteilsverän<strong>de</strong>rt." Genutzt hat es nicht viel. Die schmissigen Formulierungen <strong>de</strong>cken die Absichten <strong>de</strong>s Kapitels eher zu.131Unter allen Waren wird beson<strong>de</strong>rs das Geld zum Ausgangspunkt <strong>de</strong>r Fetischisierung, da es sche<strong>in</strong>bar vollkommene Macht über die Warenweltund alles rundherum gewährt.132MEW 23, S.88. M.s Vergleich mit <strong>de</strong>n Hieroglyphen als e<strong>in</strong>e Art Geheimschrift (hiero kommt aus <strong>de</strong>m Griechischen und be<strong>de</strong>utet geheim)spielt auf Schwierigkeiten an, speziell die ägyptische Schrift zu verstehen. <strong>Das</strong> gelang erst 1822 durch die Arbeiten von Jean-François Cham<strong>pol</strong>lion. Dem war es gelungen, <strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Ste<strong>in</strong> von Rosetta e<strong>in</strong>gemeißelten mehrsprachigen Text auch für die Hieroglyphenvollständig zu übersetzen. Wie so viele an<strong>de</strong>re geraubte Kultur<strong>de</strong>nkmäler bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Ste<strong>in</strong> von Rosetta seit 1803 im BritischenMuseum, wo M. ihn vermutlich auch bewun<strong>de</strong>rt hat.63


wie stellen sich für die Warenproduzenten die gesellschaftlichen Verhältnisse dar? Darum gehtes <strong>in</strong> diesem Kapitel.M. sagt übrigens an ke<strong>in</strong>er Stelle, dass sich die Warenproduzenten e<strong>in</strong> "falsches Bild" dieserVerhältnisse machen o<strong>de</strong>r dass sie e<strong>in</strong> "falsches Bewußtse<strong>in</strong>" ihrer Lage haben o<strong>de</strong>r ähnliches.Im Gegenteil: Der Fetischcharakter <strong>de</strong>r Waren entspr<strong>in</strong>gt aus <strong>de</strong>r objektiven Situation <strong>de</strong>s Warenproduzenten.Die "Verd<strong>in</strong>glichung <strong>de</strong>r Verhältnisse" ist ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>bildung, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e Realität,die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Grundstruktur <strong>de</strong>r Warenproduktion wurzelt: Die große Zahl <strong>de</strong>r privaten, vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>runabhängig han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Produzenten s<strong>in</strong>d nur über <strong>de</strong>n Austausch verbun<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> ist<strong>de</strong>r gesellschaftliche Charakter ihrer Arbeit. Sie agieren, wie M. es formuliert, wie e<strong>in</strong> "naturwüchsigerProduktionsorganismus, <strong>de</strong>ssen Fä<strong>de</strong>n h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>r Warenproduzentengewebt wur<strong>de</strong>n und sich fortweben." 133 Doch erst im Austausch zeigt sich, ob ihre Produkteprivater Arbeit auch als gesellschaftlich nützliche Arbeit akzeptiert wer<strong>de</strong>n.Alle Produzenten leisten geme<strong>in</strong>sam beachtliches: Es ist ihr Han<strong>de</strong>ln, das die Produktionsverhältnisseimmer wie<strong>de</strong>r neu erschaftt. Es ist ihr Han<strong>de</strong>ln, das <strong>de</strong>n Austausch realisiert und damit dieWertbeziehungen immer wie<strong>de</strong>r neu herstellt. "Sie wissen das nicht, aber sie tun es." 134 Und sieerledigen das e<strong>in</strong>zeln, je<strong>de</strong>r für sich.Zwischenfrage 31: Hat <strong>de</strong>nn nicht <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne <strong>Kapital</strong>ismus duch Marktanalyse und an<strong>de</strong>re Maßnahmendie "Hieroglypen <strong>de</strong>r Marktproduktion" längst entziffert? (S.265)Tatsächlich entschei<strong>de</strong>t sich das Schicksal je<strong>de</strong>s Produzenten immer wie<strong>de</strong>r neu, wenn er mitse<strong>in</strong>en Produkten auf <strong>de</strong>n Markt geht. Erfolg o<strong>de</strong>r Mißerfolg hängen vom erfolgreichen Tauschab. M. nennt das an an<strong>de</strong>rer Stelle <strong>de</strong>n "Salto Mortale <strong>de</strong>r Ware" 135 . Geht die Ware o<strong>de</strong>r gehtsie nicht? Ist <strong>de</strong>r Markt günstig? Halten die Preise? Wird die Nachfrage stabil bleiben? WelcheÄn<strong>de</strong>rungen kann es geben? Mit Antworten auf diese Fragen versuchen die Akteure, jene "gesellschaftlicheHieroglyphe" zu enträtseln, als die sich die eigene Ware immer wie<strong>de</strong>r erweist.In <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r "Produktentauscher", wie M. sie <strong>in</strong> diesem Abschnitt nennt, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t nicht dieAnalyse von Wert, Arbeitsteilung, Warenproduktion statt. Sie betreiben nicht wissenschaftlicheAnalyse, son<strong>de</strong>rn leben von ihren Erkenntnissen aus praktischer Tätigkeit, von <strong>de</strong>r Verallgeme<strong>in</strong>erungihrer Erfahrungen: "Was die Produktenaustauscher zunächst praktisch <strong>in</strong>teressiert, ist dieFrage, wieviel frem<strong>de</strong> Produkte sie für das eigne Produkt erhalten, <strong>in</strong> welchen Proportionen sichalso die Produkte austauschen." 136 Die Produktionsverhältnisse, <strong>de</strong>nen alle<strong>in</strong> die Waren ihre Exis-133MEW 23, S.120134"<strong>Das</strong> Gehirn <strong>de</strong>r Privatproduzenten spiegelt diesen doppelten gesellschaftlichen Charakter ihrer Privatarbeiten nur wi<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Formen,welche im praktischen Verkehr, im Produktenaustausch ersche<strong>in</strong>en - <strong>de</strong>n gesellschaftlich nützlichen Charakter ihrer Privatarbeitenalso <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form, daß das Arbeitsprodukt nützlich se<strong>in</strong> muß, und zwar für andre - <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>r Gleichheit <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nartigenArbeiten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s geme<strong>in</strong>samen Wertcharakters dieser materiell verschiednen D<strong>in</strong>ge, <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte. DieMenschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartigmenschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. In<strong>de</strong>m sie ihre verschie<strong>de</strong>nartigen Produkte e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r im Austausch als Werte gleichsetzen, setzensie ihre verschiednen Arbeiten e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es." (MEW 23, S.88)135M. beschreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Vorarbeit zum "<strong>Kapital</strong>" <strong>de</strong>n Ware-Geld-Wechsel am Beispiel <strong>de</strong>s Eisenproduzenten mit diesen Worten: "Es istdaher die Aufgabe <strong>de</strong>s Eisens o<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>es Besitzers, <strong>de</strong>n Punkt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Warenwelt aufzuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wo Eisen Gold anzieht. Diese Schwierigkeit,<strong>de</strong>r salto mortale <strong>de</strong>r Ware, ist aber überwun<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Verkauf, wie hier <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Zirkulation unterstellt wird,wirklich vorgeht. In<strong>de</strong>m die Tonne Eisen durch ihre Veräußerung, d.h. ihr Übergehen aus <strong>de</strong>r Hand, wo sie Nicht-Gebrauchswert, <strong>in</strong> dieHand, wor<strong>in</strong> sie Gebrauchswert ist, sich als Gebrauchswert verwirklicht, realisiert sie zugleich ihren Preis und wird aus nur vorgestelltemGold wirkliches Gold." (MEW 13, S.71)136"Was die Produktenaustauscher zunächst praktisch <strong>in</strong>teressiert, ist die Frage, wieviel frem<strong>de</strong> Produkte sie für das eigne Produkt erhalten,<strong>in</strong> welchen Proportionen sich also die Produkte austauschen. Sobald diese Proportionen zu e<strong>in</strong>er gewissen gewohnheitsmäßigen Festigkeitherangereift s<strong>in</strong>d, sche<strong>in</strong>en sie aus <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte zu entspr<strong>in</strong>gen, so daß z.B. e<strong>in</strong>e Tonne Eisen und 2 Unzen Goldgleichwertig, wie e<strong>in</strong> Pfund Gold und e<strong>in</strong> Pfund Eisen trotz ihrer verschiednen physikalischen und chemischen Eigenschaften gleich schwer64


tenz verdanken und die im historischen Prozess von <strong>de</strong>n Menschen selbst geschaffen wur<strong>de</strong>n,ersche<strong>in</strong>en <strong>de</strong>r praktisch-tätigen Erkenntnis als "gesellschaftliche Natureigenschaften dieser D<strong>in</strong>ge".In heutiger Ausdrucksweise: Der Markt wird zum Fetisch, zur übergeordneten Instanz, dieüber das eigene Schicksal entschei<strong>de</strong>t. Alles eigene Han<strong>de</strong>ln ist darauf abgestellt, ihn günstigund wohlwollend zu stimmen. O<strong>de</strong>r <strong>in</strong> M.s Worten: "Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitztfür sie die Form e<strong>in</strong>er Bewegung von Sachen, unter <strong>de</strong>ren Kontrolle sie stehen, statt sie zukontrollieren."Zwischenfrage 32: Spielt <strong>de</strong>r "Fetischcharakter <strong>de</strong>r Ware" <strong>in</strong> unserem Leben überhaupt e<strong>in</strong>e Rolle?O<strong>de</strong>r ist das letztenen<strong>de</strong>s doch nur e<strong>in</strong>e geschwollen formulierte Spekulation, die viel zu abgehoben ist,um praktische Be<strong>de</strong>utung zu haben? (S.266)Wie br<strong>in</strong>gen bestimmte materielle Lebensverhältnisse e<strong>in</strong>e bestimmte Sicht <strong>de</strong>r D<strong>in</strong>ge, ihre gedanklicheWie<strong>de</strong>rspiegelung hervor? Wie entsteht das, was wir I<strong>de</strong>ologie nennen? Wie kanalisierendiese Lebensverhältnisse die Wahrnehmungen und setzen <strong>de</strong>n Erkenntnissen <strong>de</strong>r Akteurebestimmte Grenzen? Solche Fragen hat M. <strong>in</strong> allen se<strong>in</strong>en Arbeiten immer wie<strong>de</strong>r aufgegriffen.Und darum geht es schließlich auch im Fetisch-Kapitel <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>". Aber warum überhauptdieses Kapitel im "<strong>Kapital</strong>"? Und Warum an dieser Stelle?An dieser Stelle, weil <strong>de</strong>r Fetischcharakter <strong>de</strong>r Ware <strong>in</strong> das allgeme<strong>in</strong>e Kapitel über die Ware gehört.Und warum überhaupt? Weil es Schlußfolgerungen aus <strong>de</strong>r Wertanalyse s<strong>in</strong>d, die auf e<strong>in</strong>enicht ausgesprochene Frage Antwort geben. Nämlich:Warum komme ich, Karl Marx, bei me<strong>in</strong>er Analyse <strong>de</strong>r Ware zu ganz an<strong>de</strong>ren Schlußfolgerungenals diejenigen, die mit <strong>de</strong>r Produktion von Waren tagtäglich zu tun haben? Warum unterschei<strong>de</strong>tsich me<strong>in</strong>e Sicht <strong>de</strong>r Verhältnisse so grundlegend von <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r praktischen Warenexperten,<strong>de</strong>r Fachleute für Produktion? Und dazu gehört immer auch die Frage: Warum gelangenme<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Vorgänger und me<strong>in</strong>e zeitgenössischen Kollegen nicht zu <strong>de</strong>nselbenResultaten wie ich?Mit <strong>de</strong>m "Fetischcharakter" ist die Richtung angegeben, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r man nach e<strong>in</strong>er Antwort auf dieseFragen zu suchen hat: Die Warenexperten, die als <strong>Teil</strong> dieser Produktionsverhältnisse wirken,können über die praktisch-tätige Erkenntnis zu ke<strong>in</strong>en an<strong>de</strong>ren Ergebnissen kommen. Der Verkauf<strong>de</strong>r Waren ist ihre wirkliche und nicht nur e<strong>in</strong>gebil<strong>de</strong>te Schicksalsfrage. Für sie als private,selbständige Produzenten ist die "Fetischisierung <strong>de</strong>s Marktes" nur die Anerkennung e<strong>in</strong>er ameigenen Leib immer wie<strong>de</strong>r erfahrenen Abhängigkeit. Da hilft ihnen ke<strong>in</strong>e noch so kluge Analysevon Ware und Wert.Zwischenfrage 33: Unterliegt vielleicht auch die Betrachtung <strong>de</strong>s Staates diesem Warenfetischismus? Wiesieht hier die Verb<strong>in</strong>dung von Warenproduktion und Staat aus? (S.268)Und warum kommt M. zum vollen Verständnis <strong>de</strong>s Werts, obwohl se<strong>in</strong>e gewiß nicht dummen<strong>pol</strong>it-ökonomischen Vorgänger auf <strong>de</strong>m Weg dah<strong>in</strong> stecken geblieben s<strong>in</strong>d? M. gibt auch daraufe<strong>in</strong>e Antwort: Erstens bedarf es <strong>de</strong>r voll entwickelten Warenproduktion, um tiefere E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong>die gesellschaftliche Natur dieser Produktionsweise zu gew<strong>in</strong>nen. Diesen Vorteil hat M. gegenüberSmith und Ricardo. 137 Zweitens bedarf es <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Metho<strong>de</strong> und dabei <strong>de</strong>rs<strong>in</strong>d. In <strong>de</strong>r Tat befestigt sich <strong>de</strong>r Wertcharakter <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte erst durch ihre Betätigung als Wertgrößen. Die letzteren wechselnbeständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun <strong>de</strong>r Austauschen<strong>de</strong>n. Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie dieForm e<strong>in</strong>er Bewegung von Sachen, unter <strong>de</strong>ren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren." (MEW 23, S.89)137"Es bedarf vollständig entwickelter Warenproduktion, bevor aus <strong>de</strong>r Erfahrung selbst die wissenschaftliche E<strong>in</strong>sicht herauswächst, daßdie unabhängig vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r betriebenen, aber als naturwüchsige Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gesellschaftlichen <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit allseitig vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r65


strikt historischen Betrachtung. Dann wer<strong>de</strong>n die Grenzen überw<strong>in</strong>dbar, die sich die bürgerliche<strong>pol</strong>itische Ökonomie implizit setzte, als sie für ihre Analyse die aus <strong>de</strong>r praktischen Erfahrunggewonnenen Kategorien unbefragt als "natürliche Kategorien" übernahm, statt sie zunächst aufihren wirklichen gesellschaftlichen und historischen Gehalt zurückzuführen. 138Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r von M.s <strong>pol</strong>itischer Ökonomie überzeugt ist o<strong>de</strong>r sich von ihr stark angezogen fühlt,muß <strong>de</strong>rzeit mit <strong>de</strong>r Außenseiterrolle leben. Wer hat sich nicht schon mal gefragt, warum manausgerechent als Vertreter e<strong>in</strong>er Arbeits- und Mehrwerttheorie <strong>in</strong> die Ecke gestellt wird, wo dochoffensichtlich viel bejubelte Theorien nicht annähernd so viel Erklärungskraft entwickeln? Malabgesehen davon, dass solche Theorien <strong>de</strong>r Volks- und Unternehmensökonomen nicht nur nachneuester Mo<strong>de</strong> Blitzkarrieren machen, son<strong>de</strong>rn ebenso schnell zu Dutzen<strong>de</strong>n als Auslaufmo<strong>de</strong>lleauf <strong>de</strong>m Krabbeltisch lan<strong>de</strong>n. M. er<strong>in</strong>nert uns mit <strong>de</strong>m Fetisch-Kapitel daran, dass Erkenntnis e<strong>in</strong>gesellschaftlicher Prozess ist, gebun<strong>de</strong>n an die materiellen Lebensverhältnisse und die sich darausergeben<strong>de</strong>n Interessen. 139<strong>Das</strong> Fetisch-Kapitel ist ke<strong>in</strong> Fremdkörper im Gang <strong>de</strong>r Argumentation. Denn die Überlegungen<strong>de</strong>s Fetisch-Kapitels wer<strong>de</strong>n im Fortgang <strong>de</strong>r Analyse immer wie<strong>de</strong>r aufgegriffen. Beson<strong>de</strong>rs an<strong>de</strong>n heiklen Stellen, sozusagen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Problemzonen wird M. ausführlich die unterschiedlichenPerspektiven gegenüberstellen: Wie stellt sich dieses o<strong>de</strong>r jenes aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>istendar? Wie aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Arbeitskraft? Wie aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Analyse vom äußeren Standpunkt?In<strong>de</strong>m M. mit se<strong>in</strong>er Argumentation immer wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Außen- <strong>in</strong> die Innenperspektivewechselt, stellt er die praktisch-tätigen Erkenntnisse <strong>de</strong>r Akteure im System die Erkenntnisseabhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maß reduziert wer<strong>de</strong>n, weil sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n zufälligen und stetsschwanken<strong>de</strong>n Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu <strong>de</strong>ren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regeln<strong>de</strong>s Naturgesetzgewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz <strong>de</strong>r Schwere, wenn e<strong>in</strong>em das Haus über <strong>de</strong>m Kopf zusammenpurzelt." (MEW 23,S.89)138M. sagt über se<strong>in</strong>e Vorgänger: "Die <strong>pol</strong>itische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und<strong>de</strong>n <strong>in</strong> diesen Formen versteckten Inhalt ent<strong>de</strong>ckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt,warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß <strong>de</strong>r Arbeit durch ihre Zeitdauer <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wertgröße <strong>de</strong>s Arbeitsprodukts darstellt? Formeln,<strong>de</strong>nen es auf <strong>de</strong>r Stirn geschrieben steht, daß sie e<strong>in</strong>er Gesellschaftsformation angehören, wor<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionsprozeß die Menschen, <strong>de</strong>rMensch noch nicht <strong>de</strong>n Produktionsprozeß bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewußtse<strong>in</strong> für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeitals die produktive Arbeit selbst." (MEW 23, S.94ff)Was an se<strong>in</strong>en Vorgängern "historisch" sei, glossiert M. durch e<strong>in</strong> Zitat aus se<strong>in</strong>er älteren Arbeit '<strong>Das</strong> Elend <strong>de</strong>r Philosophie'. Dort hatte ernotiert: "Die Ökonomen verfahren auf e<strong>in</strong>e son<strong>de</strong>rbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. DieInstitutionen <strong>de</strong>s Feudalismus s<strong>in</strong>d künstliche Institutionen, die <strong>de</strong>r Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen dar<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Theologen, die auchzwei Arten von Religionen unterschei<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Religion, die nicht die ihre ist, ist e<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Menschen, während ihre eigene Religione<strong>in</strong>e Offenbarung Gottes ist." (Fußnote <strong>in</strong> MEW 23, S.96; Orig<strong>in</strong>alzitat <strong>in</strong> MEW 4, S.139)139Die Abhängigkeit je<strong>de</strong>r Art von Erkenntnis von <strong>de</strong>n Interessen ist nicht M.s Ent<strong>de</strong>ckung. Vom Dubl<strong>in</strong>er Erzbischof Richard Whateley(1787-1863), e<strong>in</strong>em <strong>de</strong>r Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r subjektiven Werttheorie, wird die Feststellung überliefert: "Selbst die Theoreme <strong>de</strong>s Euklid wür<strong>de</strong>nangefochten wer<strong>de</strong>n, wenn e<strong>in</strong>mal f<strong>in</strong>anzielle und <strong>pol</strong>itische Interessen mit ihnen <strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rstreit geraten." Wohl wahr. Lei<strong>de</strong>r hat sich BischofWhately, als er se<strong>in</strong>e subjektive Werttheorie mit <strong>de</strong>m Satz illustrierte: "Perlen erzielen nicht <strong>de</strong>shalb e<strong>in</strong>en hohen Preis, weil Männerdanach getaucht s<strong>in</strong>d; ganz im Gegenteil, Männer tauchen danach, weil sie e<strong>in</strong>en hohen Preis erzielen" dieser Erkenntnis nicht er<strong>in</strong>nert.Nun ist die Perle nicht gera<strong>de</strong> e<strong>in</strong> typischer Massenartikel <strong>de</strong>s kapitalistischen Warenmarktes und gewiss ebenso unzuverlässig zur Begründungirgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Werttheorie wie <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l mit Picasso-Gemäl<strong>de</strong>n. Der Bischof hätte sich fragen sollen, warum ihm ausgerechnetkostbare Perlen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n S<strong>in</strong>n kamen und nicht Brot o<strong>de</strong>r Mehl o<strong>de</strong>r Unterhosen. Es könnte mit se<strong>in</strong>er Lebensweise zu tun haben.*) Im übrigenklärt auch <strong>de</strong>r kernige Satz <strong>de</strong>s Bischofs noch nicht, woher <strong>de</strong>r hohe Preis <strong>de</strong>r Perlen kommt. Vielleicht nimmt M. darauf Bezug, wenner schreibt: "Bisher hat noch ke<strong>in</strong> Chemiker Tauschwert <strong>in</strong> Perle o<strong>de</strong>r Diamant ent<strong>de</strong>ckt." <strong>Das</strong> geht gegen alle Ökonomen, die <strong>de</strong>n D<strong>in</strong>gene<strong>in</strong>en Wert von Natur aus zuschreiben (MEW 23, S.98) Im Unterschied zu apodiktischen Bischöfen und schnellschüssigen Ökonomen <strong>de</strong>s"gesun<strong>de</strong>n Menschenverstands" ist es immer wie<strong>de</strong>r erfrischend, wie M. mit <strong>de</strong>m Fetisch-Kapitel <strong>de</strong>n Zusammenhang von Interesse undErkenntnis bewußt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Argumentation <strong>in</strong>tegriert.*) M. hat die E<strong>in</strong>sicht <strong>de</strong>s Kirchenmannes vom Standpunkt <strong>de</strong>s leidgeprüften PolitÖkonomen kommentiert: "Auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischenÖkonomie begegnet die freie wissenschaftliche Forschung nicht nur <strong>de</strong>mselben Fe<strong>in</strong><strong>de</strong> wie auf allen an<strong>de</strong>ren Gebieten. Die eigentümlicheNatur <strong>de</strong>s Stoffes, <strong>de</strong>n sie behan<strong>de</strong>lt, ruft wi<strong>de</strong>r sie die heftigsten, kle<strong>in</strong>lichsten und gehässigsten Lei<strong>de</strong>nschaften <strong>de</strong>r menschlichenBrust, die Furien <strong>de</strong>s Privat<strong>in</strong>teresses, auf <strong>de</strong>n Kampfplatz. Die englische Hochkirche z.B. verzeiht eher <strong>de</strong>n Angriff auf 38 von ihren39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Gel<strong>de</strong><strong>in</strong>kommens." (MEW 23, S.16)66


<strong>de</strong>r strukturellen und historischen Analyse gegenüber, die das System wie von außen zu betrachtenversucht.Es geht nicht darum, Verständnis für die jeweiligen Perspektiven zu entwickeln. Es geht immerdarum: Erstens zu begreifen, wie sich ökonomische Gesetze verwirklichen, obwohl sie sich dochganz und gar erst aus <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen Handlungen <strong>de</strong>r beteiligten Menschen ergeben. Und zweitens,warum diese ökonomischen Gesetze <strong>de</strong>nselben Menschen, die das Gesetz erst durch ihrpraktisches Han<strong>de</strong>ln realisieren, tatsächlich wie äußere Naturgesetze 140 ersche<strong>in</strong>en.Geld: Wertmaß und Maßstab <strong>de</strong>r PreiseWir haben gesehen, dass das Geld aus <strong>de</strong>r Warenproduktion heraus se<strong>in</strong>e Herrschaft als unbestrittenerDolmetscher <strong>de</strong>s Wertgesetzes angetreten hat. In dieser zentralen Funktion ist dasGeld Maß <strong>de</strong>s Werts. Wir haben das oben bereits als Geldform kennengelernt. Dadurch erst erhaltenalle Waren e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen Wertausdruck, <strong>de</strong>n wir Preis nennen. Je<strong>de</strong> Werttheorie, dieunsere vorgestellte e<strong>in</strong>fache Warenproduktion verläßt und sich <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweisenähert, kann nur auf <strong>de</strong>m Geld basieren, ist monetäre, an das Geld gebun<strong>de</strong>ne Werttheorie.Man muß aber unterschei<strong>de</strong>n: Wenn das Geld als Maßstab <strong>de</strong>s Werts auftritt, tritt es als Wareauf, die selbst e<strong>in</strong>en Wert hat und <strong>de</strong>n Wertvergleich zu allen an<strong>de</strong>ren Waren ermöglicht. In je<strong>de</strong>mFall wird dieser Maßstab durch <strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Waren enthaltenen Anteil an gesellschaftlichnotwendiger Arbeit reguliert. Wenn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r entwickelten Geldwirtschaft auch alle Wertvergleicheals Preisberechnung <strong>in</strong> Geldform stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n: Dem Wertvergleich liegt immer <strong>de</strong>r Vergleich <strong>de</strong>rArbeitsquanten zugrun<strong>de</strong>. Auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite die Ware, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn das Geld. Damit wird soetwas wie e<strong>in</strong> Korridor abgesteckt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sich die Preise <strong>de</strong>r Waren bewegen müssen, damitihre selbständigen Warenproduzenten bestehen können.Wenn aus <strong>de</strong>m Maß <strong>de</strong>s Werts e<strong>in</strong> Maßstab <strong>de</strong>s Preises wird, um vom Wertvergleich zumwirklichen Tausch (= Kauf) überzugehen, macht man sich die beson<strong>de</strong>ren Gebrauchseigenschaf-140Kurioserweise wird von bürgerlicher Seite, aber auch von jüngeren Ökonomen <strong>de</strong>r kritischen, anti neoliberalen Richtung, M. immerwie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vorwurf gemacht, er gehe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ökonomie von "objektiven Naturgesetzen" aus. Aber warum sollte ausgerechnet M., <strong>de</strong>rklassische Gesellschaftstheoretiker, <strong>de</strong>rgleichen tun? Wenn er von objektiven Gesetzen spricht, heißt das nur, dass diese Gesetze unabhängigvom Bewußtse<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Menschen und ihren vorgestellten Absichten wirken, aber eben durch ihr Han<strong>de</strong>ln verwirklicht wer<strong>de</strong>n. Tatsächlichverwen<strong>de</strong>t M., als K<strong>in</strong>d <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts, an vielen Stellen <strong>de</strong>n H<strong>in</strong>weis auf Naturgesetze, meist jedoch als ironische Analogie.Die Grundlage dafür hat er im Fetisch-Kapitel gelegt: Die ökonomischen Gesetze, so heißt es bei ihm, ersche<strong>in</strong>en als Naturgesetze, wirkenwie Naturgesetze, nehmen die Gestalt e<strong>in</strong>es von <strong>de</strong>n Produzenten unabhängigen Naturgesetzes an usw. Es ist eben nicht M., <strong>de</strong>r die ökonomischenGesetze für Naturgesetze hält. Es s<strong>in</strong>d die Akteure selbst, die <strong>Kapital</strong>isten und ihre wissenschaftlichen Sachwalter, die sich soverhalten, als han<strong>de</strong>le es sich um unabwendbare Naturgesetze. Wohlgemerkt: Auch die glauben nicht wirklich, dass es sich um Naturgesetzehan<strong>de</strong>lt. Aber für das kapitalistische Unternehmen, dass Metallspielzeug produziert, ist die "Umorientierung <strong>de</strong>s Marktes" auf Plastikspielzeugvon gleicher unabweisbarer Bedrohung wie e<strong>in</strong> Erdbeben.141Der ch<strong>in</strong>esische Geldsche<strong>in</strong> aus <strong>de</strong>m 14. Jahrhun<strong>de</strong>rt ist das älteste uns bekannte und überlieferte Papiergeld. Interessant ist se<strong>in</strong>e Entstehung:Auf <strong>de</strong>m Sche<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d 10 Schnüre zu 100 Kupfermünzen abgebil<strong>de</strong>t, die man für die Note e<strong>in</strong>tauschen konnte. <strong>Das</strong> erste Papiergeldist also re<strong>in</strong>es Symbol für Metallgeld und verdankt se<strong>in</strong>e Entstehung e<strong>in</strong>em zeitweiligen Mangel an Kupfer. Es wur<strong>de</strong> zur Überw<strong>in</strong>dungvon Kriegsfolgen ausgegeben, und da man entwe<strong>de</strong>r ke<strong>in</strong>e Vorstellung hatte über <strong>de</strong>n Zusammenhang von Produktionsmengen undGeldmengen o<strong>de</strong>r weil man im Papiergeld e<strong>in</strong>en bequemen Weg fand, die Beamten zu entlohnen und Staatsschul<strong>de</strong>n zu tilgen, führte diean sich vernünftige Maßnahme prompt zu e<strong>in</strong>er Gel<strong>de</strong>ntwertung.Auch heute ist das Mißtrauen gegenüber <strong>de</strong>m Papiergeld, <strong>de</strong>m ke<strong>in</strong>e "richtigen Werte" wie Gold o<strong>de</strong>r Silber zugrun<strong>de</strong> liegen, weit verbreitet.Dieses Mißtrauen begleitet die seit M.s Zeit stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Fortentwicklung <strong>de</strong>r Wertform <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s zum re<strong>in</strong>en Kaufkraftsymbol.Zwar ist dieses Mißtrauen mit mit se<strong>in</strong>er nostalgischen, fast mystischen Verehrung <strong>de</strong>s Gol<strong>de</strong>s als "echtem Wert" ke<strong>in</strong> Beitrag zu Geldtheorie.Wohl aber reflektiert sich dar<strong>in</strong> das durchaus begrün<strong>de</strong>te Mißtrauen gegenüber <strong>de</strong>n Regierungen.Wie verlockend ist es doch, sich se<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anziellen Probleme vom Hals zu drucken? Und oft genug ist das geschehen. Auch die panischenMaßnahmen fast aller Regierungen zur angeblichen Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise wer<strong>de</strong>n, trotz allerBeteurungen, immer mehr zu e<strong>in</strong>er Lösung mit <strong>de</strong>r Gelddruckmasch<strong>in</strong>e.67


ten <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s zu nutze, nämlich se<strong>in</strong>e fast beliebige <strong>Teil</strong>barkeit. Dadurch läßt sich <strong>de</strong>r Wert vonWaren <strong>in</strong> Gel<strong>de</strong><strong>in</strong>heiten umrechnen: Für <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Ware ergeben sich so viele Geldmünzen,dass ihm <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Ware Geld entspricht. Welche Münze<strong>in</strong>heiten das s<strong>in</strong>d, ist re<strong>in</strong>e Konvention,meist durch <strong>de</strong>n Staat festgelegt. 142 Anfänglich waren das bloße Gewichtse<strong>in</strong>heiten <strong>de</strong>sE<strong>de</strong>lmetalls, weshalb zahlreiche Währungse<strong>in</strong>heiten heute noch auf Namen für Gewichte zurückgehen.Daraus entstehen ganz unterschiedliche Münzsysteme, über Jahrhun<strong>de</strong>rte h<strong>in</strong>wegauf E<strong>de</strong>lmetallbasis, heute auf Grundlage staatlich garantierten Papiergelds.Dieser Übergang erfolgt nicht schlagartig, son<strong>de</strong>rn benötigt Jahrhun<strong>de</strong>rte. Vom Fernhan<strong>de</strong>l ausgehen<strong>de</strong>rweitert sich <strong>de</strong>r Herrschaftsbereich <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s nach und nach. Mit <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>führung an<strong>de</strong>rerGeldsorten wie Silber und Kupfer wer<strong>de</strong>n auch ger<strong>in</strong>ger wertige Waren und schließlich <strong>de</strong>rgesamte Warenaustausch vom Geld erfaßt. 143 Zu <strong>de</strong>utlich s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e Vorteile. In<strong>de</strong>m das Gelddie Herrschaft als Zirkulationsmittel antritt, ist <strong>de</strong>r Warenaustausch nicht länger an <strong>de</strong>n stofflichenAustausch <strong>de</strong>r Gebrauchswerte gebun<strong>de</strong>n.Aus <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Formel "Ware gegen Ware" (W-W) wird die Doppelformel "Ware gegenGeld" (W-G) und "Geld gegen Ware" (G-W). Die Tauschakte fallen jetzt zeitlich und auch räumlichause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Sie wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n stofflichen Fesseln, die <strong>de</strong>r direkte Warentausch mit sichbrachte, befreit. Begrenzte Haltbarkeit? Gewicht? Sperrigkeit? E<strong>in</strong>geschränkte Verfügbarkeit?E<strong>in</strong>mal zu Geld gemacht, wer<strong>de</strong>n alle diese Wareneigenschaften unwichtig. 144 <strong>Das</strong> Geld entwickeltsche<strong>in</strong>bar die Macht, je<strong>de</strong> (verfügbare) Ware zu je<strong>de</strong>m beliebigen Zeitpunkt nach Bedarf <strong>in</strong>Besitz zu nehmen.In <strong>de</strong>r entwickelten Warenproduktion verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Naturaltausch zwischen <strong>de</strong>n Produzenten<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form Ware gegen Ware (W-W) von <strong>de</strong>r Bühne und führt fortan e<strong>in</strong>e Ran<strong>de</strong>xistenz.<strong>Das</strong> Geld als Zirkulationsmittel vermittelt jetzt <strong>de</strong>n Wechsel <strong>de</strong>r Waren von <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Hand <strong>in</strong> diean<strong>de</strong>re. Die e<strong>in</strong>zelnen Tauschakte fallen ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Man erhält für die Ware das Geld undvermag mit <strong>de</strong>m Geld, an<strong>de</strong>re Waren zu kaufen. Kurz: Ware gegen Geld (W-G) und Geld gegenWare (G-W) machen <strong>de</strong>n Austausch endgültig zum Gesellschaftspiel. 145 Was beim direkten142Erst an dieser Stelle, bei Umwandlung <strong>de</strong>s Werts <strong>in</strong> Preis, wer<strong>de</strong>n die Konventionen wirksam. Daher ist es falsch, die Entstehung <strong>de</strong>sGel<strong>de</strong>s auf gesellschaftliche Konventionen zurückzuführen, wie das <strong>in</strong> <strong>de</strong>n meisten ökonomischen Theorien gemacht wird. Bevor solcheKonventionen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r entfalteten Geldwirtschaft wirksam wer<strong>de</strong>n, hat es bereits Austausch und Waren gegeben, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldfunktionstan<strong>de</strong>n.143"In <strong>de</strong>mselben Maße daher, wor<strong>in</strong> sich die Verwandlung <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte <strong>in</strong> Waren, vollzieht sich die Verwandlung von Ware <strong>in</strong>Geld." (MEW Bd. 23, S. 102)144Dabei wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Akteuren <strong>de</strong>r etablierten Geldwirtschaft schon sehr früh klar, dass bei allen Transaktionen, die auf Geld basieren, dasGeld <strong>in</strong> Form von Gold o.ä. nicht e<strong>in</strong>mal gegenwärtig se<strong>in</strong> mußte. Wenn entsprechen<strong>de</strong> Sicherheiten an se<strong>in</strong>e Stelle traten wie verläßlicheSchuldverschreibungen (Wechsel) o<strong>de</strong>r später die ersten Banknoten, dann war je<strong>de</strong> Transaktion auch ohne anwesen<strong>de</strong>s "richtiges" Gelddurchführbar. <strong>Das</strong> Geld machte erstmals die gegenseitige Verrechnung von Transaktionen möglich. Die Vorteile für Händler, die auf unsicherenStraßen unterwegs s<strong>in</strong>d, liegen auf <strong>de</strong>r Hand. Daher f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir bereits <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Antike und im europäischen Mittelalter gold-freien("bargeldlosen") Zahlungsverkehr über Wechsel und ähnliche Zahlungsanweisungen, wobei Han<strong>de</strong>lshäuser, Kaufmannsgil<strong>de</strong>n und an<strong>de</strong>reAutoritäten die Kaufkraftgarantie übernahmen, die später von <strong>de</strong>n Banken mit ihren Banknoten und die heute vom Staat für se<strong>in</strong>e Papiergeldwährungübernommen wird.145<strong>Das</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rfallen von Kauf und Verkauf be<strong>de</strong>utet noch mehr. Es wird zum Inbegriff aller möglichen Risiken <strong>de</strong>r warenproduzieren<strong>de</strong>nGesellschaften: "Ke<strong>in</strong>er kann verkaufen, ohne daß e<strong>in</strong> andrer kauft. Aber ke<strong>in</strong>er braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkaufthat. Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen und <strong>in</strong>dividuellen Schranken <strong>de</strong>s Produktenaustausches ebendadurch, daß sie die hiervorhandne unmittelbare I<strong>de</strong>ntität zwischen <strong>de</strong>m Austausch <strong>de</strong>s eignen und <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>tausch <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Arbeitsprodukts <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gegensatzvon Verkauf und Kauf spaltet. Daß die selbständig e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r gegenübertreten<strong>de</strong>n Prozesse e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heit bil<strong>de</strong>n, heißt ebensosehr,daß ihre <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heit sich <strong>in</strong> äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>nerlich Unselbständigen, weile<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r ergänzen<strong>de</strong>n, bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Punkt fort, so macht sich die E<strong>in</strong>heit gewaltsam geltend durch e<strong>in</strong>e – Krise. Der <strong>de</strong>r Wareimmanente Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellenmuß, von besondrer konkreter Arbeit, die zugleich nur als abstrakt allgeme<strong>in</strong>e Arbeit gilt, von Personifizierung <strong>de</strong>r Sache und Versachlichung<strong>de</strong>r Personen – dieser immanente Wi<strong>de</strong>rspruch erhält <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gegensätzen <strong>de</strong>r Warenmetamorphose se<strong>in</strong>e entwickelten Bewegungsformen.Diese Formen schließen daher die Möglichkeit, aber auch nur die Möglichkeit <strong>de</strong>r Krisen e<strong>in</strong>. Die Entwicklung dieser Möglichkeit68


Naturaltausch noch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividueller Tauschakt zu se<strong>in</strong> schien, <strong>de</strong>r mehr o<strong>de</strong>r weniger zufälligzustan<strong>de</strong> kam, ist nun unübersehbar fest an die gesellschaftlichen Verhältnisse gekoppelt.Die Vielzahl <strong>de</strong>r Austauschakte, bei <strong>de</strong>nen die Produzenten mal als Verkäufer, mal als Käuferauftreten, funktioniert für <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen Produzenten wie für die Gesellschaft als Ganzes nur alsununterbrochener Prozess, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sich die arbeitsteilig organisierte Gesellschaft immer wie<strong>de</strong>rverwirklicht. Wir haben dieses Ine<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rgreifen <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen, durch Geld vermitteltenTauschakte oben bereits als Zirkulation von Waren und Geld kennengelernt. Wir kommen späterdarauf zurück, wenn wir diesen Prozess als Reproduktionsprozess untersuchen.Der Preis betritt die BühneMit <strong>de</strong>m Geld betritt <strong>de</strong>r Preis die ökonomische Bühne. Der Preis ist für M. <strong>de</strong>r Geldname für das<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ware vergegenständlichten Quantum an gesellschaftlicher Arbeit. Es ist nun ke<strong>in</strong>eswegsso, dass <strong>de</strong>r Preis <strong>de</strong>n Wert verdrängt. Wie sollte das geschehen? Nach wie vor ist es <strong>de</strong>r Anteil<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ware steckt, die <strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>s Warenproduzentenauf Waren gleichen Anteils begrün<strong>de</strong>t. Nur die Ermittlung <strong>de</strong>s Werts ist jetzt ungleich flexibler.Man kann sich vorstellen, dass <strong>de</strong>r Tausch von Bier gegen Sch<strong>in</strong>ken, sobald sich die Akteure aufe<strong>in</strong>en beidseitig akzeptierten Maßstab gee<strong>in</strong>igt haben, relativ e<strong>in</strong>fach ist. Sowohl Bier als auchSch<strong>in</strong>ken s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> beliebiger Quantität tauschbar. Aber wie steht es mit Vieh? Haus? Armreifen?Kochlöffel? Schuhen? Erst mit <strong>de</strong>m Geld erhalten wir e<strong>in</strong>en universellen und sehr flexiblen Maßstab.Deshalb müssen wir uns näher mit <strong>de</strong>m Prozess beschäftigen, wie <strong>de</strong>r Preis zum Geldausdruck<strong>de</strong>s Werts wer<strong>de</strong>n kann.In unserem Gedankenmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r "e<strong>in</strong>fachen Warenproduktion" g<strong>in</strong>gen wir zwar schon davonaus, dass die Ermittlung <strong>de</strong>s Werts nicht per Waage o<strong>de</strong>r Zollstock erfolgt, son<strong>de</strong>rn durch <strong>de</strong>ntatsächlichen Austausch, durch Versuch und Irrtum, durch die Erfahrungen <strong>de</strong>r Akteure ermitteltwird. Aber wir haben dabei unterstellt, dass es letztlich um <strong>de</strong>n Austausch von gleichen Wertengegangen sei.Spätestens jetzt, wenn wir das Geld <strong>in</strong> unsere Überlegungen e<strong>in</strong>beziehen, müssen wir uns vondieser Annahme verabschie<strong>de</strong>n. Wir machen das gründlich und gehen jetzt davon aus, dasspraktisch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Tauschakt e<strong>in</strong> Austausch von gleichen Werten ist, und wenn, dannhöchstens zufällig.Also komplette Kehrtwendung? Stehen wir damit im Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>m, was wir vorher gesagthaben? Man könnte das me<strong>in</strong>en, und M. ist wegen solcher Wendungen immer wie<strong>de</strong>r zurZielscheibe <strong>de</strong>r Kritik gewor<strong>de</strong>n. Nur haben die Kritiker, die auf <strong>de</strong>r Suche nach solchen "Wi<strong>de</strong>rsprüchen"waren, M.s Metho<strong>de</strong> ignoriert, die notwendigerweise solche sche<strong>in</strong>baren Wendungenhervorbr<strong>in</strong>gt. Zunächst haben wir uns über die allgeme<strong>in</strong>en Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Warenproduktionverständigt. Haben dabei von allem abgesehen ("abstrahiert"), was uns <strong>de</strong>n Blick aufdie historischen Grundstrukturen verstellt hätte. Jetzt geht es darum, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Schritten weitereElemente <strong>in</strong> die Überlegungen e<strong>in</strong>zubeziehen. Wie<strong>de</strong>r mal <strong>de</strong>r oft zitierte Aufstieg vom Abstraktenzum Konkreten.Zwischenfrage 34: Warum kommt es notwendigerweise immer zu Abweichungen zwischen Wert undPreis? (S.268)zur Wirklichkeit erfor<strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>en ganzen Umkreis von Verhältnissen, die vom Standpunkt <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Warenzirkulation noch gar nichtexistieren." (MEW 23, S.127f)69


Wer will, kann zwischen <strong>de</strong>r früheren Annahme e<strong>in</strong>es Tausches gleicher Werte und unserer jetzigenBehauptung, dass praktisch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Tausch wirklich gleiche Werte betrifft, e<strong>in</strong>en Wi<strong>de</strong>rspruchsehen. Aber <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch löst sich leicht auf. Denn auch vorher s<strong>in</strong>d wir bereitsdavon ausgegangen, dass sich die Ermittlung <strong>de</strong>s Werts über die Austauschakte selbst vollzieht,also die Quantitäten <strong>de</strong>s Austausches, die wir Wertgröße nannten, immer neu durch die wirklichstattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Austausche ermittelt wer<strong>de</strong>n. Am Prozess <strong>de</strong>r <strong>in</strong>teraktiven Bestimmung <strong>de</strong>rWertgröße än<strong>de</strong>rt sich nichts.Nur sehen wir jetzt genauer h<strong>in</strong>. Die Vorstellung, dass Bier und Sch<strong>in</strong>ken nach ausführlicher Verhandlungdie Besitzer wechseln, wirkt zwar ziemlich idyllisch, ist aber ke<strong>in</strong>eswegs albern. 146 Nurist die Vier-Augen-Taktik, bei <strong>de</strong>m sich die Produzenten selbst gegenüberstehen und je<strong>de</strong>nTauschakt begleiten, für die entwickelte Warenproduktion ke<strong>in</strong> tragfähiges Konzept für <strong>de</strong>n Warenabsatz.Jetzt wird <strong>de</strong>r Tausch zur Massenersche<strong>in</strong>ung und mit <strong>de</strong>r Herausbildung von Märktenund Händlern selbst zum Gegenstand <strong>de</strong>r Arbeitsteilung. Die Bestimmung <strong>de</strong>r Wertgrößeerfolgt über <strong>de</strong>n Preis, von <strong>de</strong>m wir annehmen müssen, das er mal über o<strong>de</strong>r mal unter <strong>de</strong>mWert liegt. Warum?Kürzeste Antwort: <strong>1.</strong> weil <strong>de</strong>r Prozess dynamisch ist; 2. weil das Geld als flexibler Preisausdruck<strong>de</strong>s Werts diese Dynamik erfassen kann; 3. weil wir die Tauschakte jetzt als zusammenhängen<strong>de</strong>n,verflochtenen Prozess betrachten müssen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die Konkurrenz zwischen Produzentenund Käufern wirksam wird. All das schwang zwar bisher schon mit, weil wir schließlich nicht ohneVorverständnis an die Fragen herangetreten s<strong>in</strong>d; aber wir haben es zunächst ignoriert. <strong>Das</strong>erste Ziel bestand dar<strong>in</strong>, sich über <strong>de</strong>n Wert und se<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ungsformen Wertsubstanz, Wertgrößeund Wertform klar zu wer<strong>de</strong>n. Jetzt gehen wir e<strong>in</strong>en großen Schritt weiter.Die Vorstellung e<strong>in</strong>er für alle Produzenten gleichen Arbeitsproduktivität haben wir von vornhere<strong>in</strong>als unzulässig betrachtet, <strong>in</strong><strong>de</strong>m wir von <strong>de</strong>r gesellschaflich durchschnittlichen Arbeit ausg<strong>in</strong>gen,an <strong>de</strong>r sich je<strong>de</strong>r Produzent messen muß. Nun haben wir aber auch zu berücksichtigen,dass diese Arbeitsproduktivität nicht nur <strong>in</strong>dividuell zwischen <strong>de</strong>n Produzenten variiert, son<strong>de</strong>rnwegen technischer o<strong>de</strong>r organisatorischer Fortschritte wächst, vielleicht auch wegen äußererE<strong>in</strong>wirkungen wie Mißernten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Landwirtschaft o<strong>de</strong>r Kriegen s<strong>in</strong>kt.<strong>Das</strong> vollzieht sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Regionen <strong>de</strong>rselben Geldwirtschaft <strong>in</strong> unterschiedlichemTempo und unterschiedlich großen Schritten. Deshalb halten wir auf dieser Stufe unserer Analyseerstmal fest: Die gesellschaflich durchschnittliche Arbeit für e<strong>in</strong>e Ware gleicher Art ist zu ke<strong>in</strong>emZeitpunkt e<strong>in</strong>e konstante Größe. Der gedachte Durchschnittswert über alle Produzenten e<strong>in</strong>erWare wird tatsächlich durch davon abweichen<strong>de</strong> <strong>in</strong>dividuelle, sektorale und regionale Produktivitäten147 bestimmt.146Auch heute treffen sich täglich tausen<strong>de</strong> Vertreter produzieren<strong>de</strong>r Firmen mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, um Kauf- und Verkaufsgespräche zu führen. Auf<strong>de</strong>r Käuferseite holen die E<strong>in</strong>kaufsabteilungen <strong>de</strong>r Unternehmen tausen<strong>de</strong> von Angeboten und Alternativangeboten e<strong>in</strong>. Da wird gerechnetund kalkuliert. Da wird am Telefon o<strong>de</strong>r beim Meet<strong>in</strong>g um je<strong>de</strong>n Euro gefeilscht. Auf <strong>de</strong>r Verkäuferseite beteiligt man sich an Ausschreibungenund kalkuliert se<strong>in</strong>e Angebote mit Blick auf <strong>de</strong>n Konkurrenten. Man treibt großen Aufwand, um die speziellen Vorzüge <strong>de</strong>r eigenenProdukte <strong>de</strong>n Kauf<strong>in</strong>teressenten auf Messen und an<strong>de</strong>ren Präsentationen nahe zu br<strong>in</strong>gen, um Kontakte zu knüpfen und zu pflegen.Vieles von <strong>de</strong>m läuft immer noch über die alte 4-Augen-Taktik und die persönlichen Beziehungen. Nicht obwohl, son<strong>de</strong>rn weil es dabeivielleicht um Masch<strong>in</strong>en geht, die Millionen kosten, und nicht bloß um e<strong>in</strong> Fäßchen Bier und e<strong>in</strong>en geräucherten Schwe<strong>in</strong>eschenkel.147Nur wegen dieser regionalen Unterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktivität ist es <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l möglich, durch Transport <strong>de</strong>r Waren auf weniger produktiveMärkte e<strong>in</strong>en Han<strong>de</strong>lsgew<strong>in</strong>n zu realisieren (und die irrige Auffassung zu stützen, aller Gew<strong>in</strong>n entspr<strong>in</strong>ge <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l). In dieserFunktion wird <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l natürlich ebenfalls zu e<strong>in</strong>em wichtigen Faktor bei <strong>de</strong>r Durchsetzung <strong>de</strong>s Wertgesetzes, <strong>in</strong><strong>de</strong>m die regionalen Unterschie<strong>de</strong><strong>de</strong>r Produktivität durch Übernahme produktiverer Verfahren und durch Neuverteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit stetig ausgeglichenwer<strong>de</strong>n.70


Zwischenfrage 35: Wie stehen Geld, Wert und Preis zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r? Stimmen Wert und Preis übere<strong>in</strong>?(S.269)Mit <strong>de</strong>r Geldwirtschaft wer<strong>de</strong>n die gegenseitigen For<strong>de</strong>rungen im Tauschakt nicht mehr hier undda ausgehan<strong>de</strong>lt, mehr o<strong>de</strong>r weniger isoliert von an<strong>de</strong>ren Tauschakten. Sie s<strong>in</strong>d jetzt <strong>Teil</strong> umfangreicherBeziehungen zwischen Verkäufern und Käufern auf e<strong>in</strong>em Markt. Dadurch kommtjetzt auch die Konkurrenz zwischen <strong>de</strong>n Warenanbietern wie auch <strong>de</strong>n Warenkäufern <strong>in</strong>s Spiel.Wir er<strong>in</strong>nern uns: Der geldbesitzen<strong>de</strong> Käufer ist relativ frei. Er kann hier o<strong>de</strong>r dort kaufen, kannauf die beste Jahrezeit für <strong>de</strong>n Kauf warten, kann <strong>de</strong>n Verkäufer, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e Ware los wer<strong>de</strong>nwill, unter Druck setzen, solange ke<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer Käufer auftritt und ihm selbst die Käuferrolle streitigmacht.All diese verän<strong>de</strong>rten Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d Folgen <strong>de</strong>r Geldwirtschaft. Der Preis als aktueller Geldausdruck<strong>de</strong>s Werts wird zur bestimmen<strong>de</strong>n Größe <strong>de</strong>s Austauschs. Dabei löst <strong>de</strong>r Preis <strong>de</strong>nWert genausowenig ab, wie es an<strong>de</strong>re Waren getan hatten, sagen wir Tierfelle o<strong>de</strong>r Muschelno<strong>de</strong>r Ziegen, wenn sie vorübergehend die Geldfunktion ausfüllten. So wie dabei <strong>de</strong>r Wert nichtzu e<strong>in</strong>em Tierfell o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>er Ziege wur<strong>de</strong>, wird <strong>de</strong>r Wert jetzt nicht zu Geld o<strong>de</strong>r Preis. Aber <strong>de</strong>rPreis wird zum flexiblen, empf<strong>in</strong>dlich reagieren<strong>de</strong>n Instrument <strong>de</strong>s Wertgesetzes, <strong>de</strong>r mal übero<strong>de</strong>r mal unter <strong>de</strong>m Wert liegt und nur ausnahmsweise mit ihm übere<strong>in</strong>stimmt. 148 Die Akteure<strong>in</strong>teressiert das herzlich wenig. Gehen wir <strong>de</strong>r Sache weiter auf <strong>de</strong>n Grund.Der alltägliche To<strong>de</strong>ssprungWas wissen wir bereits über <strong>de</strong>n Zusammenhang von Wert und Preis? Mit Wert bezeichnen wirdie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ware vergegenständlichte Arbeit, gemessen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit.M. nennt das die abstrakte Arbeit. Der Zusatz "gesellschaftlich" <strong>in</strong> Bezug auf die Arbeitszeitist wichtig. Denn natürlich wird e<strong>in</strong>e Ware nicht <strong>de</strong>shalb wertvoller, weil e<strong>in</strong> Handwerkerbeson<strong>de</strong>rs umständlich o<strong>de</strong>r langsam arbeitet. Der Wert bemißt sich an <strong>de</strong>r im gesellschaftlichenDurchschnitt aufzuwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Arbeitszeit, wie sie sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Preisbildung zeigt. 149Dieser Durchschnitt ist <strong>de</strong>n Akteuren aber nicht bekannt. Was vorher im vere<strong>in</strong>zelten Tauschausgehan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>, wird <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldwirtschaft über <strong>de</strong>n Preis beständig ermittelt. Und <strong>de</strong>rPreis ist genau das, was im Kaufakt für e<strong>in</strong>e Ware an Geld gezahlt wird. Dieser Preis wird bestenfallszufällig <strong>de</strong>m Wert entsprechen. Und wenn das e<strong>in</strong>tritt, wird es <strong>de</strong>n Akteuren <strong>de</strong>nnochverborgen bleiben. <strong>Das</strong> stört die Akteure nicht; <strong>de</strong>nn die Marktteilnehmer <strong>in</strong>teressieren sich nichtfür das Wertgesetz. Sie <strong>in</strong>teressieren sich dafür, wie sie möglichst günstige Preise erzielen, ob beiKauf o<strong>de</strong>r Verkauf. Und natürlich <strong>in</strong>teressiert sie das Ziel, ihr eigenes Geschäft zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st zu erhalten,aber viel besser noch e<strong>in</strong> gutes Geschäft zu machen.Zwischenfrage 36: Bestimmen Angebot und Nachfrage <strong>de</strong>n Preis? (S.270)So wird <strong>de</strong>r Preis je nach Angebot und Nachfrage, abhängig von <strong>de</strong>r Dr<strong>in</strong>glichkeit <strong>de</strong>s Kaufso<strong>de</strong>r Verkaufs, von <strong>de</strong>r Kenntnis und Geschicklichkeit <strong>de</strong>r Marktteilnehmer, also abhängig vondurchaus subjektiven Faktoren, mal unter o<strong>de</strong>r mal über <strong>de</strong>m Wert liegen. 150 <strong>Das</strong> ist die von M.148S. Fußnote 152149Hier wird auch klar: Für Produzenten, die e<strong>in</strong> unter <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Durchschnitt liegen<strong>de</strong>s Quantum an Arbeitszeit pro Wareaufwen<strong>de</strong>n, läßt sich e<strong>in</strong> "Extraprofit" erzielen. <strong>Das</strong> wird uns <strong>in</strong> Bezug auf <strong>de</strong>n gegenwärtigen <strong>Kapital</strong>ismus noch e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielen.150Deshalb wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Betriebswirtschaftslehre die subjektiven Faktoren <strong>de</strong>r Preisbildung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund gestellt und umfassen<strong>de</strong>rforscht. Denn es geht darum, <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zelnen Unternehmen zum größten wirtschaftlichen Erfolg zu verhelfen. Und Erfolg ist an Verkauf71


als "Witz <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft" bezeichnete notwendige Abweichung von Wert undPreis. 151 Sie ist nicht die Ausnahme, ke<strong>in</strong> Praxismakel <strong>de</strong>r re<strong>in</strong>en Theorie, son<strong>de</strong>rn die Regel, gehörtzu <strong>de</strong>r Art und Weise, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich das Wertgesetz verwirklicht. 152Wir haben bereits festgestellt, dass <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fache Tauschakt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r geldvermittelten Zirkulation für<strong>de</strong>n Produzenten mit <strong>de</strong>r Umwandlung se<strong>in</strong>er Ware <strong>in</strong> Geld (W-G) beg<strong>in</strong>nt. M. nennt das <strong>de</strong>n"Salto Mortale <strong>de</strong>r Ware", <strong>de</strong>n alltäglichen To<strong>de</strong>ssprung mit <strong>de</strong>r immer wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>nSchicksalsfrage für <strong>de</strong>n Produzenten: Wird die von mir geleistete und jetzt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ware stecken<strong>de</strong>private Arbeit durch Kauf me<strong>in</strong>er Waren als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkannto<strong>de</strong>r nicht? Gel<strong>in</strong>gt es mir, mit me<strong>in</strong>er Ware genügend Geld aus frem<strong>de</strong>r Tasche zu ziehen? Genügend,um mich als Produzenten zu erhalten?Gel<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r alltägliche Salto Mortale nicht, dann "ist zwar nicht die Ware geprellt, wohl aber <strong>de</strong>rWarenbesitzer", wie M. sarkastisch anmerkt. <strong>Das</strong> ist se<strong>in</strong>e ständige Prüfung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r arbeitsteiligenGesellschaft, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r für e<strong>in</strong> unbekanntes gesellschaftliches Bedürfnis produziert wird, das erst alsNachfrage am Markt <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt. Doch mit <strong>de</strong>m erfolgreichen Verkauf ist nur e<strong>in</strong> Tageserfolgerrungen. Die Gefahr, dass <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>ssprung mißl<strong>in</strong>gt, erwächst immer wie<strong>de</strong>r neu: "<strong>Das</strong>Produkt befriedigt heute e<strong>in</strong> gesellschaftliches Bedürfnis. Morgen wird es vielleicht ganz o<strong>de</strong>rteilweise von e<strong>in</strong>er ähnlichen Produktenart aus se<strong>in</strong>em Platze verdrängt." 153Ke<strong>in</strong>e Frage, dass diese Art von Produktion für <strong>de</strong>n Produzenten voller Risiken steckt, die sichihm als Unwägbarkeiten darstellen. Völlig begreiflich, wenn sich se<strong>in</strong>e gesamten Anstrengungendarauf richten, die Risiken zu verm<strong>in</strong><strong>de</strong>rn: Durch genaues Marktbeobachtung, aktives Market<strong>in</strong>g,Produktion auf Bestellung, exakte Abstimmung auf die Bedürfnisse <strong>de</strong>r Käufer usw. usf.,stets mit <strong>de</strong>m Ziel, an Preisen herauszuholen was herauszuholen ist.Für alle Preisbildungen am Markt gibt es aber objektive Grenzen, e<strong>in</strong>en exakt beschreibbarenKorridor: Nämlich auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite die tatsächliche Kaufkraft <strong>de</strong>s Käufers. Der weiß, wieviel er<strong>in</strong>sgesamt ausgeben kann und welcher Waren er bedarf, um sich und se<strong>in</strong>e Familie ("se<strong>in</strong> Geschäft")zu erhalten. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite steht die Notwendigkeit für je<strong>de</strong>n Warenproduzenten,durch <strong>de</strong>n Verkauf se<strong>in</strong>er Waren so viel Geld zu erzielen, um se<strong>in</strong> Geschäft zu erhalten.zu möglichst hohen Preisen gebun<strong>de</strong>n. Mit dieser Ausrichtung ist es nur vernünftig, auf alle werttheoretischen Überlegungen zu verzichten.151"Der Witz <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft besteht je eben dar<strong>in</strong>, daß a priori ke<strong>in</strong>e bewußte gesellschaftliche Regelung <strong>de</strong>r Produktionstattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. <strong>Das</strong> Vernünftige und Naturnotwendige setzt sich nur als bl<strong>in</strong>dwirken<strong>de</strong>r Durchschnitt durch." (MEW 23, S.117)152"Die Wertgröße <strong>de</strong>r Ware drückt also e<strong>in</strong> notwendiges, ihrem Bildungsprozeß immanentes Verhältnis zur gesellschaftlichen Arbeitszeitaus. Mit <strong>de</strong>r Verwandlung <strong>de</strong>r Wertgröße <strong>in</strong> Preis ersche<strong>in</strong>t dies notwendige Verhältnis als Austauschverhältnis e<strong>in</strong>er Ware mit <strong>de</strong>r außerihr existieren<strong>de</strong>n Geldware. In diesem Verhältnis kann sich aber ebensowohl die Wertgröße <strong>de</strong>r Ware ausdrücken, als das Mehr o<strong>de</strong>r M<strong>in</strong><strong>de</strong>r,wor<strong>in</strong> sie unter gegebnen Umstän<strong>de</strong>n veräußerlich ist. Die Möglichkeit quantitativer Inkongruenz zwischen Preis und Wertgröße, o<strong>de</strong>r<strong>de</strong>r Abweichung <strong>de</strong>s Preises von <strong>de</strong>r Wertgröße, liegt also <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Preisform selbst. Es ist dies ke<strong>in</strong> Mangel dieser Form, son<strong>de</strong>rn macht sieumgekehrt zur adäquaten Form e<strong>in</strong>er Produktionsweise, wor<strong>in</strong> sich die Regel nur als bl<strong>in</strong>dwirken<strong>de</strong>s Durchschnittsgesetz <strong>de</strong>r Regellosigkeitdurchsetzen kann." (MEW 23, S.117)153M. greift hier auf e<strong>in</strong> Zitat aus se<strong>in</strong>er früheren Arbeit "Zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie" von 1858/59 zurück:"<strong>Das</strong> Überspr<strong>in</strong>gen <strong>de</strong>s Warenwerts aus <strong>de</strong>m Warenleib <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Goldleib ist, wie ich es an<strong>de</strong>rswo bezeichnet, <strong>de</strong>r Salto mortale <strong>de</strong>r Ware.Mißl<strong>in</strong>gt er, so ist zwar nicht die Ware geprellt, wohl aber <strong>de</strong>r Warenbesitzer. Die gesellschaftliche <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit macht se<strong>in</strong>e Arbeitebenso e<strong>in</strong>seitig als se<strong>in</strong>e Bedürfnisse vielseitig. Eben<strong>de</strong>swegen dient ihm se<strong>in</strong> Produkt nur als Tauschwert. Allgeme<strong>in</strong>e gesellschaftlichgültige Äquivalentform erhält es aber nur im Geld, und das Geld bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>in</strong> frem<strong>de</strong>r Tasche. Um es herauszuziehn, muß die Ware vorallem Gebrauchswert für <strong>de</strong>n Geldbesitzer se<strong>in</strong>, die auf sie verausgabte Arbeit also <strong>in</strong> gesellschaftlich nützlicher Form verausgabt se<strong>in</strong> o<strong>de</strong>rsich als Glied <strong>de</strong>r gesellschaftlichen <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit bewähren. Aber die <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit ist e<strong>in</strong> naturwüchsiger Produktionsorganismus,<strong>de</strong>ssen Fä<strong>de</strong>n h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>r Warenproduzenten gewebt wur<strong>de</strong>n und sich fortweben. Vielleicht ist die Ware Produkt e<strong>in</strong>erneuen Arbeitsweise, die e<strong>in</strong> neu aufgekommenes Bedürfnis zu befriedigen vorgibt o<strong>de</strong>r auf eigne Faust e<strong>in</strong> Bedürfnis erst hervorrufen will.Gestern noch e<strong>in</strong>e Funktion unter <strong>de</strong>n vielen Funktionen e<strong>in</strong>es und <strong>de</strong>sselben Warenproduzenten, reißt sich e<strong>in</strong>e besondre Arbeitsverrichtungheute vielleicht los von diesem Zusammenhang, verselbständigt sich und schickt eben<strong>de</strong>swegen ihr <strong>Teil</strong>produkt als selbständige Warezu Markt. Die Umstän<strong>de</strong> mögen reif o<strong>de</strong>r unreif se<strong>in</strong> für diesen Scheidungsprozeß. <strong>Das</strong> Produkt befriedigt heute e<strong>in</strong> gesellschaftliches Bedürfnis.Morgen wird es vielleicht ganz o<strong>de</strong>r teilweise von e<strong>in</strong>er ähnlichen Produktenart aus se<strong>in</strong>em Platze verdrängt." (MEW 23, S.120f)72


Zwischenfrage 37: Warum unterliegt die Preisbildung von Luxuswaren an<strong>de</strong>ren Bed<strong>in</strong>gungen als die vonWaren <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs? (S.271)Je nach <strong>de</strong>n konkreten Bed<strong>in</strong>gungen wird die Preisbildung sich <strong>in</strong> diesem Korridor bewegen.Produzenten, die mit <strong>de</strong>n erzielten Preisen dauerhaft unter <strong>de</strong>m Wert bleiben, weil sie mitunterdurchschnitlicher Produktivität arbeiten, bekommen das zu spüren. Sie können nicht diePreise erzielen, die sie brauchen. Sie wer<strong>de</strong>n, wenn sie <strong>de</strong>n Anschluß an die höhere Produktivitätnicht schaffen, als Produzenten aufhören zu existieren. Produzenten aber, die günstiger produzierenund bessere Preise erzielen, wer<strong>de</strong>n ihre Position am Markt verbessern, so lange je<strong>de</strong>nfalls,bis an<strong>de</strong>re Produzenten die produktiveren Metho<strong>de</strong>n übernehmen. 154Wertgesetz (I)Die häufige Unterstellung, M.s objektives Wertgesetz wür<strong>de</strong> die subjektiven Faktoren ignorieren,geht auf merkwürdige Weise daneben. Eher ist das Gegenteil <strong>de</strong>r Fall: Es s<strong>in</strong>d die subjektivenFaktoren, über die sich das Wertgesetz, als Folge <strong>de</strong>r Preisbildung, durchsetzt. Der Wert existiertunabhängig vom Bewußtse<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Akteure, ist also objektiv. Er reguliert die Beziehungen zwischen<strong>de</strong>n Produzenten aber über ihre subjektiven Handlungen. Erst <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Preisbildung realisiertsich das Wertgesetz <strong>in</strong> voller Größe.Er<strong>in</strong>nern wir uns an das Grundmerkmal je<strong>de</strong>r Warenproduktion: Erst wird produziert, dann wirdverkauft. Ob man verkaufen kann, zeigt sich am Markt. Treten am Markt dieselben Waren <strong>in</strong>Massen auf, weil diese Waren vielleicht im Vorjahr gute Preise erzielten, s<strong>in</strong>kt <strong>de</strong>r Preis unter <strong>de</strong>nWert. In <strong>de</strong>r Folge wird auch die Produktion dieser Waren zurückgehen. Gibt es Mangel an bestimmtenWaren, wer<strong>de</strong>n gute Preise erzielt, und <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Folge wer<strong>de</strong>n sich mehr Produzentendiesem Segment zuwen<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rs gesagt: In bei<strong>de</strong>n Fällen sorgt das Wertgesetz über diePreisbildung dafür, dass sich durch die Reaktion <strong>de</strong>r Produzenten und Käufer auf die Preisentwicklungdie gesellschaftliche Arbeit neu verteilt.Angetrieben durch die Konkurrenz und <strong>de</strong>n Markt wirkt das von M. formulierte Wertgesetz, beialler Subjektivität <strong>de</strong>r Preisbildung, immer regulierend <strong>in</strong> letzter Instanz. 155 Es setzt über die <strong>in</strong><strong>de</strong>n Waren gebun<strong>de</strong>ne gesellschaftliche Arbeit und <strong>de</strong>ren Vergleich mit <strong>de</strong>m gesellschaftlichenDurchschnittswert für die Preisbildung e<strong>in</strong>en objektiven Korridor, <strong>de</strong>n niemand mutwillig verän<strong>de</strong>rnkann. Wird dieser Korridor bei <strong>de</strong>r Preisbildung verlassen, droht <strong>de</strong>r Untergang, entwe<strong>de</strong>r,weil man als Produzent für die eigenen Waren die dar<strong>in</strong> vorgeschossene Arbeit nicht ersetzt bekommt,o<strong>de</strong>r weil man als Käufer zu viel bezahlt, so dass e<strong>in</strong>e dadurch verr<strong>in</strong>gerte Warenmengedie eigene Existenz nicht mehr sichert.Über die Regulation <strong>de</strong>r Preisbildung setzt sich das Wertgesetz durch. Dabei spielen Angebotund Nachfrage e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. <strong>Das</strong> hat viele Ökonomen dazu verleitet, die Preisbildung alle<strong>in</strong>als Ergebnis <strong>de</strong>s Marktes zu sehen. Wer sich se<strong>in</strong> Leben lang auf Märkten bewegt, wird die-154Hier f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n Ansatzpunkt e<strong>in</strong>er historisch schon im Mittelalter tatsächlich stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Differenzierung <strong>in</strong> "große" und "kle<strong>in</strong>e"Produzenten. Bei <strong>de</strong>r Diskussion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts wird uns dieser Mechanismus erstmals <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kapitalistischen Form begegnen,<strong>de</strong>r im Verlauf <strong>de</strong>r Akkumulationszyklen die Position <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>e zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r stark verän<strong>de</strong>rt.155Über die Bezeichnung <strong>de</strong>s Wertgesetzes "als Regulator <strong>in</strong> letzter Instanz" könnte man vermutlich e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eres Kompendium für Marxismus-kritischenSarkasmus erstellen; meist wird diese Formulierung Engels zugeschrieben, <strong>de</strong>r sie tatsächlich nach M.s Tod zur Verteidigung<strong>de</strong>s Wertgesetzes verwen<strong>de</strong>t. Dabei greift Engels aber auf M.s eigene Formulierung zurück (MEW 23, S.181 Fußnote). Vor allem Vertreter<strong>de</strong>r psychologischen Schule wie Böhm-Bawerk & Co. haben diese Formulierung immer als rabulistischen Rettungsanker aushoffnungloser theoretischer Lage persifliert. Wir verwen<strong>de</strong>n die Formulierung allen Sarkasmen zum Trotz, weil wir sie für richtig halten.Wenn es um die Frage <strong>de</strong>s Wertgesetzes und se<strong>in</strong>e Modifikation durch die Profitratenbildung geht, wird es zu diesem Thema noch e<strong>in</strong>enkräftigen Nachschlag geben.73


se Sichtweise übernehmen. Dennoch ist sie falsch; o<strong>de</strong>r besser gesagt: Sie ist nur die halbeWahrheit, weil sie zwar die Sache richtig beschreibt, aber die Wirkung für die Ursache nimmt.Denn ob neue Waren auf <strong>de</strong>n Markt kommen und die Nachfrage verschieben, ob sich "Gewohnheiten<strong>de</strong>r Konsumenten" verän<strong>de</strong>rn, ja sogar dann, wenn mit außerökonomischen Mittelnkünstliche Verknappungen von Waren erzwungen wer<strong>de</strong>n: Die Korrektur erfolgt nicht als,son<strong>de</strong>rn durch verän<strong>de</strong>rte Preisbildung am Markt. Es s<strong>in</strong>d die verän<strong>de</strong>rten Preisbildungen, dieüber das Wertgesetz zu <strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rlichen Korrekturen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion führen; und nur diewirklich stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Produktion entschei<strong>de</strong>t über das Angebot an Waren.Daher geht M.s Perspektive immer von <strong>de</strong>r Produktion aus. Wir folgen ihm dar<strong>in</strong>. Denn auch füruns ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, ja das gesamte Marktgeschehen, nichts an<strong>de</strong>resals e<strong>in</strong> Spiegelbild für die Verteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit auf die e<strong>in</strong>zelnen Sektoren<strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>ren Produktivitätsentwicklung.Diese Verteilung wird durch erfolgreichen o<strong>de</strong>r erfolglosen Verkauf <strong>de</strong>r Waren und die dabei erzieltenPreise immer wie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n tatsächlichen gesellschaftlichen Bedürfnissen abgeglichen.Und wie äußern sich diese Bedürfnisse? In <strong>de</strong>r arbeitsteiligen Warenproduktion, die durch Produzentenerledigt wird, die vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r entwe<strong>de</strong>r nichts wissen o<strong>de</strong>r die e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als Konkurrentenbegegnen, gibt es dafür nur e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen wirklich wirksamen Regulator: Die Preisbildungund Nachfrage am Markt, mögen die Ergebnisse im e<strong>in</strong>zelnen und zeitweilig auch noch soabsurd ersche<strong>in</strong>en wie zu Zeiten <strong>de</strong>r holländischen Tulpenzwiebelspekulation o<strong>de</strong>r bei Spekulationsblasen<strong>in</strong> neuerer Zeit. 156Damit stoßen wir auf <strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>s Wertgesetzes: Es sorgt für die proportionale Verteilung <strong>de</strong>rgesellschaftlichen Arbeit auf die e<strong>in</strong>zelnen Sektoren o<strong>de</strong>r Branchen <strong>de</strong>r Produktion gemäß <strong>de</strong>n(verän<strong>de</strong>rbaren) gesellschaftlichen Bedürfnissen. Freilich immer nur rückwirkend und immer nurkorrigierend.E<strong>in</strong>ige Schlaumeier nutzen die digitale Volltextsuche für <strong>de</strong>nkwürdige Tests. Sie haben genaugeprüft, wie oft <strong>de</strong>r Begriff 'Wertgesetz' <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ersten drei Bän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" auftaucht:Nicht mehr als 50 mal. Sie haben dabei auch festgestellt, dass von e<strong>in</strong>er "Werttheorie" <strong>in</strong> <strong>de</strong>nersten drei Bän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" überhaupt nicht die Re<strong>de</strong> ist.<strong>Das</strong> zielt wohl <strong>in</strong> die selbe Richtung, die auch e<strong>in</strong>ige von M.s Kritikern nach <strong>de</strong>m Ersche<strong>in</strong>en <strong>de</strong>s<strong>1.</strong> Ban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" anvisierten. Die machten ihm nämlich <strong>de</strong>n Vorwurf, se<strong>in</strong> Wertgesetznirgends wirklich präzise zu <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ieren. Als Freund Kugelmann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an M. über diesenVorwurf berichtete, reagierte <strong>de</strong>r merklich angesäuert. In se<strong>in</strong>er eher mürrischen Antwort anKugelmann gibt M. e<strong>in</strong>e kurze Zusammenfassung se<strong>in</strong>er Sichtweise, die nur e<strong>in</strong>es <strong>de</strong>utlichmacht: <strong>Das</strong>s nämlich das gesamte "<strong>Kapital</strong>" immer und immer wie<strong>de</strong>r vom Wertgesetz und se<strong>in</strong>enverschie<strong>de</strong>nen Formen han<strong>de</strong>lt, sich zu realisieren - o<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren Gesetzen <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise <strong>in</strong> Konflikt zu geraten.156Mal wie<strong>de</strong>r die aktuelle Wirtschaftskrise: Da s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Län<strong>de</strong>rn, weil Banken kräftig am Kreditrad gedreht und die Immobiliennachfragestark erhöht haben, die Preise für Häuser <strong>in</strong> kurzer Zeit um mehr als das Doppelte gestiegen. Niemand fand das merkwürdig.Nicht nur das: Da hat man die Preissteigerungen e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> die Zukunft verlängert und vor allem im Bereich <strong>de</strong>r gewerblichen Immobilienriesige Kredite nicht nur auf <strong>de</strong>n aufgepusteten Verkehrswert, son<strong>de</strong>rn sogar auf die <strong>in</strong> Zukunft zu erwarten<strong>de</strong>n "Wertsteigerungen" vergeben.Freilich: Wenn unsere umtriebigen F<strong>in</strong>anzmarkt-Akteure von "Wert" sprechen, me<strong>in</strong>en sie nicht e<strong>in</strong>mal "Preis", son<strong>de</strong>rn nur e<strong>in</strong>e<strong>in</strong> ihrem Kopf stecken<strong>de</strong> spekulative Preishoffnung. Und sie müssen nicht e<strong>in</strong>mal selber an diese Hoffnung glauben. Es genügt, diese Hoffnungan<strong>de</strong>ren als <strong>de</strong>n normalen ökonomischen Gang <strong>de</strong>r D<strong>in</strong>ge zu verkaufen. <strong>Das</strong> ist die übliche Arbeitsweise aller Trickbetrüger undHochstapler, unter welchem Bankenschirm auch immer die stecken.74


Wir wer<strong>de</strong>n auf das Wertgesetz als <strong>de</strong>m Dreh- und Angelpunkt von M.s ökonomischer Theorienoch oft genug zurückkommen müssen. Vor allem haben wir genau zu prüfen, wie das Wertgesetzbei kapitalistischer Produktionsweise wirkt und welche Konflikte sich daraus ergeben. Undwir haben natürlich zu fragen, welche Be<strong>de</strong>utung es für <strong>de</strong>n heutigen <strong>Kapital</strong>ismus hat, <strong>de</strong>r javon <strong>de</strong>r Warenproduktion, die unserer Argumentation bisher zugrun<strong>de</strong> liegt, trotz <strong>de</strong>r <strong>in</strong>zwischenerfolgten Konkretisierungen immer noch e<strong>in</strong> gutes Stück entfernt ist.Noch e<strong>in</strong>mal: Wert und PreisBisher haben wir so etwas wie e<strong>in</strong> Loblied <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s gesungen. <strong>Das</strong> ist auch ganz richtig. Nichtsan<strong>de</strong>res hat <strong>de</strong>r Arbeitsteilung und damit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Produktivität so auf die Sprüngegeholfen, wie die endgültige Durchsetzung <strong>de</strong>r Geldwirtschaft. Sie ist e<strong>in</strong>e universelle Errungenschaft<strong>de</strong>r menschlichen Kultur.Aber wir können auch nicht übersehen, dass viele Zeugnisse aus <strong>de</strong>m Alltagsleben <strong>de</strong>r Menschendie ver<strong>de</strong>rbliche Gewalt <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s beklagen. Geld hat nicht nur Macht über alle Waren;es macht auch zu Waren, was bisher auf ke<strong>in</strong>em Markt zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n war. Persönliche Dienstbotenkönnen jetzt mit Geld entlohnt, beliebige Dienstleistungen wie Waren behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. SogarEhre o<strong>de</strong>r Gewissen o<strong>de</strong>r Liebe wer<strong>de</strong>n käuflich. 157 Sche<strong>in</strong>bar läßt sich alles, was für irgendjeman<strong>de</strong>nvon Interesse ist, zu Geld machen o<strong>de</strong>r mit Geld erwerben. "Geld regiert die Welt" wäredie passen<strong>de</strong> folkloristische Floskel; "Je<strong>de</strong>r hat se<strong>in</strong>en Preis" das zynische Menschenbild <strong>de</strong>rGeldmacht. Was uns bereits als Fetischcharakter <strong>de</strong>r Ware begegnete, reproduziert sich im Geldfetisch:Es wird zum S<strong>in</strong>nbild für Leben, Sicherheit, Macht. Und ist doch nichts von <strong>de</strong>m.<strong>Das</strong> Geld hat die ihm zugeschriebene Macht nicht aus sich heraus. Auch nicht dann, wenn esuns als re<strong>in</strong>es Gold begegnet. Man mag e<strong>in</strong>en riesigen Berg Gold anbeten, weil das Material fasz<strong>in</strong>iert.O<strong>de</strong>r man mag daraus schwere Schüsseln herstellen, weil das Material leicht formbar ist.Aber außerhalb e<strong>in</strong>er Gold-Geldwirtschaft wäre je<strong>de</strong>r Goldberg auch zu nichts an<strong>de</strong>rem Nutze.Nur e<strong>in</strong> Stoff, <strong>de</strong>r hübsch anzusehen ist.<strong>Das</strong> Gold gew<strong>in</strong>nt se<strong>in</strong>e Macht erst über die Geldfunktion. Und je<strong>de</strong>s Geld, ob Goldmünze o<strong>de</strong>rbedrucktes Papier, bezieht se<strong>in</strong>e Macht e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> aus se<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Funktion:Für <strong>de</strong>n Leibdiener o<strong>de</strong>r Friseur o<strong>de</strong>r Politiker ist die Bezahlung mit Geld nur <strong>de</strong>shalb akzeptabelund verführerisch, weil es ihm das Tor zur Warenwelt öffnet. Nur <strong>in</strong> dieser Funktion ist es auchSchlüssel zur Macht und zur Herrschaft über Menschen. Außerhalb <strong>de</strong>r Geldwirtschaft habenwe<strong>de</strong>r Gold noch Geld irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Kraft. 158Aber nicht nur die "Allmacht <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s" und se<strong>in</strong>e "Ver<strong>de</strong>rbtheit" ist e<strong>in</strong> wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>sfolkloristisches Motiv, son<strong>de</strong>rn auch se<strong>in</strong>e Treulosigkeit, die Unzuverlässigkeit se<strong>in</strong>es Werts, se<strong>in</strong>e157"D<strong>in</strong>ge, die an und für sich ke<strong>in</strong>e Waren s<strong>in</strong>d, z.B. Gewissen, Ehre usw., können ihren Besitzern für Geld feil se<strong>in</strong> und so durch ihrenPreis die Warenform erhalten." (MEW 23, S.117) Es geht darum, dass unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Warenproduktion, die sich ihrerseits <strong>de</strong>rHerrschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s unterwirft, beliebige D<strong>in</strong>ge, Menschen, Dienstleistungen zwar nicht zur Ware wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn sie wer<strong>de</strong>n nicht produziert.Sehr wohl aber wer<strong>de</strong>n sie wie e<strong>in</strong>e Ware behan<strong>de</strong>lt. Sie erhalten e<strong>in</strong>en Preis.158Als die Besatzung <strong>de</strong>s Raumschiffs Enterprise im 24. Jahrhun<strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>en zu unserer Zeit tiefgefrorenen und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Weltraum expediertenF<strong>in</strong>anzmakler auftaut und zu neuem Leben verhilft, will <strong>de</strong>r umgehend mit se<strong>in</strong>er Bank Kontakt aufnehmen, um die <strong>in</strong> drei Jahrhun<strong>de</strong>rtenangesammelten Z<strong>in</strong>sen auf se<strong>in</strong>e Wertanlagen zu kassieren. "Sie haben überhaupt nichts begriffen", muß Capta<strong>in</strong> Picard ihm sagen."Geld hat ke<strong>in</strong>erlei Be<strong>de</strong>utung mehr. Armut und Reichtum gibt es nicht mehr. Die Menschheit ist erwachsen gewor<strong>de</strong>n." Bitter für unserenF<strong>in</strong>anzmakler zu erfahren, dass sogar das über alles geliebte Geld, die Quelle <strong>de</strong>r Macht, nicht nur zu e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitpunkt <strong>in</strong> dieWelt geholt wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn zu e<strong>in</strong>em späteren Zeitpunkt womöglich auch wie<strong>de</strong>r verabschie<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann, weil die "Spr<strong>in</strong>gquellen <strong>de</strong>sgenossenschaftlichen Reichtums" (MEW 19, S.21) so spru<strong>de</strong>ln, dass es ohne weiteres für alle reicht. Wenn von allem genug da ist,braucht man nicht mehr zu kaufen und zu verkaufen. Ob mit Replikator <strong>de</strong>r "Next Generation" o<strong>de</strong>r ohne.75


Existenz als "gutes Geld" und "schlechtes Geld". 159 Auch diese im kollektiven Gedächtnis aufbewahrtenErfahrungen, dass <strong>de</strong>r herrliche Schlüssel zum Warenreichtum vorübergehend se<strong>in</strong>eKraft verlieren und entzaubert wer<strong>de</strong>n kann, liegt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldfunktion begrün<strong>de</strong>t.Preis ist <strong>de</strong>r Geldausdruck <strong>de</strong>s Werts. Aber Preis ist nicht gleich Wert. Was wir die <strong>in</strong>teraktiveErmittlung <strong>de</strong>s Werts nannten, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t nur über <strong>de</strong>n Preis statt. Der Wert als zu je<strong>de</strong>m Zeitpunktgegebene objektive, aber faktisch unbekannte Größe, tritt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldwirtschaft über die Vielzahl<strong>de</strong>r Preisbildungen zu Tage. Je<strong>de</strong>r Preis ist das, worauf man sich im Austausch e<strong>in</strong>igt. Dabeiwi<strong>de</strong>rspiegeln die Bewegungen <strong>de</strong>r Preise nicht unbed<strong>in</strong>gt Bewegungen <strong>de</strong>s Wertes. Denn <strong>de</strong>rPreis hängt nicht nur vom Wert <strong>de</strong>r jeweiligen Ware, son<strong>de</strong>rn auch vom Wert <strong>de</strong>r speziellen Wareab, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldfunktion steht. 160Der Wert <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s wird wie <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Ware durch die dar<strong>in</strong> verkörperte durchschnittlichegesellschatfliche Arbeit bestimmt. 161 Über die größte Zeit <strong>de</strong>r Geldwirtschaft waren dasvornehmlich Gold und Silber. Für die Geldware gilt, was für je<strong>de</strong> Ware gilt: Auch se<strong>in</strong> Wert ist159Die Geschichte <strong>de</strong>s Münzwesens ist auch e<strong>in</strong>e Geschichte <strong>de</strong>r Münzfälschung. Nicht die kle<strong>in</strong>en Fälscher <strong>in</strong>teressieren uns (die mit"...Gefängnis nicht unter drei Jahren..."), son<strong>de</strong>rn die großen. Ke<strong>in</strong> Lan<strong>de</strong>sherr, <strong>de</strong>r nicht irgendwann seit <strong>de</strong>m 14. Jahrhun<strong>de</strong>rt durch systematischeGeldverschlechterung se<strong>in</strong>e Kriegskasse auffüllte. Wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Goldmünze Blei beigemengt, erhielt <strong>de</strong>r Bauer für se<strong>in</strong> Korn <strong>de</strong>nnom<strong>in</strong>ellen Preis <strong>in</strong> Münzen. G<strong>in</strong>g er mit diesem Geld aber <strong>in</strong> die Stadt, um Handwerkswaren zu kaufen, o<strong>de</strong>r versuchte er, se<strong>in</strong>em eigenenGrundherrn damit die Pacht zu bezahlen, dann konnte ihm folgen<strong>de</strong>s passieren: Der Handwerker o<strong>de</strong>r Grundherr berechnete nur <strong>de</strong>nwirklichen Goldanteil und ignorierte, was auf <strong>de</strong>r Münze stand. Gewiß versuchten auch die Bauern, nach solchen Erfahrungen höhere nom<strong>in</strong>ellePreise für eigene Waren durchzusetzen. Aber es gehört zum Grundgesetz je<strong>de</strong>r Gel<strong>de</strong>ntwertung, dass <strong>de</strong>r Abhängige, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>nger<strong>in</strong>gsten Reserven, am meisten zuzahlt. Die "Geldfälschung" gibt es auch als mo<strong>de</strong>rne Variante. Wir <strong>de</strong>nken nicht e<strong>in</strong>mal an die E<strong>in</strong>führung<strong>de</strong>s Euro 2001, die <strong>in</strong> weiten Strecken e<strong>in</strong>e Preiserhöhung auf breiter Front, also e<strong>in</strong>e Vernichtung von Kaufkraft gewesen ist. Nehmenwir als Beispiel die aktuelle Wirtschaftskrise. Bevorzugtes Mittel zu ihrer Bekämpfung ist die staatliche Bereitstellung billigen Gel<strong>de</strong>sfür Banken und Versicherungen, die wegen erheblicher Wertkorrekturen an Kredit<strong>de</strong>ckung e<strong>in</strong>gebüßt hatten. Diese Geldspritze im Umfangvon <strong>de</strong>rzeit mehr als 2,6 Bio. Dollar (Juni 2009; Ten<strong>de</strong>nz steigend) schafft natürlich potentielle Gefahren für die Geldwertstabilität. Diewer<strong>de</strong>n aber bewußt <strong>in</strong> Kauf genommen, da man glaubt, e<strong>in</strong>e solche Inflation kontrollieren zu können. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Inflation, ob kontrolliert o<strong>de</strong>rnicht, wäre auch nur Vermögensvernichtung, wie die Krise selbst, allerd<strong>in</strong>gs auf breiter Front. Die Verluste <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzmarktakteure wür<strong>de</strong>nauf alle Staatsbürger abgewälzt und für die Verursacher <strong>de</strong>r Krise weniger spürbar wer<strong>de</strong>n.160Wir sehen hier noch völlig von spekulativen Preisbewegungen ab. Sie kommen zustan<strong>de</strong>, wenn vorübergehend e<strong>in</strong> Warensegment <strong>de</strong>r<strong>in</strong>teraktiven Wertbestimmung entzogen wird und sich nur <strong>in</strong> nom<strong>in</strong>ellen Preisen mit e<strong>in</strong>geschränkter Zirkulation bewegt. Kl<strong>in</strong>gt hochgestochen,ist aber e<strong>in</strong>fach: E<strong>in</strong> Beispiel s<strong>in</strong>d Luxussegmente, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen weniger die Ware, als vielmehr <strong>de</strong>r Besitz <strong>in</strong>teressiert. Da wer<strong>de</strong>n fürKunstgegenstän<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r handgefertigte Uhren überschießen<strong>de</strong> Preise gezahlt. Allerd<strong>in</strong>gs funktioniert auch das nur so lange, wie strikteExklusivität gewahrt und Kaufkraft weit über die Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Lebenshaltung h<strong>in</strong>aus vorhan<strong>de</strong>n ist. Sprich: Es muß genügend reicheKäufer geben, <strong>de</strong>nen es auf e<strong>in</strong>e Million nicht ankommt.E<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res Beispiel s<strong>in</strong>d Preisbildungen <strong>in</strong> Spekulationsblasen. Als Anfang <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts Tulpenzwiebeln <strong>in</strong> Holland immer beliebterund zu e<strong>in</strong>em modischen Bedarfsartikel <strong>de</strong>r Wohlhaben<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, stieg <strong>de</strong>r Tulpenpreis rasant. Die sogenannte Große Tulpenmaniebrach aus. Der Kauf von Tulpen erschien Kaufleuten, Handwerkern und Stadtverwaltungen als sicherer Weg zu enormen Gew<strong>in</strong>nen.Nur vergaß man bei dieser wie bei je<strong>de</strong>r späteren Spekulationsblase, dass e<strong>in</strong> auf die Börsentafel geschriebener Tulpenzwiebelpreis garke<strong>in</strong> Preis, son<strong>de</strong>rn nur e<strong>in</strong>e spekulative Vermutung ist. Weil aber e<strong>in</strong>e gewisse Zeit lang wirklich die aufgeschriebenen Summen als Preisgezahlt wur<strong>de</strong>n, g<strong>in</strong>gen viele dazu über, Häuser und Handwerksbetriebe zu verkaufen, um statt<strong>de</strong>ssen <strong>in</strong> Tulpenzwiebeln zu <strong>in</strong>vestieren. Eswur<strong>de</strong>n sogar Term<strong>in</strong>geschäfte auf künftige Tulpenzwiebelernten abgeschlossen.Wie bei je<strong>de</strong>r Spekulation gilt: Wer rechtzeitig aussteigt und noch jeman<strong>de</strong>n f<strong>in</strong><strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n spekulativen Preis bezahlt, kann gew<strong>in</strong>nen.Die an<strong>de</strong>ren holt <strong>de</strong>r Pleiteteufel. Natürlich dämmerte <strong>de</strong>n Spekulanten irgendwann, dass e<strong>in</strong>e Tulpenzwiebel unmöglich 4000 Gul<strong>de</strong>nwert se<strong>in</strong> konnte. Drei Tulpenzwiebeln sollten <strong>de</strong>m Wert e<strong>in</strong>es Hauses entsprechen? Der Traum vom schnellen Reichtum platzte für diemeisten. Die Preise konnten nur so lange steigen, wie auch die Nachfrage nach Tulpenzwiebeln weiter zunahm. Als die Verlangsamung<strong>de</strong>s Karussells spürbar wur<strong>de</strong>, machten mehr und mehr Spekulanten ihre gehorteten Tulpenzwiebeln wie<strong>de</strong>r zu Geld und leiteten <strong>de</strong>n fürje<strong>de</strong> Spekulationsblase typischen Knalleffekt e<strong>in</strong>.Da wur<strong>de</strong> schnell <strong>de</strong>r Unterschied <strong>de</strong>utlich, <strong>de</strong>r zwischen e<strong>in</strong>em spekulativen und e<strong>in</strong>em wirklich bezahlten Preis besteht. <strong>Das</strong> Wertgesetzholte sie alle wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n zurück. Nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Tulpenzwiebelkrise von 1637 waren e<strong>in</strong>ige dadurch viel reicher gewor<strong>de</strong>n,an<strong>de</strong>re um <strong>de</strong>nselben Betrag viel ärmer. Wirkliche Gew<strong>in</strong>ner waren alle, die <strong>de</strong>n Spekulanten die Häuser und Handwerksbetriebe zu günstigenPreisen abgekauft hatten.161<strong>Das</strong> gilt une<strong>in</strong>geschränkt nur für die Geldwirtschaft mit direkter E<strong>de</strong>lmetallwährung. Je<strong>de</strong> im Mittelalter neu eröffnete Silbergrube, je<strong>de</strong>sverbesserte För<strong>de</strong>rungs- und Extraktionsverfahren bee<strong>in</strong>flußte <strong>de</strong>n Geldwert. Die E<strong>in</strong>fuhr riesiger Gold- und Silbermengen im Zuge <strong>de</strong>r erstenkolonialen Eroberungen <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts führte europaweit zu e<strong>in</strong>er Gel<strong>de</strong>ntwertung. Heute haben wir e<strong>in</strong>e sehr weitgehen<strong>de</strong>Loslösung vom Goldstandard und und mit <strong>de</strong>r Freigabe <strong>de</strong>r Wechselkurse zwischen <strong>de</strong>n Währungen ist die Geldwertbildung noch kompliziertergewor<strong>de</strong>n.76


nicht e<strong>in</strong>fach festgelegt, son<strong>de</strong>rn bil<strong>de</strong>t sich genauso <strong>in</strong>teraktiv, sozusagen als "Preis <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s".<strong>Das</strong> Geld fungiert nicht nur als allgeme<strong>in</strong>er Maßstab <strong>de</strong>r Warenwerte. In <strong>de</strong>r Vielzahl <strong>de</strong>r Austauschprozessef<strong>in</strong><strong>de</strong>t se<strong>in</strong> eigener Wert die Bestimmung. Als Konsequenz daraus umgibt <strong>de</strong>nWert <strong>in</strong> <strong>de</strong>r entwickelten Geldwirtschaft e<strong>in</strong>e doppelte Bewegung: E<strong>in</strong>mal die Bildung <strong>de</strong>s Preisesals Wertausdruck für die Ware. Dann aber auch die Festlegung <strong>de</strong>s Geldwerts selbst. Der istja nicht mit <strong>de</strong>m Nom<strong>in</strong>alwert i<strong>de</strong>ntisch, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Münze steht. Was man für <strong>de</strong>n Nom<strong>in</strong>alwerte<strong>in</strong>er Münze an Waren bekommt, hängt sowohl von <strong>de</strong>r Wertbewegung <strong>de</strong>r Waren ab, diedurch Produktivität und Angebotsmenge bestimmt wer<strong>de</strong>n und sich im Preis spiegeln. <strong>Das</strong> hängtaber auch vom Wert <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ab.Zwischenfrage 38: Wenn die Welt <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>e Welt <strong>de</strong>r Waren und Preise ist: Warum nicht mit e<strong>in</strong>erPreistheorie <strong>in</strong> die Sache e<strong>in</strong>steigen (S.272)Diese Dopplung <strong>de</strong>r Preisbewegung ist e<strong>in</strong> weiterer Punkt, <strong>de</strong>r die Preisbildung und damit dasGeld so geheimnisvoll macht. Was Wun<strong>de</strong>r, wenn Geld-Preis-Theorien <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftvon zentraler Be<strong>de</strong>utung s<strong>in</strong>d; je<strong>de</strong>r Unternehmer muß wissen, was er fürse<strong>in</strong>e Waren bekommt und was das Geld, das er bekommt, wirklich wert ist. Warum sich <strong>in</strong> diesemZusammenhang auch e<strong>in</strong>e Reihe namhafter marxistische Theoretiker mit <strong>de</strong>m sogenanntenTransformationsproblem seit mehr als 100 Jahren <strong>in</strong> Aufregung versetzen lassen und sich gegenseitig<strong>in</strong> Aufregung versetzen, ist e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Sache. 162Geld und SchatzbildungWir haben oben bereits die zentralen Funktionen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Warenproduktion kennengelernt:Geld als Maßstab <strong>de</strong>s Werts und <strong>de</strong>r Preise und als Zirkulationsmittel. M. unterschei<strong>de</strong>t davonweitere Funktionen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s, die große Be<strong>de</strong>utung für <strong>de</strong>n Übergang zur kapitalistischenProduktionsweise haben.Geld als Schatzbildung ist uns bestens bekannt, wenn auch kaum aus eigener Erfahrung. SagenhafteSchätze <strong>in</strong> Märchen und Legen<strong>de</strong>n. Kauzige Geizhälse mit Truhen voller Gold unter<strong>de</strong>m Bett. Dagobert als Money-Diver. Verschwen<strong>de</strong>rische Sonnenkönige und Ölscheichs mitmehr Geld als Verstand. Milliardäre mit Privatjets und Luxusschiffen und Palästen überall, wo esuns auch gefallen wür<strong>de</strong>. (Und mit mehr schwarzen Flecken auf <strong>de</strong>m weißen Hemd als e<strong>in</strong> Zebraauf se<strong>in</strong>em Fell.) Kronjuwelen <strong>in</strong> Schatzkammern für die zahlen<strong>de</strong>n Touristen und Gold- und Devisenreserven<strong>de</strong>r Staatsbanken für <strong>de</strong>n wirtschafts<strong>pol</strong>itischen Kampfe<strong>in</strong>satz. Es versteht sich,dass diese verschie<strong>de</strong>nen Formen <strong>de</strong>r Schatzbildung, an<strong>de</strong>rs als <strong>in</strong> zeitlosen Legen<strong>de</strong>n, nur unterbestimmten historischen Voraussetzungen auftreten. Und Voraussetzung ist die entwickelteGeldwirtschaft.162Unter <strong>de</strong>m Stichwort "Transformationsproblem" streiten sich kluge Leute (v.a. mathematisch orientierte Ökonomen) um die Frage, obüberhaupt und mit welchem Verfahren die gesellschaftlichen Warenwerte, die <strong>in</strong> gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit gemessen wer<strong>de</strong>n,<strong>in</strong> Preise (besser: Produktionspreise) umgerechnet wer<strong>de</strong>n können, so dass am En<strong>de</strong> M.s Annahme, wonach die Summe <strong>de</strong>r Preisegleich <strong>de</strong>r Summe <strong>de</strong>r Werte sei, sich als Wert-Preis-Rechnung nachvollziehen läßt. Letztlich geht es um <strong>de</strong>n Versuch, für M.s Werttheoriee<strong>in</strong> mathematisches Mo<strong>de</strong>ll mit "Beweiskraft" zu entwickeln. <strong>Das</strong> ist durchaus anregend, aber auch nicht frei von aka<strong>de</strong>mischen Kuriositäten.Und letztlich gehen diese Bemühungen haarscharf an M.s Werttheorie vorbei, da <strong>de</strong>r Kern <strong>de</strong>s Wertgesetzes eben nicht auf die Preisbildungzielt, son<strong>de</strong>rn die Verteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit und die Verteilung <strong>de</strong>r stofflichen Elemente <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s regelt. Mitteldieser Regulation s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nicht mehr die Preise, son<strong>de</strong>rn die zyklischen Krisen und die Wechsel <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Akkumulationsregimes,die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Abfolge <strong>de</strong>r Krisenphasen auftreten. Damit eilen wir aber gehörig voraus. Nehmen wir diese Anmerkungen als Trailer für <strong>de</strong>nzweiten <strong>Teil</strong> unserer <strong>Spurensuche</strong>.77


Erst mit <strong>de</strong>r Geldwirtschaft wer<strong>de</strong>n die Grenzen überwun<strong>de</strong>n, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Naturalwirtschaft <strong>de</strong>rReichtumsbildung entgegenstehen. 163 Erst mit <strong>de</strong>m Geld sche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>m Reichtum ke<strong>in</strong>e Grenzegesetzt. Die Steigerung <strong>de</strong>r Produktivität wird zu e<strong>in</strong>em eigenen Ziel: Produktion, um zu verkaufen.Verkaufen, um Geld zu erhalten. Noch mehr Produktion, um noch mehr Geld zu bekommen.164Was sich historisch über Jahrtausen<strong>de</strong> so mühsam entwickelt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Regionen<strong>de</strong>r Welt zu ganz unterschiedlichen Zeiten und auf ganz verschie<strong>de</strong>nem Niveau, ist <strong>in</strong> strukturellerH<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>fach: Wir kommen wie<strong>de</strong>r auf die mit <strong>de</strong>r Geldwirtschaft entwickelte Austauschformzurück: Wo <strong>de</strong>r geldvermittelte Austausch dom<strong>in</strong>iert, ist auch die zeitlich ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rfallen<strong>de</strong>Form "Ware gegen Geld" (W-G) und "Geld gegen Ware" (G-W) möglich. Was h<strong>in</strong><strong>de</strong>rt daran,das Geld so lange als möglich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand zu halten und <strong>de</strong>n Bestand an Geld zu vermehren?Nichts h<strong>in</strong><strong>de</strong>rt daran, weil die entwickelte Warenproduktion bereits e<strong>in</strong> ausreichen<strong>de</strong>sMehrprodukt abwirft, so dass zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st für e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Bevölkerung ke<strong>in</strong>erlei Zwang besteht,das durch Verkauf <strong>de</strong>r Waren erworbene Geld sofort wie<strong>de</strong>r vollständig für Lebensmittel auszugeben.Gegenüber <strong>de</strong>m Warenreichtum, etwa Reichtum an Vieh o<strong>de</strong>r Ackerfläche, entwickelt <strong>de</strong>r Geldreichtumenorme Vorteile: Pflegeleicht (verglichen mit <strong>de</strong>m Vieh), transportabel (verglichen mit<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n), und je<strong>de</strong>rzeit machtvoll. Produktion und Austausch kennen dank <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ke<strong>in</strong>eGrenze mehr, die im Gebrauchswert <strong>de</strong>r Ware liegt: Mit je<strong>de</strong>m abgeschlossenen Geschäft locktdas nächste. <strong>Das</strong>s Geld nicht st<strong>in</strong>kt, war längst bekannt. Aber Geld wird auch nicht krank undkennt ke<strong>in</strong> natürliches Verfallsdatum. Es ist <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Mengen <strong>de</strong>r Zauberstab, <strong>de</strong>r die kle<strong>in</strong>enWünsche erfüllt. In großen Mengen ersche<strong>in</strong>t es gar als gespeicherte Macht.Was ist so wichtig an <strong>de</strong>r Schatzfunktion <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s, dass M. ihr e<strong>in</strong> eigenes Kapitel widmet? Siewirkt <strong>in</strong> Bereichen, die wir bisher nur implizit behan<strong>de</strong>lt haben. Sie verän<strong>de</strong>rt die Beziehungenzwischen <strong>de</strong>n Klassen: Mit <strong>de</strong>r Möglichkeit und Notwendigkeit, Geld als Machtmittel zu horten,bekommt die Ausbeutung e<strong>in</strong> erweitertes Ziel. Nicht mehr nur Freistellung <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>nKlasse von jeglicher Mühsal: Jetzt geht es darum, das antike Imperium o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n feudalen Lan<strong>de</strong>sherrnmit ausreichen<strong>de</strong>n Geldmitteln zu versorgen, um Politik, Staatsverwaltung und kriegerischeMachtkämpfe und Eroberungen zu f<strong>in</strong>anzieren. 165Unter <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s beschleunigt sich die Differenzierung <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Klassen. Wir habenbereits die Unterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktivität zwischen <strong>de</strong>n Produzenten erwähnt. Da mit163Über Jahrtausen<strong>de</strong> h<strong>in</strong>weg vollzog sich <strong>de</strong>r Wirtschaftskreislauf auf praktisch gleicher Stufe. <strong>Das</strong> Leben <strong>de</strong>r Menschen war mit <strong>de</strong>r Sicherung<strong>de</strong>r Lebensgrundlagen gegen alle Unbil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Natur völlig ausgefüllt, Jahr für Jahr, Generation für Generation. Sogar die Entwicklunge<strong>in</strong>facher Vorratshaltung, um <strong>de</strong>n <strong>in</strong> guten Jahren erzielten Überschuß zu speichern, war begrenzt. Dazu mußten erst e<strong>in</strong>mal verschie<strong>de</strong>neMetho<strong>de</strong>n zur Haltbarmachung von Lebensmitteln gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Auch als die Arbeitsteilung schon <strong>in</strong> Ansätzen entwickeltwar, g<strong>in</strong>g es durchweg noch um gehorteten Naturalreichtum als Schutz vor Mißernten, nicht um Reichtumsbildung im S<strong>in</strong>ne <strong>de</strong>s Geldsacks.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Sippe, die viel Vieh besaß, war reich, gewiß. Aber die Her<strong>de</strong> beliebig vergrößern? Woher das Land nehmen? Wer soll die Tierepflegen? Wer soll Milch o<strong>de</strong>r Fleisch o<strong>de</strong>r Wolle verbrauchen? In <strong>de</strong>r Naturalwirtschaft s<strong>in</strong>d <strong>de</strong>r Reichtumsbildung stoffliche Grenzen gesetzt.Je<strong>de</strong> Anhäufung von "Gold und E<strong>de</strong>lste<strong>in</strong>en" mag <strong>in</strong> Räuberhöhlen nett anzusehen se<strong>in</strong> und die Phantasie beflügelt haben, bleibtaber ohne die Möglichkeit <strong>de</strong>s Austausches gegen Waren ökonomisch folgenlos.164"Der Schatzbildner opfert daher <strong>de</strong>m Goldfetisch se<strong>in</strong>e Fleischeslust. Er macht Ernst mit <strong>de</strong>m Evangelium <strong>de</strong>r Entsagung. Andrerseitskann er <strong>de</strong>r Zirkulation nur <strong>in</strong> Geld entziehn, was er ihr <strong>in</strong> Ware gibt. Je mehr er produziert, <strong>de</strong>sto mehr kann er verkaufen. Arbeitsamkeit,Sparsamkeit und Geiz bil<strong>de</strong>n daher se<strong>in</strong>e Kard<strong>in</strong>altugen<strong>de</strong>n, viel verkaufen, wenig kaufen, die Summe se<strong>in</strong>er <strong>pol</strong>itischen Ökonomie. (MEW23, S.147) Paßt doch auf Dagobert, o<strong>de</strong>r?165E<strong>in</strong> Marschall <strong>de</strong>s französischen Königs Ludwig XII brachte das zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s 16. Jahrhun<strong>de</strong>rts auf die heute noch gültige Formel:"Zum Kriegführen s<strong>in</strong>d drei D<strong>in</strong>ge nötig: Geld, Geld und nochmals Geld." Im heutigen <strong>Kapital</strong>ismus ist die Schatzbildung e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzplanungje<strong>de</strong>s Unternehmens, sei es zur Vorbereitung von Aufkäufen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Expansionsplänen o<strong>de</strong>r zur Abwehr fe<strong>in</strong>dlicherÜbernahmen. Nur wird das Geld nicht wie bei Dagobert gebunkert (das ist die primitive, wenn auch lustvolle Form <strong>de</strong>r Schatzbildung),son<strong>de</strong>rn als e<strong>in</strong>trägliches Investment zwischengelagert. Wir kommen darauf zurück, wenn wir uns <strong>de</strong>m Akkumulationsprozess zuwen<strong>de</strong>n.78


höherer Produktivität die Möglichkeit besteht, größere Geldmengen zu erwirtschaften, f<strong>in</strong><strong>de</strong>nwir sehr bald soziale Unterschie<strong>de</strong> zwischen großen und kle<strong>in</strong>en Handwerkern, zwischen großenund kle<strong>in</strong>en Kaufleuten. Die Produzenten und Händler von Luxuswaren f<strong>in</strong><strong>de</strong>n verbesserte Möglichkeiten,<strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s Mehrprodukts <strong>in</strong> Geldform an sich zu ziehen.Es entwickeln sich erste stabile Ausbeutungsverhältnisse <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Handwerks und zwischenHan<strong>de</strong>l und Handwerk, aber auch zwischen städtischem Gewerbe und bäuerlicher Wirtschaft.Wir nähern uns über die schatzbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kraft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Geburtsphase <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise. Wir wer<strong>de</strong>n noch sehen, wie sich dabei <strong>in</strong> Europa die im 15. und 16. Jahrhun<strong>de</strong>rtentstan<strong>de</strong>nen großen Geldvermögen als wichtige Voraussetzung für <strong>de</strong>n nachfolgen<strong>de</strong>nSiegeszug <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus erweisen.Geld als Zahlungsmittel, Weltgeld und KreditWarenproduktion und Warenverkehr nehmen zu. Da nun das Geld als Zahlungsmittel für alltäglicheTransaktionen und solche großen Stils zur Verfügung steht, können Produktion und Zahlung<strong>de</strong>r Ware <strong>in</strong> beliebiger Reihenfolge stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. 166 Der Kauf e<strong>in</strong>er Ware (etwa e<strong>in</strong>es Hauses)läßt sich zeitlich strecken. Ort <strong>de</strong>s Kaufs und Ort <strong>de</strong>r Zahlung, Kaufterm<strong>in</strong> und Zahlungsterm<strong>in</strong>dürfen fast beliebig vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abweichen.Schuldner und Gläubiger wer<strong>de</strong>n zu alltäglichen Rollen im Wirtschaftsleben, wobei je<strong>de</strong>r Akteurgleichzeitig an<strong>de</strong>ren Akteuren gegenüber sowohl Gläubiger wie Schuldner ist. Es können <strong>Teil</strong>eo<strong>de</strong>r Anteile von Waren erworben wer<strong>de</strong>n, die man s<strong>in</strong>nvollerweise nicht wirklich teilt: E<strong>in</strong> Achtelleben<strong>de</strong>s Schwe<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> 280tel e<strong>in</strong>es Han<strong>de</strong>lsschiffes, die Hälfte e<strong>in</strong>es Hauses usw. Es wer<strong>de</strong>ne<strong>in</strong>zelne Kaufakte jetzt mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verwoben, aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r aufgebaut und gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verrechnet.Alles sche<strong>in</strong>t unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s möglich zu se<strong>in</strong>. Die vier Grundrechenarten,je<strong>de</strong> Menge Z<strong>in</strong>sesz<strong>in</strong>s-Rechnung und doppelte Buchführung beherrschen die Szenerie.Dabei tritt Geld im e<strong>in</strong>zelnen Kaufakt vielleicht noch als "echtes" Geld, als "wirkliches" Zahlungsmittelauf, vor allem im Alltag zum Erwerb <strong>de</strong>r Lebensmittel. In <strong>de</strong>r Gesamtheit <strong>de</strong>r Zirkulationfungiert das Geld aber zunehmend als Buchgeld, mit <strong>de</strong>m Käufer und Verkäufer schon auspraktischen Grün<strong>de</strong>n die e<strong>in</strong>zelnen Kaufakte gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als Konten bilanzieren. 167 Dadurchgew<strong>in</strong>nt <strong>de</strong>r Kredit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschie<strong>de</strong>nen Formen an Be<strong>de</strong>utung und <strong>de</strong>r Austauschprozesswird <strong>in</strong>sgesamt komplexer und noch undurchschaubarer.Freilich ist <strong>de</strong>r Kredit ke<strong>in</strong> neues Element, das sich <strong>de</strong>r Warenproduktion erst aufdrängen muß,erfun<strong>de</strong>n von habgierigen Wucherern, die <strong>de</strong>n fleißigen Produzenten Waren und Geld abknöpfenwollen. Der Kredit ist von Anfang an <strong>in</strong>neres Element <strong>de</strong>r Warenproduktion. Schließlich fallenProduktion <strong>de</strong>r Ware und ihr Verkauf typischerweise zeitlich ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Damit das funktioniert,muß je<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Austausch produzierte Ware bereits durch <strong>de</strong>n Produzenten kreditiertwer<strong>de</strong>n: Sie ist vorgeschossenes Material und vorab geleistete Arbeit. Bei<strong>de</strong>s fließt erst durch<strong>de</strong>n Verkauf (wenn alles gut geht) wertmäßig zurück.166An dieser Stelle stehen wir bereits vor <strong>de</strong>n Grenzen unseres Schemas. Es berücksichtigt nicht, dass das G <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s W-G o<strong>de</strong>r G-WProzesses selbst wie<strong>de</strong>rum Kredit ist, <strong>de</strong>r möglicherweise ebenfalls Kredit ist usw. Wenn man sich genau das vor Augen führt: Fast alles G<strong>in</strong> diesem Prozess ist geliehenes o<strong>de</strong>r verliehenes, auf je<strong>de</strong>n Fall immer zu e<strong>in</strong>em größeren <strong>Teil</strong> "frem<strong>de</strong>s" Geld! dann erhält man e<strong>in</strong> Gefühlfür die historisch sich im 16.Jahrhun<strong>de</strong>rt herausbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, immer komplexer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Waren- und Geldzirkulation. Mit <strong>de</strong>r entwickeltenGeldwirtschaft entsteht <strong>de</strong>shalb auch mit Banken und Börsen e<strong>in</strong>e eigene Infrastruktur für <strong>de</strong>n Zahlungsverkehr und die dazu gehören<strong>de</strong>nVerwaltungstechniken wie Buchführung und Bilanzierung verbreiten sich rasend schnell.167Die Kontierung, also die gegenseitige Verrechnung von Warenlieferungen ohne wirklichen Geldfluß, ist selbst e<strong>in</strong> Form <strong>de</strong>s wechselseitigenKredits. Dabei müssen Verkäufer und Käufer nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> direkter Beziehung stehen. Han<strong>de</strong>lshäuser (sogenannte Kontore) vermittelndie Geschäfte und führen die Konten <strong>de</strong>r mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Partner.79


Mit wachsen<strong>de</strong>r Produktion und höherer Wertigkeit <strong>de</strong>r Produkte wächst die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>sKredits, <strong>de</strong>r selbst zu e<strong>in</strong>em Element <strong>de</strong>r Arbeitsteilung wird. Vor allem im Le<strong>de</strong>r- und Weberhandwerkbr<strong>in</strong>gt sehr oft <strong>de</strong>r Kun<strong>de</strong> das Material, um vom Produzenten das Fertigprodukt, beiAnrechnung <strong>de</strong>s Rohstoffs, zu kaufen. Auch diese Vorlieferung <strong>de</strong>s Materials ist nichts an<strong>de</strong>resals e<strong>in</strong> Naturalkredit.Wo aus <strong>de</strong>r gelegentlichen e<strong>in</strong>e gewerbsmäßige Produktion mit wachsen<strong>de</strong>r Produktivität wird,gew<strong>in</strong>nt die ausreichen<strong>de</strong> Beschaffung <strong>de</strong>s Rohmaterials immer mehr an Be<strong>de</strong>utung. 168 Händlerübernehmen diese Aufgabe; wenn nicht gegen sofortige Bezahlung, dann gegen Kredit, <strong>de</strong>r mit<strong>de</strong>m Verkauf <strong>de</strong>r Waren verrechnet wird. Es entsteht e<strong>in</strong> zunehmend komplexeres Geflecht vonWirtschaftsbeziehungen. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d durch Geld vermittelte Abhängigkeiten <strong>de</strong>r ökonomischen Akteure.Der Übergang zur Zirkulation von Geld und Waren als e<strong>in</strong>er relativ selbständigen Sphäre ist vollzogen,<strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich e<strong>in</strong> Vielzahl gleichzeitiger Austauschprozesse jeweils <strong>in</strong> <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nenStadien <strong>de</strong>s W-G und G-W Prozesses bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Die zunehmen<strong>de</strong>n wechselseitigen Abhängigkeiten<strong>de</strong>r Akteure <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation, die sich aus <strong>de</strong>m Kredit ergibt, macht die Zirkulation zu e<strong>in</strong>emzwanghaft kont<strong>in</strong>uierlichen Prozess. "Flüssig zu se<strong>in</strong>" (solvent) wird zum obersten Gebot allerAkteure <strong>de</strong>r Zirkulation. Wer nicht flüssig, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong>solvent ist, wird aus <strong>de</strong>r Zirkulation entfernt.S<strong>in</strong>d viele Akteure <strong>in</strong>solvent, s<strong>in</strong>d die Folgen klar. Wo die Zirkulation stockt und die e<strong>in</strong>zelnenAkteure ihren Anteil am Buchgeld retten wollen und die sofortige Ausgleichung <strong>de</strong>s Kredits<strong>in</strong> echtem Geld verlangen, ist e<strong>in</strong>e Krise <strong>de</strong>r Zirkulation, e<strong>in</strong>e Han<strong>de</strong>lskrise die zwangsläufige Folge.Nicht erst heute. 169Mit e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong> anerkannten Zahlungsmittel überschreitet die Zirkulation ihre durch Staat,Produktion, Klima, Kultur und an<strong>de</strong>re Faktoren gesetzten Grenzen. <strong>Das</strong> Geld fungiert als Weltgeld.Was ohne Geld nur Ausnahme ist, z.B. im Grenzaustausch, wird vor allem dank <strong>de</strong>s Goldgel<strong>de</strong>szunächst als Fernhan<strong>de</strong>l, dann als Welthan<strong>de</strong>l schon früh zu e<strong>in</strong>er festen Größe.Sobald wir über das Geld nach<strong>de</strong>nken, kommt schnell <strong>de</strong>r Punkt, wo wir an allen Ecken und En<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus wittern. Auf <strong>de</strong>m gegenwärtigen Stand unserer Analyse müssen wir unsjedoch davor hüten, die bisher beschriebenen Funktionen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s bereits als <strong>de</strong>r Weisheitletzten Schluß zu betrachten. Wo es um die kapitalistische Produktionsweise und vor allem um168Tatsächlich ist die zunehemen<strong>de</strong> Abhängigkeit <strong>de</strong>s Produzenten von <strong>de</strong>r Rohstofflieferung und <strong>de</strong>ren F<strong>in</strong>anzierung e<strong>in</strong>es <strong>de</strong>r wichtigenE<strong>in</strong>fallstore für das frühe Geldkapital gewesen, um <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>r handwerklichen Produktion unter se<strong>in</strong> Kommando zu zw<strong>in</strong>gen und <strong>in</strong> kapitalistischeProduktion umzuwan<strong>de</strong>ln. Wir wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m als sogenanntes Verlagswesen wie<strong>de</strong>r begegnen.169So beschreibt M. ganz nebenbei die Entstehung e<strong>in</strong>er "F<strong>in</strong>anzmarktkrise", die bei ihm Geldkrise heißt, und aus <strong>de</strong>r re<strong>in</strong>en Möglichkeiterst dann zur Wirklichkeit wer<strong>de</strong>n kann, wenn e<strong>in</strong> umfassen<strong>de</strong>s Kreditsystem, e<strong>in</strong> Geldverwertungsmarkt o<strong>de</strong>r "F<strong>in</strong>anzmart" etabliert ist.Die Geldkrise entsteht, wenn <strong>in</strong> Preise notierte Werte nicht mehr <strong>in</strong> Geld umgewan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, aber gleichzeitig Krteditverpflichtung undan<strong>de</strong>res <strong>in</strong> Geld geleistet wer<strong>de</strong>n müssen. Die Akteure, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>rgleichen geschieht, wer<strong>de</strong>n zunächst illiqui<strong>de</strong> und letzlich <strong>in</strong>solvent:"Die Funktion <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s als Zahlungsmittel schließt e<strong>in</strong>en unvermittelten Wi<strong>de</strong>rspruch e<strong>in</strong>. Soweit sich die Zahlungen ausgleichen, funktioniertes nur i<strong>de</strong>ell als Rechengeld o<strong>de</strong>r Maß <strong>de</strong>r Werte. Soweit wirkliche Zahlung zu verrichten, tritt es nicht als Zirkulationsmittel auf,als nur verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> und vermitteln<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>s Stoffwechsels, son<strong>de</strong>rn als die <strong>in</strong>dividuelle Inkarnation <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit,selbständiges <strong>Das</strong>e<strong>in</strong> <strong>de</strong>s Tauschwerts, absolute Ware. Dieser Wi<strong>de</strong>rspruch eklatiert <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Moment <strong>de</strong>r Produktions- und Han<strong>de</strong>lskrisen,<strong>de</strong>r Geldkrise heißt. Sie ereignet sich nur, wo die prozessieren<strong>de</strong> Kette <strong>de</strong>r Zahlungen und e<strong>in</strong> künstliches System ihrer Ausgleichung völligentwickelt s<strong>in</strong>d. Mit allgeme<strong>in</strong>eren Störungen dieses Mechanismus, woher sie immer entspr<strong>in</strong>gen mögen, schlägt das Geld plötzlich undunvermittelt um aus <strong>de</strong>r nur i<strong>de</strong>ellen Gestalt <strong>de</strong>s Rechengel<strong>de</strong>s <strong>in</strong> hartes Geld. Es wird unersetzlich durch profane Waren. Der Gebrauchswert<strong>de</strong>r Ware wird wertlos, und ihr Wert verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t vor se<strong>in</strong>er eignen Wertform. Eben noch erklärte <strong>de</strong>r Bürger <strong>in</strong> prosperitätstrunknemAufklärungsdünkel das Geld für leeren Wahn. Nur die Ware ist Geld. Nur das Geld ist Ware! gellt's jetzt über <strong>de</strong>n Weltmarkt. Wie <strong>de</strong>rHirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit se<strong>in</strong>e Seele nach Geld, <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zigen Reichtum. In <strong>de</strong>r Krise wird <strong>de</strong>r Gegensatz zwischen<strong>de</strong>r Ware und ihrer Wertgestalt, <strong>de</strong>m Geld, bis zum absoluten Wi<strong>de</strong>rspruch gesteigert. Die Ersche<strong>in</strong>ungsform <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ist hier daherauch gleichgültig. Die Geldhungersnot bleibt dieselbe, ob <strong>in</strong> Gold o<strong>de</strong>r Kreditgeld, Banknoten etwa, zu zahlen ist." (MEW 23, S.151f)80


<strong>de</strong>n gegenwärtigen <strong>Kapital</strong>ismus geht, s<strong>in</strong>d die Funktionen <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s noch sehr viel umfassen<strong>de</strong>rund komplexer gewor<strong>de</strong>n.Kapitel 6: Vom Geld zum <strong>Kapital</strong>: MehrwerttheorieWir nähern uns <strong>de</strong>m kritischen Punkt, <strong>de</strong>r Mehrwerttheorie. Wir lernen <strong>de</strong>n Trick <strong>de</strong>rRaupe Nimmersatt kennen, immer dicker zu wer<strong>de</strong>n, ohne gegen das Wertgesetz <strong>de</strong>rWarenproduktion zu verstoßen. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> betritt die Bühne mit großer Präsenz undwir merken, dass es dabei um viel mehr als nur um Geld und Technik geht.Auftritt <strong>de</strong>r HändlerWir nähern uns jetzt <strong>de</strong>m brisantesten und umstrittensten Punkt <strong>in</strong> M.s Politischer Ökonomie.Was bisher auf <strong>de</strong>n ersten 150 Seite <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" passierte, kommt recht harmlos daher undmag manchem vielleicht sogar etwas umschweifig ersche<strong>in</strong>en. In <strong>de</strong>n Schlußfolgerungen erweistes sich als pures Dynamit. Nicht ohne Folgen, <strong>de</strong>nn mit <strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rborstigen Mehrwerttheorie als<strong>de</strong>m ersten Sprößl<strong>in</strong>g <strong>de</strong>s Wertgesetzes hatte sich M. je<strong>de</strong>n Anspruch auf aka<strong>de</strong>mische Ehrungenverspielt. Und se<strong>in</strong>e Erben macht es auch nicht gera<strong>de</strong> populär. Aber alles <strong>de</strong>r Reihe nach:M. hat uns mit Gebrauchswert und Tauschwert <strong>de</strong>n Doppelcharakter je<strong>de</strong>r Ware gezeigt undihre gegenseitige Tauschbarkeit auf die <strong>in</strong> ihnen stecken<strong>de</strong> gesellschaftliche ("abstrakte") Arbeitzurückgeführt. Er machte uns mit <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s vertraut. Wir s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>en Schrittennicht nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r strukturellen Analyse gefolgt, son<strong>de</strong>rn haben auch ihre historischen Grundlagengestreift. Jetzt gehen wir mit M. e<strong>in</strong>en Schritt weiter und fragen uns nach <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Form,<strong>in</strong> <strong>de</strong>r die Warenzirkulation stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Der geldvermittelte Warentausch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r entwickeltenWarenproduktion erweist sich als die Schnittstelle, die uns <strong>de</strong>n Übergang zur kapitalistischenProduktionsweise öffnet. 170<strong>Das</strong> Kürzel W-W ist das Tauschschema <strong>de</strong>r "e<strong>in</strong>fachen", unentwickelten Warenproduktion. <strong>Das</strong>Schema be<strong>de</strong>utet: Es wer<strong>de</strong>n (im Durchschnitt) Äquivalente getauscht <strong>in</strong> Bezug auf <strong>de</strong>n Warenwert,aber natürlich unterschiedliche Waren <strong>in</strong> Bezug auf <strong>de</strong>n Gebrauchswert. Sonst ergibt <strong>de</strong>rTausch für die Akteure ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n.Mit <strong>de</strong>m Übergang zum geldvermittelten Warentausch entwickeln sich neue Möglichkeiten, <strong>de</strong>n<strong>de</strong>r direkte Warentausch nur ausnahmsweise und dann auch nur für haltbare Waren nutzenkonnte. Wir haben das bereits im Kapitel über das Geld als Zirkulationsmittel kennengelernt.Dort haben wir gesehen, wie e<strong>in</strong>fach sich das Tauschschema W-G-W zeitlich <strong>in</strong> die bei<strong>de</strong>nSchemata W-G und G-W entzerren läßt. <strong>Das</strong> ist ke<strong>in</strong> Gedankenspiel, son<strong>de</strong>rn schematische Darstellung<strong>de</strong>r wirklichen zeitlichen und räumlichen Trennung <strong>de</strong>r Tauschakte mit <strong>de</strong>m Siegeszug<strong>de</strong>r Geldwirtschaft. 171170"Die Warenzirkulation ist <strong>de</strong>r Ausgangspunkt <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Warenproduktion und entwickelte Warenzirkulation, Han<strong>de</strong>l, bil<strong>de</strong>n die historischenVoraussetzungen, unter <strong>de</strong>nen es entsteht. Welthan<strong>de</strong>l und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt die mo<strong>de</strong>rne Lebensgeschichte<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Sehn wir ab vom stofflichen Inhalt <strong>de</strong>r Warenzirkulation, vom Austausch <strong>de</strong>r verschiednen Gebrauchswerte, undbetrachten wir nur die ökonomischen Formen, die dieser Prozeß erzeugt, so f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir als se<strong>in</strong> letztes Produkt das Geld. Dies letzte Produkt<strong>de</strong>r Warenzirkulation ist die erste Ersche<strong>in</strong>ungsform <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s." (MEW 23, S.161)171Gewiß ist es schon vor <strong>de</strong>m Siegeszug <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s vorgekommen, dass landwirtschaftliche Produkte vor <strong>de</strong>r Ernte verkauft wer<strong>de</strong>n mußten;solche Notlagen waren E<strong>in</strong>fallstor für alle Varianten <strong>de</strong>s Wuchers. Und natürlich gab es Waren, die <strong>in</strong> bäuerlichen Wirtschaften imW<strong>in</strong>ter produziert und erst später zu günstigen Zeitpunkten verkauft wur<strong>de</strong>n. Ebenso hat natürlich je<strong>de</strong>r Handwerker auf Vorrat produziert,wenn größere Märkte bevorstan<strong>de</strong>n. Aber all das spielte im gesamten Wirtschaftsgeschehen e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Rolle und war <strong>in</strong> dieser Formunabhängig von <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s.81


Damit verbun<strong>de</strong>n ist die zeitliche und räumliche Trennung von Produktion und Verkauf e<strong>in</strong>erWare. Aber diese Trennung hebt die objektive Abhängigkeit nicht auf. Wenn ich auch selber imW-G Schema me<strong>in</strong>e Waren <strong>in</strong> Geld umwandle: Ich bleibe <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>es zusammenhängen<strong>de</strong>n Zirkulationsprozesses.An<strong>de</strong>re Produzenten halten Waren bereit, die mich und me<strong>in</strong> Geld als Käufererwarten. Aber ob und bei wem ich kaufe ist ke<strong>in</strong>eswegs gewiß. So liegt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Trennung <strong>de</strong>rTauschakte das Grundrisiko <strong>de</strong>s Warenproduzenten <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r entwickelten Warenproduktion: <strong>Das</strong>Ausbleiben <strong>de</strong>r Nachfrage.Soweit hat uns das Geld schon e<strong>in</strong>mal gebracht. Doch es geht weiter. Die Trennung <strong>de</strong>r Tauschakteeröffnet e<strong>in</strong>e neue Option unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Geldmarkts. Angenommen, W-G istabgeschlossen. Der Produzent hat se<strong>in</strong>e Ware erfolgreich verkauft. Was passiert, wenn <strong>de</strong>rnächste Schritt G-W unterbleibt? Dann kommt es zur Ansammlung von Geld. Auch <strong>in</strong> dieserFunktion <strong>de</strong>r Schatzbildung haben wir das Geld bereits kennengelernt. Aber die Ansammlungvon Geld ist nicht nur e<strong>in</strong>e strukturelle Möglichkeit, son<strong>de</strong>rn historische Begleitersche<strong>in</strong>ung <strong>de</strong>rgeldvermittelten Trennung von Produktion und Zirkulation mit <strong>de</strong>r Enstehung e<strong>in</strong>es selbständigenHan<strong>de</strong>ls.Die Entstehung von Händlern und ihre wachsen<strong>de</strong> Rolle ist notwendige Folge je<strong>de</strong>r Warenproduktion,die <strong>de</strong>n engen lokalen Rahmen überschreitet. Der Produzent entledigt sich <strong>de</strong>r Mühen<strong>de</strong>s Verkaufs. In gewisser Weise entledigt er sich sogar <strong>de</strong>s Risikos, wenn er direkt für <strong>de</strong>n Händlerproduziert. Es ist dann Aufgabe und Risiko <strong>de</strong>s Händlers, die Ware zu verkaufen. Was historischals praktische Arbeitsteilung, als Geschäft zwischen Produzent und Händler auf Gegenseitigkeitbegann, eröffnet e<strong>in</strong>e völlig neue Perspektive. Und es ist nur e<strong>in</strong>e Frage <strong>de</strong>r Zeit, wann<strong>de</strong>r Händler als Herrscher über <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n W-G <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Tausches, auch se<strong>in</strong>e Herrschaftüber <strong>de</strong>n Produzenten auszuüben beg<strong>in</strong>nt.Vom W-G-W zum G-W-G': Was soll's?Betrachten wir unser e<strong>in</strong>faches Tauschschema W-G-W e<strong>in</strong>mal als Prozess. Dann müssen wir unsdas Schema als fortgesetzten Tausch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form …W-G-W-G-W-G… vorstellen, <strong>de</strong>nn mit ke<strong>in</strong>em<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Tauschakte ist <strong>de</strong>r Vorgang abgeschlossen. Je<strong>de</strong>m Tausch folgt mit <strong>de</strong>r Kont<strong>in</strong>uität<strong>de</strong>s Lebens <strong>de</strong>r nächste. Wenn wir die Sache aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s Produzenten betrachten,ist <strong>in</strong>nerhalb dieser Kette immer die Abfolge W-G-W wichtig. Von <strong>de</strong>r Ware zum Geldund damit zu neuen Waren, ob als Rohstoffe für die Produktion o<strong>de</strong>r als Waren für <strong>de</strong>n <strong>in</strong>dividuellenKonsum.Aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s Händlers ist <strong>in</strong>nerhalb dieser andauern<strong>de</strong>n …W-G-W-G-W-G…Kette nurdie Abfolge G-W-G von Interesse. Mit se<strong>in</strong>em Geld kauft er Waren, die er wie<strong>de</strong>rum, meist an<strong>de</strong>rnorts,zu Geld machen will. An<strong>de</strong>rs gesagt: Dem Han<strong>de</strong>l ist nicht die Ware, son<strong>de</strong>rn das GeldAusgangs- und Zielpunkt. Deshalb ist das G–W–G die historisch neue und höher entwickelte,weil durch und durch flexible Form <strong>de</strong>s Austauschs.Es ist ke<strong>in</strong>eswegs banal, wenn im Falle W-G-W das Geld <strong>de</strong>n Besitzer wechselt, im Falle G-W-Gaber die Ware. Im ersten Fall ist es das Geld, das <strong>de</strong>n Warenaustausch nur vermittelt. Dabei tunwir e<strong>in</strong>fach mal so, als sei <strong>de</strong>r Produzent an irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>em Wertzuwachs völlig <strong>de</strong>s<strong>in</strong>teressiert. <strong>Das</strong>ist zwar historisch nur sehr e<strong>in</strong>geschränkt richtig, 172 für unseren strukturellen Übergang zum Ka-172Im europäischen Mittelalter, vor <strong>de</strong>m Siegeszug <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus, setzten die Zünfte und an<strong>de</strong>re Zwangsformen <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>rProduzenten enge Grenzen. Dennoch wur<strong>de</strong> auch auf Seiten <strong>de</strong>r Warenproduzenten e<strong>in</strong> Wertzuwachs realisiert, sowohl über die Ausbeutungvon Gesellen und Hilfskräften, als auch über höhere Arbeitsproduktivitäten und verbesserte Waren gegenüber <strong>de</strong>n Konkurrenten.82


pital aber e<strong>in</strong>e vertretbare Vere<strong>in</strong>fachung. Denn e<strong>in</strong> Wertzuwachs ist für <strong>de</strong>n W-G-W Tauschnicht erfor<strong>de</strong>rlich. Der macht auch dann S<strong>in</strong>n, wenn am En<strong>de</strong> Waren gleichen Werts stehen, solangenur <strong>de</strong>r bedürfnisgerechte Wechsel <strong>de</strong>s Gebrauchswerts, also Fertigware gegen Rostoffe,Lebensmittel und Produktionsmittel, funktioniert. Bereicherung ist hier nur Zugabe.Zwischenfrage 39: Ist <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s frühen Händlers e<strong>in</strong>e Eigenschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s? O<strong>de</strong>r woher kommtdie Geldvermehrung sonst? (S.273)Im zweiten Fall ist es die Ware, die <strong>de</strong>n Geldaustausch vermittelt. Genau das ist <strong>de</strong>r Dreh- undAngelpunkt. In dieser Perspektive macht <strong>de</strong>r Tausch nur S<strong>in</strong>n, wenn nicht 1000 Euro über <strong>de</strong>nUmweg e<strong>in</strong>es Warentauschs gegen 1000 Euro getauscht wer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> könnte man e<strong>in</strong>facherhaben. Um es für <strong>de</strong>n Händler akzeptabel zu machen, wäre das Schema <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form G-W-G' zulesen, wobei das Strich am G' <strong>de</strong>n Zuwachs an Geld bezeichnet. Die Differenz zwischen G undG' nennt M. <strong>de</strong>n Mehrwert (surplus value). <strong>Das</strong> ist historisch die Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s,noch weit vor <strong>de</strong>r Zeit, zu <strong>de</strong>r es die Herrschaft über die Welt antrat. 173 Bereicherung ist hierPflicht.Die Risiken <strong>de</strong>s Warenproduzenten haben wir bereits beschrieben: Es kann se<strong>in</strong>, dass er se<strong>in</strong>eWare nicht los wird o<strong>de</strong>r zu e<strong>in</strong>em Preis verkaufen muß, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e eigenen Aufwendungen nicht<strong>de</strong>ckt. Dennoch bleibt am En<strong>de</strong>, so o<strong>de</strong>r so, immer e<strong>in</strong>e Ware mit Gebrauchswert. <strong>Das</strong> SchemaW-G-W ergibt also immer e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, da am Anfang wie En<strong>de</strong> stets bestimmte materielle Gebrauchswerteexistieren, für die vielleicht ke<strong>in</strong>e zahlungsfähige Nachfrage, meist aber immernoch e<strong>in</strong> Bedürfnis besteht.Demgegenüber ist das Schema G-W-G' viel anfälliger, und wir ahnen schon <strong>de</strong>n Verwertungszwang<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, e<strong>in</strong>en von <strong>de</strong>n Gebrauchswerten vollständig losgelösten Zwang, <strong>de</strong>m<strong>de</strong>r Markt und die Befriedigung von Bedürfnissen nicht Ziel, son<strong>de</strong>rn Mittel zum Zweck ist. M.formuliert das so:"Kaufen, um zu verkaufen, o<strong>de</strong>r vollständiger, kaufen, um teurer zu verkaufen, G–W–G',sche<strong>in</strong>t zwar nur e<strong>in</strong>er Art <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>m Kaufmannskapital, eigentümliche Form. Aber auchdas <strong>in</strong>dustrielle <strong>Kapital</strong> ist Geld, das sich <strong>in</strong> Ware verwan<strong>de</strong>lt und durch <strong>de</strong>n Verkauf <strong>de</strong>r Ware <strong>in</strong>mehr Geld rückverwan<strong>de</strong>lt. Akte, die etwa zwischen <strong>de</strong>m Kauf und <strong>de</strong>m Verkaufe, außerhalb<strong>de</strong>r Zirkulationssphäre, vorgehn, än<strong>de</strong>rn nichts an dieser Form <strong>de</strong>r Bewegung. In <strong>de</strong>m z<strong>in</strong>stragen<strong>de</strong>n<strong>Kapital</strong> endlich stellt sich die Zirkulation G–W–G' abgekürzt dar, <strong>in</strong> ihrem Resultat ohnedie Vermittlung, sozusagen im Lapidarstil, als G – G', Geld, das gleich mehr Geld, Wert, <strong>de</strong>r größerals er selbst ist. In <strong>de</strong>r Tat also ist G–W–G' die allgeme<strong>in</strong>e Formel <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, wie es unmit-Darauf basiert die zwar zögerlich, aber <strong>de</strong>nnoch stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Differenzierung nach <strong>de</strong>m Vermögen unter <strong>de</strong>n Handwerkern. Aber darausalle<strong>in</strong> ergibt sich historisch nicht <strong>de</strong>r Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise; es ist das Han<strong>de</strong>lskapital, das die ersten Elementee<strong>in</strong>er kapitalistischen Produktionsweise hervorbr<strong>in</strong>gt.173Über die historisch längere Epoche dom<strong>in</strong>ierte <strong>de</strong>r W-W o<strong>de</strong>r W-G-W Tausch. Wer mehr Sch<strong>in</strong>ken hatte, als er verbrauchen konnte,legte ihn für schlechte Zeiten zurück. O<strong>de</strong>r er suchte jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r mit se<strong>in</strong>em Bier <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben Situation, aber ohne Sch<strong>in</strong>ken war. Esstand <strong>de</strong>r Austausch <strong>de</strong>r Gebrauchswerte im Vor<strong>de</strong>rgrund. Sofern das Geld <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich entwickeln<strong>de</strong>n Geldwirtschaft selbst zum Ziel <strong>de</strong>sAustauschs wur<strong>de</strong>, diente es (neben <strong>de</strong>r Erfüllung von Pachtverträgen u.ä.) für die meisten auch nur <strong>de</strong>m Erwerb begehrter Waren (Stoffe,Gewürze, Tonwaren und an<strong>de</strong>res) zur Verbesserung <strong>de</strong>r Lebensqualität. Mit <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l formiert sich erstmals e<strong>in</strong>e soziale Klasse, dieauch Geldverleih und Wucher <strong>in</strong> sich aufnimmt, und für die das Geld selbst Anfangs- und Endpunkt ihres Han<strong>de</strong>lns ist; die persönlicheLebensqualität wird nicht vergessen, tritt aber <strong>in</strong> <strong>de</strong>n H<strong>in</strong>tergrund, da hier <strong>in</strong> viel größerem Maßstab gehan<strong>de</strong>lt wird als dies e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnerHandwerker o<strong>de</strong>r Bauernhof jemals tun könnte. In M.s knappen Worten: "Die e<strong>in</strong>fache Warenzirkulation – <strong>de</strong>r Verkauf für <strong>de</strong>n Kauf –dient zum Mittel für e<strong>in</strong>en außerhalb <strong>de</strong>r Zirkulation liegen<strong>de</strong>n Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen.Die Zirkulation <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s als <strong>Kapital</strong> ist dagegen Selbstzweck, <strong>de</strong>nn die Verwertung <strong>de</strong>s Werts existiert nur <strong>in</strong>nerhalb dieserstets erneuerten Bewegung. Die Bewegung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist daher maßlos." (MEW 23, S.167)83


telbar <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre ersche<strong>in</strong>t." 174Gewiß, immer noch s<strong>in</strong>d wir von <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise weit entfernt, ent<strong>de</strong>ckenhier erstmal <strong>de</strong>n Übergang von e<strong>in</strong>er urwüchsigen Warenproduktion zu e<strong>in</strong>er Produktion mitweit fortgeschrittener Arbeitsteilung, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l als eigenständiger Zweig neben <strong>de</strong>rProduktion entwickelt, wenn er auch mit dieser untrennbar verwoben ist. Denn gehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>nkann nur, was zuvor produziert wur<strong>de</strong>.Zwischenfrage 40: Welche Rolle spielte <strong>de</strong>r Fernhan<strong>de</strong>l? Auf welchen Voraussetzungen basierte se<strong>in</strong> Erfolg?Konnte im Fernhan<strong>de</strong>l e<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n erzeugt wer<strong>de</strong>n? (S.274)Mit <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l kommt die neue Perspektive <strong>in</strong>s Spiel. Für <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l löst sich <strong>de</strong>r Warentauschendgültig von <strong>de</strong>n getauschten Gebrauchswerten. Neue Interessen bil<strong>de</strong>n sich. Nicht das "soli<strong>de</strong>Auskommen" <strong>de</strong>s kle<strong>in</strong>en Warenproduzenten, die Kont<strong>in</strong>uität e<strong>in</strong>er sich im Kern gleichbleiben<strong>de</strong>nÖkonomie (e<strong>in</strong>fache Reproduktion), son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r immer wie<strong>de</strong>r neue Zugew<strong>in</strong>n, dieser neueStrich am G' (erweiterte Reproduktion), wird für <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l zur Richtschnur <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns. Dabeispielt es ke<strong>in</strong>e Rolle, ob mit Gewürzen, Stoffen, Schmuck usw., o<strong>de</strong>r ob direkt mit Geld alsWare gehan<strong>de</strong>lt wird.Im 13. bis 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt entsteht <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong>mitten <strong>de</strong>r feudalen Produktionsweise mit <strong>de</strong>mHan<strong>de</strong>lskapital e<strong>in</strong> neues dynamisches Element. Es wird für die weitere Entwicklung <strong>de</strong>r Produktionimmer unentbehrlicher und wirkt im historischen Prozess als Motor für die endgültigeDurchsetzung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise.Wie kommt <strong>de</strong>r Strich ans G'?Wir wissen jetzt, dass es mit <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>lskapital e<strong>in</strong>e Vorgeschichte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s im Feudalismusgibt. 175 Was Waren o<strong>de</strong>r Geld zu <strong>Kapital</strong> macht ist <strong>de</strong>r Geldzuwachs im Warentausch: G-W-G'.Woher kommt <strong>de</strong>r Zuwachs, dieser om<strong>in</strong>öse Strich am G'? Wie kann es gel<strong>in</strong>gen, am En<strong>de</strong> e<strong>in</strong>esAustauschs mehr zu haben als vorher? <strong>Das</strong> ist die Ausgangsfrage, die uns endgültig von <strong>de</strong>rVorgeschichte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s zum eigentlichen <strong>Kapital</strong> h<strong>in</strong>führt, zu jener Wertform, die Geld undWaren mit <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise annehmen.Er<strong>in</strong>nern wir uns an e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r Ausgangsfragen, die für die <strong>pol</strong>itische Ökonomie im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rtim Mittelpunkt stan<strong>de</strong>n. Woher kommt <strong>de</strong>r Reichtum <strong>de</strong>r Nationen, das schnelle Wachstumvon Produktion und Han<strong>de</strong>l? Wo haben die rasant wachsen<strong>de</strong>n Vermögen <strong>de</strong>r Fabrikanten,Händler und Geldgeber ihre Wurzel? M. setzt sich im "<strong>Kapital</strong>" ausführlich mit diversen Versuchenause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n Strich am G' als Ergebnis <strong>de</strong>r Zirkulation, also als Folge <strong>de</strong>r Tauschakte zuerklären.174MEW 23, S.170. <strong>Das</strong> Wörtchen "ersche<strong>in</strong>t" am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zitats sollte beachtet wer<strong>de</strong>n. Hier wird schon klar, dass wir im vorkapitalistischenHan<strong>de</strong>lskapital nur die Oberfläche <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>entstehung sehen. Wir müssen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n nächsten Kapiteln noch tiefer graben.175Die beson<strong>de</strong>re Rolle <strong>de</strong>s frühen Han<strong>de</strong>lskapitals für die Herausbildung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise ist vom Standpunkt <strong>de</strong>sentwickelten <strong>Kapital</strong>ismus aus erkennbar. <strong>Das</strong> heißt aber nicht, dass <strong>de</strong>r durch das frühe Han<strong>de</strong>lskapital erzielte Mehrwert bereits kapitalistischerMehrwert war. Wir haben es noch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Entstehungsphase <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus mit e<strong>in</strong>em Han<strong>de</strong>lskapital <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Feudalismuszu tun, das sich e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s feudalen Mehrprodukts aneignet. Der "Mehrwert" <strong>de</strong>s frühen Han<strong>de</strong>lskapitals im G-W-G' Schemabrachte unsere strukturelle Analyse zwar auf <strong>de</strong>n Weg, hat aber ganz an<strong>de</strong>re historische Ursachen. M. spricht von "<strong>de</strong>r doppelseitigenÜbervorteilung <strong>de</strong>r kaufen<strong>de</strong>n und verkaufen<strong>de</strong>n Warenproduzenten durch <strong>de</strong>n sich parasitisch zwischen sie schieben<strong>de</strong>n Kaufmann"(MEW 23, S.178). Die noch überwiegend "räuberische" Praxis <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lskapitals hat zweifellos zur Popularität solcher Argumente beigetragen,die im "ungerechten Austausch" <strong>de</strong>r Waren die Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts sahen.84


Lektüre: Karl Marx: S.312In se<strong>in</strong>er Argumentation prüft M. die se<strong>in</strong>erzeit gängigen Argumente: Stammt <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>n ausBetrug und Schw<strong>in</strong><strong>de</strong>l? O<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Neigung <strong>de</strong>r Käufer, für bestimmte Waren über <strong>de</strong>m Wertzu zahlen? Auch an<strong>de</strong>re populäre Erklärungen wer<strong>de</strong>n aufgegriffen und verworfen. Wir habenähnliches bei unserem Selbstversuch zum <strong>Kapital</strong>-Begriff bereits probiert. (Wer daran noch nichtteilgenommen hat, sollte das jetzt nachholen.) Wir fan<strong>de</strong>n, dass solche Erklärungen <strong>de</strong>nEscher'schen Treppen gleichen, die auf <strong>de</strong>n ersten Blick überzeugend wirken, sich bei genauererH<strong>in</strong>sicht aber als ausgesprochen ziellos und gefährlich herausstellen. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> spannen<strong>de</strong>, und beilängerer Betrachtung sehr verwirren<strong>de</strong> bildliche Darstellung dieser Theorie vom Wertzuwachsdurch Zirkulation liefert e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res Escher-Bild, das vom Wasserfall.Und wirklich, irgendwie er<strong>in</strong>nert <strong>de</strong>r Versuch, <strong>de</strong>n Wertzuwachs aus <strong>de</strong>m Tausch selbst zu erklären,an die Tricks, mit <strong>de</strong>nen optische Täuschungen arbeiten. <strong>Das</strong> liegt an <strong>de</strong>r speziellen Arbeitsweise<strong>de</strong>r praktisch-tätigen Erkenntnis, mit <strong>de</strong>r wir uns schon im Fetisch-Kapitel befaßt haben,und die wir auch unter ihrem Spitznamen "gesun<strong>de</strong>r Menschenverstand" kennen. "Siehtman doch", sagt uns dieser Geselle: "Der Händler han<strong>de</strong>lt und ist am En<strong>de</strong> reicher. Also han<strong>de</strong>lter sich reich. Der Unternehmer <strong>in</strong>vestiert und ist am En<strong>de</strong> reicher. Also macht ihn se<strong>in</strong> unternehmerischesHan<strong>de</strong>ln reich." Und schnell s<strong>in</strong>d wir bereit, <strong>de</strong>m Offensichtlichen zuzustimmen.Warum ist <strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong> Menschenverstand so mächtig? Weil er erstens überwiegend nützlichund zweitens fast niemals völlig falsch liegt. Auch <strong>in</strong> unserem Fall: Natürlich hat das, was h<strong>in</strong>tenherauskommt, mit <strong>de</strong>m zu tun, was vorher getan wur<strong>de</strong>. Aber was man nicht so ohne weiteressehen kann, ist das: Je<strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l mit Waren geht irgendwo e<strong>in</strong>e Produktion <strong>de</strong>r Waren voraus.Ebenso <strong>de</strong>r Investition <strong>de</strong>s Unternehmens: Sie führt nicht nur irgendwo zu neuer Produktion,son<strong>de</strong>rn ihr g<strong>in</strong>gen selbst zahllose Produktionen voraus, die h<strong>in</strong>ter je<strong>de</strong>r Ware verborgen s<strong>in</strong>d.In gewisser Weise ähnelt <strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong> Menschenverstand <strong>de</strong>r hier abgebil<strong>de</strong>ten Trickzeichnung:Sche<strong>in</strong>bar erhält man durch e<strong>in</strong>fache Umgruppierung <strong>de</strong>rselben <strong>Teil</strong>e aus <strong>de</strong>m unteren Dreickzum oberen Dreieck e<strong>in</strong>en Flächenzuwachs. Unsere Verblüffung erwächst aus unserer Bereitschaft,zunächst das Sichtbare, nämlich die sche<strong>in</strong>bare Gleichheit <strong>de</strong>r Umrisse und die offensichtlicheUngleichheit <strong>de</strong>r Fläche, zu akzeptieren. Erst genauere Prüfung ("wissenschaftlicheAnalyse") <strong>de</strong>ckt h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>m Sichtbaren die nicht sofort sichtbaren Zusammenhänge auf. In diesemFall: Die zusammengesetzten Dreiecke sehen nur gleich aus. <strong>Das</strong> rote und das grüne Dreickwer<strong>de</strong>n im oberen Puzzle zu e<strong>in</strong>er nach unten gewölbten, im unteren Puzzle zu e<strong>in</strong>er nach obengewölbten Figur verbun<strong>de</strong>n. Der Unterschied ist praktisch nicht sichtbar, entspricht aber <strong>de</strong>r imunteren Dreieck fehlen<strong>de</strong>n Fläche.M. geht davon aus, dass <strong>de</strong>r "clevere Han<strong>de</strong>l" natürlich e<strong>in</strong>zelne bereichert; das funktioniertnach <strong>de</strong>nselben Regeln, nach <strong>de</strong>nen auch je<strong>de</strong>r ord<strong>in</strong>äre Diebstahl reicher macht. Aber darauserwächst ke<strong>in</strong> neuer Wert, nur e<strong>in</strong>e Umverteilung. Deshalb erklärt die räuberische Praxis <strong>de</strong>s frühenHan<strong>de</strong>lskapitals durchaus <strong>de</strong>n kometenhaften Aufstieg mächtiger Han<strong>de</strong>lshäuser. Die eignetensich nämlich e<strong>in</strong>en großen Batzen vom Mehrprodukt an, das sich die feudalen Herren zuvordurch Ausbeutung ihrer Lan<strong>de</strong>sk<strong>in</strong><strong>de</strong>r angeeignet hatten.Aber gedanklich s<strong>in</strong>d wir jetzt über diese Phase h<strong>in</strong>aus. Wir bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n uns <strong>in</strong> <strong>de</strong>r entwickeltenWarenproduktion. Hier geht es nicht darum, sich Anteile am feudalen Mehrprodukt zu sichern,son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Wertgesetzes e<strong>in</strong>en Zuwachs an Wert zu erzielen. Wie erklären wir, dassnach millionenfachen Transaktionen, so gerissen und clever sie auch im e<strong>in</strong>zelnen se<strong>in</strong> mögen,am En<strong>de</strong> zwar durch Cleverness e<strong>in</strong>e Umverteilung stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t, gleichzeitig aber e<strong>in</strong>e ganze Klasse<strong>in</strong>sgesamt reicher gewor<strong>de</strong>n ist, wie es ja gera<strong>de</strong> für die bürgerliche Gesellschaft typisch ist?85


Zwischenfrage 41: Ist M.s Politische Ökonomie auf e<strong>in</strong> bestimmtes Menschenbild o<strong>de</strong>r auf bestimmteanthro<strong>pol</strong>ogische Merkmale wie Habgier o<strong>de</strong>r Nutzenstreben o<strong>de</strong>r Besitztrieb angewiesen? (S.275)Gewiss könnte man die <strong>in</strong>dividuellen Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten durch größereo<strong>de</strong>r ger<strong>in</strong>gere Befähigungen, Vitam<strong>in</strong> B, beson<strong>de</strong>re Rücksichtslosigkeit usw. erklären. Es gehtzu diesem Zeitpunkt unserer Analyse aber nicht darum, die relativen Verän<strong>de</strong>rungen zwischen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten, son<strong>de</strong>rn die absolute Zunahme im Reichtum <strong>de</strong>r gesamten Klasse zu erklären,die Produktion und Zirkulation unter ihrer Kontrolle hält. Und wie man es auch wen<strong>de</strong>t. Manwird sich M.s Schlußfolgerung nicht entziehen können: "Die Gesamtheit <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklassee<strong>in</strong>es Lan<strong>de</strong>s kann sich nicht selbst übervorteilen." 176Die Raupe NimmersattMit <strong>de</strong>r Formel G-W-G' haben wir mit M.s Worten zwar die "allgeme<strong>in</strong>e Formel <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s"vor uns, aber eben nur so, wie sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre ersche<strong>in</strong>t. Um zu e<strong>in</strong>er Erklärung zukommen, die für die kapitalistische Produktionsweise gültig ist, müssen wir weiter gehen. Wirhaben zwar erkannt, dass <strong>de</strong>r Preis notwendigerweise fast immer vom Wert abweicht. Deshalbist die Annahme e<strong>in</strong>er Zirkulation, bei <strong>de</strong>r mit Notwendigkeit Wertäquivalente <strong>de</strong>n Besitzerwechseln, unzulässig. Diese Abweichungen von Preis und Wert s<strong>in</strong>d aber nicht willkürlich, son<strong>de</strong>rngera<strong>de</strong> die Art und Weise, wie sich das Wertgesetz durchsetzt.Wir haben ebenfalls zugeben müssen, dass Abweichungen <strong>de</strong>s Preises vom Wert nicht das Stricham G' erklären können. Was <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e beim Tausch gew<strong>in</strong>nt, muß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re beim Tausch bezahlen.Der Wertzuwachs läßt sich alles <strong>in</strong> allem, das ist die Konsequenz, nicht aus <strong>de</strong>r Zirkulationableiten, auch wenn er dort <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt.Wir stehen vor <strong>de</strong>r Aufgabe, <strong>de</strong>n Zuwachs an Wert als "korrekte Bereicherung" zu erklären. Mitan<strong>de</strong>ren Worten: Die Erklärung muß gera<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n ganz unwahrsche<strong>in</strong>lichen Fall funktionieren,dass alle Beteiligten ohne Lug und Trug agieren, dass tatsächlich je<strong>de</strong>r Warentausch e<strong>in</strong> Tauschgleicher Werte ist. Warum? Weil nur dann e<strong>in</strong>e Erklärung für die entwickelte kapitalistische Produktionsweisegefun<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz und Wertgesetz herrschen. Auch <strong>in</strong> dieserKonkurrenz ist die gegenseitige Prellerei heimisch, versteht sich. Der Geprellte hat <strong>de</strong>n Scha<strong>de</strong>n,bezahlt schlimmstenfalls mit se<strong>in</strong>er Existenz als <strong>Kapital</strong>ist. Dabei wird aber Wert <strong>in</strong> Form von <strong>Kapital</strong>nur umverteilt, nicht erzeugt.Um aus <strong>de</strong>m vorkapitalistischen Geldbesitzer, <strong>de</strong>n M. als "<strong>Kapital</strong>istenraupe" bezeichnet, e<strong>in</strong>enechten <strong>Kapital</strong>isten, e<strong>in</strong>en flatterhaften, aber <strong>de</strong>nnoch allerorten naschen<strong>de</strong>n Schmetterl<strong>in</strong>g zumachen, muß e<strong>in</strong>e Reichtumsquelle gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, die auch dann spru<strong>de</strong>lt, wenn alle sich176E<strong>in</strong>ige Zeitgenossen haben e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re I<strong>de</strong>e: Sie weisen darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong> Reichtum <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse ja auch daherstammen könnte, dass diese immer kle<strong>in</strong>er wird, weil nur die besten o<strong>de</strong>r rücksichtslosesten überleben. Dann braucht es ke<strong>in</strong>en Mehrwertzur Erklärung. Schön und gut. Gewiss er<strong>in</strong>nert die kapitalistische Wirtschaft <strong>in</strong> mancher H<strong>in</strong>sicht an e<strong>in</strong> Fischbecken, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>ige großesich auf Kosten vieler kle<strong>in</strong>er Fische mästen. Aber Tatsache ist, dass die <strong>Kapital</strong>istenklasse ke<strong>in</strong>eswegs kle<strong>in</strong>er wird. Auch wenn die <strong>in</strong>nereDifferenzierung nach <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>größe beachtlich ist: Es bleibt e<strong>in</strong>e Tatsache ist, dass die Wertschöpfung <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftenim historischen Verlauf wächst und die Quelle <strong>de</strong>r Wertschöpfung verständlicherweise zu <strong>de</strong>n i<strong>de</strong>ologisch umstrittenen, <strong>in</strong> letzter Zeitauch lieber nicht diskutierten Tatbestän<strong>de</strong>n zählt.Man sieht das auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r aktuellen Diskussion über "Armut" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik. Da wird nicht über die Quellen <strong>de</strong>s Reichtums gesprochen;die wer<strong>de</strong>n als gegeben angenommen und spru<strong>de</strong>ln irgendwie. Nur die ungerechte Verteilung <strong>de</strong>s Reichtums steht zur Debatte,wobei sich je<strong>de</strong>r unter e<strong>in</strong>er "gerechten Verteilung" etwas an<strong>de</strong>res vorstellen darf, so lange er je<strong>de</strong>m Radikalismus fernbleibt. Auffälligauch, dass beson<strong>de</strong>rs die "K<strong>in</strong><strong>de</strong>rarmut" als Thema beliebt ist. Vermutlich <strong>de</strong>shalb, weil K<strong>in</strong><strong>de</strong>r an ihrer sozialen Lage völlig unschuldigs<strong>in</strong>d. Und da schw<strong>in</strong>gt natürlich <strong>de</strong>r Gedanke mit, dass <strong>de</strong>r erwachsene Hartz IV Empfänger eben nicht unschuldig sei. Deshalb hat <strong>de</strong>rse<strong>in</strong> selbst- o<strong>de</strong>r doch wenigstens mitverschul<strong>de</strong>tes Armutslos zu tragen und je<strong>de</strong> eventuelle Hilfe mit e<strong>in</strong>er Gegenleistung zu verdienen:Bereitschaft zu je<strong>de</strong>r Arbeit, fleißiger Besuch <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong>, anstelliges und <strong>de</strong>mütiges Verhalten gegenüber <strong>de</strong>m Sachbearbeiter <strong>de</strong>r Agenturund <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>r Obrigkeit. M<strong>in</strong><strong>de</strong>stens.86


gegenseitig o<strong>de</strong>r niemand irgendwen betrügt. Es muß e<strong>in</strong>e Quelle se<strong>in</strong>, durch <strong>de</strong>ren Gebrauchsich die Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten <strong>in</strong>sgesamt bereichern kann, auch wenn sie tatsächlich zur e<strong>in</strong>enHälfte aus Gew<strong>in</strong>nern und zur an<strong>de</strong>ren aus Verlierern besteht. Es muß e<strong>in</strong>e Quelle se<strong>in</strong>, die gera<strong>de</strong>dort zu spru<strong>de</strong>ln beg<strong>in</strong>nt, wo sich die kapitalistische Produktionsweise zur Herrschaft aufschw<strong>in</strong>gtund ke<strong>in</strong> feudales Mehrprodukt mehr bereitsteht, das sich die frühen kapitalistischenGeldraupen noch e<strong>in</strong>verleiben konnten.M. formuliert die Problemstellung so: "Die Verwandlung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> ist auf Grundlage<strong>de</strong>m Warenaustausch immanenter Gesetze zu entwickeln, so daß <strong>de</strong>r Austausch von Äquivalentenals Ausgangpunkt gilt. Unser nur noch als <strong>Kapital</strong>istenraupe vorhandner Geldbesitzer mußdie Waren zu ihrem Wert kaufen, zu ihrem Wert verkaufen und <strong>de</strong>nnoch am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Prozessesmehr Wert herausziehn, als er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>warf." Wie löst die Raupe vom Typ 'Nimmersatter Geldbesitzer'diese Aufgabe? Der Dramatik wegen klei<strong>de</strong>t M. das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art Rätselfrage: "Se<strong>in</strong>eSchmetterl<strong>in</strong>gsentfaltung muß <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre und muß nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphärevorgehn. Dies s<strong>in</strong>d die Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Problems." 177In <strong>de</strong>r Formel G-W-G' muß irgendwo die Wertvermehrung stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Die muß erklärbar se<strong>in</strong>,ohne das Wertgesetz zu verletzen. Denn mag das Wertgesetz auch <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Transaktion"verletzt" wer<strong>de</strong>n (mal zu Lasten <strong>de</strong>s Käufers, mal zu Lasten <strong>de</strong>s Verkäufers): Se<strong>in</strong>e Gültigkeitfür die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft <strong>in</strong>sgesamt stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Produktion und <strong>de</strong>n gesamten Austauschbleibt bestehen. <strong>Das</strong> ist unsere Grundannahme. 178Deshalb kann es auch nicht das Geld se<strong>in</strong>, <strong>de</strong>m die Vermehrung entspr<strong>in</strong>gt, da es ja immer nurals Ausdruck <strong>de</strong>s Wertes fungiert. Der Mehrwert kann auch nicht <strong>de</strong>m Kauf <strong>de</strong>r Ware im erstenAkt und nicht <strong>de</strong>m Verkauf <strong>de</strong>r Ware im zweiten Akt entspr<strong>in</strong>gen. Dann wären wir wie<strong>de</strong>r beimBetrug, <strong>de</strong>r zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen o<strong>de</strong>r sogar vielen Fällen stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Aber je<strong>de</strong>m betrügen<strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>nersteht e<strong>in</strong> betrogener Verlierer gegenüber; <strong>de</strong>r auf diese Weise auf e<strong>in</strong>er Seite angeeigneteWert verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Dennoch ist am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gesamtreichtum gewachsen.Vielleicht ist unsere Formel G-W-G' e<strong>in</strong>fach zu eng? Wir erweitern sie und schreiben sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>rForm G-W-P-W'-G', wobei P für Produktion steht. Erklärt das mehr? Ja und ne<strong>in</strong>. Wir gehen davonaus, dass im ersten G-W und im zweiten <strong>Teil</strong> W'-G' e<strong>in</strong> Tausch von Äquivalenten stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t.Wenn also am En<strong>de</strong> e<strong>in</strong> Wertzuwachs erzielt wird, muß dieser Wertzuwachs nicht nur <strong>de</strong>m Geldam En<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n am En<strong>de</strong> verkauften Waren eigen se<strong>in</strong>; dafür steht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m zweitenW h<strong>in</strong>zugefügte Strich. <strong>Das</strong> erklärt noch nichts, lenkt aber unsere Aufmerksamkeit auf die Produktion.177MEW 23, S.180f178In e<strong>in</strong>er Fußnote erläutert M. diesen Punkt, <strong>de</strong>r für ihn von zentraler Be<strong>de</strong>utung ist: "Die <strong>Kapital</strong>bildung muß möglich se<strong>in</strong>, auch wenn<strong>de</strong>r Warenpreis gleich <strong>de</strong>m Warenwert. Sie kann nicht aus <strong>de</strong>r Abweichung <strong>de</strong>r Warenpreise von <strong>de</strong>n Warenwerten erklärt wer<strong>de</strong>n. Weichendie Preise von <strong>de</strong>n Werten wirklich ab, so muß man sie erst auf die letzteren reduzieren, d.h. von diesem Umstan<strong>de</strong> als e<strong>in</strong>em zufälligenabsehn, um das Phänomen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>bildung auf Grundlage <strong>de</strong>s Warenaustauschs re<strong>in</strong> vor sich zu haben und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Beobachtungnicht durch stören<strong>de</strong> und <strong>de</strong>m eigentlichen Verlauf frem<strong>de</strong> Nebenumstän<strong>de</strong> verwirrt zu wer<strong>de</strong>n. Man weiß übrigens, daß diese Reduktionke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e bloß wissenschaftliche Prozedur ist. Die beständigen Oszillationen <strong>de</strong>r Marktpreise, ihr Steigen und S<strong>in</strong>ken, kompensierensich, heben sich wechselseitig auf und reduzieren sich selbst zum Durchschnittspreis als ihrer <strong>in</strong>neren Regel. Diese bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Leitstern z.B.<strong>de</strong>s Kaufmanns o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Industriellen <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r Unternehmung, die längeren Zeitraum umfaßt. Er weiß also, daß, e<strong>in</strong>e längere Perio<strong>de</strong> imganzen betrachtet, die Waren wirklich we<strong>de</strong>r unter noch über, son<strong>de</strong>rn zu ihrem Durchschnittspreis verkauft wer<strong>de</strong>n. Wäre <strong>in</strong>teresselosesDenken also überhaupt se<strong>in</strong> Interesse, so müßte er sich das Problem <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>bildung so stellen: Wie kann <strong>Kapital</strong> entstehn bei <strong>de</strong>r Regelung<strong>de</strong>r Preise durch <strong>de</strong>n Durchschnittspreis, d.h. <strong>in</strong> letzter Instanz durch <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Ware? Ich sage '<strong>in</strong> letzter Instanz', weil dieDurchschnittspreise nicht direkt mit <strong>de</strong>n Wertgrößen <strong>de</strong>r Waren zusammenfallen, wie A. Smith, Ricardo usw. glauben." (MEW 23, S.181Fußnote)87


Nun ist die Produktion zunächst auch nichts an<strong>de</strong>res als die angewandte G-W Formel, wobei mitGeld all das gekauft wird, was <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion benötigt wird. Aber die erweiterte Formelbr<strong>in</strong>gt uns <strong>de</strong>r Antwort näher, <strong>in</strong><strong>de</strong>m sie unser Augenmerk auf die Waren lenkt, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionzum E<strong>in</strong>satz kommen. Hier f<strong>in</strong><strong>de</strong>t auch M. se<strong>in</strong>e Antwort auf die Rätselfrage, wie es <strong>de</strong>rnimmersatten <strong>Kapital</strong>istenraupe aus feudaler Zeit gel<strong>in</strong>gt, zum flattern<strong>de</strong>n, aber immer reicherwer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Schmetterl<strong>in</strong>g zu wer<strong>de</strong>n. M.s Antwort ist vermutlich je<strong>de</strong>m schon mal begegnet.Sie lautet <strong>in</strong> aller Kürze:"Die Verän<strong>de</strong>rung muß sich also zutragen mit <strong>de</strong>r Ware, die im ersten Akt G-W gekauft wird,aber nicht mit ihrem Wert, <strong>de</strong>nn es wer<strong>de</strong>n Äquivalente ausgetauscht, die Ware wird zu ihremWerte bezahlt. Die Verän<strong>de</strong>rung kann also nur entspr<strong>in</strong>gen aus ihrem Gebrauchswert als solchem,d.h. aus ihrem Verbrauch. Um aus <strong>de</strong>m Verbrauch e<strong>in</strong>er Ware Wert herauszuziehn, müßteunser Geldbesitzer so glücklich se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre, auf <strong>de</strong>m Markt, e<strong>in</strong>eWare zu ent<strong>de</strong>cken, <strong>de</strong>ren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße,Quelle von Wert zu se<strong>in</strong>, <strong>de</strong>ren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeitwäre, daher Wertschöpfung. Und <strong>de</strong>r Geldbesitzer f<strong>in</strong><strong>de</strong>t auf <strong>de</strong>m Markt e<strong>in</strong>e solche spezifischeWare vor – das Arbeitsvermögen o<strong>de</strong>r die Arbeitskraft." 179Gibt's e<strong>in</strong>en Tusch o<strong>de</strong>r nur betretenes Schweigen? Zu viel Aufwand für e<strong>in</strong>e so simple Antwort?Haben wir vielleicht eher e<strong>in</strong>e komplizierte mathematische Formel mit <strong>de</strong>r dritten Ableitungnach irgendwo erwartet? O<strong>de</strong>r die psychok<strong>in</strong>etische Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Quelle menschlicherSchöpferkraft? Lieber irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> Gere<strong>de</strong> von kreativem Potential und Differentialproduktivität?Wir wer<strong>de</strong>n sehen, ob uns M.s Antwort zufrie<strong>de</strong>nstellt.Die doppelte FreiheitEs wird Zeit, unsere strukturelle Analyse mal wie<strong>de</strong>r näher an <strong>de</strong>n historischen Stoff zu b<strong>in</strong><strong>de</strong>n.Unsere Frage nach <strong>de</strong>m Ursprung <strong>de</strong>s Wertzuwachses <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation, <strong>de</strong>r ohne Lug und Trugzustan<strong>de</strong> kommt, ist methodisch korrekt. Die Antwort, die M. gibt, ist <strong>de</strong>nnoch alles an<strong>de</strong>re als<strong>de</strong>duktiv. Dem Geldbesitzer e<strong>in</strong>e glückliche Zukunft vorauszusagen, wenn er nur e<strong>in</strong>e Ware auf<strong>de</strong>m Markt f<strong>in</strong><strong>de</strong>t, die ihm wertschöpfend tätig wird, basiert nicht auf Schlußfolgerungen, son<strong>de</strong>rnauf <strong>de</strong>r Kenntnis <strong>de</strong>r historischen Umstän<strong>de</strong>, die genau diese Ware hervorbr<strong>in</strong>gen.So beschreibt M. die historischen Voraussetzungen, die <strong>de</strong>m Geldbesitzer <strong>de</strong>n Übergang zum<strong>Kapital</strong>isten ermöglichen: "Zur Verwandlung von Geld <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> muß <strong>de</strong>r Geldbesitzer also <strong>de</strong>nfreien Arbeiter auf <strong>de</strong>m Warenmarkt vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, frei <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Doppels<strong>in</strong>n, daß er als freie Personüber se<strong>in</strong>e Arbeitskraft als se<strong>in</strong>e Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufenhat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung se<strong>in</strong>er Arbeitskraft nötigen Sachen."180Die Arbeitskraft, die nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r lebendigen Person existiert, was sich schon bald als lästiger Umstandherausstellt, muß dieselben Bed<strong>in</strong>gungen erfüllen wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Ware. Der Besitzer <strong>de</strong>rWare muß diese Ware <strong>in</strong> eigener Person als ihr unbestrittener Eigentümer anbieten. Dafür musser als eigene Person han<strong>de</strong>ln dürfen und von allen rechtlichen Beschränkungen frei se<strong>in</strong>, die <strong>de</strong>r179MEW 23, S.181180MEW 23, S.183. Wichtig: Der freie Arbeiter ist ke<strong>in</strong> Sklave. Er ist formal frei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Han<strong>de</strong>ln und kann daher mit an<strong>de</strong>ren e<strong>in</strong>en Vertragüber <strong>de</strong>n Gebrauch se<strong>in</strong>er Arbeitskraft abschließen, diesen Vertrag aber auch kündigen und mit an<strong>de</strong>rem Vertragspartner e<strong>in</strong>en neuene<strong>in</strong>gehen.88


Feudalismus über Jahrhun<strong>de</strong>rte se<strong>in</strong>en leibeigenen, hörigen und sogar freien Mitarbeitern auferlegte.Doch wenn er frei von allen rechtlichen Beschränkungen ist: Warum sollte er so töricht se<strong>in</strong>, füran<strong>de</strong>re zu arbeiten, statt se<strong>in</strong>e Arbeitskraft <strong>in</strong> eigener Regie als selbständiger Produzent zu betätigen?Die formale Freiheit muß durch <strong>de</strong>n Zwang zur Lohnarbeit ergänzt wer<strong>de</strong>n. Der Besitzer<strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft muß zusätzlich von allem "befreit" se<strong>in</strong>, das ihn <strong>in</strong> die Lage versetzenwür<strong>de</strong>, se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt als selbständiger Produzent zu erzeugen. 181M. setzt das Zitat so fort: "Die Frage, warum dieser freie Arbeiter ihm <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphäregegenübertritt, <strong>in</strong>teressiert <strong>de</strong>n Geldbesitzer nicht, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt als e<strong>in</strong>e besondre Abteilung<strong>de</strong>s Warenmarkts vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Und e<strong>in</strong>stweilen <strong>in</strong>teressiert sie uns ebensowenig." 182E<strong>in</strong>stweilen... <strong>de</strong>nn auf die wichtige historische Seite dieses Prozesses müssen wir später unbed<strong>in</strong>gtnoch zu sprechen kommen. Jetzt folgen wir erst e<strong>in</strong>mal <strong>de</strong>r strukturellen Analyse, die sichmit <strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft beschäftigt, die sowohl ihren Gebrauchswert alsauch ihren Tauschwert betreffen.Was haben wir uns als Arbeitskraft vorzustellen? M.s Antwort ist umfassend und allgeme<strong>in</strong>:"Unter Arbeitskraft o<strong>de</strong>r Arbeitsvermögen verstehen wir <strong>de</strong>n Inbegriff <strong>de</strong>r physischen und geistigenFähigkeiten, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Leiblichkeit, <strong>de</strong>r lebendigen Persönlichkeit e<strong>in</strong>es Menschen existierenund die er <strong>in</strong> Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Art produziert." 183Die Arbeitskraft ist untrennbar vom lebendigen Menschen. Mit <strong>de</strong>m Kauf <strong>de</strong>r Arbeitskraft 184 erwirbt<strong>de</strong>r Käufer, zeitlich befristet, das Kommando über die physischen und geistigen Fähigkei-181Deshalb ist die Herausbildung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise sowohl e<strong>in</strong> Prozess <strong>de</strong>r Befreiung von <strong>de</strong>n sozialen und rechtlichenE<strong>in</strong>schränkungen <strong>de</strong>r feudalen Ordnung, häufig voran getrieben durch <strong>pol</strong>itische Revolutionen, wie auch e<strong>in</strong> Prozess <strong>de</strong>r ökonomischen,häufig aber auch <strong>de</strong>r gewaltsamen Enteignung ehemals selbständiger Handwerker und Bauern. Die ehemals selbständigen Produzentenwer<strong>de</strong>n von ihrer traditionellen Art <strong>de</strong>s Lebensunterhalts befreit. Mit dieser Befreiung wer<strong>de</strong>n viele Hofgeme<strong>in</strong>schaften und Handwerksbetriebeaufgelöst und auch alle durch sie ökonomisch versorgten Menschen ebenfalls befreit. Wenn uns auch die Entwicklung von Technikund Arbeitsproduktivität im <strong>Kapital</strong>ismus bee<strong>in</strong>druckt und M. mehr als e<strong>in</strong>mal zu Lobeshymnen über die Leistungen <strong>de</strong>r Bourgeoisie stimuliert.Es ist e<strong>in</strong> wi<strong>de</strong>rsprüchlicher Prozess, was sonst? So sehr <strong>in</strong> revolutionären Zeiten die Befreiung von <strong>de</strong>n feudalen Zwängen große Begeisterungund e<strong>in</strong>e Menge Illusionen hervorbrachte. In <strong>de</strong>n ruhigen Zeiten äußert sich ebenso stark die romantische Er<strong>in</strong>nerung an dievergangene Ordnung, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>en Platz hatte.Man könnte hier e<strong>in</strong>werfen, dass heute je<strong>de</strong>nfalls je<strong>de</strong>r Arbeitnehmer das Recht und die Freiheit besitzt, selbständig zu wer<strong>de</strong>n. Richtig.Je<strong>de</strong>r darf e<strong>in</strong>e Pizzeria, e<strong>in</strong>e Kneipe, e<strong>in</strong>e Softwareschmie<strong>de</strong>, e<strong>in</strong>en Kaufhauskonzern, e<strong>in</strong> Stahlwerk, e<strong>in</strong>e Halbleiterfabrik, e<strong>in</strong>en Erdölo<strong>de</strong>rStromkonzern grün<strong>de</strong>n... Gut, bleiben wir bei Pizzeria und Kneipe und Tr<strong>in</strong>khalle und <strong>de</strong>rgleichen, die wenigstens nicht völlig außerhalb<strong>de</strong>r f<strong>in</strong>anziellen Reichweite e<strong>in</strong>es normalen Menschen liegen, <strong>de</strong>r ohne Millionenerbe auskommen muß. Tatsächlich gibt es die Option,sich selbständig zu machen: Mit e<strong>in</strong>er Kneipe, e<strong>in</strong>em Friseursalon, e<strong>in</strong>em Wollstübchen o<strong>de</strong>r F<strong>in</strong>gernagelstudio. Aber was <strong>in</strong> wenigenE<strong>in</strong>zelfällen, unter günstigen Voraussetzungen, e<strong>in</strong>e Option se<strong>in</strong> mag, ist es nicht für die Gesellschaft. Solche Kle<strong>in</strong>betriebe heutiger Art,die übrigens zunehmend von großen Unternehmen betrieben wer<strong>de</strong>n, kommen nicht ohne die massenweise Lohnarbeit <strong>de</strong>r Produktionsbetriebeaus. An<strong>de</strong>rnfalls hätten wir die bereits zitierte kuriose Gesellschaft, die sich am Leben erhält, weil man sich gegenseitig Pizzas verkaufto<strong>de</strong>r Haare schnei<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r F<strong>in</strong>gernägel manikürt. Nur: Irgendwo muß das Zeug, mit <strong>de</strong>m man backt und schnei<strong>de</strong>t und manikürt,produziert wer<strong>de</strong>n. Und all die Waren, mit <strong>de</strong>nen wir unser Leben bestreiten, wie Wohnung, E<strong>in</strong>richtung, Essen, Strom usw., müssenschließlich auch noch bereitstehen.182Damit aber niemand <strong>in</strong>mitten <strong>de</strong>r strukturellen Analyse zu <strong>de</strong>m Gedanken verleitet wird, es gehe hier um natürliche o<strong>de</strong>r zeitlose Verhältnisse,fügt M. sofort h<strong>in</strong>zu: "E<strong>in</strong>s jedoch ist klar. Die Natur produziert nicht auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite Geld- o<strong>de</strong>r Warenbesitzer und auf <strong>de</strong>randren bloße Besitzer <strong>de</strong>r eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist ke<strong>in</strong> naturgeschichtliches und ebensowenig e<strong>in</strong> gesellschaftliches, dasallen Geschichtsperio<strong>de</strong>n geme<strong>in</strong> wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat e<strong>in</strong>er vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produktvieler ökonomischer Umwälzungen, <strong>de</strong>s Untergangs e<strong>in</strong>er ganzen Reihe älterer Formationen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion." (MEW 23,S.183) <strong>Das</strong> Glück <strong>de</strong>r Geldbesitzer bestand dar<strong>in</strong>, mit <strong>de</strong>r richtigen Menge Geld zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu se<strong>in</strong>. Undnatürlich über die richtigen Verb<strong>in</strong>dungen und die notwendige Skrupellosigkeit zu verfügen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Weg vom Geldbesitzer zum echten<strong>Kapital</strong>isten brauchte ebenso geneigte Ohren <strong>in</strong> <strong>de</strong>r noch feudalen Staatsverwaltung wie Unbekümmertheit <strong>in</strong> moralischen Fragen.183MEW 23, S.181184E<strong>in</strong>ige Autoren haben immer mal wie<strong>de</strong>r die Frage aufgeworfen, ob <strong>de</strong>nn die "Arbeitskraft" wirklich als Ware betrachtet wer<strong>de</strong>n könne,da ja nichts verkauft, son<strong>de</strong>rn vielmehr nur das Arbeitsvermögen zeitweilig überlassen wird. Aber ob man diese Aneignung <strong>de</strong>r Arbeitskraftdurch <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten nun als Kauf o<strong>de</strong>r Verd<strong>in</strong>gung o<strong>de</strong>r Leas<strong>in</strong>g o<strong>de</strong>r Werkvertrag o<strong>de</strong>r Mandatum o<strong>de</strong>r sonstwie bezeichnet,soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Im weiten Feld <strong>de</strong>r Rechtsverhältnisse gäbe es vermutlich noch weitere Optionen. Nur: Wenn etwas89


ten, über die Persönlichkeit e<strong>in</strong>es Menschen und se<strong>in</strong>e Schöpferkraft. <strong>Das</strong> ist nur e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Beschreibung<strong>de</strong>s hier <strong>in</strong>teressieren<strong>de</strong>n Gebrauchswerts <strong>de</strong>r Arbeitskraft, von <strong>de</strong>r M. oben sagt,dass ihr "wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung."Um diesen Punkt, Wertschöpfung durch Arbeit, wird mehr Aufhebens gemacht, als ihm zukommt.Wer sich jetzt weigert, <strong>de</strong>r lebendigen Arbeit das Mono<strong>pol</strong> auf Wertschöpfung zuzuerkennen,hätte se<strong>in</strong>en Protest schon früher anmel<strong>de</strong>n müssen. Schließlich wen<strong>de</strong>n wir mit dieserFeststellung lediglich unsere Erkenntnisse über <strong>de</strong>n Wert auf die Arbeitskraft an. Wenn Wertse<strong>in</strong>er Substanz nach die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ware vergegenständlichte abstrakte gesellschaftliche Arbeit ist:Welche an<strong>de</strong>re Quelle sollte <strong>de</strong>r Wert sonst haben als eben die lebendige Arbeit? Da aber dasMono<strong>pol</strong> <strong>de</strong>r lebendigen Arbeit auf Wertschöpfung offenbar zu <strong>de</strong>n Kröten <strong>de</strong>s Wertgesetzeszählt, die ungern geschluckt wer<strong>de</strong>n, kommen wir später darauf zurück.Hier halten wir zunächst e<strong>in</strong>mal diese Schlußfolgerung <strong>de</strong>s Wertgesetzes fest: Nur die lebendigeArbeit kann abstrakte Arbeit leisten und daher Wert schaffen. Zur Er<strong>in</strong>nerung: In <strong>de</strong>r arbeitsteiligenWarenproduktion, und strukturell nur dort, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t die konkrete Arbeit <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Produzentennur Erfüllung, wenn sie sich als abstrakte gesellschaftliche Arbeit bewährt. Sprich: Sief<strong>in</strong><strong>de</strong>t e<strong>in</strong>en Käufer und fließt als Wert zurück: In Form von an<strong>de</strong>ren Waren o<strong>de</strong>r, wie heute, <strong>in</strong>Form von Geld, <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>trittskarte zur Warenwelt. <strong>Das</strong> Beson<strong>de</strong>re, mit <strong>de</strong>m wir es zutun haben, ist nicht die Anerkennung <strong>de</strong>r lebendigen Arbeit als Quelle von Wert. <strong>Das</strong> ist bereitsim Wertbegriff enthalten. Neu ist jedoch, dass diese "lebendige Arbeit" mit <strong>de</strong>m Übergang zurkapitalistischen Warenproduktion selbst nurmehr als Ware <strong>in</strong> Gestalt lebendiger Menschen auftritt.185aussieht wie e<strong>in</strong>e Ente, quakt und watschelt wie e<strong>in</strong>e Ente, dann kann man das Tier auch mit Orangen füllen und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ofen schieben.(Entschuldigung an alle Vegetarier!) Wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt wie Warenkäufer und Warenverkäuferverhalten, behan<strong>de</strong>ln wir auch die Arbeitskraft weiterh<strong>in</strong> so: wie e<strong>in</strong>e Ware. <strong>Das</strong>s sie <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r H<strong>in</strong>sicht als beson<strong>de</strong>re Ware zu betrachtenist und das Potential besitzt, die ganze wun<strong>de</strong>rbare Ordnung <strong>de</strong>r re<strong>in</strong>en Warenwelt zu sprengen, wür<strong>de</strong> M. als letzter <strong>in</strong> Abre<strong>de</strong> stellen.185Wir stellen uns vor, dass manchem das ganze Wertgehube auf <strong>de</strong>n Zeiger geht. Aber sorry, an<strong>de</strong>rs lassen sich unsere anfangs aufgeführtenGrundfragen nicht beantworten. Wem jedoch unsere Art <strong>de</strong>r Argumentation nicht gefällt, kann sich auch von h<strong>in</strong>ten anschleichenund sich selbst beliebige Argumentationen aus<strong>de</strong>nken. Viele Wege führen ans Ziel. Etwa dieser: Akzeptieren wir, dass nützliche Produktenur durch menschliche Arbeit entstehen? <strong>Das</strong> müssen wir, auch wenn wir jetzt vielleicht mit frei wachsen<strong>de</strong>n Brombeeren und Pilzenkommen. Aber selbst dieses beschei<strong>de</strong>ne Segment <strong>de</strong>r Warenproduktion will erstmal gepflückt wer<strong>de</strong>n. Und wer sie auf <strong>de</strong>n Wochenmarktträgt, wird zum Warenproduzenten, sogar mit <strong>de</strong>r Aussicht auf "Extraprofit", wenn sich se<strong>in</strong>e Brombeeren o<strong>de</strong>r Ste<strong>in</strong>pilze als gefragtelustvolle Luxuswaren bewähren. S<strong>in</strong>d die Brombeeren verkauft, hat die private Pflückarbeit auch <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Segen erhalten.Wenn nicht, erfährt man die volle Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>ssen, was wir das Grundrisiko <strong>de</strong>s Warenproduzenten nannten. Aber immerh<strong>in</strong> hätte man<strong>in</strong> diesem Fall noch die Gelegenheit, sich se<strong>in</strong>e Waren selbst e<strong>in</strong>zuverleiben...Weiter: Für die arbeitsteilige Warenwirtschaft müssen wir akzeptieren, dass sich Waren auf <strong>de</strong>m Markt nur bewähren, wenn sie sich füran<strong>de</strong>re, für die potentiellen Käufer als nützlich erweisen. Auch diese Nützlichkeit für an<strong>de</strong>re kann nur das Ergebnis menschlicher Arbeitse<strong>in</strong>. Und <strong>de</strong>r Mehrwert? In <strong>de</strong>m hier verwen<strong>de</strong>ten Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>fachen Warentauschs ist <strong>de</strong>r "Mehrwert", <strong>de</strong>r auch e<strong>in</strong>en für sich ganzalle<strong>in</strong>e arbeiten<strong>de</strong>n Handwerker reicher machen kann, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Marktbewegung enthalten. Als geson<strong>de</strong>rter Mehrwert tritt er erst dann zutage,wenn wir es mit <strong>de</strong>r Wertform <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s zu tun bekommen, also mit <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s "Geldgebers" über die Lohnarbeit. <strong>Das</strong> zeigtzweierlei: Der Mehrwert als Resultat <strong>de</strong>r menschlichen Arbeit ist ke<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und entspr<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>shalb auch nicht aus <strong>de</strong>mGeld. So wie <strong>de</strong>r Wert, also die Tauschbarkeit o<strong>de</strong>r Verkäuflichkeit e<strong>in</strong>er Ware durch die lebendige Arbeit entsteht, entspr<strong>in</strong>gt auch <strong>de</strong>rzum Wert gehören<strong>de</strong> Mehrwert <strong>de</strong>rselben Quelle. Der erhält e<strong>in</strong>e eigene Wertform samt geson<strong>de</strong>rter Aneignung nur dort, wo sich die Warenproduktionzur kapitalistischen Warenproduktion entwickelt.Man kann diesen Zusammenhang zurückweisen, dann wird man aber auf nicht ökonomische Argumente verfallen müssen, die nur signalisieren,dass e<strong>in</strong>em das Ergebnis schlicht nicht paßt. Man kann diese Argumentation mit <strong>de</strong>r Begründung kritisieren, dass alles doch <strong>in</strong>Wirklichkeit viel komplizierter sei. Ke<strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rspruch. Genau <strong>in</strong> Richtung <strong>de</strong>s Komplexen ("Konkreten") bewegen wir uns ja. Aber vorweggesagt: So kompliziert, dass am En<strong>de</strong> die Wertschöpfung durch lebendige Arbeit aus <strong>de</strong>r Argumentation verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r auch nur aufh<strong>in</strong>tere Plätze verwiesen wer<strong>de</strong>n könnte: So kompliziert wird die Angelegenheit ke<strong>in</strong>esfalls.90


"...historisches und moralisches Element..."Zwischenfrage 42: Gibt es e<strong>in</strong>en Unterschied zwischen Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft und Lohn? Wor<strong>in</strong> könnte<strong>de</strong>r Unterschied bestehen? (S.276)Der Form nach haben wir es bei <strong>de</strong>r Arbeitskraft mit e<strong>in</strong>er x-beliebigen Ware zu tun, die auf e<strong>in</strong>emMarkt gekauft wird. Aber es ist <strong>de</strong>nnoch e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Ware. Hier reicht es nicht zu sagen,<strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft ergebe sich aus <strong>de</strong>r für ihre Reprodukion notwendigen durchschnittlichengesellschaftlichen Arbeitszeit. Tatsächlich ist die Wertbestimmung für die Arbeitskrafte<strong>in</strong>igen speziellen außerökonomischen E<strong>in</strong>flüssen unterworfen. M. schreibt dazu: "Im Gegensatzzu <strong>de</strong>n andren Waren enthält also die Wertbestimmung <strong>de</strong>r Arbeitskraft e<strong>in</strong> historischesund moralisches Element." 186Wo früher analphabetische Arbeitskräfte reichten, müssen es bei entwickelter Produktion gebil<strong>de</strong>teArbeitskräfte mit vieljähriger Ausbildung se<strong>in</strong>. Sobald sich die Notwendigkeit besser geschulterArbeitskräfte ergibt, steigt notwendig <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft. Wo früher mal e<strong>in</strong> Kellerlochausreichend schien, um neue Arbeitskräfte <strong>in</strong> die Welt zu setzen und <strong>in</strong>s arbeitsfähige Alterzu br<strong>in</strong>gen, s<strong>in</strong>d auf bestimmter Entwicklungsstufe bessere Lebensbed<strong>in</strong>gungen angesagt.Sobald e<strong>in</strong> bestimmtes Lebensniveau o<strong>de</strong>r die Vorsorge für Gesundheit und Alter e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaftmehrheitlich akzeptierter Standard ist, steigt ebenfalls <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft. <strong>Das</strong>s<strong>in</strong>d die historischen und moralischen Elemente <strong>de</strong>r Wertbestimmung, von <strong>de</strong>nen M. spricht,und die sich dank <strong>de</strong>s lebendigen Selbstbewußtse<strong>in</strong>s <strong>de</strong>r Arbeitskraft immer auch selbst zurSprache br<strong>in</strong>gen.<strong>Das</strong> kulturelle Moment ist letztenen<strong>de</strong>s nichts an<strong>de</strong>res als das Machtverhältnis zwischen <strong>de</strong>nKlassen. Die Abhängigkeit <strong>de</strong>s Werts vom Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Akteure selbst erschließt verschie<strong>de</strong>ne186MEW 23, S.185. So bestimmt M. die Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Arbeitskraft als Ware: "Der Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft, gleich <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r andrenWare, ist bestimmt durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit. Soweit sie Wert,repräsentiert die Arbeitskraft selbst nur e<strong>in</strong> bestimmtes Quantum <strong>in</strong> ihr vergegenständlichter gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit. DieArbeitskraft existiert nur als Anlage <strong>de</strong>s lebendigen Individuums. Ihre Produktion setzt also se<strong>in</strong>e Existenz voraus. Die Existenz <strong>de</strong>s Individuumsgegeben, besteht die Produktion <strong>de</strong>r Arbeitskraft <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eignen Reproduktion o<strong>de</strong>r Erhaltung. Zu se<strong>in</strong>er Erhaltung bedarf daslebendige Individuum e<strong>in</strong>er gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion <strong>de</strong>r Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich alsoauf <strong>in</strong> die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft ist <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r zur Erhaltung ihresBesitzers notwendigen Lebensmittel. Die Arbeitskraft verwirklicht sich jedoch nur durch ihre Äußerung, betätigt sich nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeit.Durch ihre Betätigung, die Arbeit, wird aber e<strong>in</strong> bestimmtes Quantum von menschlichem Muskel, Nerv, Hirn usw. verausgabt, das wie<strong>de</strong>rersetzt wer<strong>de</strong>n muß. Diese vermehrte Ausgabe bed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e vermehrte E<strong>in</strong>nahme. Wenn <strong>de</strong>r Eigentümer <strong>de</strong>r Arbeitskraft heute gearbeitethat, muß er <strong>de</strong>nselben Prozeß morgen unter <strong>de</strong>nselben Bed<strong>in</strong>gungen von Kraft und Gesundheit wie<strong>de</strong>rholen können. Die Summe <strong>de</strong>r Lebensmittelmuß also h<strong>in</strong>reichen, das arbeiten<strong>de</strong> Individuum als arbeiten<strong>de</strong>s Individuum <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em normalen Lebenszustand zu erhalten. Dienatürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., s<strong>in</strong>d verschie<strong>de</strong>n je nach <strong>de</strong>n klimatischen und andrennatürlichen Eigentümlichkeiten e<strong>in</strong>es Lan<strong>de</strong>s. Andrerseits ist <strong>de</strong>r Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung,selbst e<strong>in</strong> historisches Produkt und hängt daher großenteils von <strong>de</strong>r Kulturstufe e<strong>in</strong>es Lan<strong>de</strong>s, unter andrem auch wesentlich davon ab,unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse <strong>de</strong>r freien Arbeiter sich gebil<strong>de</strong>t hat.Im Gegensatz zu <strong>de</strong>n andren Waren enthält also die Wertbestimmung <strong>de</strong>r Arbeitskraft e<strong>in</strong> historisches und moralisches Element. Für e<strong>in</strong>bestimmtes Land, zu e<strong>in</strong>er bestimmten Perio<strong>de</strong> jedoch, ist <strong>de</strong>r Durchschnitts-Umkreis <strong>de</strong>r notwendigen Lebensmittel gegeben.Der Eigentümer <strong>de</strong>r Arbeitskraft ist sterblich. Soll also se<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung auf <strong>de</strong>m Markt e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche se<strong>in</strong>, wie die kont<strong>in</strong>uierlicheVerwandlung von Geld <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> voraussetzt, so muß <strong>de</strong>r Verkäufer <strong>de</strong>r Arbeitskraft sich verewigen, 'wie je<strong>de</strong>s lebendige Individuum sichverewigt, durch Fortpflanzung'. Die durch Abnutzung und Tod <strong>de</strong>m Markt entzogenen Arbeitskräfte müssen zum allerm<strong>in</strong><strong>de</strong>sten durche<strong>in</strong>e gleiche Zahl neuer Arbeitskräfte beständig ersetzt wer<strong>de</strong>n. Die Summe <strong>de</strong>r zur Produktion <strong>de</strong>r Arbeitskraft notwendigen Lebensmittelschließt also die Lebensmittel <strong>de</strong>r Ersatzmänner e<strong>in</strong>, d.h. <strong>de</strong>r K<strong>in</strong><strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeiter, so daß sich diese Race eigentümlicher Warenbesitzer auf<strong>de</strong>m Warenmarkte verewigt.Um die allgeme<strong>in</strong> menschliche Natur so zu modifizieren, daß sie Geschick und Fertigkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Arbeitszweig erlangt, entwickelteund spezifische Arbeitskraft wird, bedarf es e<strong>in</strong>er bestimmten Bildung o<strong>de</strong>r Erziehung, welche ihrerseits e<strong>in</strong>e größere o<strong>de</strong>r ger<strong>in</strong>gereSumme von Warenäquivalenten kostet. Je nach <strong>de</strong>m mehr o<strong>de</strong>r m<strong>in</strong><strong>de</strong>r vermittelten Charakter <strong>de</strong>r Arbeitskraft s<strong>in</strong>d ihre Bildungskostenverschie<strong>de</strong>n. Diese Erlernungskosten, verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>nd kle<strong>in</strong> für die gewöhnliche Arbeitskraft, gehn also e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Umkreis <strong>de</strong>r zu ihrer Produktionverausgabten Werte." (MEW 23, S.184ff).91


Möglichkeiten: Dazu gehört die Wertkorrektur nach unten wie nach oben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em durch dasWertgesetz nur ungenau festgelegten Korridor. 187Lebendigkeit und Selbstbewußtse<strong>in</strong> dieser speziellen Ware verän<strong>de</strong>rn die allgeme<strong>in</strong>en Regeln<strong>de</strong>s Warenkaufs. Stellen wir uns bloß e<strong>in</strong>mal vor, dass womöglich auch die Waren, die wir täglichkaufen, uns gegenüber eigene Interessen artikulieren. Vielleicht weigern sich die Äpfel, wegenschlechter Lagerung gegessen zu wer<strong>de</strong>n? O<strong>de</strong>r die Salatköpfe dieser Welt vere<strong>in</strong>igen sichzur Gemüsegewerkschaft und protestieren gegen die Essig-Anmache? For<strong>de</strong>rn Strümpfe undUnterkleidung von ihren Konsumenten am En<strong>de</strong> gar ethisch e<strong>in</strong><strong>de</strong>utige Verpflichtungen zumEmmissionsschutz?Ob lustig o<strong>de</strong>r nicht, je<strong>de</strong>nfalls wür<strong>de</strong> das unserer Shopp<strong>in</strong>g-Kultur e<strong>in</strong>en schweren Stoß versetzen.188 <strong>E<strong>in</strong>e</strong> lebendige Ware, die womöglich e<strong>in</strong> starkes Bewußtse<strong>in</strong> <strong>de</strong>r eigenen Interessen nichtnur entwickelt, son<strong>de</strong>rn auch für die Durchsetzung dieser Interessen tätig wird, läßt uns dieSchwierigkeiten <strong>de</strong>s Käufers lebendiger Arbeitskraft ahnen.Als untrennbare Eigenschaft lebendiger Menschen, die eigens<strong>in</strong>nige, ganz unwarenmäßige Bedürfnisseentwickeln, ist <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft variabel und wird im Kampf <strong>de</strong>r Interessenimmer wie<strong>de</strong>r neu ausgehan<strong>de</strong>lt. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> objektive Bestimmung gibt es hier nicht, we<strong>de</strong>r nach obennoch nach unten. Die Wertbestimmung <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft unterschei<strong>de</strong>t sich auch dar<strong>in</strong> vonallen an<strong>de</strong>ren Waren, dass sie großen Spielraum <strong>in</strong> bei<strong>de</strong> Richtungen aufweist.Endlich: <strong>Kapital</strong>!Wir betrachten das Tauschschema G-W-G' auf neue Weise und berücksichtigen dabei alles, waswir über die spezielle Ware Arbeitskraft gelernt haben.Zwischenfrage 43: Inwieweit ist das Han<strong>de</strong>lskapital Wegbereiter<strong>in</strong> <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen <strong>Kapital</strong>s? Wie erfolgt<strong>de</strong>r Übergang? (S.276)187Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, dass für die Lohnhöhe die Machtverhältnisse zwischen <strong>Kapital</strong> und Arbeit e<strong>in</strong>e entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielen. InKrisen o<strong>de</strong>r bei niedrigem Organisationsgrad <strong>de</strong>r Belegschaften lassen sich die Löhne, damit auch das Lebensniveau <strong>de</strong>r Arbeiter senken.Wie <strong>in</strong> umgekehrter Richtung: Bei entsprechen<strong>de</strong>r Organisiertheit können Gewerkschaften Lohnerhöhungen durchsetzen. So unterliegt <strong>de</strong>rPreis <strong>de</strong>r Arbeitskraft, <strong>de</strong>r Lohn, stets bestimmten Schwankungen. Von e<strong>in</strong>er Wertkorrektur wür<strong>de</strong>n wir jedoch erst re<strong>de</strong>n, wenn gestiegeneLebens- und Reproduktionskosten sich <strong>in</strong> höheren Löhnen verfestigen. Diese Verfestigungen ergeben sich nicht aus Lohnfor<strong>de</strong>rungen.Bei verän<strong>de</strong>rten Anfor<strong>de</strong>rungen an die Arbeitskräfte s<strong>in</strong>d es die Lohnfor<strong>de</strong>rungen und die Mechanismen <strong>de</strong>s Arbeitsmarkts, die daraus e<strong>in</strong>enneuen Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft bestimmen.Beispiel: Durch E<strong>in</strong>führung neuer Technologien steigen die Anfor<strong>de</strong>rungen an Qualifikation und Ausbildung <strong>de</strong>r Arbeitskräfte. Je nach Verfügbarkeitwer<strong>de</strong>n die Löhne spürbar steigen; wenn sich das neue Qualifikationsniveau verbreitet, wer<strong>de</strong>n die Löhne wie<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>ken undsich <strong>de</strong>m neuen Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft annähern. Gleichzeitig wer<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Arbeitskräfte durch solche wachsen<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>qualifiziert, <strong>de</strong>ren Löhne sogar unter <strong>de</strong>n Wert s<strong>in</strong>ken können. E<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res Beispiel: Durch verän<strong>de</strong>rte Siedlungsstrukturen, vermitteltdurch die Gesetze <strong>de</strong>s Immobilienmarktes, nehmen die Entfernungen zwischen Produktionsstätten und Wohnorten zu. Da s<strong>in</strong>d Fahrrado<strong>de</strong>r Moped o<strong>de</strong>r PKW nicht nur e<strong>in</strong>e gute Lösung, son<strong>de</strong>rn auch e<strong>in</strong>e neue Verwertungssphäre. Sobald die Sicherstellung <strong>in</strong>dividuellerMobilität zu e<strong>in</strong>em systemischen Faktor und <strong>de</strong>r PKW-Besitz damit sogar zum kulturellen Standard wird, nimmt das entsprechen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>flußauf die Lohnentwicklung.<strong>Das</strong> im zweiten Beispiel genannte Fahrrad ist nicht als Beitrag zum Umweltschutz gedacht. 1900 schreibt e<strong>in</strong> Ökonom, das Fahrrad bahne"die Lösung brennen<strong>de</strong>r großstädtischer Probleme, wie <strong>de</strong>r Wohnungsfrage, an", weil damit die Errichtung von Arbeitersiedlungen aufbilligen Grundstücken am Stadtrand möglich wur<strong>de</strong>, ohne sich große Gedanken darüber machen zu müssen, wie <strong>de</strong>r Arbeiter se<strong>in</strong>en Arbeitsplatzwerktäglich erreicht. Viele Unternehmen boten ihren Mitarbeitern sogar <strong>Teil</strong>zahlungskonditionen für <strong>de</strong>n Erwerb e<strong>in</strong>es Fahrradsan. Wer e<strong>in</strong>mal <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Spielfilm "Kuhle Wampe" von 1931 gesehen hat, weiß, welche Rolle das Fahrrad <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> für die Arbeiterklassespielte.188An<strong>de</strong>rerseits wäre es <strong>de</strong>n meisten von uns ebenfalls unangenehm, wenn sich plötzlich <strong>de</strong>r Schwe<strong>in</strong>ebraten, wie im bekannten Restaurantam En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Universums, <strong>de</strong>n verehrten Gästen mit se<strong>in</strong>en saftigsten Len<strong>de</strong>nstücken selbst empfiehlt. Alles <strong>in</strong> allem bevorzugen wire<strong>in</strong>e unbelebte Warenwelt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r wir alles, vom Steak bis zum Handy, als leblose Sachen behan<strong>de</strong>ln können. Wir vergessen gerne, dassalle Waren, das Steak wie das Handy, Verausgabung von Lebenszeit und Lebenskraft s<strong>in</strong>d.92


Aus dieser Sicht ist das erste G nichts an<strong>de</strong>res als e<strong>in</strong>e Menge Geld. Wir lagen <strong>in</strong> unseremSelbstversuch zum <strong>Kapital</strong>begriff gar nicht so falsch. Der Ursprung dieser <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geburtsphase<strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen <strong>Kapital</strong>ismus als Initialzündung wirken<strong>de</strong>n Geldvermögen ist ebenso vielfältig wieanrüchig. <strong>Das</strong> Han<strong>de</strong>lskapital <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschie<strong>de</strong>nen Facetten spielt dabei e<strong>in</strong>e große Rolle.<strong>Das</strong> W <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r Formel s<strong>in</strong>d die Waren: Masch<strong>in</strong>en, Rohstoffe usw. Alles, was manbraucht, um die Produktion von nachgefragten Waren auf <strong>de</strong>n Weg zu br<strong>in</strong>gen. Unbed<strong>in</strong>gt dabeiaber, und das macht <strong>de</strong>n historischen Unterschied aus, ist die frei verfügbare Arbeitskraft.<strong>Das</strong> ist die lebendige Arbeitskraft, die zu ihrem Wert als Ware, und nicht etwa danach bezahltwird, was sie an Werten erzeugt. Der selbständige Produzent unserer "e<strong>in</strong>fachen Warenproduktion",<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e eigene Arbeitskraft mit eigenen Produktionsmitteln betätigte, erzeugte im Monatsoundsoviel an Waren, <strong>de</strong>ren Verkauf ihm, wenn alles klappte, sogar e<strong>in</strong> Mehrprodukt zurückbrachte189 . Aber die Wertform dieser e<strong>in</strong>fachen Warenproduktion brachte ke<strong>in</strong>e Son<strong>de</strong>rung<strong>de</strong>s Mehrprodukts als Mehrwert hervor, solange Produzent und Besitzer <strong>de</strong>r Produktionsmittel,Wertschöpfer und Aneigner i<strong>de</strong>ntisch waren.Im neuen Verhältnis, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Produzent zur käuflichen Arbeitskraft wird und selbst als Warefungiert, s<strong>in</strong>d Produktionsmittel und Produzent getrennt und wer<strong>de</strong>n erst <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>s Regieführen<strong>de</strong>n Geldgebers wie<strong>de</strong>rvere<strong>in</strong>igt. Selbst wenn es dieselbe Werkstatt und dieselben Menschenwären: <strong>Das</strong> neue Verhältnis verän<strong>de</strong>rt alles. Die als Ware tätige Arbeitskraft erzeugt wie<strong>de</strong>r selbständige Produzent soundsoviel Waren. Bezahlt wird die Arbeitskraft aber entsprechend<strong>de</strong>m Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft, auch wenn sie das Zehnfache an Warenwerten produzieren wür<strong>de</strong>.Wie zuvor gehören die im Verkauf <strong>de</strong>r Waren realisierten Werte <strong>de</strong>mjenigen, <strong>de</strong>m auch die Produktionsmittelgehören. Aber das ist jetzt nicht mehr <strong>de</strong>r eigentliche Produzent. Dieser kle<strong>in</strong>eUnterschied ist ebenso simpel wie weitreichend.Zurück zum Tauschschema G-W-G': <strong>Das</strong> G' am En<strong>de</strong> ist e<strong>in</strong>e Tatsache. Die zwischen G und G'produzierten und dann zu ihrem Wert verkauften Waren haben e<strong>in</strong>en Wertzuwachs erfahren,<strong>de</strong>r sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er um das Strich am G' größeren Geldsumme ausdrückt und <strong>de</strong>n wir jetzt Mehrwertnennen. Entstan<strong>de</strong>n ist er durch kapitalistische Anwendung von Arbeitskraft im Produktionsprozess.Auch im Han<strong>de</strong>lskapital hatten wir am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Tauschakts e<strong>in</strong>en Wertzuwachs. <strong>Das</strong> war <strong>de</strong>rAnteil <strong>de</strong>s Händlers am Wertzuwachs, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s Warenproduzenten resultierte. DieSache mit <strong>de</strong>m Wertzuwachs aus <strong>de</strong>r lebendigen Arbeit ist also nicht neu. Aber mit <strong>de</strong>m Übergangzur kapitalistischen Produktion verabschie<strong>de</strong>n wir uns von <strong>de</strong>n noch unentwickelten Formen<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Über viele historische Zwischenschritte (handwerkliche Großbetriebe, Verlagswesen,Manufaktur) f<strong>in</strong><strong>de</strong>t das <strong>Kapital</strong> se<strong>in</strong>e mo<strong>de</strong>rne Wertform und betritt als neue organisieren<strong>de</strong>Kraft die Bühne. E<strong>in</strong> wirklicher Hauptdarsteller, e<strong>in</strong> absoluter Star mit enormer Bühnenpräsenz.Geld kannte man vorher. Produktionsmittel hatte man vorher. <strong>Kapital</strong> als sich verwerten<strong>de</strong>s Geldund sich verwerten<strong>de</strong> Produktionsmittel waren auch schon längst bekannt. Aber die vorhan<strong>de</strong>nenElemente konfigurieren sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Jahrhun<strong>de</strong>rt vollständig neu. Der ehemalige(durchaus wichtige) Nebendarsteller "Han<strong>de</strong>lskapital" macht e<strong>in</strong>en Formwan<strong>de</strong>l durch und wird189Auch dieses Mehrprodukt, geschaffen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Werkstatt <strong>de</strong>s Handwerksmeister mit Gesellen und Gehilfen, macht nicht nur viele Meisterreicher als an<strong>de</strong>re, son<strong>de</strong>rn ist auch <strong>de</strong>r Happen, an <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Geldbesitzer schadlos hält, wenn er als Händler handwerklicher Warense<strong>in</strong>e Dienste anbietet. <strong>Das</strong> an<strong>de</strong>re Mehrprodukt, von <strong>de</strong>m sich die kapitale Raupe Nimmersatt schon zu feudalen Zeiten ihren Anteil holte,war das <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s feudalen A<strong>de</strong>ls sich sammeln<strong>de</strong> Mehrprodukt aus bäuerlicher Produktion, i<strong>de</strong>ale Kaufkraft für Luxuswaren allerArt ebenso wie beliebte Sicherheit für Kredite, oft aus <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>sselben Händlers.93


auf <strong>de</strong>r ökonomischen Bühne zum Hauptdarsteller, Regissseur und Autor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person. Ke<strong>in</strong>eGastspiele mehr am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r antiken o<strong>de</strong>r feudalen Gesellschaften: Jetzt wird die gesamte Gesellschaftnach se<strong>in</strong>en Bedürfnissen umgestaltet. <strong>Das</strong> war möglich, weil Geld und Produktionsmittelmit <strong>de</strong>r neu enstan<strong>de</strong>nen Klasse <strong>de</strong>s doppelt freien Lohnarbeiters 190 e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>gen– unter <strong>de</strong>r festen und enorm kreativen Regie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>r als Privateigentümer<strong>de</strong>r Produktionsmittel und Lohnherr <strong>de</strong>r Arbeitskraft auch unbestrittener Eigentümer aller Arbeitsprodukteist.Spätesten ab <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts ist <strong>Kapital</strong> nicht e<strong>in</strong>fach Geld plus Produktionsmittel.Es bezeichnet das gesellschaftliche Verhältnis zwischen <strong>de</strong>m Eigentümer <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>rProduktionsmittel auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite und <strong>de</strong>m doppelt freien Lohnarbeiter auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite,<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e Arbeitskraft als Ware verkauft und die Produktionsmittel <strong>in</strong> Bewegung setzt. In diesemS<strong>in</strong>ne bezeichnet M. das <strong>Kapital</strong> als "e<strong>in</strong> durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältniszwischen Personen." 191 Mit <strong>Kapital</strong> bezeichnen wir das grundlegen<strong>de</strong> Klassenverhältnisaller Gesellschaften, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die kapitalistische Produktionsweise herrscht.Kapitel 7: Woher kommen die Arbeitskräfte? Wie geraten sieunter die Herrschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s?Wir erfahren, warum die frühen <strong>Kapital</strong>isten mehr Glück als Verstand hatten und wienaheliegend es für sie war, etwas zu schaffen, von <strong>de</strong>ssen Tragweite ihnen nichtsdämmerte.Wir sehen uns genauer an, woher die Arbeitskräfte kamen, die plötzlich <strong>in</strong> so großerZahl durch das Geld als Lohnarbeiter kommandiert wur<strong>de</strong>n. Wir erleben <strong>de</strong>n wichtigenFormwan<strong>de</strong>l dieser konfliktreichen Beziehung zwischen Geld und Arbeitskraftvon <strong>de</strong>r formellen zur reellen Subsumtion. Gut gesagt, o<strong>de</strong>r?Mehr Glück als VerstandDie strukturelle Analyse <strong>de</strong>s Austauschs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachsten Form hat uns gezeigt, wie sichdurch die neuartige Konfiguration bekannter Elemente e<strong>in</strong>e neue Basis für die gesellschaflicheProduktion ergibt. Die bei<strong>de</strong>n Schemata W-G-W und G-W-G dienten uns als Ausgangspunkt.Erneut könnte <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>druck entstehen, wir hätten es mit "Begriffszauberei", mit e<strong>in</strong>er Art <strong>in</strong>tellektuellemTaschenspielertrick zu tun, mit e<strong>in</strong>em Salonzauberer vielleicht, <strong>de</strong>r uns aus drei Buchstabendie tiefen Geheimnisse <strong>de</strong>r kapitalistischen Welt erklärt.190Diese neue Klasse ist natürlich nicht 'e<strong>in</strong>fach so' entstan<strong>de</strong>n: Sie wird durch <strong>de</strong>n sich beschleunigen<strong>de</strong>n Prozess <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>ralten feudalen Produktionsverhältnisse erst formiert. Dabei wer<strong>de</strong>n zunächst e<strong>in</strong>zelne soziale Gruppen <strong>de</strong>r feudalen Gesellschaft (Tagelöhner,landlose Dorfbewohner, Gesellen und Handwerksgehilfen) e<strong>in</strong>bezogen. Aber erst die <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>r Landwirtschaft sorgt auf<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite für die Steigerung <strong>de</strong>r Erträge, ohne die e<strong>in</strong>e neue Lohnarbeiterklasse außerhalb <strong>de</strong>r Landwirtschaft nicht hätte ernährtwer<strong>de</strong>n können. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite sorgt das für die massenweise "Befreiung" <strong>de</strong>r feudalen Arbeitskräfte, die <strong>de</strong>r schnell wachsen<strong>de</strong>nkapitalistischen Produktion als Arbeitskraft zur Verfügung stehen.Diese unmittelbare Vorgeschichte <strong>de</strong>r entfalteten bürgerlichen Gesellschaft nennt M. die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation". Was<strong>in</strong> unserer strukturellen Analyse <strong>in</strong> wenigen Gedankenschritten erledigt wird, war <strong>in</strong> Wirklichkeit e<strong>in</strong> langwieriger, mehr o<strong>de</strong>r weniger blutigerund gewaltsamer Prozess. M. beschreibt das für England im "<strong>Kapital</strong>" ausführlich (MEW 23, S.741ff).191MEW 23, S.793. Wir er<strong>in</strong>nern uns an dieses grundlegen<strong>de</strong> Merkmal <strong>in</strong> M.s Ansatz, <strong>de</strong>r die Perspektive se<strong>in</strong>er Politischen Ökonomiebestimmt: Die von ihm entwickelten Kategorien s<strong>in</strong>d nicht Bezeichnungen von D<strong>in</strong>gen und Personen, son<strong>de</strong>rn von Beziehungen zwischen<strong>de</strong>n D<strong>in</strong>gen und Personen. Sie s<strong>in</strong>d Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r nicht direkt sichtbaren Verhältnisse, <strong>in</strong> <strong>de</strong>ren Bahnen wir uns jedoch bewegen undverhalten.94


Doch was M. mit Hilfe <strong>de</strong>r Tauschschemata an Zusammenhängen auf<strong>de</strong>ckt, wird uns ja we<strong>de</strong>rals Prognose noch als geheimnisvolle Offenbarung angedient. Die Tauschschemata s<strong>in</strong>d Hilfsmittel<strong>de</strong>r strukturellen Analyse, die zunächst auf die Vorgeschichte angewen<strong>de</strong>t wird, also auf alles,was vor M.s Ausgangspunkt liegt. Diesen Ausgangspunkt <strong>de</strong>r Analyse machte ganz entschie<strong>de</strong>nschon <strong>de</strong>r erste Satz 192 <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" klar: Es ist die entwickelte kapitalistische Produktionsweise!Auch die Analyse ihrer historisch viel früher auftreten<strong>de</strong>n Elemente wie Ware,Tausch o<strong>de</strong>r Geld erfolgt e<strong>in</strong>zig vom Standpunkt dieser entwickelten kapitalistischen Produktionsweiseaus. An<strong>de</strong>rs wäre die Analyse auch gar nicht möglich. 193Warum sagt M. nicht e<strong>in</strong>fach: <strong>Kapital</strong>istische Produktionsweise ist Geldkapital plus Arbeitskraftund geht sofort <strong>in</strong> die Vollen? Warum schenkt er sich nicht (und erspart uns) das ganze Gehubeum die W-G-W und sonstige Schemata, um Wertform- und Geldformentwicklung? Weil das aufdie schlichte Feststellung h<strong>in</strong>auslaufen wür<strong>de</strong>: <strong>Kapital</strong>istische Produktionsweise ist <strong>Kapital</strong>herrschaft.Damit blieben alle Fragen nach <strong>de</strong>m Woher? und <strong>de</strong>m Wie?, nach <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Zusammenhängenunbeantwortet. Und M.s Arbeit wür<strong>de</strong> man, wenn überhaupt, nur noch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n h<strong>in</strong>terenRegalen <strong>de</strong>r Antiquariate f<strong>in</strong><strong>de</strong>n.M. will uns nicht die Oberfläche dieser Produktionsweise beschreiben; da müßten wir nur aus<strong>de</strong>m Fenster sehen und <strong>de</strong>n Wirtschaftsteil irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Zeitung regelmäßig lesen. M. dr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong>ihr Inneres e<strong>in</strong>, um herauszuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wie sich diese Produktionsweise im geschichtlichen Prozessbil<strong>de</strong>t, dabei vorgefun<strong>de</strong>ne Elemente neu konfiguriert und eigene Triebkräfte entfaltet, die dieserProduktionsweise e<strong>in</strong>e eigene Dynamik und Entwicklungsrichtung geben.Er will nicht nur erklären, was kapitalistische Produktionsweise ist, son<strong>de</strong>rn wie sie entsteht, wasihre <strong>in</strong>neren Bewegungsgesetze s<strong>in</strong>d, welche Entwicklungsrichtung sie nimmt und (vergessenwir das nicht) wo ihre Bruchstellen s<strong>in</strong>d, wo die Angriffspunkte liegen, um sie womöglich aus<strong>de</strong>n Angeln zu heben und zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n. 194Rückblickend, vom Standpunkt <strong>de</strong>r entwickelten kapitalistischen Produktionsweise <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts,wird e<strong>in</strong>es ganz <strong>de</strong>utlich: Der ohneh<strong>in</strong> schon glückliche Geldbesitzer <strong>de</strong>s 17. und 18.Jahrhun<strong>de</strong>rts hatte <strong>in</strong> Wirklichkeit noch mehr Glück als Verstand. Er war dank historischer Umstän<strong>de</strong>,die ihm <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Schoß fielen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lage, mit se<strong>in</strong>em Geld auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt die Arbeitskraft<strong>in</strong> ausreichen<strong>de</strong>r Menge zu kaufen und damit <strong>de</strong>n Übergang zu e<strong>in</strong>er neuen, zur kapitalistischenProduktionsweise zu schaffen. Nur hat unser glücklicher Geldbesitzer von diesem historischenGlück vermutlich ke<strong>in</strong>e Ahnung gehabt. Er hat getan, was je<strong>de</strong>r clevere Geldbesitzerse<strong>in</strong>er Zeit getan hat, um mitzunehmen, was sich anbot. An die Entstehung e<strong>in</strong>er neuen Produk-192Wir er<strong>in</strong>nern uns hoffentlich noch an diesen Satz: "Der Reichtum <strong>de</strong>r Gesellschaften, <strong>in</strong> welchen kapitalistische Produktionsweiseherrscht, ersche<strong>in</strong>t als e<strong>in</strong>e 'ungeheure Warensammlung', die e<strong>in</strong>zelne Ware als se<strong>in</strong>e Elementarform. Unsere Untersuchung beg<strong>in</strong>nt dahermit <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Ware." (MEW 23, S.49) Ausgangspunkt ist nicht nur die Ware als Elementarform, son<strong>de</strong>rn zuallererst jene bürgerlicheGesellschaft, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r die kapitalistische Produktionsweise herrscht. <strong>Das</strong> ist die Plattform, von <strong>de</strong>r aus wir die Tiefenbohrung beg<strong>in</strong>nen.193M. präsentiert uns se<strong>in</strong>e Analyse, die <strong>in</strong> dieser Form nur vom Standpunkt <strong>de</strong>r bereits entwickelten kapitalistischen Produktionsweisemöglich ist. Vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kritik an Smith und Ricardo zeigt M. sehr oft, wie diese bei<strong>de</strong>n hervorragen<strong>de</strong>n Analytiker eben nicht nuran ihren engen B<strong>in</strong>dung an die Interessen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten scheiterten, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong> auch durch die ger<strong>in</strong>gere Entwicklung <strong>de</strong>r Produktionsweiseselbst beh<strong>in</strong><strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n, die ja sogar zu Ricardos Lebzeiten noch nicht <strong>de</strong>n Übergang zum Fabriksystem vollzogen hatte, <strong>de</strong>nM. als Zeitzeuge miterlebt.194Wir er<strong>in</strong>nern uns: Für M. gehört zur Politischen Ökonomie unbed<strong>in</strong>gt die Frage nach <strong>de</strong>n Konflikten zwischen <strong>de</strong>r kapitalistischen Entwicklung<strong>de</strong>r Produktivkräfte und <strong>de</strong>n kapitalistischen Produktionsverhältnissen: "Aus Entwicklungsformen <strong>de</strong>r Produktivkräfte schlagendiese Verhältnisse <strong>in</strong> Fesseln <strong>de</strong>rselben um. Es tritt dann e<strong>in</strong>e Epoche sozialer Revolution e<strong>in</strong>." (MEW 13, S.9) Für Engels ist es wesentlichesZiel <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus, jene Bruchstellen ausf<strong>in</strong>dig zu machen, an <strong>de</strong>nen "diese Produktionsweise durch ihreeigne Entwicklung <strong>de</strong>m Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht" und "<strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r sich auflösen<strong>de</strong>n ökonomischen Bewegungsformdie Elemente <strong>de</strong>r zukünftigen, jene Mißstän<strong>de</strong> beseitigen<strong>de</strong>n, neuen Organisation <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>s Austausches aufzu<strong>de</strong>cken."(MEW 20, S.139)95


tionsweise verschwen<strong>de</strong>ten er und se<strong>in</strong>e Kumpane ke<strong>in</strong>en Gedanken; das unbeabsichtigte Resultatrückblickend als historische Großtat zu preisen wur<strong>de</strong> erst später e<strong>in</strong>e Aufgabe professionellerLobhudler.Die Frage, warum <strong>de</strong>r freie Arbeiter <strong>de</strong>m Geldbesitzer gegenübertritt, läßt <strong>de</strong>n alten Geldbesitzerund auch <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen <strong>Kapital</strong>isten kalt, solange sie <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt als e<strong>in</strong>e besondreAbteilung <strong>de</strong>s Warenmarkts vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>n und sich zu Nutze machen können. Sogar M. selbst hatuns oben, mitten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er strukturellen Analyse 195 , mitgeteilt: "E<strong>in</strong>stweilen <strong>in</strong>teressiert uns dieseFrage ebensowenig". Mit solcher Zurückhaltung ist jetzt Schluß. Jetzt <strong>in</strong>teressiert uns die Fragebrennend, die zwei Seiten hat: Woher kommen die frei verfügbaren Arbeitskräfte? Und wiebr<strong>in</strong>gt sie <strong>de</strong>r Geldbesitzer unter se<strong>in</strong> Kommando?Die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation"Menschen, die ihre Arbeitskraft stun<strong>de</strong>n- o<strong>de</strong>r tageweise verkaufen, hat es bereits <strong>in</strong> <strong>de</strong>n antikenGesellschaften und im europäischen Mittelalter, <strong>in</strong> vielen Gesellschaften und historischenEpochen vor <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>ismus gegeben. <strong>Das</strong> alle<strong>in</strong> reichte offenbar nicht aus, um e<strong>in</strong>e eigenständigeProduktionsweise zu begrün<strong>de</strong>n: Erst durch <strong>de</strong>n massenweisen Kauf <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraftund se<strong>in</strong>e Anwendung im Produktionsprozess unter <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s entsteht dasmo<strong>de</strong>rne <strong>Kapital</strong>. Den historischen Abschnitt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die Voraussetzungen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen bürgerlichenGesellschaft geschaffen wur<strong>de</strong>n, nämlich Geldkapital und doppelt freie Lohnarbeiter,nennt M. die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation".M. legt viel Wert auf diesen Punkt und widmet ihm am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ersten Bands <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" e<strong>in</strong>ausführliches Kapitel. Er beschreibt dar<strong>in</strong> für England die unmittelbare Vorgeschichte <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise. Inzwischen hat die Geschichtsforschung, nicht zuletzt durch M.s"<strong>Kapital</strong>" angeregt, diesen Prozess genauer untersucht. Heute liegen Studien vor, die M.s E<strong>in</strong>-Mann-Pioniertat <strong>in</strong> <strong>Teil</strong>en korrigieren. 196M. hätte auf diese Studien mit Sicherheit gerne zurückgegriffen und hätte sich nicht nur ihreweitergehen<strong>de</strong>n Erkenntnisse zu eigen gemacht, son<strong>de</strong>rn damit auch e<strong>in</strong>e Menge Zeit gespart.<strong>Das</strong>s se<strong>in</strong>e Analyse jedoch richtungweisend war und ist, belegt <strong>de</strong>r Zwischentext aus <strong>de</strong>m 24.Kapitel.Lektüre: Karl Marx:


eit für die Auswertung <strong>de</strong>r historischen Quellen aufgewen<strong>de</strong>t hatte und sie <strong>de</strong>shalb auch unterdie Leute br<strong>in</strong>gen wollte. Es s<strong>in</strong>d zwei Absichten: E<strong>in</strong>mal kommt es ihm darauf an zu zeigen, aufwelchem historischen Stoff se<strong>in</strong>e Analyse basiert, die wir im vorigen Kapitel nachgezeichnet haben.Aber etwas an<strong>de</strong>res ist ihm genauso wichtig: Die kapitalistische Produktionsweise zeigt sich alsdas Resultat bestimmter historischer Bed<strong>in</strong>gungen. Sie entsteht zu e<strong>in</strong>em bestimmbaren Zeitpunkt<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Nischen ihres feudalen Vorgängers, bevor sie sich zur Herrschaft aufschw<strong>in</strong>gt, un<strong>de</strong>s gibt zahlreiche Grün<strong>de</strong> anzunehmen, dass sie, wie an<strong>de</strong>re Produktionsweisen vor ihr, ebenfallsnur von begrenzter Dauer ist. 197 Die Beziehung <strong>de</strong>s Geldgebers (= <strong>Kapital</strong>ist) zum Anbieter<strong>de</strong>r Arbeitskraft (= Lohnarbeiter) ist ke<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Natur entsprungenes, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> historisch bed<strong>in</strong>gtes,ke<strong>in</strong> ewiges, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> historisch entstan<strong>de</strong>nes und daher auch vergängliches gesellschaftlichesVerhältnis, ähnlich <strong>de</strong>m von Sklave und Sklavenbesitzer, von leibeigenem Bauernund feudalem Grundherrn. 198Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Merkmal <strong>de</strong>r "ursprünglichen Akkumulation" war die massenweise Erzeugung<strong>de</strong>s doppelt freien Lohnarbeiters: Frei von feudalen Abhängigkeiten und frei von allen Produktionsmitteln,ob Bo<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Handwerkzeug. Wichtigster Hebel dieser Freisetzung war die <strong>Kapital</strong>isierung<strong>de</strong>r Landwirtschaft, die <strong>in</strong> England schon im 17. Jahrhun<strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>setzte und kont<strong>in</strong>uierlichüberflüssige Landbevölkerung erzeugte, aber auch die Produktivität <strong>de</strong>r Landwirtschaft <strong>de</strong>utlicherhöhte; <strong>de</strong>mgegenüber spielte die von M. angeführte Umwandlung ("E<strong>in</strong>hegung") 199 <strong>de</strong>sAckerlands <strong>in</strong> Wei<strong>de</strong>land nur <strong>in</strong> <strong>Teil</strong>en Englands e<strong>in</strong>e größere Rolle, wie man heute weiß. Vonähnlicher Be<strong>de</strong>utung wie die <strong>Kapital</strong>isierung war <strong>de</strong>r Anstieg <strong>de</strong>r Bevölkerung nach 1750, die <strong>in</strong><strong>de</strong>r Landwirtschaft und im Handwerk nicht gebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n konnte. 200197M. ver<strong>de</strong>utlicht diese historische Begrenzung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise mit e<strong>in</strong>em hübschen dialektischen Konter, für die erebenfalls berühmt (manche sagen: berüchtigt) ist. Dar<strong>in</strong> beschreibt er zunächst ausführlich die Geburt <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsverhältnisse<strong>in</strong> England als Geschichte <strong>de</strong>r brutalen Expropriation (= Enteignung) von hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>n ehemals selbständigen Bauern undHandwerkern, als brutale Vertreibung <strong>de</strong>r Landbevölkerung <strong>in</strong> die Fabriken und Bergwerke, als Schaffung e<strong>in</strong>er Armee verwertbarer Arbeitskräfte.Aber die dabei freigesetzten <strong>in</strong>neren Bewegungskräfte <strong>de</strong>r neuen Produktionsweise schlagen als erneute Expropriation auf dieAkteure <strong>de</strong>s Systems zurück:"Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel <strong>de</strong>r immanenten Gesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e. Je e<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>ist schlägt viele tot. Hand <strong>in</strong> Hand mit dieser Zentralisation o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Expropriation vieler <strong>Kapital</strong>isten durch wenigeentwickelt sich die kooperative Form <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses auf stets wachsen<strong>de</strong>r Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung <strong>de</strong>rWissenschaft, die planmäßige Ausbeutung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, die Verwandlung <strong>de</strong>r Arbeitsmittel <strong>in</strong> nur geme<strong>in</strong>sam verwendbare Arbeitsmittel, dieÖkonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel komb<strong>in</strong>ierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschl<strong>in</strong>gungaller Völker <strong>in</strong> das Netz <strong>de</strong>s Weltmarkts und damit <strong>de</strong>r <strong>in</strong>ternationale Charakter <strong>de</strong>s kapitalistischen Regimes. Mit <strong>de</strong>r beständig abnehmen<strong>de</strong>nZahl <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>magnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und mono<strong>pol</strong>isieren, wächst dieMasse <strong>de</strong>s Elends, <strong>de</strong>s Drucks, <strong>de</strong>r Knechtschaft, <strong>de</strong>r Entartung, <strong>de</strong>r Ausbeutung, aber auch die Empörung <strong>de</strong>r stets anschwellen<strong>de</strong>n unddurch <strong>de</strong>n Mechanismus <strong>de</strong>s kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vere<strong>in</strong>ten und organisierten Arbeiterklasse. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>mono<strong>pol</strong>wird zur Fessel <strong>de</strong>r Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation <strong>de</strong>r Produktionsmittel und dieVergesellschaftung <strong>de</strong>r Arbeit erreichen e<strong>in</strong>en Punkt, wo sie unverträglich wer<strong>de</strong>n mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. DieStun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs wer<strong>de</strong>n expropriiert." (MEW 23, S.790f)Wir kommen auf M.s Skizze zur geschichtlichen Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation zurück, wenn wir uns <strong>de</strong>m ten<strong>de</strong>nziellen Fall<strong>de</strong>r Profitrate zuwen<strong>de</strong>n.198"Die Natur produziert nicht auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite Geld- o<strong>de</strong>r Warenbesitzer und auf <strong>de</strong>r andren bloße Besitzer <strong>de</strong>r eignen Arbeitskräfte.Dies Verhältnis ist ke<strong>in</strong> naturgeschichtliches und ebensowenig e<strong>in</strong> gesellschaftliches, das allen Geschichtsperio<strong>de</strong>n geme<strong>in</strong> wäre. Es istoffenbar selbst das Resultat e<strong>in</strong>er vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, <strong>de</strong>sUntergangs e<strong>in</strong>er ganzen Reihe älterer Formationen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion." (MEW 23, S.183)199Bei <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>hegung wur<strong>de</strong> das vorher von Pächtern und Kle<strong>in</strong>bauern bearbeitete Ackerland <strong>in</strong> Wei<strong>de</strong>land für die Schafzucht umgewan<strong>de</strong>lt.Damit reagierten die Grundbesitzer auf die starke Nachfrage vor allem <strong>de</strong>r flandrischen Wollwebereien nach Schafswolle; erst nach<strong>de</strong>m S<strong>in</strong>ken <strong>de</strong>s Wollpreises entwickelte sich e<strong>in</strong>e eigenständige Woll<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong> England, die für die Entwicklung <strong>de</strong>r neuen Produktionsweisegroße Be<strong>de</strong>utung erlangte.200Die kont<strong>in</strong>uierliche Landvertreibung, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bürgerlichen Geschichtsschreibung verharmlosend als "Landflucht" bezeichnet wird,hatte beachtliche Ausmasse. Die E<strong>in</strong>wohnerzahl Londons nimmt zwischen 1800 und 1835 um das doppelte auf 2 Millionen zu. Die meisten<strong>de</strong>r städtischen Zuwan<strong>de</strong>rer waren "überflüssige" Landarbeiter, ehemalige Kle<strong>in</strong>bauern und Kle<strong>in</strong>pächter, aber auch proletarisierte97


Die Verwandlung <strong>de</strong>r freigesetzten Landbevölkerung <strong>in</strong> Arbeitskräfte für <strong>de</strong>n kapitalistischen Betriebwar e<strong>in</strong> gewaltvoller, blutiger Prozess. Warum auch sollte e<strong>in</strong> ländlicher Tagelöhner mit eigenerHütte, wie beschei<strong>de</strong>n und unsicher auch immer se<strong>in</strong>e Existenz gewesen se<strong>in</strong> mag, dieseLebensweise freiwillig gegen e<strong>in</strong>en 14-Stun<strong>de</strong>ntag <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Bergwerken Newcastles e<strong>in</strong>tauschen?201Die "ursprüngliche Akkumulation" f<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>in</strong> allen Län<strong>de</strong>rn statt, die <strong>de</strong>n kapitalistischen Entwicklungsweggehen, aber stets <strong>in</strong> eigener Weise. Fast immer aber ist dieser Prozess alles an<strong>de</strong>re alsfriedlich: Als "von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend" 202 beschreibt M. dieGeburt <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise <strong>in</strong> England. In vielen Län<strong>de</strong>rn unserer Er<strong>de</strong> ist diesePhase noch im vollen Gang: Millionen von Menschen, <strong>de</strong>ren traditionelle Lebensweise durchE<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise vernichtet wird, wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> die schnell wachsen<strong>de</strong>nStädten vertrieben o<strong>de</strong>r müssen als Wan<strong>de</strong>rarbeiter unter elendigsten Bed<strong>in</strong>gungen ihrAuskommen suchen.http://www.<strong>in</strong>dustrieviertelmuseum.at/Was sich <strong>in</strong> England durch Blutgesetze und Arbeitszwang,durch Polizeigewalt und Arbeitshäuser durchsetzte, bediente und bedient sich <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rnvielleicht an<strong>de</strong>rer, weniger brutaler Metho<strong>de</strong>n. Aber das Ergebnis <strong>de</strong>s Prozesses ist immerdasselbe: Die ihres gewohnten Lebensunterhalts beraubten Massen - Männer, Frauen und K<strong>in</strong><strong>de</strong>r- wer<strong>de</strong>n zu <strong>in</strong>dustriellen Arbeitskräften diszipl<strong>in</strong>iert und müssen sich selbst auf <strong>de</strong>n Arbeitsmarktwerfen.Formelle SubsumtionMit <strong>de</strong>m Ausflug <strong>in</strong> die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation" haben wir M.s Aufbau <strong>de</strong>s"<strong>Kapital</strong>" verlassen und s<strong>in</strong>d schon mal an das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ersten Bands gesprungen. Setzen wirnach diesem Ausflug, historisch gestärkt, die strukturelle Analyse fort. Wir können uns sicherse<strong>in</strong>, dabei nicht e<strong>in</strong>gebil<strong>de</strong>ten, son<strong>de</strong>rn tatsächlichen Zusammenhängen nachzuspüren. <strong>Das</strong> betrifftdie Art und Weise, wie die doppelt befreite Arbeitskraft unter die Herrschaft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sgenommen wird.Denn darum geht es: Was uns heute selbstverständlich ist, die Pünktlichkeit am Arbeitsplatz, dieDiszipl<strong>in</strong>, Arbeitszeiten gegen <strong>de</strong>n biologischen Rhythmus und kulturelle Überlieferung, Angstvor Entlassung aus geisttöten<strong>de</strong>r Arbeit..., all das mußte früheren Generationen buchstäbliche<strong>in</strong>gebleut wer<strong>de</strong>n. Die historische Phase, <strong>de</strong>r sich unsere Analyse jetzt zuwen<strong>de</strong>t, ist die PhaseHandwerker. <strong>Das</strong> gleichzeitige Bevölkerungswachstum geht wohl vor allem auf die steigen<strong>de</strong> Zahl <strong>de</strong>r Eheschließungen und das s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong>Heiratsalter <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Städten zurück.201In <strong>de</strong>r auf Massenwirkung zielen<strong>de</strong>n Geschichtspräsentation f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man immer wie<strong>de</strong>r Sätze dieser Art: "Arbeitskräfte drängten <strong>in</strong> dieneuen Industriezentren, <strong>in</strong> wenigen Jahren wur<strong>de</strong>n aus Dörfern Großstädte, wo die Massen unter miserablen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> überbelegten'Arbeiterkasernen' und feuchten Kellern hausten. Die Arbeitszeit lag bei 14 Stun<strong>de</strong>n, immer im Rhythmus <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en, Frauen musstenfür weniger Lohn ebenso viel schaffen, vor allem <strong>in</strong> Bergwerken und Textilfabriken, auch K<strong>in</strong><strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n skrupellos ausgebeutet." Auf <strong>de</strong>re<strong>in</strong>en Seite betont man gerne die Elendigkeit <strong>de</strong>r Lebensbed<strong>in</strong>gungen, um <strong>de</strong>n Kontrast zur Mo<strong>de</strong>rne herauszustellen, die ja eigentlich garke<strong>in</strong> richtiger <strong>Kapital</strong>ismus mehr sei. Der blutige und gewaltsame Prozess <strong>de</strong>r Proletarisierung wird aber verschwiegen. O<strong>de</strong>r glaubt manwirklich, dass Millionen Menschen freiwillig <strong>in</strong> das <strong>in</strong>dustrielle Elend drängten? E<strong>in</strong> schönes Beispiel für die idyllisieren<strong>de</strong> Betrachtung <strong>de</strong>rIndustriegeschichte und die Überbetonung <strong>de</strong>s "technischen Erf<strong>in</strong>dunsgsreichtums" bietet die Website Europäische Route <strong>de</strong>r Industriekulturvom Netzwerk <strong>de</strong>r europäischen Industriemuseen, <strong>de</strong>r auch das Zitat entnommen ist.202MEW 23, S.788. Im Vorwort zur ersten Auflage <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" macht M. ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die für England beschriebenebeson<strong>de</strong>re Brutalität <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Frühphase <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus ke<strong>in</strong>eswegs für alle Län<strong>de</strong>r gelten muß, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen sich kapitalistischeProduktionsweise durchsetzt: "Dort wird er sich <strong>in</strong> brutaleren o<strong>de</strong>r humaneren Formen bewegen, je nach <strong>de</strong>m Entwicklungsgrad <strong>de</strong>r Arbeiterklasseselbst." (MEW 23, S.15)98


e<strong>in</strong>er über Generationen h<strong>in</strong>weg stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Dressur. 203 Millionen Menschen, die aus ihrentraditionellen Lebensverhältnissen entrissen wur<strong>de</strong>n, mußten <strong>in</strong> die strenge Arbeitsdiszipl<strong>in</strong> <strong>de</strong>rneuen Produktionsweise e<strong>in</strong>geübt wer<strong>de</strong>n. Damit wur<strong>de</strong> die Basis für die Lebensweise e<strong>in</strong>erneuen Klasse geschaffen, die wir heute Lohnabhängige o<strong>de</strong>r Arbeiterklasse nennen und zu <strong>de</strong>r(wahrsche<strong>in</strong>lich) auch alle gehören, die das jetzt lesen. 204Wie beg<strong>in</strong>nt die Herschaft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s über die Lohnabhängigen? Der erste Schritt <strong>in</strong> diese Richtungerfolgt unter <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lskapitals. Zunächst wird e<strong>in</strong>e bestimmte Zahl selbständigerProduzenten durch das Han<strong>de</strong>lskapital zusammengefaßt (= subsumiert). 205 <strong>Das</strong> ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Anfängennoch e<strong>in</strong>e Arbeitsteilung zu bei<strong>de</strong>rseitigem Nutzen. Mag es sich um Handwerksprodukteo<strong>de</strong>r um landwirtschaftliche Überschüsse han<strong>de</strong>ln: Der Produzent beg<strong>in</strong>nt, für <strong>de</strong>n Händler zuproduzieren. Der nimmt ihm Last und Risiko <strong>de</strong>s Verkaufs ab. Dafür erhält <strong>de</strong>r Händler se<strong>in</strong>enAnteil am Mehrprodukt, das auf dieser Stufe <strong>de</strong>r Entwicklung noch von selbständigen Produzenten,Handwerkern o<strong>de</strong>r Bauernwirtschaften, aber ebenso oft von feudalen Gutswirtschaften erzeugtwird.Die urwüchsige Arbeitsteilung zwischen Produzent und Händler führt zu tatsächlicher Abhängigkeit<strong>de</strong>r Produzenten: Wesentlicher Schritt dazu ist die Bereitstellung <strong>de</strong>r Rohstoffe durch <strong>de</strong>nHändler, <strong>de</strong>r dadurch direkt <strong>in</strong> die Rolle e<strong>in</strong>es Geldkapitalisten schlüpft. M. bezeichnet diese frühenFormen <strong>de</strong>r Produktion unter <strong>Kapital</strong>regie als formelle Subsumtion 206 : Die Produzenten s<strong>in</strong>dzwar <strong>de</strong>r Form nach (= formell) selbständig, tatsächlich aber f<strong>in</strong><strong>de</strong>t bereits e<strong>in</strong>e kapitalistischeAneignung <strong>de</strong>r Produkte und e<strong>in</strong>es großen <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>s Mehrprodukts statt. <strong>Das</strong> kl<strong>in</strong>gt harmloser,als es ist. Denn mit <strong>de</strong>r formellen Subsumtion ergaben sich bereits neue und umgehend genutz-203<strong>Das</strong> kl<strong>in</strong>gt hart. Wer sieht sich schon gern selber als Tier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zirkus? Niemand. Aber diese "Dressur" ist e<strong>in</strong>e historische Tatsache.O<strong>de</strong>r kann irgendjemand glauben, dass die Menschen massenweise und bereitwillig <strong>in</strong> die Kohlenflöze gefahren s<strong>in</strong>d und an <strong>de</strong>n Hochöfengeschuftet haben? <strong>Das</strong>s man bereitwillig <strong>in</strong> die übervölkerten Wohnquartiere gezogen ist, vor <strong>de</strong>nen es sogar e<strong>in</strong>em Leibeigenen <strong>de</strong>s1<strong>1.</strong> Jahrhun<strong>de</strong>rts gegraust hätte, <strong>de</strong>r mit se<strong>in</strong>er Familie selber nur auf wenig Stroh <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hütte hauste, die eher e<strong>in</strong> überdachtes Erdlochwar?Übrigens stammt das englische Wort "manage" vom late<strong>in</strong>ischen "manus", was "Hand" be<strong>de</strong>utet, und "agere" gleich "führen". Ursprünglichbezeichnete es die Kunst, e<strong>in</strong> Pferd <strong>in</strong> allen Gangarten mit <strong>de</strong>r Hand zu führen, es dazu zu br<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Reitbahn, auchmanège genannt, auf je<strong>de</strong> Zügelbewegung zu gehorchen: Manager – Manege – Dressur... abwegig? Wir kommen auf die Dressurfragezurück, wenn wir <strong>de</strong>n Kampf um <strong>de</strong>n Normalarbeitstag streifen.204Versteht sich, dass viele diese Zugehörigkeit zur "Arbeiterklasse" weit von sich weisen. Kurioserweise stufen sich bei entsprechen<strong>de</strong>nBefragungen die meisten als Angehörige <strong>de</strong>r "Mittelschicht" und nicht bei "Arbeiterklasse" e<strong>in</strong>, mit <strong>de</strong>r man möglicherweise Schiebermütze,körperliche Arbeit und grobe Umgangsformen verb<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Aber wir wer<strong>de</strong>n ja noch M.s Gesamtarbeiter begegnen, <strong>de</strong>r für ihn die<strong>pol</strong>it-ökonomische Bezeichnung für Arbeiterklasse ist. Und wenn wir das tun, haben die wenigsten e<strong>in</strong>e Chance, dieser Zuordnung zu entkommen,ob wir nun Metallstücke formen o<strong>de</strong>r papierene Vorgänge weiterleiten o<strong>de</strong>r K<strong>in</strong><strong>de</strong>r pädagogisch für das Leben trimmen.205<strong>Das</strong> ist auch historisch <strong>de</strong>r erste auffällige Schritt. Ansonsten ist die historische Abfolge viel variantenreicher. Bestimmte Varianten <strong>de</strong>rformellen Subsumtion f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir zu allen Zeiten mit ausgeprägtem Han<strong>de</strong>l. Denken wir an <strong>de</strong>n We<strong>in</strong>anbau, <strong>de</strong>r schon sehr früh im größerenUmfang für <strong>de</strong>n Fernhan<strong>de</strong>l betrieben wur<strong>de</strong>. Denken wir an die Hersteller von gefragten Luxuswaren wie Gold- und Waffenschmie<strong>de</strong>,<strong>de</strong>ren Produktion zum größeren <strong>Teil</strong> für und im Auftrag <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls erfolgte und meist viele Handwerksbetriebe e<strong>in</strong>er Stadt o<strong>de</strong>r auchRegion zusammenfaßte. Es dürfte nicht schwer fallen, sogar für unsere Zeit solche <strong>de</strong>r Frühform verwandte Unternehmensformen zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n,etwa dort, wo auch heute noch Heimarbeit e<strong>in</strong>e größere Rolle spielt.206Die Subsumtion me<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Unterordnung. "Formelle Subsumtion" me<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Unterordnung <strong>de</strong>r Produzenten unter die Regie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sbei praktisch unverän<strong>de</strong>rter Fortführung <strong>de</strong>r traditionellen Produktion, vor allem mit Beibehaltung e<strong>in</strong>er formellen Selbständigkeit <strong>de</strong>sProduzenten. Für Deutschland ist das Verlagssystem <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Woll- und Tuchweberei e<strong>in</strong> frühes und am Beispiel <strong>de</strong>r schlesischen Webereiauch e<strong>in</strong> beson<strong>de</strong>rs drastisches und <strong>pol</strong>itisch folgenreiches Beispiel. Zu beachten: Die Begriffe "formelle Subsumtion" und "reelle Subsumtion",mit <strong>de</strong>nen wir <strong>in</strong> diesen Kapiteln argumentieren, stammen von M. selbst. Sie f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich im "<strong>Kapital</strong>" zwar nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal,und zwar im <strong>1.</strong> Band (MEW 23, S.532f). In <strong>de</strong>n zwischen 1863 und 1865 entstan<strong>de</strong>nen Skizzen "Resultate <strong>de</strong>s unmittelbaren Produktionsprozesses"geht M. auf diese Grundformen <strong>de</strong>s Verwertungsprozesses ausführlicher e<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs hat M. diesen <strong>Teil</strong> entgegen se<strong>in</strong>erursprünglichen Absicht nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n <strong>1.</strong> Band aufgenommen; auch von Engels wur<strong>de</strong> das Kapitel für die Bän<strong>de</strong> 2 und 3 nicht mehr verwen<strong>de</strong>t.Man kann M.s Text im Internet f<strong>in</strong><strong>de</strong>n. ->http://www.assoziation.<strong>in</strong>fo/pdf/resultate.pdf.99


te Möglichkeiten <strong>de</strong>r Bereicherung auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en und <strong>de</strong>r Ausplün<strong>de</strong>rung auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite.207KooperationIn<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Geldkapitalist nicht nur Rohstoffbeschaffung und Absatz, son<strong>de</strong>rn verschie<strong>de</strong>ne Produzentenzu e<strong>in</strong>em Arbeitsprozess zusammenfaßt, geht man über das Verlagssystem h<strong>in</strong>aus. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>spürbar höhere Produktivität wird erreicht. Die Produzenten konzentrieren sich auf die Produktion,die im größeren Maßstab erfolgt. Betriebswirte wür<strong>de</strong>n heute von "Skalenökonomie"sprechen, also: Produktionsvorteile durch größeren Maßstab. Durch erste Versuche e<strong>in</strong>er Standardisierung,aber auch durch die Beseitigung von "Handwerksgeheimnissen" und "Handwerksstolz"wan<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>r Charakter <strong>de</strong>r Produktion. M. nennt diese als formelle Subsumtionerreichte neue Qualität die Kooperation, die nachfolgend alle kapitalistisch organisierten Arbeitsprozesseauszeichnet:"Es ist die erste Än<strong>de</strong>rung, welche <strong>de</strong>r wirkliche Arbeitsprozeß durch se<strong>in</strong>e Subsumtion unterdas <strong>Kapital</strong> erfährt. Diese Än<strong>de</strong>rung geht naturwüchsig vor sich. Ihre Voraussetzung, gleichzeitigeBeschäftigung e<strong>in</strong>er größren Anzahl von Lohnarbeitern <strong>in</strong> <strong>de</strong>mselben Arbeitsprozeß, bil<strong>de</strong>t<strong>de</strong>n Ausgangspunkt <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion." 208Die Überlegenheit <strong>de</strong>r Kooperation im Vergleich zur isolierten Produktion <strong>de</strong>r unabhängigenProduzenten vergrößert schnell ihren Wirkungsbereich und führt zum fortschreiten<strong>de</strong>n Ru<strong>in</strong> <strong>de</strong>ralten Handwerksbetriebe. Diese Entwicklung ist nicht schlagartig, son<strong>de</strong>rn schleichend, f<strong>in</strong><strong>de</strong>tzunächst nur <strong>in</strong> bestimmten Branchen statt, bevor sich das neue Produktionsmo<strong>de</strong>ll mehr undmehr verbreitet.Mit <strong>de</strong>r örtlichen Konzentration <strong>de</strong>r jetzt abhängig gewor<strong>de</strong>nen Produzenten f<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>in</strong> immermehr Branchen <strong>de</strong>r Übergang zur Manufaktur statt. Dieser Schritt ist auch <strong>in</strong>sofern be<strong>de</strong>utsam,als es für <strong>de</strong>n ehemals selbständigen Produzenten jetzt ke<strong>in</strong> Zurück mehr zu "<strong>de</strong>n guten altenZeiten" gibt, die fortan nur noch <strong>in</strong> romantischen Legen<strong>de</strong>n existieren. Historisch umfassen wirmit diesem Übergang e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum von etwa 1550 bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 18. Jahrhun-207Vor allem <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Weberei gab es mit <strong>de</strong>m Verlagssystem die klassische Variante <strong>de</strong>r formellen Subsumtion mit ihren subtilen und brutalenMetho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Ausplün<strong>de</strong>rung. Weberaufstän<strong>de</strong> gegen die drücken<strong>de</strong>n Lasten, die ihnen von <strong>de</strong>n Verlegern auferlegt wur<strong>de</strong>n, warendie Folge. Am bekanntesten wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> Deutschland <strong>de</strong>r schlesische Weberaufstand von 1844, <strong>de</strong>m He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e mit se<strong>in</strong>em Gedicht "Dieschlesischen Weber" e<strong>in</strong> literarisches Denkmal setzte. <strong>Das</strong> Gedicht wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r von M. <strong>in</strong> Paris heraugegebenen Zeitung "Vorwärts. PariserDeutsche Zeitschrift" erstmals unter <strong>de</strong>m Titel "Die armen Weber" veröffentlicht.Die Weber hatten allerd<strong>in</strong>gs schon e<strong>in</strong> eigenes Lied: "<strong>Das</strong> Blutgericht". Damit haben sie sich auf ihren Protestmärschen Mut gemacht,die punktgenau zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs verhaßten Verlegern führten, <strong>de</strong>ren Häuser sie verwüsteten. Der Wikipedia-Artikel (Stand: 5.2009)zum Thema br<strong>in</strong>gt weitere Details. Warum <strong>de</strong>r Aufstand dort allerd<strong>in</strong>gs nicht als "Klassenkampf <strong>in</strong>terpretiert" wer<strong>de</strong>n könne, bleibtdas Geheimnis <strong>de</strong>r Autoren. Klassenkampf fängt ja nicht erst an, wenn die Akteure e<strong>in</strong> Transparent tragen, auf <strong>de</strong>m "Klassenkampf"steht. M.s Auffassung von Klassenkampf wäre das je<strong>de</strong>nfalls nicht (vgl. ZF 1). Auch <strong>de</strong>r Lyoner Weberaufstand vom 2<strong>1.</strong> November1831 war übrigens e<strong>in</strong> Aufstand von Kle<strong>in</strong>produzenten gegen ihre Verleger und <strong>de</strong>nnoch Klassenkampf pur (vgl. FN 259).208Die Form <strong>de</strong>r Kooperation ist nicht neu. Viele Quellen seit <strong>de</strong>r Antike berichten, wie die Steigerung <strong>de</strong>r Produktion durch kooperieren<strong>de</strong>sHandwerk immer wie<strong>de</strong>r zu e<strong>in</strong>er Überschwemmung <strong>de</strong>r Märkte mit Massenware führt. Aber diese antiken Vorläufer waren nochdurchsetzt von <strong>de</strong>r Ökonomie <strong>de</strong>r Sklavenhaltung, regional begrenzt und im ganzen ökonomisch unbe<strong>de</strong>utend. Die kapitalistische Variantebr<strong>in</strong>gt Neues: "Wie die durch die Kooperation entwickelte gesellschaftliche Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit als Produktivkraft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ersche<strong>in</strong>t,so die Kooperation selbst als e<strong>in</strong>e spezifische Form <strong>de</strong>s kapitalistischen Produktionsprozesses im Gegensatz zum Produktionsprozeßvere<strong>in</strong>zelter unabhängiger Arbeiter o<strong>de</strong>r auch Kle<strong>in</strong>meister. Es ist die erste Än<strong>de</strong>rung, welche <strong>de</strong>r wirkliche Arbeitsprozeß durch se<strong>in</strong>eSubsumtion unter das <strong>Kapital</strong> erfährt. Diese Än<strong>de</strong>rung geht naturwüchsig vor sich. Ihre Voraussetzung, gleichzeitige Beschäftigung e<strong>in</strong>ergrößren Anzahl von Lohnarbeitern <strong>in</strong> <strong>de</strong>mselben Arbeitsprozeß, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Ausgangspunkt <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion. Dieser fällt mit<strong>de</strong>m <strong>Das</strong>e<strong>in</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s selbst zusammen. Wenn sich die kapitalistische Produktionsweise daher e<strong>in</strong>erseits als historische Notwendigkeitfür die Verwandlung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Prozeß darstellt, so andrerseits diese gesellschaftliche Form <strong>de</strong>s Arbeitsprozessesals e<strong>in</strong>e vom <strong>Kapital</strong> angewandte Metho<strong>de</strong>, um ihn durch Steigerung se<strong>in</strong>er Produktivkraft profitlicher auszubeuten." (MEW23, S.354)100


<strong>de</strong>rts. Die schrittweise Auflösung <strong>de</strong>r alten handwerklich geprägten Produktion durch die Manufakturbereitet <strong>de</strong>n Übergang zur "echten" kapitalistischen Produktion vor.Reelle Subsumtion und FabriksystemDie arbeitsteilige Produktion, die sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Manufaktur immer stärker herausbil<strong>de</strong>t 209 , vollzieht<strong>de</strong>n Übergang zur reellen Subsumtion <strong>de</strong>s Produzenten unter die Herrschaft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. "Reell"<strong>de</strong>shalb, weil <strong>de</strong>r Produzent jetzt aufhört, e<strong>in</strong> selbständiger Handwerker zu se<strong>in</strong>; selbst <strong>de</strong>rAnsche<strong>in</strong> von Selbständigkeit verflüchtigt sich, und er wird endgültig zum Lohnarbeiter. Aberwir sprechen auch <strong>de</strong>shalb von reeller Subsumtion, weil <strong>de</strong>r Produzent als Lohnarbeiter nichtmehr <strong>in</strong> eigener Person e<strong>in</strong>en zusammenhängen<strong>de</strong>n Arbeitsprozess absolviert, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r <strong>in</strong>neren,re<strong>in</strong> technologischen Arbeitsteilung <strong>de</strong>s Betriebs unterworfen wird. Se<strong>in</strong>e ehemals umfassen<strong>de</strong>nhandwerklichen Fähigkeiten wer<strong>de</strong>n nicht mehr benötigt. Er selbst ist nur noch Ausführen<strong>de</strong>re<strong>in</strong>es w<strong>in</strong>ziger wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n <strong>Teil</strong>prozesses.Zwischenfrage 44: Was be<strong>de</strong>utet technologische Arbeitsteilung gegenüber <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung?(S.277)Mit <strong>de</strong>r technologischen Arbeitsteilung 210 unter <strong>de</strong>r Herrschaft e<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s erfolgt e<strong>in</strong>e beachtlicheSteigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität, die im Fabriksystem ihren ersten Abschluß f<strong>in</strong><strong>de</strong>t. DerArbeitsprozess löst sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne, von je<strong>de</strong>r Arbeitskraft leicht durchführbare Arbeitsschritteauf. Die Arbeitskraft wird weitgehend austauschbar. Mit <strong>de</strong>m Fabriksystem wird <strong>de</strong>r Arbeitsprozess<strong>in</strong> <strong>de</strong>r vollständigen Verb<strong>in</strong>dung von Masch<strong>in</strong>erie (Technik), Organisation und lebendigerArbeit zum kompletten kapitalistischen Produktionsprozess.Die reelle Subsumtion ist abgeschlossen. Die Unterordnung <strong>de</strong>r lebendigen Arbeit unter dieVerwertungsziele <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist vollzogen. Der Arbeitsprozess ist voll und ganz Verwertungsprozessgewor<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> heißt: Die Produktion von Waren ist nur Mittel zum eigentlichen Zweck,nämlich jenes Strich am G' im Schema G-W-G' zu sichern und zu mehren. <strong>Das</strong> wollen wir uns imnächsten Kapitel näher ansehen.209Adam Smith f<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er mehrfach erwähnten Arbeit von 1776 für die frühe Na<strong>de</strong>lmanufaktur 18 getrennte Arbeitsgänge. M. selbstf<strong>in</strong><strong>de</strong>t 90 Jahre später für die entwickelte Manufaktur, dass e<strong>in</strong>e Nähna<strong>de</strong>l bereits 72 und sogar 92 Arbeitsschritte durchläuft, bevor sie alsfertiges Produkt auf <strong>de</strong>n Markt kommt (MEW 23, S.364). Hier ist <strong>de</strong>r Übergang zur Fließproduktion <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Fabrik schon greifbarnahe. Im übrigen ist M.s Analyse <strong>de</strong>r <strong>in</strong>neren Arbeitsteilung <strong>de</strong>r Manufaktur sehr viel ausführlicher, als es unserem Galopp durch das Themazu entnehmen ist. <strong>Das</strong> gesamte 12. Kapitel <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" behan<strong>de</strong>lt das klassische Thema von <strong>de</strong>r <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit am Beispiel <strong>de</strong>rManufaktur auf (MEW 23, S.356ff).210Technologische Arbeitsteilung me<strong>in</strong>t Arbeitsteilung <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Unternehmens im Unterschied zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung,an <strong>de</strong>r selbständige Produktionsprozesse unter <strong>de</strong>r Regie <strong>in</strong>dividueller <strong>Kapital</strong>e beteiligt s<strong>in</strong>d, und die alle<strong>in</strong> über <strong>de</strong>n Markt mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r <strong>in</strong>Verb<strong>in</strong>dung kommen.101


Kapitel 8: <strong>Kapital</strong> und VerwertungWir sehen uns genauer an, wie die Sache mit <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> funktioniert. Wie kommtman von e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Verhältnis zu jenem Strich am G', das e<strong>in</strong>e ganzeKlasse reicher macht? Wir sehen uns an, wie sich Wert und Mehrwert bil<strong>de</strong>n.Wir lernen auch, dass <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>ner Form existiert und je nach se<strong>in</strong>er Form<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wertbildung e<strong>in</strong>e ganz unterschiedliche Rolle spielt.Der kle<strong>in</strong>e UnterschiedWir haben uns M.s Auffassung zu eigen gemacht, im <strong>Kapital</strong> nicht Geld o<strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en o<strong>de</strong>rGrundstücke zu sehen. Wir betrachten es als historisch neues gesellschaftliches Verhältnis, <strong>in</strong><strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Eigentümer von Geld zunächst die Produktionsmittel mitsamt <strong>de</strong>n Produzenten vonsich abhängig macht und die Regie über Produktion und Warenverkauf übernimmt. Im weiterenVerlauf erst erwirbt <strong>de</strong>r Gel<strong>de</strong>igentümer tatsächliches Eigentum an Produktionsmitteln undkomb<strong>in</strong>iert diese mit <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt verfügbaren Arbeitskraft. Wir haben das im vorigenKapitel mit <strong>de</strong>n Begriffen formelle Subsumtion und reelle Subsumtion <strong>de</strong>r Arbeitskraft beschrieben.Natürlich kann je<strong>de</strong>r alles Mögliche als <strong>Kapital</strong> bezeichnen. <strong>Das</strong> darf je<strong>de</strong>r halten wie er will.Deshalb begegnen uns Sätze <strong>de</strong>r Art "Unser größtes <strong>Kapital</strong> ist unser festes Vertrauen <strong>in</strong> Gott"o<strong>de</strong>r: "Die Ausbildung unserer K<strong>in</strong><strong>de</strong>r ist unser <strong>Kapital</strong> für die Zukunft" o<strong>de</strong>r "<strong>Kapital</strong>, Arbeitund Bo<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d die Faktoren je<strong>de</strong>r Produktion".Wer sich auf M.s Analyse e<strong>in</strong>läßt, muß sich <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht je<strong>de</strong>r Luftigkeit enthalten. Nurdann, wenn Geld o<strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en o<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Patente o<strong>de</strong>r Schuldverschreibungen o<strong>de</strong>rSparguthaben o<strong>de</strong>r Aktien...: Nur wenn dieses <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> die oben beschriebenen gesellschaftlichenVerhältnisse e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n ist und sich verwertet und dabei Mehrwert produziert, ist es <strong>Kapital</strong><strong>in</strong> M.s S<strong>in</strong>ne, das er auch als fungieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> bezeichnet.Fungiert das potentielle <strong>Kapital</strong> nicht, so ist es womöglich "totes <strong>Kapital</strong>" (wie M. es bisweilennennt), das aus <strong>de</strong>m Verwertungsrennen ausgeschie<strong>de</strong>n ist. O<strong>de</strong>r es ist <strong>Kapital</strong> im Wartestand,"latentes <strong>Kapital</strong>", das auf Verwertung lauert; alle produzierten, aber noch nicht verkauften Warengehören dazu. Vielleicht ist es aber auch nur ehemaliges <strong>Kapital</strong>, <strong>de</strong>m Verwertungsprozessbewußt entzogen, um als Vermögen konsumiert ("vermöbelt") zu wer<strong>de</strong>n. 211Was be<strong>de</strong>utet <strong>Kapital</strong> als gesellschaftliches Verhältnis?Warum reiten wir als M.s Erben darauf herum, <strong>Kapital</strong> nicht e<strong>in</strong>fach als Sachen o<strong>de</strong>r Faktoren,son<strong>de</strong>rn als historisches gesellschaftliches Verhältnis zu betrachten? 212211M. verwen<strong>de</strong>t dafür die etwas kuriose Formulierung vom <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>en Mehrwert, statt ihn zu verwerten, e<strong>in</strong>fach nur "vermöbelt",soll offenbar be<strong>de</strong>uten: Im persönlichen Konsum Stück für Stück aufbraucht (MEW 23, S. 404, 416, 612).212Im 3. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>", im Kapitel über die sogenannte "tr<strong>in</strong>itarische Formel", äußert sich M. auf direkte Weise zu unserer Frage.Mit <strong>de</strong>r tr<strong>in</strong>itarischen Formel gaben Ökonomen e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Antwort auf die Quellen <strong>de</strong>s Reichtums als M., <strong>in</strong><strong>de</strong>m sie diesen Reichtum alsProdukt dreier Faktoren betrachteten, nämlich <strong>Kapital</strong>, Bo<strong>de</strong>n und Arbeit. M. schreibt dazu:"Sieht man sich nun diese ökonomische Dreie<strong>in</strong>igkeit näher an, so f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man:Erstens, die angeblichen Quellen <strong>de</strong>s jährlich disponiblen Reichtums gehören ganz disparaten Sphären an und haben nicht die ger<strong>in</strong>gsteAnalogie untere<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Sie verhalten sich gegenseitig etwa wie Notariatsgebühren, rote Rüben und Musik.<strong>Kapital</strong>, Bo<strong>de</strong>n, Arbeit! Aber das <strong>Kapital</strong> ist ke<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> bestimmtes, gesellschaftliches, e<strong>in</strong>er bestimmten historischen Gesellschaftsformationangehöriges Produktionsverhältnis, das sich an e<strong>in</strong>em D<strong>in</strong>g darstellt und diesem D<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>en spezifischen gesellschaft-102


Erstens er<strong>in</strong>nern wir uns auf diese Weise immer daran, wie die kapitalistische Produktionsweisezu e<strong>in</strong>er bestimmbaren Zeit entstan<strong>de</strong>n ist. Sie besteht nicht seit ewigen Zeiten! Was aber irgendwannentstan<strong>de</strong>n ist, wird auch irgendwann vergehen. In<strong>de</strong>m wir auf <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>rkapitalistischen Produktionsweise als Gesellschaftsgeschichte beharren, betonen wir gleichzeitigihre Verän<strong>de</strong>rbarkeit und ihre Vergänglichkeit.Zweitens machen wir uns damit klar, dass <strong>Kapital</strong> an e<strong>in</strong>e bestimmte Sozialstruktur und an bestimmteEigentumsverhältnisse gebun<strong>de</strong>n ist. Über <strong>de</strong>n kapitalistischen Produktionsprozess kannman daher zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt wie über e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> technisches Problem sprechen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m es nurdarauf ankomme, die e<strong>in</strong>zelnen "Faktoren <strong>de</strong>r Produktion" optimal mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r zu komb<strong>in</strong>ieren.In<strong>de</strong>m wir drittens die sozialen Voraussetzungen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s betonen, sehen wir, wie es überdie Eigentumsverhältnisse an <strong>pol</strong>itische Machtverhältnisse gebun<strong>de</strong>n ist. Die kapitalistische Produktionsweiseexistiert zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt re<strong>in</strong> ökonomisch. Sie muß sich daher nicht nur immerwie<strong>de</strong>r ökonomisch erneuern, also <strong>in</strong> <strong>de</strong>r erfolgreichen Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s immer wie<strong>de</strong>rbestätigen. <strong>Das</strong> alle<strong>in</strong> ist schon schwierig genug. Sie ist genauso an die soziale und <strong>pol</strong>itischeAufrechterhaltung ihrer Existenzbed<strong>in</strong>gungen geknüpft. 213Noch mal gefragt: Warum ist <strong>Kapital</strong> etwas an<strong>de</strong>res als e<strong>in</strong>e Sache o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> Faktor? <strong>Das</strong> wäredoch die übliche Betrachtungsweise: <strong>Kapital</strong> als e<strong>in</strong>er von vielen Faktoren <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion neben<strong>de</strong>r Arbeit, <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Technik... Aber es ist nicht die bloße Existenz, die Geld o<strong>de</strong>rMasch<strong>in</strong>en zu <strong>Kapital</strong> macht. Soweit wür<strong>de</strong>n vermutlich alle zustimmen. Ob Geld o<strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>enals <strong>Kapital</strong> "arbeiten" ergibt sich aus ihrem speziellen E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion, nämlich unter<strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>r als Eigentümer <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en und <strong>de</strong>r angewen<strong>de</strong>tenArbeitskraft auch so etwas wie e<strong>in</strong>en natürlichen Anspruch auf alle mit se<strong>in</strong>em Eigentumerzeugten Produkte erhebt. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Stichwort "Eigentumsfrage" bekannteKnackpunkt.So weit, so gut. Aber reicht das aus? Mag das <strong>Kapital</strong> auch e<strong>in</strong> gesellschaftliches Verhältnis se<strong>in</strong>,so existiert es doch wirklich <strong>in</strong> Form von Masch<strong>in</strong>en, Rohstoffen, fertigen Waren, Geld und natürlich<strong>in</strong> Gestalt lebendiger Arbeitskraft. Ke<strong>in</strong>e Frage: Wenn wir von <strong>Kapital</strong> sprechen, habenwir se<strong>in</strong>e stoffliche Form genauso zu beachten wie se<strong>in</strong>e Existenz als gesellschaftliches Verhältnis.Geld alle<strong>in</strong> schafft ke<strong>in</strong>en Wert. <strong>Das</strong> Geld muß <strong>in</strong> Rohstoffe und Masch<strong>in</strong>en umgesetzt undlichen Charakter gibt. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> ist nicht die Summe <strong>de</strong>r materiellen und produzierten Produktionsmittel. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>, das s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong><strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>lten Produktionsmittel, die an sich so wenig <strong>Kapital</strong> s<strong>in</strong>d, wie Gold o<strong>de</strong>r Silber an sich Geld ist. Es s<strong>in</strong>d die von e<strong>in</strong>embestimmten <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft mono<strong>pol</strong>isierten Produktionsmittel, die <strong>de</strong>r lebendigen Arbeitskraft gegenüber verselbständigten Produkteund Betätigungsbed<strong>in</strong>gungen eben dieser Arbeitskraft, die durch diesen Gegensatz im <strong>Kapital</strong> personifiziert wer<strong>de</strong>n." (MEW 25, S.822f)An an<strong>de</strong>rer Stelle wenig später:"Wir haben gesehn, daß <strong>de</strong>r kapitalistische Produktionsprozeß e<strong>in</strong>e geschichtlich bestimmte Form <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Produktionsprozessesüberhaupt ist. Dieser letztere ist sowohl Produktionsprozeß <strong>de</strong>r materiellen Existenzbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s menschlichen Lebens wie e<strong>in</strong><strong>in</strong> spezifischen, historisch-ökonomischen Produktionsverhältnissen vor sich gehen<strong>de</strong>r, diese Produktionsverhältnisse selbst und damit dieTräger dieses Prozesses, ihre materiellen Existenzbed<strong>in</strong>gungen und ihre gegenseitigen Verhältnisse, d.h. ihre bestimmte ökonomische Gesellschaftsformproduzieren<strong>de</strong>r und reproduzieren<strong>de</strong>r Prozeß. Denn das Ganze dieser Beziehungen, wor<strong>in</strong> sich die Träger dieser Produktionzur Natur und zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wor<strong>in</strong> sie produzieren, dies Ganze ist eben die Gesellschaft, nach ihrer ökonomischen Struktur betrachtet.Wie alle se<strong>in</strong>e Vorgänger, geht <strong>de</strong>r kapitalistische Produktionsprozeß unter bestimmten materiellen Bed<strong>in</strong>gungen vor sich, dieaber zugleich Träger bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse s<strong>in</strong>d, welche die Individuen im Prozeß ihrer Lebensreproduktion e<strong>in</strong>gehn.Jene Bed<strong>in</strong>gungen, wie diese Verhältnisse, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>erseits Voraussetzungen, andrerseits Resultate und Schöpfungen <strong>de</strong>s kapitalistischenProduktionsprozesses; sie wer<strong>de</strong>n von ihm produziert und reproduziert." (MEW 25, S.826f)213<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>verhältnis muß sich nicht nur ökonomisch, son<strong>de</strong>rn auch sozial beständig wie<strong>de</strong>rherstellen, o<strong>de</strong>r, wie M. das nennt, reproduzieren.Der Reproduktionsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>m wir später begegnen, ist daher nicht nur wertmäßiger und stofflicher Reproduktionsprozess,son<strong>de</strong>rn immer auch Reproduktion <strong>de</strong>r sozialen und <strong>pol</strong>itischen Verhältnisse.103


zum Kauf von Arbeitskraft verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, die als e<strong>in</strong>ziger "Faktor" alle Rohstoffe und Masch<strong>in</strong>en<strong>in</strong> produktive Bewegung zu setzen vermag.Arbeitsprozess und VerwertungsprozessDie stoffliche Form <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und se<strong>in</strong>e Existenz als gesellschaftliches Verhältnis gehören zusammen."Geld" kann nur zu <strong>Kapital</strong> wer<strong>de</strong>n, <strong>in</strong><strong>de</strong>m es die toten und lebendigen Bestandteile<strong>de</strong>s Arbeitsprozesses bereitstellt und <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>verhältnis unterstellt. Erst das macht seit <strong>de</strong>rMitte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts aus <strong>de</strong>n spätfeudalen Gesellschaften re<strong>in</strong> bürgerliche ("kapitalistische")Gesellschaften. O<strong>de</strong>r um es mit M.s Worten zu wie<strong>de</strong>rholen: Macht aus ihnen Gesellschaften,<strong>in</strong> <strong>de</strong>nen kapitalistische Produktionsweise herrscht.Die Entstehung <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaften ist e<strong>in</strong> langer historischer Prozess, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>ne<strong>in</strong>zelnen Län<strong>de</strong>rn nicht nur <strong>in</strong> unterschiedlicher Form, son<strong>de</strong>rn auch zu unterschiedlichen Zeitenstattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t und <strong>in</strong> vielen Län<strong>de</strong>rn erst zu unserer Lebenszeit <strong>in</strong> Gang gekommen ist.Es ist <strong>de</strong>r Prozess, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die entstehen<strong>de</strong> Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten aus <strong>de</strong>n versprengten Restenfrüherer Klassen, aus überflüssig gewor<strong>de</strong>nen Handwerkern, landlos gemachten Bauern, ausländlichen und städtischen Tagelöhnern, Bettlern und Vagabun<strong>de</strong>n, e<strong>in</strong>e neue Klasse erzeugt,die sich ihren Lebensunterhalt als frei verfügbare Arbeitskräfte im nunmehr kapitalistischen Produktionsprozessdurch Lohn erwirbt.Wir haben <strong>de</strong>n Übergang zum Fabriksystem als reelle Subsumtion <strong>de</strong>r Arbeitskraft kennengelernt.E<strong>in</strong> System, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die enge Verb<strong>in</strong>dung von Masch<strong>in</strong>erie und Arbeitskraft e<strong>in</strong>e neue Form<strong>de</strong>s Arbeitsprozesses schafft, getrieben durch das Interesse <strong>de</strong>s Regie führen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s am G'.Mit M. nennen wir das jetzt <strong>de</strong>n kapitalistischen Produktionsprozess.Seit wir uns mit <strong>de</strong>r Ware beschäftigt und zum e<strong>in</strong>en Gebrauchswert und konkrete Arbeit, zuman<strong>de</strong>rn Tauschwert und abstrakte Arbeit als Merkmale <strong>de</strong>r Warenproduktion herausstellten, s<strong>in</strong>dwir um e<strong>in</strong>iges voran gekommen. Jetzt wie<strong>de</strong>rholt sich die frühere Trennung <strong>de</strong>r Perspektive aufneue Weise, <strong>in</strong><strong>de</strong>m wir <strong>de</strong>n kapitalistischen Produktionsprozess als Arbeitsprozess, als Wertbildungsprozessund als Verwertungsprozess betrachten.Mit <strong>de</strong>r Betrachtung als Arbeitsprozess betonen wir am Produktionsprozess die durch das <strong>Kapital</strong>organisierte konkrete Arbeit, die verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> E<strong>in</strong>wirkung auf <strong>de</strong>n Naturstoff, an <strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong>e<strong>in</strong> Gebrauchswert steht. Aber was für unsere frühere Warenanalyse genügte, reicht jetzt nichtmehr aus. 214 Der Arbeitsprozess unterschei<strong>de</strong>t sich von <strong>de</strong>r konkreten Arbeit auch nicht nur214"Der Arbeitsprozeß, wie wir ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellungvon Gebrauchswerten, Aneignung <strong>de</strong>s Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgeme<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s Stoffwechsels zwischenMensch und Natur, ewige Naturbed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s menschlichen Lebens und daher unabhängig von je<strong>de</strong>r Form dieses Lebens, vielmehrallen se<strong>in</strong>en Gesellschaftsformen gleich geme<strong>in</strong>sam. Wir hatten daher nicht nötig, <strong>de</strong>n Arbeiter im Verhältnis zu andren Arbeitern darzustellen.Der Mensch und se<strong>in</strong>e Arbeit auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en, die Natur und ihre Stoffe auf <strong>de</strong>r andren Seite genügten. So wenig man <strong>de</strong>m Weizenanschmeckt, wer ihn gebaut hat, so wenig sieht man diesem Prozeß an, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen er vorgeht, ob unter <strong>de</strong>r brutalenPeitsche <strong>de</strong>s Sklavenaufsehers o<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m ängstlichen Auge <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten, ob C<strong>in</strong>c<strong>in</strong>natus ihn verrichtet <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bestellung se<strong>in</strong>erpaar jugera (= Morgen) o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wil<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r mit e<strong>in</strong>em Ste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Bestie erlegt." (MEW 23, S.198f)C<strong>in</strong>c<strong>in</strong>natus war e<strong>in</strong> Musterrepublikaner <strong>de</strong>s antiken Rom, <strong>de</strong>m zweimal die Alle<strong>in</strong>herrschaft zur Abwehr äußerer Gefahren übertragenwur<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r <strong>in</strong> bei<strong>de</strong>n Fällen, nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Job erledigt hatte, als Alle<strong>in</strong>herrscher abtrat, um eigenhändig se<strong>in</strong>e Landwirtschaft zubetreiben. Also: Ob Sklavenarbeit unter <strong>de</strong>r Peitsche, Lohnarbeit <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Fabrik, ob republikanisches Idol o<strong>de</strong>r Ure<strong>in</strong>wohner. Der Arbeitsprozessist so etwas wie "ewige Naurbed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s menschlichen Lebens". <strong>Das</strong> Produkt selbst: Weizen, Fleisch, Tontopf... trägt zunächst nurdie Signatur <strong>de</strong>r konkreten Arbeit, nicht die Signatur <strong>de</strong>r Produktionsverhältnisse. Aber eben nur dann, wenn wir <strong>de</strong>n Arbeitsprozess <strong>in</strong>"se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen und abstrakten Momenten" darstellen. <strong>Das</strong> darf aber nur <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>stieg se<strong>in</strong>. Es sollte schon klar gewor<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>, dass M.an ewigen Wahrheiten nicht <strong>in</strong>teressiert ist, auch wenn er damit gerne die Ausgangspunkte se<strong>in</strong>er Analyse fixiert. Der Übergang zu <strong>de</strong>nkonkreten Wahrheiten ist se<strong>in</strong> Metier. Und so wer<strong>de</strong>n wir sehen, dass <strong>de</strong>r Übergang zum kapitalistischen Arbeitsprozess auch an <strong>de</strong>n Gebrauchswertenke<strong>in</strong>eswegs spurlos vorüber geht.104


durch die fortdauern<strong>de</strong> Anwendung. Unter <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>regie wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> diesem mo<strong>de</strong>rnen Arbeitsprozessbeliebig komplexe Arbeitsmittel und beliebig viele <strong>Teil</strong>arbeiter verknüpft. Mit alleneigentümlichen Konsequenzen:"Der Arbeitsprozeß ist e<strong>in</strong> Prozeß zwischen D<strong>in</strong>gen, die <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist gekauft hat, zwischen ihmgehörigen D<strong>in</strong>gen. <strong>Das</strong> Produkt dieses Prozesses gehört ihm daher ganz ebensosehr als das Produkt<strong>de</strong>s Gärungsprozesses <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em We<strong>in</strong>keller." 215Schluß mit <strong>de</strong>r Handwerks- und je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Idylle. Wir lösen uns endgültig von <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>llvorstellung,wonach sich e<strong>in</strong>zelne private Produzenten, die nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r handwerkeln, am Marktbegegnen und fertige Produkte austauschen. Wir erleben, wie die konkrete Arbeit immer mehrArbeitskräfte technologisch zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen komplexen Arbeitsprozess verb<strong>in</strong><strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r selbstan<strong>de</strong>re Arbeitsprozesse zur Voraussetzung hat o<strong>de</strong>r Voraussetzung für nachfolgen<strong>de</strong> Arbeitsprozesseunter an<strong>de</strong>rer <strong>Kapital</strong>regie ist.Mit <strong>de</strong>r Betrachtung als Wertbildungsprozess geht es, wie bei je<strong>de</strong>r Warenproduktion, um dieProduktion tauschbarer, verkäuflicher Waren. "Als E<strong>in</strong>heit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeßist <strong>de</strong>r Produktionsprozeß Produktionsprozeß von Waren" schreibt M. Aber die Bildungvon Wert ist jetzt um e<strong>in</strong>iges komplexer. Die enge Verzahnung <strong>de</strong>r Arbeitsprozesse wirft neueFragen zur Wertbildung auf: Wie wird <strong>de</strong>r Wert e<strong>in</strong>es Produkts, das <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Arbeitsprozess e<strong>in</strong>esan<strong>de</strong>ren Produkts e<strong>in</strong>geht, auf dieses Produkt übertragen?Zwischenfrage 45: Spielt <strong>de</strong>nn das allgeme<strong>in</strong>-menschliche, spielen menschliche Grun<strong>de</strong>igenschaften garke<strong>in</strong>e Rolle? (S.277)Aber we<strong>de</strong>r Arbeitsprozess noch Wertbildungsprozess machen für sich o<strong>de</strong>r zusammen betrachtetdie Spezifik <strong>de</strong>s kapitalistischen Produktionsprozesses aus. M. setzt das vorige Zitat über <strong>de</strong>nProduktionsprozess mit <strong>de</strong>n Worten fort: "...als E<strong>in</strong>heit von Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeßist er kapitalistischer Produktionsprozeß, kapitalistische Form <strong>de</strong>r Warenproduktion." 216 Wirsehen, dass wir mit M. immer nach <strong>de</strong>r konkreten Form fragen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r etwas stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Tatsächlichgeht es eben nicht um das Allgeme<strong>in</strong>e, son<strong>de</strong>rn um jene Merkmale, die sich historischwan<strong>de</strong>ln und nur zeitweilig bestimmen. Es geht uns nicht um das Ewige <strong>de</strong>r Warenproduktion,son<strong>de</strong>rn um se<strong>in</strong>e kapitalistische und damit auch historisch vergängliche Form.In dieser Form ist die Warenproduktion als Arbeitsprozess unter <strong>Kapital</strong>regie immer Verwertungsprozess.<strong>Das</strong> schafft ohne Zweifel Probleme. Schon zu M.s Zeiten waren diese Arbeits-Noch e<strong>in</strong>mal zurück zum Zitat. Der Wil<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r mit e<strong>in</strong>em Ste<strong>in</strong> das Wild erlegt, wird von M. am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zitats nur zu <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zigen Zweckbemüht, um e<strong>in</strong>en Witz samt Kalauer über die Rampe zu br<strong>in</strong>gen. Er fügt nämlich se<strong>in</strong>er Bemerkung zum Arbeitsprozess "<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachenund abstrakten Momenten" die Fußnote h<strong>in</strong>zu: "Aus diesem höchst logischen Grund ent<strong>de</strong>ckt wohl Oberst Torrens*) <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Ste<strong>in</strong><strong>de</strong>s Wil<strong>de</strong>n – <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s." Und er zitierte besagten Oberst mit <strong>de</strong>n Worten: "In <strong>de</strong>m ersten Ste<strong>in</strong>, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wil<strong>de</strong> auf dieBestie wirft, die er verfolgt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m ersten Stock, <strong>de</strong>n er ergreift, um die Frucht nie<strong>de</strong>rzuziehn, die er nicht mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n fassen kann,sehn wir die Aneignung e<strong>in</strong>es Artikels zum Zweck <strong>de</strong>r Erwerbung e<strong>in</strong>es andren und ent<strong>de</strong>cken so – <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s." <strong>Das</strong> ist fürM. natürlich starker Tobak, und er schließt die Fußnote mit <strong>de</strong>r galligen Anmerkung: "Aus jenem ersten Stock ist wahrsche<strong>in</strong>lich auch zuerklären, warum stock im Englischen synonym mit <strong>Kapital</strong> ist." (MEW 23, S.199, Fußnote)*) Robert Torrens (1780-1864), britischer Offizier (daher <strong>de</strong>r "Oberst"), <strong>de</strong>r mit zahlreichen ökonomische Schriften an <strong>de</strong>r wirtschaft<strong>pol</strong>itischenDebatte teilnahm, meist zugunsten <strong>de</strong>r agrarkapitalistischen Fraktion.215MEW 23, S.200. <strong>Das</strong> ist wie<strong>de</strong>r die "Eigentumsfrage", die eben gar ke<strong>in</strong>e juristische Frage ist, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsverhältnissenwurzelt. Juristisch wird das Eigentum am <strong>Kapital</strong> und an <strong>de</strong>n Produkten <strong>de</strong>r per Lohn gekauften Arbeitskraft im Bürgerlichen Gesetzbucho<strong>de</strong>r im Han<strong>de</strong>lsgesetzbuch o<strong>de</strong>r im Wertpapierhan<strong>de</strong>lsgesetz, <strong>in</strong> hun<strong>de</strong>rten von Gesetzestexten und Verordnungen abgesichert, aber eshatte sich bereits etabliert, als von all diesen Gesetzen noch gar nichts zu sehen war.216"Man sieht: <strong>de</strong>r früher aus <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Ware gewonnene Unterschied zwischen <strong>de</strong>r Arbeit, soweit sie Gebrauchswert, und <strong>de</strong>rselbenArbeit, soweit sie Wert schafft, hat sich jetzt als Unterscheidung <strong>de</strong>r verschiednen Seiten <strong>de</strong>s Produktionsprozesses dargestellt. AlsE<strong>in</strong>heit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß ist <strong>de</strong>r Produktionsprozeß Produktionsprozeß von Waren; als E<strong>in</strong>heit von Arbeitsprozeßund Verwertungsprozeß ist er kapitalistischer Produktionsprozeß, kapitalistische Form <strong>de</strong>r Warenproduktion." (MEW 23, S.211)105


Verwertungs-Wertbildungsprozesse, kurz: die kapitalistischen Produktionsprozesse eng vernetzt.Daher spricht er vom gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion 217 , die nichtauf e<strong>in</strong>en Staat o<strong>de</strong>r Kont<strong>in</strong>ent beschränkt bleibt, son<strong>de</strong>rn schon zu M.s Zeiten damit begann,sich die ganze Welt als Werkstatt e<strong>in</strong>zurichten.Und diese objektiv zusammenhängen<strong>de</strong>, praktisch weltumspannen<strong>de</strong> Produktion wird gleichzeitigdurch die Regie <strong>de</strong>r vielen beteiligten <strong>Kapital</strong>isten <strong>in</strong> ebensoviele private, vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abgetrennte,mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r konkurrieren<strong>de</strong> und aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r angewiesene Produktionsprozesse geglie<strong>de</strong>rt,von <strong>de</strong>nen sich je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne erstens als Arbeitsprozess und zweitens als Verwertungsprozessimmer aufs Neue bewähren muß.Als Arbeitsprozesse bleibt die Erzeugung von Gebrauchswerten (notgedrungen) verb<strong>in</strong>dliche Geschäftsgrundlageauch für <strong>de</strong>n kapitalistischen Produktionsprozess. Denn wo es für das erzeugteProdukt am En<strong>de</strong> ke<strong>in</strong>e zahlungsfähige Nachfrage gibt, hat auch <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist se<strong>in</strong> Recht verwirkt.<strong>Das</strong> Bewährungskriterium ist aber nicht <strong>de</strong>r erzeugte Gebrauchswert, nicht e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong> erfolgreicherVerkauf. Bewährt hat sich <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne Produktionsprozess erst mit erfolgreicherVerwertung, mit h<strong>in</strong>reichen<strong>de</strong>r Vermehrung <strong>de</strong>s Werts.Die erfolgreiche Verwertung ist für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten notgedrungen das Ziel all se<strong>in</strong>er Bemühungen.Er mag tolle Produkte herstellen. Er mag <strong>in</strong>novativ se<strong>in</strong> wie ke<strong>in</strong>er sonst. Er mag für se<strong>in</strong>eMitarbeiter das letzte Hemd opfern. Alles nützt ihm nichts, wenn er mit <strong>de</strong>m Verkauf se<strong>in</strong>er Produkteh<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>r Verwertung zurückbleibt, die für die Sicherung <strong>de</strong>r Position am Markt erfor<strong>de</strong>rlichist. Deshalb ist <strong>de</strong>r Verwertungszwang für uns das zentrale Merkmal <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise. Und dabei geht es um wesentlich mehr als um e<strong>in</strong>fache Rentabilität. Es genügtnicht, dass <strong>de</strong>r Produktionsprozess mehr here<strong>in</strong>holt als h<strong>in</strong>ausgeht. Was h<strong>in</strong>reichen<strong>de</strong> Verwertungist, wird durch eigene Regeln im System festgelegt, mit <strong>de</strong>nen wir uns später genauerbeschäftigen.WertbildungsprozessAls wir die Ware als Elementarform <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums analysierten, genügte unsdie allgeme<strong>in</strong>e Wertbestimmung. Es reichte zunächst aus, <strong>de</strong>n Warenwert über das <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Warevergegenständlichte Quantum an gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit zu bestimmen. Wirabstrahierten für diese "e<strong>in</strong>fache Warenproduktion" von allem an<strong>de</strong>ren: Von <strong>de</strong>n verwen<strong>de</strong>tenArbeitsmitteln, Rohstoffen, von <strong>de</strong>n Kosten für Hilfskräfte, Werkstatt, Zunftabgaben usw. Wirabstrahierten von <strong>de</strong>r Wertschöpfung, die auch mittelalterliche Handwerker, trotz enger Zunftgrenzen,reicher machte.Warum sprechen wir jetzt nicht mehr bloß vom Wert son<strong>de</strong>rn vom Wertbildungsprozess? Weilwir uns mit e<strong>in</strong>em Arbeitsprozess befassen, <strong>de</strong>r mit zahlreichen an<strong>de</strong>ren Arbeitsprozessen verwobenist. Die Produkte <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en wer<strong>de</strong>n zum Arbeitsmittel o<strong>de</strong>r zum Rohstoff <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>renArbeitsprozesses. <strong>Das</strong> Produkt <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en wird sogar zur Voraussetzung <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Prozesses.217Der gesellschaftliche Charakter <strong>de</strong>r Produktion drückt sich auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Produktionsbed<strong>in</strong>gungenaus. <strong>Das</strong> ist M.s Bezeichnung für das, was <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bürgerlichen Ökonomie lange Zeit als "Infrastruktur", heute häufiger als "Standortfaktoren"bezeichnet wird. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d jene Elemente <strong>de</strong>r Produktion, die von vielen Produktionsprozessen geme<strong>in</strong>sam genutzt wer<strong>de</strong>n:"Im weitren S<strong>in</strong>n zählt <strong>de</strong>r Arbeitsprozeß unter se<strong>in</strong>e Mittel außer <strong>de</strong>n D<strong>in</strong>gen, welche die Wirkung <strong>de</strong>r Arbeit auf ihren Gegenstand vermittelnund daher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r andren Weise als Leiter <strong>de</strong>r Tätigkeit dienen, alle gegenständlichen Bed<strong>in</strong>gungen, die überhaupt erheischts<strong>in</strong>d, damit <strong>de</strong>r Prozeß stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>. Sie gehn nicht direkt <strong>in</strong> ihn e<strong>in</strong>, aber er kann ohne sie gar nicht o<strong>de</strong>r nur unvollkommen vorgehn.<strong>Das</strong> allgeme<strong>in</strong>e Arbeitsmittel dieser Art ist wie<strong>de</strong>r die Er<strong>de</strong> selbst, <strong>de</strong>nn sie gibt <strong>de</strong>m Arbeiter <strong>de</strong>n locus standi und se<strong>in</strong>em Prozeß <strong>de</strong>n Wirkungsraum(field of employment). Durch die Arbeit schon vermittelte Arbeitsmittel dieser Art s<strong>in</strong>d z.B. Arbeitsgebäu<strong>de</strong>, Kanäle, Straßenusw." (MEW 23, S.195)106


Die Waren wer<strong>de</strong>n nicht e<strong>in</strong>fach hergestellt, son<strong>de</strong>rn wechseln <strong>in</strong> an<strong>de</strong>re Arbeitsprozesse über.Was passiert <strong>in</strong> dieser beliebig engen Verknüpfung beliebig vieler Arbeitsprozesse mit <strong>de</strong>m Wertund mit <strong>de</strong>m Mehrwert?Die bereits beantwortete Frage nach <strong>de</strong>r Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts wird jetzt neu gestellt. Aberwenn wir die Frage nach <strong>de</strong>m Strich am G' stellen, dürfen wir das G selbst nicht vergessen. Wirhaben genauer zu prüfen, wie sich die Werte <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Arbeitsprozess e<strong>in</strong>gespeisten Waren(Arbeitskraft, Masch<strong>in</strong>en, Rohstoffe, Energie usw.) erhalten und auf neue Produkte übertragen.Genauer gefragt: Wie bil<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Wert e<strong>in</strong>er Ware im vernetzten kapitalistischen Produktionsprozess,<strong>de</strong>n wir oben als E<strong>in</strong>heit von Arbeitsprozess und Verwertungsprozess bezeichneten?Ist die stoffliche Form <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, ab Masch<strong>in</strong>e, Rohstoff, Energie, Arbeitskraft usw., für diesenProzess e<strong>in</strong>erlei? Wie läßt sich <strong>in</strong> diesem Prozess <strong>de</strong>r Mehrwert vom Wert <strong>de</strong>r produzierten Warentrennen? Zur Beantwortung müssen wir für <strong>de</strong>n Produktionsprozess, <strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren Produktionsprozessenvernetzt ist, ebenfalls die Wertbildung als Prozess darstellen. In diesem Prozesswertbil<strong>de</strong>t aber nicht mehr <strong>de</strong>r private Produzent unseres Mo<strong>de</strong>lls <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er undurchsichtigenschwarzen Kiste: Für <strong>de</strong>n kapitalistischen Produktionsprozess müssen wir die Blackbox,die uns zur Wertanalyse <strong>de</strong>r Ware noch genügte, weit öffnen.Wir sehen jetzt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n vernetzten Produktionsprozess h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Geld und Masch<strong>in</strong>en undRohstoffe und an<strong>de</strong>re Waren und e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichen<strong>de</strong> Menge an Arbeitskraft zweckmäßig komb<strong>in</strong>iertwer<strong>de</strong>n. Und wir fragen uns, welche Rolle die stoffliche Form <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>gesetzten <strong>Kapital</strong>s fürdie Wertbildung spielt. Diese Frage ist ke<strong>in</strong>eswegs willkürlich. Wir wissen schließlich, dass die lebendigeArbeitskraft <strong>in</strong> diesem Prozess e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Rolle spielt. Und wir wissen ebenfalls,dass die zunehmen<strong>de</strong> Technisierung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses e<strong>in</strong>e wesentliche Triebkraft für se<strong>in</strong>eFormwandlung zum kapitalistischen Produktionsprozess gewesen ist. Da ist es nur konsequentzu fragen, wie sich diese Elemente <strong>de</strong>r Produktion im Verwertungsprozess bewähren.<strong>Kapital</strong> ist nicht gleich <strong>Kapital</strong>Alle <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsprozess e<strong>in</strong>gehen<strong>de</strong>n Waren, ob Masch<strong>in</strong>en, Rohstoffe o<strong>de</strong>r Arbeitskraft,übertragen ihren Wert auf die neu geschaffenen Produkte. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>fache Anwendung <strong>de</strong>sWertgesetzes. Was sonst? Aber diese Antwort, die über lange Zeit stillschweigen<strong>de</strong> Voraussetzungunserer Wertanalyse war, genügt jetzt nicht mehr.Den Wert aller Waren, die <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>n eigenen Produktionsprozess e<strong>in</strong>speist, hat er alsPreis am Markt zu zahlen. 218 Mit <strong>de</strong>r produktiven Anwendung von gekauften Waren (Arbeitskraft,Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffen) entstehen neue Produkte. Dar<strong>in</strong> gehen anteilig die Werte <strong>de</strong>rim Produktionsprozess verbrauchten Rohstoffe und Masch<strong>in</strong>en und <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r angewen<strong>de</strong>ten218Wir könnten an dieser Stelle unsere frühere Diskussion wie<strong>de</strong>r aufnehmen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r es um <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s Mehrwerts g<strong>in</strong>g. Da sich für<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten die Wertbildung nur als Kostenrechnung darstellt und die am Markt zu zahlen<strong>de</strong>n Preise schwanken, hat je<strong>de</strong>r<strong>Kapital</strong>ist die Möglichkeit, günstiger o<strong>de</strong>r teurer e<strong>in</strong>zukaufen. Dementsprechend kann er kostengünstiger o<strong>de</strong>r ungünstiger produzieren.Gegenüber se<strong>in</strong>en Konkurrenten br<strong>in</strong>gt ihn das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bessere o<strong>de</strong>r schlechtere Position. <strong>Das</strong> alles än<strong>de</strong>rt aber nichts an <strong>de</strong>r Wertbildungund schon gar nichts an <strong>de</strong>r Mehrwertquelle. Lug und Betrug und Gerissenheit verschafft <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en <strong>Kapital</strong>isten vielleicht zeitweilige Vorteile<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz. Aber wie lange? Wir kommen wie<strong>de</strong>r auf unser bekanntes Resultat: Geschicklichkeit ist von Vorteil. Sie kann, wiewir später sagen wer<strong>de</strong>n, die Profitrate erhöhen, ist aber nicht die Quelle von Wert und schon gar nicht von Mehrwert.Müßten die <strong>Kapital</strong>isten tatsächlich, wie oft behauptet, ihre Gew<strong>in</strong>ne durch Gerissenheit und Cleverness erzeugen, gäbe es ke<strong>in</strong>e mehr.Die Konkurrenz hätte solche zufälligen Gew<strong>in</strong>nquellen längst abgesperrt und alle <strong>Kapital</strong>isten hätten entnervt das Handtuch geworfen undgerufen: "Produktion ohne Gew<strong>in</strong>n? Ne<strong>in</strong> danke." Glücklicherweise (für die <strong>Kapital</strong>isten) liegt ihren Gew<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e ganz an<strong>de</strong>re Quellezugrun<strong>de</strong>, die sogar dann spru<strong>de</strong>lt, wenn es mit <strong>de</strong>r unternehmerischen Cleverness e<strong>in</strong> wenig hapert. An<strong>de</strong>rs verhält es sich mit <strong>de</strong>m, wasaus <strong>de</strong>r Cleverness, aus Kostene<strong>in</strong>sparungen, aus Lohndrückerei o<strong>de</strong>r neuen Erf<strong>in</strong>dungen an Extraprofit erwächst. <strong>Das</strong> wird, wie wir nochsehen wer<strong>de</strong>n, zu e<strong>in</strong>er mächtigen existenzsichern<strong>de</strong>n Triebkraft vor allem für die kapitalistische Produktionsweise unserer Zeit.107


Arbeitskraft e<strong>in</strong>. Mit <strong>de</strong>m Verkauf se<strong>in</strong>er Produkte realisiert <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist nicht nur <strong>de</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emProduktionsprozess geschaffenen, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsprozess e<strong>in</strong>gespeisten(und von ihm zuvor bezahlten) Wert. <strong>Das</strong> ist das m<strong>in</strong><strong>de</strong>ste. Doch weil jene ebenfalls als Waree<strong>in</strong>gespeiste Arbeitskraft die wun<strong>de</strong>rbare Eigenschaft besitzt, Wert über ihren eigenen Wert h<strong>in</strong>auszu schaffen, ist unserem <strong>Kapital</strong>isten bei dieser Konfiguration auch e<strong>in</strong> Mehrwert so gut wiesicher. 219Zwischenfrage 46: Warum treten Naturelemente (Wasser, Luft) zunächst nicht als Wertbildner auf? Unterwelchen Voraussetzungen gehen auch die Naturstoffe <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wertbildungsprozess e<strong>in</strong>? (S.279)Genauer: Im Arbeitsprozess setzt die lebendige Arbeitskraft die Masch<strong>in</strong>erie und die Rohstoffe <strong>in</strong>Bewegung. Gehen dabei aber alle <strong>in</strong> diesen Arbeitsprozess e<strong>in</strong>gespeisten Werte <strong>in</strong> die neuenProdukte über? Offensichtlich nicht, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st nicht auf e<strong>in</strong>en Schlag. Was je<strong>de</strong>r Unternehmerper Kostenrechung und Abschreibung zu trennen weiß, müssen wir ebenfalls für die Wertbildungbeachten. Freilich geht es uns nicht um die Kostenrechnung, son<strong>de</strong>rn um die unterschiedlichenRollen, die das <strong>Kapital</strong>, abhängig von se<strong>in</strong>er stofflichen Form, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verwertung spielt.M. schreibt dazu:"<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Masch<strong>in</strong>e sei z.B. 1000 Pfd. St. wert und schleiße sich <strong>in</strong> 1000 Tagen ab. In diesem Fallgeht täglich 1/1000 <strong>de</strong>s Werts <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>e von ihr selbst auf ihr tägliches Produkt über. Zugleich,wenn auch mit abnehmen<strong>de</strong>r Lebenskraft, wirkt stets die Gesamtmasch<strong>in</strong>e im Arbeitsprozeß.Es zeigt sich also, daß e<strong>in</strong> Faktor <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, e<strong>in</strong> Produktionsmittel, ganz <strong>in</strong><strong>de</strong>n Arbeitsprozeß, aber nur zum <strong>Teil</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verwertungsprozeß e<strong>in</strong>geht." 220Wenn wir <strong>de</strong>n Arbeitsprozess unter <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Wertbildung betrachten, gehen e<strong>in</strong>zelneWerte vollständig, an<strong>de</strong>re nur teilweise auf das neue Produkt über, obwohl immer die gesamtestoffliche Masch<strong>in</strong>erie <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses <strong>in</strong> Bewegung ist. Um diese Tatsache begrifflich zufassen, kommt M. zur oft zitierten Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>m konstanten und <strong>de</strong>m variablen<strong>Kapital</strong> und zwischen <strong>de</strong>m fixen (fixierten) und <strong>de</strong>m zirkulieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>. Diese Unterschie<strong>de</strong>,so harmlos sie uns begegnen, wer<strong>de</strong>n zu sehr gravieren<strong>de</strong>n Schlußfolgerungen führen.Konstantes <strong>Kapital</strong> und variables <strong>Kapital</strong>Die Werttheorie führt M. zu <strong>de</strong>r Feststellung, dass im Wertbildungsprozess durch <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>rArbeitskraft sowohl die Werte <strong>de</strong>r dabei verbrauchten "toten Elemente" und <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraftan das neue Produkt übergeben wer<strong>de</strong>n, dass aber auch neuer Wert entsteht: "Durchdas bloß quantitative Zusetzen von Arbeit wird neuer Wert zugesetzt, durch die Qualität <strong>de</strong>r zugesetztenArbeit wer<strong>de</strong>n die alten Werte <strong>de</strong>r Produktionsmittel im Produkt erhalten." 221219"Und unsrem <strong>Kapital</strong>isten han<strong>de</strong>lt es sich um zweierlei. Erstens will er e<strong>in</strong>en Gebrauchswert produzieren, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Tauschwert hat,e<strong>in</strong>en zum Verkauf bestimmten Artikel, e<strong>in</strong>e Ware. Und zweitens will er e<strong>in</strong>e Ware produzieren, <strong>de</strong>ren Wert höher als die Wertsumme <strong>de</strong>rzu ihrer Produktion erheischten Waren, <strong>de</strong>r Produktionsmittel und <strong>de</strong>r Arbeitskraft, für die er se<strong>in</strong> gutes Geld auf <strong>de</strong>m Warenmarkt vorschoß.Er will nicht nur e<strong>in</strong>en Gebrauchswert produzieren, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e Ware, nicht nur Gebrauchswert, son<strong>de</strong>rn Wert, und nicht nurWert, son<strong>de</strong>rn auch Mehrwert." (MEW 23, S.201)220MEW 23, S.219. Je<strong>de</strong>r Unternehmer kennt diesen Zusammenhang und kalkuliert die Lebensdauer se<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>en über die Abschreibungen,für die es sogar verschie<strong>de</strong>ne Mo<strong>de</strong>lle gibt. Wo die Gefahr e<strong>in</strong>es hohen "moralischen Verschleißes" besteht, wo also Masch<strong>in</strong>endurch raschen technischen Fortschritt bei scharfer Konkurrenz schon vor ihrem physischen Verbrauch durch neue Masch<strong>in</strong>en ersetzt wer<strong>de</strong>nmüssen, wird <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>enwert nicht gleichmäßig, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ersten Jahren verstärkt abgeschrieben, um die Gefahr schnellerEntwertung <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en <strong>in</strong> die Kostenrechnug aufzunehmen. Möglicherweise wird sich <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist gegen solche Wertrevolutionen,wie M. sie nennt, sogar versichern.221MEW 23, S.215f108


Warum müssen wir diese zwei Seiten <strong>de</strong>r Wertbildung unterschei<strong>de</strong>n und warum haben wir dasvorher nicht getan? Die letzte Frage zuerst: Als wir die Wertbildung <strong>de</strong>r Ware analysierten, habenwir e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen Arbeitsprozess mit Anfangs- und Endpunkt angenommen und habennur <strong>de</strong>n Endpunkt, die Ware, betrachtet. Was davor lag, war uns e<strong>in</strong>erlei. Jetzt untersuchenwir <strong>de</strong>n Arbeitsprozess, <strong>de</strong>r mit vielen an<strong>de</strong>ren Arbeitsprozessen vernetzt ist. Die Produkte <strong>de</strong>rüber <strong>de</strong>n Markt vermittelten Produktionsprozesse wechseln von <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren über.Dabei geht <strong>de</strong>r Wert natürlich nicht verloren. Die <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Waren repräsentierte gesellschaftlicheArbeit löst sich nicht durch <strong>de</strong>n Wechsel <strong>in</strong> an<strong>de</strong>re Produktionsprozesse auf, son<strong>de</strong>rn wird <strong>in</strong> dieweiterverarbeiten<strong>de</strong>n Produktionsprozessen stofflich und damit immer auch <strong>in</strong> Wertform e<strong>in</strong>gespeist.Die zwei Seiten <strong>de</strong>r Wertbildung: Übertragung <strong>de</strong>s <strong>in</strong> <strong>de</strong>n genutzten Gebrauchswerten bereitsenthaltenen Werts und Bildung von Neuwert durch E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r Arbeitskraft, machen e<strong>in</strong>e wichtigeUnterscheidung erfor<strong>de</strong>rlich, nämlich die <strong>in</strong> konstantes und <strong>in</strong> variables <strong>Kapital</strong>. Bei<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>teilespielen für die Wertbildung im Produktionsprozess e<strong>in</strong>e ganz unterschiedliche Rolle. 222<strong>Das</strong> konstante <strong>Kapital</strong> umfaßt alle Investitionen für Produktionsmittel wie Rohmaterial, Energie,Masch<strong>in</strong>en, Gebäu<strong>de</strong>, Transport- und Kommunikationsmittel usw. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s,<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e Wertgröße im Produktionsprozess nicht än<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>ssen Wert aber auf die neu geschaffenenProdukte übergeht.<strong>Das</strong> variable <strong>Kapital</strong> umfaßt die Investitionen für die Arbeitskraft: <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s,<strong>de</strong>r wertschöpfend im Produktionsprozess tätig ist, also nicht nur se<strong>in</strong>en eigen Wert reproduziertund <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>gespeisten Rohstoffe und Waren auf die neuen Produkte überträgt, son<strong>de</strong>rndarüber h<strong>in</strong>aus neuen Wert, eben Mehrwert schafft.Was M. selbst als "objektive und subjektive Faktoren" bezeichnet, begegnete uns bereits als Zusammenwirken<strong>de</strong>s toten <strong>Kapital</strong>s mit <strong>de</strong>r lebendigen Arbeitskraft. Wie immer man es nennt:Wichtig ist die Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Arbeitskraft. Sie ist nicht nur lebendig, weil sie an <strong>de</strong>n lebendigenMenschen gebun<strong>de</strong>n ist. Sie ist lebendig, weil sie <strong>de</strong>n toten Elementen <strong>de</strong>s Produktionsprozesses<strong>in</strong> neuen Produkten e<strong>in</strong> Weiterleben als Gebrauchswert und Wert ermöglicht, weil sie <strong>de</strong>nWert <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s sowie <strong>de</strong>n eigenen Wert <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r Sekun<strong>de</strong> ihrer Tätigkeit auf dieneuen Produkte überträgt. Und weil dabei die Arbeitskraft Wert über <strong>de</strong>n eigenen Warenwerth<strong>in</strong>aus schafft, entsteht über die Weitergabe <strong>de</strong>s Werts h<strong>in</strong>aus neuer Wert, <strong>de</strong>n wir bereits alsMehrwert kennengelernt haben.Zugegeben, das alles kl<strong>in</strong>gt etwas geheimnisvoll: Da wird Totes lebendig, da wird übertragen,neu geschaffen und e<strong>in</strong>gespeist... Man darf <strong>in</strong> diese Betrachtung nichts h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geheimnissen. Wirhaben es tatsächlich nicht mit mysteriösen, son<strong>de</strong>rn mit alltäglichen Vorgängen zu tun. Millionenfachpassiert das <strong>in</strong> Millionen von Produktionsprozessen: Die <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Rohstoffen, Halbfabrikaten,<strong>in</strong> Energie und Masch<strong>in</strong>en bereits enthaltene und die im laufen<strong>de</strong>n Produktionsprozess neu222"Der <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s also, <strong>de</strong>r sich <strong>in</strong> Produktionsmittel, d.h. <strong>in</strong> Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel umsetzt, verän<strong>de</strong>rt se<strong>in</strong>eWertgröße nicht im Produktionsprozeß. Ich nenne ihn daher konstanten <strong>Kapital</strong>teil, o<strong>de</strong>r kürzer: konstantes <strong>Kapital</strong>. Der <strong>in</strong> Arbeitskraftumgesetzte <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s verän<strong>de</strong>rt dagegen se<strong>in</strong>en Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert se<strong>in</strong> eignes Äquivalent und e<strong>in</strong>enÜberschuß darüber, Mehrwert, <strong>de</strong>r selbst wechseln, größer o<strong>de</strong>r kle<strong>in</strong>er se<strong>in</strong> kann. Aus e<strong>in</strong>er konstanten Größe verwan<strong>de</strong>lt sich dieser <strong>Teil</strong><strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s fortwährend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e variable. Ich nenne ihn daher variablen <strong>Kapital</strong>teil, o<strong>de</strong>r kürzer: variables <strong>Kapital</strong>. Dieselben <strong>Kapital</strong>bestandteile,die sich vom Standpunkt <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses als objektive und subjektive Faktoren, als Produktionsmittel und Arbeitskraftunterschei<strong>de</strong>n, unterschei<strong>de</strong>n sich vom Standpunkt <strong>de</strong>s Verwertungsprozesses als konstantes <strong>Kapital</strong> und variables <strong>Kapital</strong>." (MEW 23,S.223f) Auch hier ist zu betonen, dass wir die neuen Begriffe nicht entwickeln, weil neue Elemente <strong>in</strong>s Spiel kommen, son<strong>de</strong>rn weil wirdieselben Elemente <strong>de</strong>s Produktionsprozesses jetzt nicht vom Standpunkt <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses als objekte und subjektive Elemente betrachten,son<strong>de</strong>rn vom Standpunkt <strong>de</strong>s Verwertungsprozesses. Es s<strong>in</strong>d aber dieselben Elemente.109


geleistete Arbeit prägt <strong>de</strong>m neuen Produkt se<strong>in</strong>en Anspruch auf entsprechen<strong>de</strong>n Gegenwertauf. 223Fixes <strong>Kapital</strong> und zirkulieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>Mit <strong>de</strong>r Unterscheidung <strong>in</strong> konstantes und variables <strong>Kapital</strong> erfaßt M., abgeleitet aus <strong>de</strong>m Wertgesetz,die Wertbildung <strong>in</strong> vernetzten Produktionsprozessen. Wir haben aber gesehen, dass sich<strong>de</strong>r Wert unterschiedlich überträgt. Für das konstante <strong>Kapital</strong> spielt dabei die stoffliche Form e<strong>in</strong>ewichtige Rolle, sobald wir die Produktion als fortdauern<strong>de</strong>n, niemals abgeschlossenen, son<strong>de</strong>rnals sich wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong>n Prozess betrachten. Auf diese Unterscheidung geht M. zwar erstim 2. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" e<strong>in</strong>, doch wollen wir uns bereits an dieser Stelle Klarheit verschaffen.M. bezeichnet jenen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>r stofflich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Arbeitsmitteln enthalten istund <strong>de</strong>ssen Wert über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum im Produktionsprozess umgeschlagen wird, alsfixes <strong>Kapital</strong>: "Dieser <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s gibt Wert an das Produkt ab im Verhältnis,wor<strong>in</strong> er mit se<strong>in</strong>em eignen Gebrauchswert se<strong>in</strong>en eignen Tauschwert verliert." 224 <strong>Das</strong> ist fürsich genommen noch nichts Neues. Was das fixe (= fixierte) vom übrigen konstanten <strong>Kapital</strong> unterschei<strong>de</strong>t,ist die langdauern<strong>de</strong> Verwertung: "Während se<strong>in</strong>er ganzen Funktionsdauer bleibte<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>es Werts stets <strong>in</strong> ihm fixiert, selbständig gegenüber <strong>de</strong>n Waren, die es produzierenhilft." 225Als fixes <strong>Kapital</strong> bezeichnen wir alle Arbeitsmittel, <strong>de</strong>ren Wert im Produktionsprozess über e<strong>in</strong>enlängeren Zeitraum auf die damit geschaffenen Produkte übertragen wird, <strong>de</strong>ren Verwertung daherüber e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum erfolgen muß. 226 Dazu gehören vor allem die langlebigen Ar-223In je<strong>de</strong>s Automobil geht, vom Abbau <strong>de</strong>s Erzes und <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>nung <strong>de</strong>s Stahls über die Herstellung <strong>de</strong>r Bleche, Schrauben undSchweißroboter, über Elektronik, Motor, Karosserie, Lackierung usw., e<strong>in</strong>e bestimmte Menge an gesellschaftlicher Arbeit e<strong>in</strong>. Die Zuliefererbekommen ihren Anteil bereits auf <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Stufen <strong>de</strong>r beteiligten Produktionsprozesse über <strong>de</strong>n Preis zurück; dar<strong>in</strong> ist ihrMehrwert enthalten, je<strong>de</strong>nfalls soweit, wie <strong>de</strong>r Automobilkonzern nicht se<strong>in</strong>e Machtposition ausnutzt, um <strong>de</strong>n Preis zu drücken und siche<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Mehrwerts anzueignen, <strong>de</strong>r eigentlich im Unternehmen <strong>de</strong>s Zulieferers erzeugt wur<strong>de</strong>.Am En<strong>de</strong> muß sich aber alles zusammen im Preis <strong>de</strong>s Automobils wie<strong>de</strong>rf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, plus <strong>de</strong>m Mehrwert, <strong>de</strong>r sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Endmontage aus <strong>de</strong>rDifferenz ergibt, die zwischen <strong>de</strong>r Wertschöpfung und <strong>de</strong>m als Lohnkosten fixierten Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft entsteht. Freilich ist das nicht dieganze Wirklichkeit. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r Prozess, wie er sich auf dieser Stufe <strong>de</strong>r Analyse darbietet. Wenn wir näher das Automobilbeispiel abklopfen,wür<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Elemente die Wertbildung bee<strong>in</strong>flussen: Ökonomisierung <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s, Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit, Preisdruckauf die Zulieferer und an<strong>de</strong>res. Dann gibt es weitere E<strong>in</strong>flüsse auf <strong>de</strong>r Preisebene: Rabattaktionen senken <strong>de</strong>n Wertrückfluß. Ausschöpfunggünstiger Marktpositionen durch höhere Preise, Koppelgeschäfte mit Kreditf<strong>in</strong>anzierung und ähnliche Maßnahmen verbessern<strong>de</strong>n Wertrückfluß. Wir sollten jedoch immer daran <strong>de</strong>nken, dass unsere Analyse nicht die betriebswirtschaftliche Vielfalt, son<strong>de</strong>rn die bestimmen<strong>de</strong>nElemente <strong>de</strong>s kapitalistischen Produktionsprozesses zum Ziel hat.224Über das fixe <strong>Kapital</strong> heißt es: "Es verrichtet also während e<strong>in</strong>er kürzern o<strong>de</strong>r längern Perio<strong>de</strong> <strong>in</strong> stets wie<strong>de</strong>rholten Arbeitsprozessenstets wie<strong>de</strong>r dieselben Funktionen. So z.B. Arbeitsgebäu<strong>de</strong>, Masch<strong>in</strong>en etc., kurz alles, was wir unter <strong>de</strong>r Bezeichnung Arbeitsmittel zusammenfassen.Dieser <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s gibt Wert an das Produkt ab im Verhältnis, wor<strong>in</strong> er mit se<strong>in</strong>em eignen Gebrauchswertse<strong>in</strong>en eignen Tauschwert verliert. Diese Wertabgabe o<strong>de</strong>r dies Übergehn <strong>de</strong>s Werts e<strong>in</strong>es solchen Produktionsmittels auf das Produkt, zu<strong>de</strong>ssen Bildung es mitwirkt, wird bestimmt durch e<strong>in</strong>e Durchschnittsrechnung; es wird gemessen durch die Durchschnittsdauer se<strong>in</strong>erFunktion von <strong>de</strong>m Augenblick, wor<strong>in</strong> das Produktionsmittel <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsprozeß e<strong>in</strong>geht, bis zu <strong>de</strong>m Augenblick, wo es ganz abgenutzt,verstorben ist, und durch e<strong>in</strong> neues Exemplar <strong>de</strong>rselben Art ersetzt o<strong>de</strong>r reproduziert wer<strong>de</strong>n muß." (MEW 24, S.158)225"Dieser im Arbeitsmittel fixierte <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>werts zirkuliert so gut wie je<strong>de</strong>r andre. Wir haben überhaupt gesehn, daß <strong>de</strong>r ganze<strong>Kapital</strong>wert <strong>in</strong> beständiger Zirkulation begriffen und <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n daher alles <strong>Kapital</strong> zirkulieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> ist. Aber die Zirkulation <strong>de</strong>shier betrachteten <strong>Kapital</strong>teils ist eigentümlich. Erstens zirkuliert er nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gebrauchsform, son<strong>de</strong>rn nur se<strong>in</strong> Wert zirkuliert, undzwar allmählich, bruchweis, im Maß, wie er von ihm auf das Produkt übergeht, das als Ware zirkuliert. Während se<strong>in</strong>er ganzen Funktionsdauerbleibt e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>es Werts stets <strong>in</strong> ihm fixiert, selbständig gegenüber <strong>de</strong>n Waren, die es produzieren hilft. Durch diese Eigentümlichkeiterhält dieser <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s die Form: Fixes <strong>Kapital</strong>. Alle an<strong>de</strong>rn stofflichen Bestandteile <strong>de</strong>s im Produktionsprozeßvorgeschoßnen <strong>Kapital</strong>s dagegen bil<strong>de</strong>n im Gegensatz dazu: Zirkulieren<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r flüssiges <strong>Kapital</strong>." (MEW 24, S.159)226Die Fixiertheit bezieht sich immer nur auf <strong>de</strong>n Wert bei produktiver Nutzung, <strong>de</strong>r über e<strong>in</strong>en langen Zeitraum im Gebrauchswert fixiertbleibt. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d also nicht unbed<strong>in</strong>gt immobile Anlagen; auch bewegliche Anlagen wie Schiffe, Lokomotiven, LKWs usw. gehören dazu.<strong>Das</strong> ist ebenso fixiertes <strong>Kapital</strong>, <strong>de</strong>ssen produktiver Zweck die Bewegung ist. Allerd<strong>in</strong>gs spielt das fixe <strong>Kapital</strong>, das auch lokal fixiert ist, fürdie Verwertung und ihre Risiken e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Rolle. Man kann sich das leicht vorstellen: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Stahlfabrik, e<strong>in</strong>mal errichtet, benötigt vielleicht30 und mehr Jahre, bis das Anlagenkapital verwertet ist. Alle<strong>in</strong> die lange Dauer <strong>de</strong>s Verwertungsprozesses macht ihn gegen Verän-110


eitsmittel (Masch<strong>in</strong>en, Gebäu<strong>de</strong>, Kommunikations- und Verkehrse<strong>in</strong>richtungen). Es ist klar, dasssich die Produktionsprozesse nicht nur nach <strong>de</strong>m Anteil <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong>auch nach <strong>de</strong>m Grad <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>fixierung unterschei<strong>de</strong>n lassen. Dieser Punkt spielt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus, spielt für die wechseln<strong>de</strong> Rolle <strong>de</strong>s Staates und die Krisenformen e<strong>in</strong>ewichtige Rolle. 227Zwischenfrage 47: Wie steht es eigentlich um die Abnutzung und die Zirkulation <strong>de</strong>r Arbeitskraft?(S.279)Alle an<strong>de</strong>ren im Produktionsprozess genutzten Stoffe gehen sofort und vollständig <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsprozesse<strong>in</strong>: Kohle, Energie, Rohstoffe, Halbfabrikate usw. Nach Verbrauch dieser Stoffe,ihrer produktiven Konsumtion, stehen sie nicht mehr zur Verfügung; sie müssen beständigneu zugeliefert wer<strong>de</strong>n. M. nennt sie zirkulieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> o<strong>de</strong>r flüssiges <strong>Kapital</strong>, weil sie nichtnur wertmäßig, son<strong>de</strong>rn praktisch <strong>in</strong> ihrer Gebrauchsform zirkulieren und ihre Verwertung, also<strong>de</strong>r Rückfluß <strong>in</strong> Geld, mit je<strong>de</strong>m Produktionszyklus komplett erfolgt.Es überrascht nicht, wenn mit <strong>de</strong>m zirkulieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong> im Verwertungsprozess die ger<strong>in</strong>gstenProbleme auftreten. Schnelle Verwertung ist hier garantiert, sofern nur <strong>de</strong>r Absatz <strong>de</strong>r Produkteerfolgt. Gefahren stecken im fixen <strong>Kapital</strong>. Und wir ahnen bereits, dass für <strong>Kapital</strong>e mit hoherFixierung die Verwertung auch mit beson<strong>de</strong>ren Risiken verbun<strong>de</strong>n ist.Kapitel 9: Arbeitskraft, Gesamtarbeiter, MehrwertWir erfahren etwas über Charaktermasken und die Entstehung neuer Klassen mit vielDressur. Wir hören, dass <strong>de</strong>r Normalarbeitstag ke<strong>in</strong>eswegs normal ist, und bleiben<strong>de</strong>m Mehrwert auf <strong>de</strong>r Spur.Wir müssen verdauen, dass <strong>de</strong>r Mehrwert, <strong>de</strong>r uns so viel Mühe gemacht hat, von <strong>de</strong>nAkteuren schnö<strong>de</strong> ignoriert wird, aber <strong>de</strong>nnoch ihre Handlungen begleitet und jetztauch noch als absoluter und relativer Mehrwert aktiv wird.Aber dadurch f<strong>in</strong><strong>de</strong>t M. erste Antworten auf die Frage, wodurch die Ausweitung <strong>de</strong>rProduktivkräfte und die damit verbun<strong>de</strong>nen Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Produktionsverhältnisseangetrieben wer<strong>de</strong>n."Charaktermaske" und soziale KlassenAls wir die Tauschschemata analysierten, tauchte diese zentrale Frage auf: Wie konnte es <strong>de</strong>mHan<strong>de</strong>lskapitalisten gel<strong>in</strong>gen, durch Kauf und Verkauf von Waren am En<strong>de</strong> reicher zu wer<strong>de</strong>n,sogar ohne sich dabei e<strong>in</strong>es Betrugs schuldig zu machen? Dabei ent<strong>de</strong>ckten wir die beson<strong>de</strong>reRolle <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft. Mit ihr lüftete sich das Geheimnis. In <strong>de</strong>m Maße, wie es <strong>de</strong>m Kapi<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>r Rahmenbed<strong>in</strong>gungen wie Preisän<strong>de</strong>rungen, Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Produktionstechnik usw. sehr viel anfälliger als Verwertungsprozessemit ger<strong>in</strong>gerer <strong>Kapital</strong>fixierung. Wenn wir <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s untersuchen, gehen wir näher darauf e<strong>in</strong>.227Die lange Dauer <strong>de</strong>r Verwertung <strong>de</strong>s fixierten <strong>Kapital</strong>s spielt e<strong>in</strong>e wichtige Rolle <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise,<strong>de</strong>nn Aufbau und Betrieb e<strong>in</strong>er Eisenbahnl<strong>in</strong>ie o<strong>de</strong>r kapitalistischer Wohnungsbau unterliegen gera<strong>de</strong> wegen <strong>de</strong>s hohen Anteils fixierten<strong>Kapital</strong>s beson<strong>de</strong>ren Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen. Der Rückfluß <strong>de</strong>s <strong>in</strong>vestierten <strong>Kapital</strong>s <strong>de</strong>hnt sich - e<strong>in</strong> Horror für je<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten.Ke<strong>in</strong> Wun<strong>de</strong>r also, dass es solche Projekte wie Eisenbahnen, Staudämme, Kanäle usw. waren, mit <strong>de</strong>nen sich die Formen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>beschaffungimmer wie<strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rten: Von <strong>de</strong>n Aktiengesellschaft klassischen Typs über staatliche Infrastruktur<strong>pol</strong>itik zu "mo<strong>de</strong>rnen" PPP-(Private-Public-Partnership)-Projekten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r massenweisen Überführung von Wohnungen <strong>in</strong> "Eigentumswohnungen": Immer s<strong>in</strong>d esVersuche, <strong>de</strong>n Verwertungsrisiken bei hoher <strong>Kapital</strong>fixierung zu entgehen. Auch immer wie<strong>de</strong>r unternommene Versuche <strong>de</strong>r Energiekonzerne,sich <strong>de</strong>r kosten<strong>in</strong>tensiven Leitungsnetze durch Verstaatlichung o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Formen <strong>de</strong>r De-F<strong>in</strong>anzierung zu entziehen, grün<strong>de</strong>tletzlich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s.111


talisten gelang, die Arbeitskraft als Ware unter se<strong>in</strong>e Regie zu nehmen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Maße etabliertesich die Warenproduktion als kapitalistische Warenproduktion, wur<strong>de</strong> sie von e<strong>in</strong>er ergänzen<strong>de</strong>nProduktionsweise <strong>in</strong>mitten <strong>de</strong>r feudalen Gesellschaft zur herrschen<strong>de</strong>n Produktionsweise.So ganz nebenbei und von <strong>de</strong>n Akteuren selbst zunächst kaum bemerkt, entwickeln sich <strong>in</strong> diesemProzess zwei neue Gesellschaftsklassen, die Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, auch Bourgeoisie genannt,und die Arbeiterklasse. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nicht e<strong>in</strong>fach die Hauptklassen <strong>de</strong>r bürgerlichen kapitalistischenGesellschaft. <strong>Das</strong> ist die bürgerliche Gesellschaft <strong>in</strong> elementarer sozialer Gestalt. 228 <strong>Das</strong>s<strong>in</strong>d die sozialen Pole <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Verhältnisses, das wir als <strong>Kapital</strong> bezeichnen. OhneBourgeoisie und Arbeiterklasse wäre die kapitalistische Gesellschaft ke<strong>in</strong>e. 229In unserer Analyse treten die Hauptklassen <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft bisher nur als <strong>Kapital</strong>istund Arbeitskraft auf. Fehlt hier nicht <strong>de</strong>r klassenkämpferische Pfeffer? Wohl kaum, wenn manbe<strong>de</strong>nkt, welche Wirkung M.s Analyse seit mehr als 140 Jahren weltweit gehabt hat. Da mußnicht extra gewürzt wer<strong>de</strong>n. Im Gegenteil. Wir sollten uns sogar für <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r weiterenAnalyse von allen Gedankenspielen verabschie<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen uns vielleicht <strong>de</strong>r eigene Arbeitgeberals <strong>Kapital</strong>ist vorschwebt (was er vermutlich ist) und wir uns selbst als persönlich ausgebeuteteArbeitskraft sehen. Diese Sichtweise ist verlockend und es steht uns je<strong>de</strong>rzeit frei, aus unserer228Wer sich mit <strong>de</strong>m Gedanken trägt, die kapitalistische Produktionsweise als Computerspiel zu simulieren, könnte auf Gebrauchtwagenhändler,Trickbetrüger, Telefonmarket<strong>in</strong>g, Schuhverkäufer, die Telekom und Deutsche Bahn, <strong>in</strong>novative F<strong>in</strong>anzprodukte, Put-Optionen undRat<strong>in</strong>g-Agenturen, ja vielleicht sogar auf Rechtsanwälte und Steuerberater verzichten. Auf <strong>Kapital</strong>isten, die sich <strong>de</strong>n Mehrwert aneignen,und auf die Leute, die im millionenfachen Zusammenspiel die wirkliche Arbeit machen, könnte er nicht verzichten.Freilich, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n fantastischen Fantasies, ob Buch o<strong>de</strong>r PC-Spiel, <strong>in</strong>teressiert es meist nieman<strong>de</strong>n, woher die Hel<strong>de</strong>n Ihre Lebensmittel, ihrePfer<strong>de</strong> und Ausrüstungen bekommen. Wer errichtet Burgen und Schlösser und verschlungene Gewölbe? Zimmert Türen und Truhen? Werkonstruiert die tollen tödlichen Waffen und erbaut mühevoll die verschlungenen Beton-Labyr<strong>in</strong>the für <strong>de</strong>n Counterstrike? Wer baut Erz undKohlen ab, um Waffenstahl zu kochen? Schafft Sand und Kalk und Kies für <strong>de</strong>n Beton <strong>de</strong>r unterirdischen Gewölbe her? Wen <strong>in</strong>teressiertes, wie tausen<strong>de</strong> von Zwergen satt wer<strong>de</strong>n, die von früh bis spät nur Ste<strong>in</strong>e klopfen um Gold zu horten? Wer will schon wissen, auf welchenWegen sich Zauberer und Könige und wohlgebaute Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>nen ihre luxuriösen Wünsche erfüllen? Alle<strong>in</strong> die wun<strong>de</strong>rsame Kleidung:Wer schert die Schafe, baut die Webstühle, webt und schnei<strong>de</strong>rt? Und woher stammen die tollen Farben? Die wun<strong>de</strong>rsamen Artefakte?Wer baut und unterhält die Wege? Ach, wen juckt das schon: It's Fantasy... Offenbar gibt es <strong>in</strong> diesen virtuellen Lan<strong>de</strong>n immer ausreichendBauern und Handwerker und Sklaven und an<strong>de</strong>re arme schwitzen<strong>de</strong> Tröpfe, die <strong>de</strong>rgleichen <strong>de</strong>zent im H<strong>in</strong>tergrund erledigen.Besser s<strong>in</strong>d da schon die Simulationsspiele, die uns <strong>in</strong> wenigen Stun<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Jäger- und Sammlergesellschaft <strong>in</strong> die (offenbar) kapitalistischeGeldwirtschaft mit "heavy traffic", E<strong>in</strong>kaufzentren und Kraftwerken katapultieren. Nur: Wem gehört das? Wer bestimmt die Richtung?(Je<strong>de</strong>nfalls nicht <strong>de</strong>r SimCity-Bürgermeister, das ist klar.) Woher kommen eigentlich die Eigentums- und Machtverhältnisse, die <strong>in</strong>solchen Simulationen letztenen<strong>de</strong>s immer schon dr<strong>in</strong>stecken? Denn Burgen und E<strong>in</strong>kaufzentren gehören irgendwem. Woher kommen dieseEigentumsverhältnisse? Wie entstehen sie? Die meisten historischen Fantasies und Spiele s<strong>in</strong>d unhistorisch. (Von <strong>de</strong>n uns bekannten Autorenmöchten wir Mr. Pratchett ausdrücklich ausnehmen. Die Fettm<strong>in</strong>en <strong>in</strong> Überwald und ihre Ausbeutung, die rituelle, militärische undökonomische Funktion <strong>de</strong>s Zwergen-Kampfbrots, die Organisation <strong>de</strong>s Diebstahls als Mischung aus Versicherung und e<strong>in</strong>facher Räuberei,die Rettung <strong>de</strong>r Ankh-Morpork-Post und <strong>de</strong>r anarchische Kampf gegen Telekommunikationsmono<strong>pol</strong>isten: <strong>Das</strong> und vieles mehr s<strong>in</strong>d fürje<strong>de</strong>n PolitÖkonomen wichtige Quellen <strong>de</strong>r Inspiration. Confesso: Von Mr.Pratchett haben wir auch die Enten-Metapher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er früherenAnmerkung schöpferisch entliehen. Rückgabe lei<strong>de</strong>r nicht möglich.)Viele D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Fantasies und PC-Spielen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach da, wer<strong>de</strong>n als (ewige?) Gegebenheiten vorausgesetzt und haben so auf dasSpiel auch sche<strong>in</strong>bar ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß. Es s<strong>in</strong>d, soweit uns bekannt, historische Simulationen ohne wirkliche Geschichte. Trotz aller <strong>in</strong>teraktiverElemente liegt diesen Spielen bereits e<strong>in</strong> nicht bee<strong>in</strong>flußbares Drehbuch zugrun<strong>de</strong>, das nach Ausstattung, Psychologie und Daramturgieexakt an Sandalen- und Piraten- und Ritter- und Rob<strong>in</strong> Hood-Filme er<strong>in</strong>nert, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Geschichte nur e<strong>in</strong>e Frage <strong>de</strong>s Dekors ist. Sicher sollalles nur e<strong>in</strong> Spiel se<strong>in</strong>, aber warum so suboptimal? Gemessen an <strong>de</strong>r wirklichen Geschichte s<strong>in</strong>d diese Spiele doch ausseror<strong>de</strong>ntlich langweilig.Klar, als K<strong>in</strong><strong>de</strong>r <strong>de</strong>s imperialistischen Zeitalters bieten Fantasy-Medien imperiale Kriege <strong>in</strong> Mengen. Aber wo s<strong>in</strong>d die Bauernaufstän<strong>de</strong>,die religiös-sozialen Gegenbewegungen, die enthaupteten Könige? Wo f<strong>in</strong><strong>de</strong>t die Politisierung ökonomischer Interessen ihrenAusdruck? Wo s<strong>in</strong>d die Massenstreiks und Streikbrecher, die Bürgerproteste, die Provokateure <strong>in</strong> Diensten <strong>de</strong>r Polizei, die Meutereien, Barrika<strong>de</strong>nkämpfeund veritablen Revolutionen und Konterrevolutionen? - Was da überwiegend geboten wird, ist weichgespülte Geschichteohne Triebkraft. Wirklich scha<strong>de</strong>.229Beiläufig angemerkt: Deshalb heißt M.s Hauptwerk auch "<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>". Nicht weil er über Geld o<strong>de</strong>r die Kunst <strong>de</strong>s Geldmachens o<strong>de</strong>rüber "se<strong>in</strong>en Gegner" schreiben will. Auch gängige l<strong>in</strong>ke Stanzen wie "das <strong>Kapital</strong> läßt das niemals zu" o<strong>de</strong>r "<strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> mal die Zähnezeigen" s<strong>in</strong>d vielleicht gut geme<strong>in</strong>t, mit M.s Theorie aber zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st begrifflich nicht kompatibel. "<strong>Kapital</strong>" hat nun mal für M. e<strong>in</strong>e ganzan<strong>de</strong>re als die heutige landläufige Be<strong>de</strong>utung. Es hat e<strong>in</strong>en historisch-soziologischen genauso wie e<strong>in</strong>en ökonomischen Inhalt. PolitischeÖkonomie eben.112


Analyse (später) entsprechen<strong>de</strong> <strong>pol</strong>itische Schlußfolgerungen zu ziehen. Dann darf man getrostauch roten Pfeffer zugeben.Aber M. hat se<strong>in</strong>e Analyse nicht unternommen, damit wir Psychohygiene betreiben und uns besserfühlen. Es soll auch niemand dämonisiert o<strong>de</strong>r zum Retter <strong>de</strong>r Welt erhoben wer<strong>de</strong>n. Etwanach <strong>de</strong>m Motto: Kampf <strong>de</strong>r guten Arbeiter gegen die bösen <strong>Kapital</strong>isten. Die kapitalistischeProduktionsweise ist we<strong>de</strong>r Ergebnis e<strong>in</strong>er weltweiten Verschwörung noch wur<strong>de</strong> sie "vom <strong>Kapital</strong>entwickelt", so wie man heute e<strong>in</strong>e Medienkampagne für e<strong>in</strong> neues Produkt plant unddurchführt, womöglich mit <strong>de</strong>m grausigen Ziel, uns persönlich zu verärgern. Und die Arbeiterklassespielt auch nicht die Rolle <strong>de</strong>s kle<strong>in</strong>en gallischen Dorfes, das Ränkeschmie<strong>de</strong>n und Freiheitsräubernunverdrossen entgegentritt, womöglich mit <strong>de</strong>m "Kommunistischen Manifest"o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m "<strong>Kapital</strong>" als e<strong>in</strong>er Art Zaubertrankersatz.Zwischenfrage 48: Ist Geschichte nur e<strong>in</strong> wirres Knäuel aus vielen Milliar<strong>de</strong>n tagtäglicher Handlungeno<strong>de</strong>r liegt ihr e<strong>in</strong>e Richtung zugrun<strong>de</strong>? (S.280)M. spricht vom <strong>Kapital</strong>isten an verschie<strong>de</strong>nen Stellen als e<strong>in</strong>er Charaktermaske und als Personifikatione<strong>in</strong>er ökonomischen Kategorie 230 ; er verwen<strong>de</strong>t "<strong>Kapital</strong>ist" als Platzhalter für e<strong>in</strong>e gesellschaftlicheRolle. Welche Individuen diese Rolle ausfüllen, war und ist für M.s Analyse ganzgleichgültig. Die Rolle ist das Ergebnis <strong>de</strong>s historischen Prozesses selbst, <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rum das Ergebnisall <strong>de</strong>r milliar<strong>de</strong>nfachen Handlungen <strong>de</strong>r Millionen Menschen ist, die (ohne es zu wissen)ihre Geschichte selbst aus all <strong>de</strong>m vorgefun<strong>de</strong>nen Stoff gemacht haben, <strong>de</strong>r ihnen von <strong>de</strong>n vorigenGenerationen vererbt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nen es zu ihrer Zeit mit ihrer eigenen Geschichte nicht an<strong>de</strong>rsgegangen war. Uns geht es mit unserer eigenen Geschichte übrigens ebenso: Wir treibensie mit unseren milliar<strong>de</strong>nfachen alltäglichen Handlungen genauso voran wie die Generationenvor uns. 231Wie beim <strong>Kapital</strong>isten haben wir es auch bei <strong>de</strong>r Arbeitskraft immer mit wirklichen Menschen zutun; <strong>in</strong> unserer Analyse aber steht "Ware Arbeitskraft" zunächst für die unter <strong>Kapital</strong>regie angewen<strong>de</strong>te,allen Menschen <strong>in</strong>newohnen<strong>de</strong> Produktivkraft. Manche von M.s Kritikern sehen <strong>in</strong>dieser Betrachtungsweise e<strong>in</strong>e "Ten<strong>de</strong>nz zur Ent-Menschlichung", e<strong>in</strong>e Reduzierung <strong>de</strong>s Menschenauf se<strong>in</strong>e Funktionen im Arbeitsprozess. Sie werfen ausgerechnet 232 M. vor, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ana-230"Die Gestalten von <strong>Kapital</strong>ist und Grun<strong>de</strong>igentümer zeichne ich ke<strong>in</strong>eswegs <strong>in</strong> rosigem Licht. Aber es han<strong>de</strong>lt sich hier um die Personennur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien s<strong>in</strong>d, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger alsje<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re kann me<strong>in</strong> Standpunkt, <strong>de</strong>r die Entwicklung <strong>de</strong>r ökonomischen Gesellschaftsformation als e<strong>in</strong>en naturgeschichtlichen Prozeßauffaßt, <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, <strong>de</strong>ren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erhebenmag." (MEW 23, S.16)Die Auffassung <strong>de</strong>r ökonomischen Entwicklung als "naturgeschichtlichen Prozeß" ist e<strong>in</strong>er von M.s häufigen Rückgriffen auf die Naturwissenschaften,<strong>de</strong>m Shoot<strong>in</strong>g Star <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Hier ist es <strong>de</strong>r Versuch, <strong>de</strong>m Leser durch Vergleich mit <strong>de</strong>r Darw<strong>in</strong>'schen Naturgeschichte<strong>de</strong>utlich zu machen, dass es ihm nicht um die moralische Kritik <strong>de</strong>r Verhältnisse geht. Die leistet er natürlich, wenn er die üblenMißstän<strong>de</strong> etwa <strong>in</strong> <strong>de</strong>n englischen Fabriken anprangert. <strong>Das</strong> ist aber nicht <strong>de</strong>r eigentlich S<strong>in</strong>n: Se<strong>in</strong>e Analyse ist streng darauf gerichtet,die Ursachen solcher Mißstän<strong>de</strong> eben nicht aus <strong>de</strong>m "Fehlverhalten" e<strong>in</strong>zelner Personen, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Gesetzen <strong>de</strong>r Produktionsweiseabzuleiten. Die Kritik an <strong>de</strong>n Personen ist bei M. immer e<strong>in</strong>e Kritik an <strong>de</strong>n Verhältnissen. So, wie man e<strong>in</strong>em <strong>Kapital</strong>isten nichtvorwerfen kann, wie e<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>ist zu han<strong>de</strong>ln, hört <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist nicht dadurch auf, <strong>Kapital</strong>ist zu se<strong>in</strong>, weil er se<strong>in</strong>e Arbeiter freundlichbehan<strong>de</strong>lt o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> Krankenhaus stiftet, sich also "subjektiv über die Verhältnisse erhebt". <strong>Das</strong> alles macht nur <strong>de</strong>n Unterschied zwischene<strong>in</strong>em kapitalistischen Fiesl<strong>in</strong>g und e<strong>in</strong>em <strong>Kapital</strong>isten aus, <strong>de</strong>r als Person recht angenehm im Umgang ist. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong> wichtiger Unterschiedim Alltag. Für die <strong>pol</strong>it-ökonomische Analyse aber ohne Be<strong>de</strong>utung.231Wir lehnen uns hier an M.s berühmten Satz an: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freienStücken, nicht unter selbstgewählten; son<strong>de</strong>rn unter unmittelbar vorgefun<strong>de</strong>nen, gegebenen und überlieferten Umstän<strong>de</strong>n." (MEW 8,S.115)232Ausgerechnet M.: Wer hat schon so umfassend wie er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schriften das Thema <strong>de</strong>r menschlichen Entfremdung behan<strong>de</strong>lt? Werhat tausen<strong>de</strong> von Philosophen, Theologen, Historikern, Psychologen und Soziologen zu menschenfreundlichen, humanistischen Forschungsprogrammenangeregt? Muss man an <strong>de</strong>n Schlußsatz im 2. Kapitel <strong>de</strong>s "Kommunistischen Manifest" er<strong>in</strong>nern? In diesem Dokument<strong>de</strong>s Klassenkampfs heißt es: "An die Stelle <strong>de</strong>r alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt e<strong>in</strong>e113


lyse unter <strong>de</strong>m Deckmantel <strong>de</strong>r Abstraktion das "Menschliche am Menschen" zu vernichten undsoziale Verhältnisse auf ökonomische Funktionen zu reduzieren. Unfug. Es s<strong>in</strong>d die von M. analysiertenkapitalistischen Produktionsverhältnisse, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Mensch als Arbeitskraft zur Wareund zum Anhängsel <strong>de</strong>s Masch<strong>in</strong>ensystems wird. Es s<strong>in</strong>d die wirklichen Verhältnisse zur Verantwortungzu ziehen, nicht <strong>de</strong>ren Analyse.Diese Verhältnisse wälzen alles um. Es geht nicht mehr um <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen Warenproduzenten,<strong>de</strong>r sich morgens an se<strong>in</strong>e Töpferscheibe setzt und abends soundsoviele Teller und Krüge hergestellthat. Diese unmittelbare B<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Arbeitskraft an das Produkt löst sich im kapitalistischorganisierten Arbeitsprozess vollständig auf. Was sollte auch das "Produkt" <strong>de</strong>s Kohlenschauflersan <strong>de</strong>r Dampfmasch<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>? Was ist das Produkt <strong>de</strong>s Fräsers o<strong>de</strong>r Schweißers, <strong>de</strong>r <strong>Teil</strong>eherstellt, die für sich gar ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n ergeben, son<strong>de</strong>rn erst als Rohstoffe <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Arbeitsprozessenzu Produkten wer<strong>de</strong>n? Was ist das Produkt <strong>de</strong>s Ingenieurs, <strong>de</strong>r für e<strong>in</strong>e große Masch<strong>in</strong>ee<strong>in</strong> w<strong>in</strong>zig kle<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong> konstruiert und vielleicht nicht e<strong>in</strong>mal weiß, wo und wie es später e<strong>in</strong>gesetztwird?"...ke<strong>in</strong> Glück, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> Pech"Wir haben oben bereits <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>s kapitalistisch regierten Produktionsprozessesbetont. Aber dadurch hören die Verwertungs<strong>in</strong>teressen <strong>de</strong>r beteiligten <strong>Kapital</strong>istennicht auf, private Interessen zu se<strong>in</strong>, die mit <strong>de</strong>n Interessen an<strong>de</strong>rer <strong>Kapital</strong>isten sowohl <strong>in</strong> Konkurrenzals auch <strong>in</strong> Abhängigkeit stehen. Behalten wir das für später im Gedächtnis! Aber washat das für Auswirkungen auf die Stellung <strong>de</strong>r Arbeitskraft? M. hat dafür <strong>de</strong>n schönen Begriff<strong>de</strong>s Gesamtarbeiters geprägt, <strong>de</strong>r die an<strong>de</strong>re Seite <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Verhältnisses darstellt,das wir <strong>Kapital</strong> nennen. Hören wir Orig<strong>in</strong>alton M.:"<strong>Das</strong> Produkt verwan<strong>de</strong>lt sich überhaupt aus <strong>de</strong>m unmittelbaren Produkt <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen Produzenten<strong>in</strong> e<strong>in</strong> gesellschaftliches, <strong>in</strong> das geme<strong>in</strong>same Produkt e<strong>in</strong>es Gesamtarbeiters, d.h. e<strong>in</strong>eskomb<strong>in</strong>ierten Arbeitspersonals, <strong>de</strong>ssen Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Handhabung <strong>de</strong>s Arbeitsgegenstan<strong>de</strong>s nähero<strong>de</strong>r ferner stehn. Mit <strong>de</strong>m kooperativen Charakter <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses selbst erweitert sichdaher notwendig <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r produktiven Arbeit und ihres Trägers, <strong>de</strong>s produktiven Arbeiters.Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt,Organ <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters zu se<strong>in</strong>, irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Unterfunktionen zu vollziehn. Die obigeursprüngliche Bestimmung <strong>de</strong>r produktiven Arbeit, aus <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r materiellen Produktionselbst abgeleitet, bleibt immer wahr für <strong>de</strong>n Gesamtarbeiter, als Gesamtheit betrachtet. Aber siegilt nicht mehr für je<strong>de</strong>s se<strong>in</strong>er Glie<strong>de</strong>r, e<strong>in</strong>zeln genommen.Andrerseits aber verengt sich <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r produktiven Arbeit. Die kapitalistische Produktionist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiterproduziert nicht für sich, son<strong>de</strong>rn für das <strong>Kapital</strong>. Es genügt daher nicht länger, daß er überhauptproduziert. Er muß Mehrwert produzieren. Nur <strong>de</strong>r Arbeiter ist produktiv, <strong>de</strong>r Mehrwertfür <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten produziert o<strong>de</strong>r zur Selbstverwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s dient. Steht es frei, e<strong>in</strong>Beispiel außerhalb <strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>r materiellen Produktion zu wählen, so ist e<strong>in</strong> Schulmeister produktiverArbeiter, wenn er nicht nur K<strong>in</strong><strong>de</strong>rköpfe bearbeitet, son<strong>de</strong>rn sich selbst abarbeitet zurAssoziation, wor<strong>in</strong> die freie Entwicklung e<strong>in</strong>es je<strong>de</strong>n die Bed<strong>in</strong>gung für die freie Entwicklung aller ist." (MEW 4, S.482) Die Frage, wie <strong>de</strong>rMensch se<strong>in</strong>er Entfremdung, <strong>de</strong>n ihn <strong>in</strong>dividuell und als Gattungswesen e<strong>in</strong>engen<strong>de</strong>n Verhältnissen entgehen und menschliche Verhältnisseerschaffen kann, war M.s persönlicher Leitstern. <strong>Das</strong> "<strong>Kapital</strong>" ist e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>er Antwort. Aber es ist we<strong>de</strong>r Kampfschrift (wie das"Kommunistische Manifest") noch Wohl-Fühl-Ratgeber. Es ist wissenschaftliche Analyse, die sich je<strong>de</strong> "menschelei" versagt und wohlauch verbittet.114


Bereicherung <strong>de</strong>s Unternehmers. Daß letztrer se<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lehrfabrik angelegt hat, statt<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wurstfabrik, än<strong>de</strong>rt nichts an <strong>de</strong>m Verhältnis. Der Begriff <strong>de</strong>s produktiven Arbeitersschließt daher ke<strong>in</strong>eswegs bloß e<strong>in</strong> Verhältnis zwischen Tätigkeit und Nutzeffekt, zwischen Arbeiterund Arbeitsprodukt e<strong>in</strong>, son<strong>de</strong>rn auch e<strong>in</strong> spezifisch gesellschaftliches, geschichtlichentstandnes Produktionsverhältnis, welches <strong>de</strong>n Arbeiter zum unmittelbaren Verwertungsmittel<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s stempelt. Produktiver Arbeiter zu se<strong>in</strong> ist daher ke<strong>in</strong> Glück, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> Pech." 233In diesen bei<strong>de</strong>n Abschnitten dr<strong>in</strong>gt M. erstmals bis zum Kern <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweisevor. 234 Hier bloß von e<strong>in</strong>em arbeitsteilig organisierten Produktionsprozess zu sprechen,wäre viel zu wenig. In je<strong>de</strong>r Gesellschaft, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kapitalistische Produktionsweise herrscht, habenwir es mit e<strong>in</strong>em durch und durch vergesellschafteten, also die ganze Gesellschaft erfassen<strong>de</strong>nProzess zu tun, <strong>de</strong>r die Grenzen e<strong>in</strong>er Fabrik, längst auch die Grenzen e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Staatesdurchbrochen hat. Als wir im Kapitel "Ware und Wert" M.s ersten Satz <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" kommentierten,nahmen wir diese Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktion tatsächlich bereits zum Ausgangspunkt,<strong>in</strong><strong>de</strong>m wir ihr reichhaltiges Warenangebot bestaunten.Jetzt wechseln wir die Perspektive und machen uns klar, dass <strong>de</strong>r Reichtum dieser bürgerlichenGesellschaft, <strong>de</strong>r uns als e<strong>in</strong>e ungeheure Warensammlung ersche<strong>in</strong>t, <strong>in</strong> Wirklichkeit <strong>de</strong>r Reichtume<strong>in</strong>es durch und durch gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist. Es ist e<strong>in</strong> Produktionsprozess,von <strong>de</strong>m wir oben sagten, dass er schon zu M.s Zeiten die ganze Welt zur Werkstatthatte. Gewiß ist <strong>in</strong> unserer Zeit die produktive Arbeit unter <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s vielgestaltigerals je zuvor <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte. Und wie M. es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zitat zum Gesamtarbeiter getan hat,brauchen auch wir uns ehrlichen Beifall <strong>in</strong> Richtung <strong>de</strong>r Bourgeoisie wegen ihrer historischenLeistungen nicht zu verkneifen. Aber wir wollen auch M.s E<strong>in</strong>schränkung nicht überlesen: Vielgestaltigund produktiv wirkt sie nur soweit, wie damit die ausreichen<strong>de</strong> Produktion von Mehrwertverbun<strong>de</strong>n ist. Nicht um Bedürfnisse zu befriedigen wird produziert, son<strong>de</strong>rn um Mehrwertzu erzeugen. Die "ganze Welt als Werkstatt" be<strong>de</strong>utet <strong>de</strong>shalb auch nichts an<strong>de</strong>res: Die Gesetze<strong>de</strong>r Verwertung wer<strong>de</strong>n zu Gesetzen <strong>de</strong>r Welt, <strong>de</strong>r Zwang zur Mehrwertproduktion zum allesbeherrschen<strong>de</strong>n Grundgesetz <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Weltordnung. 235Der Reiz e<strong>in</strong>er Schöpfung aus NichtsDie Produktion <strong>de</strong>s Mehrwerts ist an <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r Arbeitskraft im kapitalistischen Produktionsprozessgebun<strong>de</strong>n. Der <strong>Kapital</strong>ist kauft Gebäu<strong>de</strong>, Masch<strong>in</strong>en, Rohstoffe und Arbeitskräfte, alldas, was wir als konstantes und variables <strong>Kapital</strong> bezeichnen. Damit läßt er unter se<strong>in</strong>er Regiearbeiten. Durch Anwendung <strong>de</strong>r Arbeitskraft entstehen Produkte, die <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s konstantenund variablen <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong> sich aufnehmen. Doch am En<strong>de</strong> e<strong>in</strong>es Tages übersteigt die so geschaf-233MEW 23, S.531ff234Nebenebei gesagt steckt <strong>in</strong> diesen wenigen Zeilen auch e<strong>in</strong> gigantisches soziologisches Forschungsprogramm, das eigentlich immerwie<strong>de</strong>r neu absolviert wer<strong>de</strong>n müsste, um e<strong>in</strong>igermaßen Klarheit darüber zu gew<strong>in</strong>nen, was das eigentlich ist: die Arbeiterklasse. M.s Kategorievom gesellschaftlichen Gesamtarbeiter macht uns ohne Umstän<strong>de</strong> klar, dass wir es auf je<strong>de</strong>n Fall mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> sich vielfältig geglie<strong>de</strong>rtenund (das ist wichtig) sich immer wie<strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n sozialen Klasse zu tun haben.235Wir sollten dabei nicht vergessen, dass die Weltherrschaft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus, die sich 1990 wie<strong>de</strong>r herstellte, <strong>de</strong>nnoch e<strong>in</strong>ige weiße,wenn nicht sogar rote Flecken aufweist. Noch hält Kuba an se<strong>in</strong>er nicht kapitalistischen Wirtschaft fest. Noch weist die Wirtschaft <strong>de</strong>r VRCh<strong>in</strong>a und auch Vietnams viele Elemente auf, die sich <strong>de</strong>m kapitalistischen Verwertungszwang wi<strong>de</strong>rsetzen. Dennoch stimmt es ohneZweifel, dass die Gesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft weltweit <strong>de</strong>n Ton angeben. Je<strong>de</strong>r Wirtschaftsraum, <strong>de</strong>r sich diesen Gesetzen entziehenwill, kommt doch nicht umh<strong>in</strong>, sich mit ihnen zu arrangieren. Die im Herbst 2008 offen ausgebrochene F<strong>in</strong>anzmarktkrise mit ihrenweltweiten Auswirkungen hat das auf beson<strong>de</strong>re Weise <strong>de</strong>utlich gemacht. Und an diesem Zwang zum Arrangement wird sich solangenichts än<strong>de</strong>rn, wie nicht das vorhan<strong>de</strong>ne antikapitalistische Potential zur geme<strong>in</strong>samen <strong>pol</strong>itischen Aktion und zur ökonomischen Kooperationf<strong>in</strong><strong>de</strong>t und neue, bessere Alternativen entwickelt, als jene es waren, die 1990 unterg<strong>in</strong>gen.115


fene Wertmasse die e<strong>in</strong>gespeisten Werte. Für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten ist das we<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> Wun<strong>de</strong>r noche<strong>in</strong> Grund für lange Überlegungen. Der Mehrwert ist schlicht die Grundbed<strong>in</strong>gung se<strong>in</strong>es Han<strong>de</strong>lns.Käme am En<strong>de</strong> nur heraus, was er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gesteckt hat, wäre es ihm Mühe und Risiko nichtwert. <strong>Kapital</strong>ismus wäre ke<strong>in</strong> Thema gewor<strong>de</strong>n. 236Der <strong>Kapital</strong>ist hat e<strong>in</strong> gutes Gewissen. Alle bekommen, was ihnen zusteht. Er kauft die Warenzum marktüblichen Preis. Er kauft auch die Arbeitskraft zum marktüblichen Preis, <strong>de</strong>r Lohn o<strong>de</strong>rGehalt genannt wird. Alle produzierten Werte gehören <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten. Wem sonst? Er hat alsEigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel und Käufer <strong>de</strong>r Rohstoffe und <strong>de</strong>r Arbeitskraft e<strong>in</strong>en sche<strong>in</strong>barnatürlichen Anspruch darauf. Und die Gesellschaft bekommt ihren Fortschritt - mehrwertkompatibel,versteht sich.Aller Mehrwert entspr<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>r lebendigen Arbeitskraft im kapitalistisch organisiertenProduktionsprozess. <strong>Das</strong> ist M.s Ausgangspunkt. Fassen wir an dieser Stelle zusammen,was wir bereits über die Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts erfahren haben. Der Text von Friedrich Engelsbr<strong>in</strong>gt das auf <strong>de</strong>n Punkt. 237Lektüre: Friedrich Engels: S.317In dieser Phase unserer Analyse sprechen wir noch über <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten und <strong>de</strong>n Arbeiter alsfunktionelle Rollen. Insofern s<strong>in</strong>d die <strong>in</strong> Engels Beitrag sich zu Wort mel<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Arbeiter undFabrikanten immer noch Personifikationen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Verhältnisses. Weiter s<strong>in</strong>d wirnoch nicht. Daraus entspr<strong>in</strong>gt die wichtigste E<strong>in</strong>schränkung: Noch folgt unsere Betrachtung <strong>de</strong>me<strong>in</strong>fachen Verwertungsschema. 238Wir haben untersucht, wie <strong>de</strong>r Mehrwert entsteht und untersuchen jetzt, welche Rolle diesesunverwechselbare Merkmal <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise als Triebkraft ihrer Entwicklungspielt. Wir untersuchen noch nicht, wie sich <strong>de</strong>r gesellschaftlich produzierte Mehrwert aufdie verschie<strong>de</strong>nen <strong>Kapital</strong>e verteilt, wenn auch die Antwort auf diese Frage hier schon ankl<strong>in</strong>genwird. Noch haben wir die Gesellschaft als Ganzes im Blick, betrachten das agieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong> alsGesamtkapital 239 , die Arbeitskraft als Gesamtarbeiter e<strong>in</strong>es gesellschaftlichen Produktionsprozesses.Aus dieser Perspektive stellt M. se<strong>in</strong>e Fragen: Wodurch ist die Größe <strong>de</strong>s Mehrwerts bestimmt?Und wie nimmt <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist E<strong>in</strong>fluß auf die Größe <strong>de</strong>s Mehrwerts?M.s Antworten basieren auf e<strong>in</strong>em Mo<strong>de</strong>ll vom Arbeitstag mit vertraglich vere<strong>in</strong>barter Länge.Man kann sich das so vorstellen: Den ganzen Tag über wird <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s236Aber Computer, Handy, HighTech-Kriege, schicke Kleidung, Autobahnen, Umweltvergiftung, Pipel<strong>in</strong>es, Kriege um Öl, tolle Filme, Musikzu je<strong>de</strong>r beliebigen Zeit, Klimawan<strong>de</strong>l usw. wohl auch nicht. Denn <strong>Kapital</strong>ismus und Technikentwicklung hängen eng zusammen, wie wirnoch sehen wer<strong>de</strong>n, und stehen doch mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r gleichzeitig auf <strong>de</strong>m Konfliktfuß.237Diesen Text hat Friedrich Engels als E<strong>in</strong>leitung zu Marx' Schrift "Lohnarbeit und Kapitel" von 1891 verfaßt. Bei M.s Schrift han<strong>de</strong>lt essich um e<strong>in</strong>e ältere Arbeit, die 1849 erstmals als Folge von Artikeln erschien und auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Folgejahren immer wie<strong>de</strong>r nachgedrucktwur<strong>de</strong>. In <strong>de</strong>r ersten Fassung von "Lohnarbeit und <strong>Kapital</strong>" verwen<strong>de</strong>t M. noch <strong>de</strong>n von se<strong>in</strong>en Vorgängern übernommenen Begriff "Wert<strong>de</strong>r Arbeit" statt "Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft". Die Ausgabe von 1891 ist e<strong>in</strong>e von Engels überarbeitete Fassung; im Vorwort <strong>in</strong>formiert er dieLeser über die wichtigsten Än<strong>de</strong>rungen.238Die kontunierliche Bewegung <strong>de</strong>s Verwertungsprozesses bleibt zunächst unbeachtet. Wir wer<strong>de</strong>n erst später zur Kenntnis nehmen, dass<strong>in</strong> dieser Bewegung, die durch längere o<strong>de</strong>r kürzere Umschlagszeiten <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s erzeugt wird, wesentliche Reserven <strong>de</strong>r Verwertung liegen.Denn auch M. ist natürlich klar, dass <strong>Kapital</strong> nicht bloße Verwertung, son<strong>de</strong>rn sich ausweiten<strong>de</strong>, möglichst schnelle Verwertung <strong>in</strong>möglichst kurzen Zyklen zum Ziel hat.239Wenn wir mit M. vom Gesamtkapital re<strong>de</strong>n, blen<strong>de</strong>n wir vor allem die Konkurrenz zwischen <strong>de</strong>n <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>en aus, die andieser Stelle nicht <strong>in</strong>teressiert, aber stet im H<strong>in</strong>tergrund lauert. M. f<strong>in</strong><strong>de</strong>t dafür die sarkastische Formulierung: "<strong>Das</strong> Gesamtkapital ersche<strong>in</strong>tals das Aktienkapital aller e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten zusammen. Diese Aktiengesellschaft hat das mit vielen an<strong>de</strong>rn Aktiengesellschaftengeme<strong>in</strong>, daß je<strong>de</strong>r weiß, was er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>setzt, aber nicht, was er herauszieht." (MEW 24, S.431) Letzteres ist entschei<strong>de</strong>nd und wir wer<strong>de</strong>nsehen, dass kapitalistische Konkurrenz nicht so sehr <strong>de</strong>r Kampf um Marktanteile ist. <strong>Das</strong> ist nur die Metho<strong>de</strong>. In erster L<strong>in</strong>ie ist dasKampf um <strong>de</strong>n eigenen Anteil am gesellschaftlichen Mehrwert.116


auf die neuen Produkte übertragen. Aber nur e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Arbeitstages wird benötigt, um dasWertäquivalent für die gekaufte Arbeitskraft zu produzieren; M. nennt das die notwendige Arbeitszeit.Der Rest <strong>de</strong>s Tages dient <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion; M. nennt das die Mehrarbeitszeit.Diese gedachte Aufteilung ist nicht zw<strong>in</strong>gend. Genausogut könnt man davon ausgehen, dass <strong>in</strong>je<strong>de</strong>r Sekun<strong>de</strong>, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r die Arbeitskraft tätig ist, sowohl Wertäquivalent als auch Mehrwert geschaffenwird, sowohl Wertübertragung als auch Wertschöpfung stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t; das wäre gewisse<strong>in</strong>e angemessene, aber lei<strong>de</strong>r nicht sehr anschauliche Betrachtungsweise. 240 Denn erst die gedachteTrennung <strong>in</strong> zwei Phasen <strong>de</strong>s Arbeitstags macht zwei D<strong>in</strong>ge sofort klar: 241Erstens zeigt sie uns, wie die kapitalistische Metho<strong>de</strong> zur Erzeugung und Aneignung von Mehrwert<strong>in</strong> <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Arbeitsprozess <strong>in</strong>tegriert ist; es ist ökonomische Aneignung. Hiergeht es nicht um e<strong>in</strong>en Produzenten, <strong>de</strong>r nach vollbrachter Arbeit e<strong>in</strong>em Grundherrn e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong><strong>de</strong>r Erträge abtritt wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r feudalen Ökonomie. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> solche Aneignung <strong>de</strong>s Mehrwerts durchaußerökonomische Gewalt ist <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise im Detail genauso bekanntwie Diebstahl und Betrug; aber für ihre Entstehung und Ausbreitung, und vor allem: Für ihrfortdauern<strong>de</strong>s Funktionieren zunächst nicht erfor<strong>de</strong>rlich. 242 Hier entspr<strong>in</strong>gt die Aneignung <strong>de</strong>sMehrwerts sche<strong>in</strong>bar von selbst aus <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>r Lohnarbeit. Es ist die kapitalistischeAnwendung <strong>de</strong>r Lohnarbeit, die <strong>de</strong>n Mehrwert bil<strong>de</strong>t, "<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten mit allem Reiz e<strong>in</strong>erSchöpfung aus Nichts anlacht", wie M. das so freundlich formuliert.Zweitens zeigt uns das Arbeitstagmo<strong>de</strong>ll mit se<strong>in</strong>er Gegenüberstellung von notwendiger undMehrarbeitszeit auf e<strong>in</strong>en Blick, welche Metho<strong>de</strong>n es zur Produktion <strong>de</strong>s Mehrwerts nur gebenkann: Man kann die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags absolut verän<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r das Verhältnis von notwendigerund Mehrarbeitszeit zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r relativ verän<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r man kann bei<strong>de</strong>s tun. 243240Es ist wichtig, aus <strong>de</strong>m 2-Phasen-Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Arbeitstags nicht auf e<strong>in</strong>e wirkliche zeitliche Trennung von Wertübertragung und Wertschöpfungzu schließen. Es gibt ke<strong>in</strong>en Gongschlag, <strong>de</strong>r das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r notwendigen und <strong>de</strong>n Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r Mehrarbeitszeit anzeigt. M. betontdas an vielen Stellen. E<strong>in</strong> Beispiel: "Da aber <strong>de</strong>r Zusatz von neuem Wert zum Arbeitsgegenstand und die Erhaltung <strong>de</strong>r alten Werte imProdukt zwei ganz verschiedne Resultate s<strong>in</strong>d, die <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben Zeit hervorbr<strong>in</strong>gt, obgleich er nur e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben Zeit arbeitet,kann diese Doppelseitigkeit <strong>de</strong>s Resultats offenbar nur aus <strong>de</strong>r Doppelseitigkeit se<strong>in</strong>er Arbeit selbst erklärt wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>mselbenZeitpunkt muß sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Eigenschaft Wert schaffen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er andren Eigenschaft Wert erhalten o<strong>de</strong>r übertragen." (MEW 23, S.214)Auf dieser Grundlage karikiert M. auch das Gejammer englischer Ökonomen zur Arbeitszeitverkürzung, die exakt nachwiesen, dass allerProfit gera<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r letzten Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arbeitstags geschaffen wer<strong>de</strong> und dass daher durch Kürzung <strong>de</strong>s Arbeitstags <strong>de</strong>r gesamte Profitverloren gehe (siehe dazu M.s Kapitel "Seniors 'Letzte Stun<strong>de</strong>'" <strong>in</strong> MEW 23, S.237ff). Tatsächlich ist die notwendige Arbeitszeit immerkürzer als die Gesamtarbeitszeit. Wäre sie es nicht, wäre e<strong>in</strong>e kapitalistische Produktionsweise nicht nur s<strong>in</strong>nlos; die Existenz je<strong>de</strong>r Gesellschaftwäre unter solchen Voraussetzungen gefähr<strong>de</strong>t. Denn alle Arbeitskräfte zusammen müssen doch wohl m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens so viel erwirtschaften,als für sie selbst und <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r nicht arbeiten<strong>de</strong>n Gesellschaft erfor<strong>de</strong>rlich ist, um wenigstens <strong>de</strong>n status quo zu erhalten.241"Den <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Arbeitstags also, wor<strong>in</strong> diese Reproduktion vorgeht, nenne ich notwendige Arbeitszeit, die während <strong>de</strong>rselben verausgabteArbeit notwendige Arbeit. Notwendig für <strong>de</strong>n Arbeiter, weil unabhängig von <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Form se<strong>in</strong>er Arbeit. Notwendigfür das <strong>Kapital</strong> und se<strong>in</strong>e Welt, weil das beständige <strong>Das</strong>e<strong>in</strong> <strong>de</strong>s Arbeiters ihre Basis. Die zweite Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, die <strong>de</strong>r Arbeiterüber die Grenzen <strong>de</strong>r notwendigen Arbeit h<strong>in</strong>aus schanzt, kostet ihm zwar Arbeit, Verausgabung von Arbeitskraft, bil<strong>de</strong>t aber ke<strong>in</strong>enWert für ihn. Sie bil<strong>de</strong>t Mehrwert, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten mit allem Reiz e<strong>in</strong>er Schöpfung aus Nichts anlacht. Diesen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Arbeitstagsnenne ich Surplusarbeitszeit, und die <strong>in</strong> ihr verausgabte Arbeit: Mehrarbeit (surplus labour). So entschei<strong>de</strong>nd es für die Erkenntnis <strong>de</strong>sWerts überhaupt, ihn als bloße Ger<strong>in</strong>nung von Arbeitszeit, als bloß vergegenständlichte Arbeit, so entschei<strong>de</strong>nd ist es für die Erkenntnis<strong>de</strong>s Mehrwerts, ihn als bloße Ger<strong>in</strong>nung von Surplusarbeitszeit, als bloß vergegenständlichte Mehrarbeit zu begreifen. Nur die Form, wor<strong>in</strong>diese Mehrarbeit <strong>de</strong>m unmittelbaren Produzenten, <strong>de</strong>m Arbeiter, abgepreßt wird, unterschei<strong>de</strong>t die ökonomischen Gesellschaftsformationen,z.B. die Gesellschaft <strong>de</strong>r Sklaverei von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Lohnarbeit." (MEW 23, S.230f)242Der <strong>in</strong>nere Mechanismus <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion und die Aneignung <strong>de</strong>s Mehrwerts erfolgt als normaler ökonomischer Warentausch.<strong>Das</strong> macht die Sache allen Beteiligten auch so e<strong>in</strong>leuchtend und überzeugend und die bürgerliche Gesellschaft so anpassungsfähig. Dennochspielt Gewalt zweifellos e<strong>in</strong>e Rollle: Als staatliche Gewalt zur Sicherung <strong>de</strong>r Eigentumsverhältnisse, also z.B. auch zur Abwehr vonDiebstahl und Betrug und Körperverletzung, o<strong>de</strong>r als kriegerische Gewalt zur Durchsetzung ökonomischer Interessen. Wir wer<strong>de</strong>n nochsehen, wie für <strong>de</strong>n gegenwärtigen <strong>Kapital</strong>ismus außerökonomische Maßnahmen sogar zunehmend an Be<strong>de</strong>utung gew<strong>in</strong>nen. Aber auchdas erwächst nicht aus <strong>de</strong>n schlechten Angewohneiten <strong>de</strong>r Menschen, son<strong>de</strong>rn aus se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Entwicklungsgesetzen, die freilich <strong>de</strong>nmiesen Angewohnheiten unserer Mitmenschen breiten Entfaltungsraum bieten.243<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die logischen Alternativen <strong>in</strong> M.s Mo<strong>de</strong>ll: "Vorausgesetzt, die Arbeitskraft wer<strong>de</strong> zu ihrem Wert bezahlt, stehn wir dann vordieser Alternative: Die Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit und ihren Normalgrad von Intensität gegeben, ist die Rate <strong>de</strong>s Mehrwerts nur erhöhbar117


Die Produktion <strong>de</strong>s absoluten Mehrwerts ist die Grundlage <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Sie ist möglich, weil dieArbeitskraft lange genug angewen<strong>de</strong>t wird, um Neuwert über <strong>de</strong>n eigenen Wert h<strong>in</strong>aus zuschaffen. Erhöhung <strong>de</strong>s absoluten Mehrwerts erfolgt <strong>de</strong>shalb durch Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s Arbeitstages.Die Phase <strong>de</strong>r Mehrarbeit (B-C) wird verlängert, während die notwendige Arbeit (A-B) gleichbleibt.Als Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts bezeichnet M. alle Metho<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen die notwendigeArbeitszeit (A-B), bei gleichbleiben<strong>de</strong>m Arbeitstag, gegenüber <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r Mehrarbeit relativverkürzt wird. Da die notwendige Arbeitszeit durch <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r angewen<strong>de</strong>ten Arbeitskraftbestimmt wird, geht es hier vor<strong>de</strong>rgründig um alle Metho<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraftsenken. Tatsächlich aber f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir hier e<strong>in</strong>en wichtigen Motor gesellschaftlicher Verän<strong>de</strong>rungen.Mehrwert und KlassenstrukturIm ersten Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" widmet M. <strong>de</strong>m Mehrwert-Thema über 350 Seiten. Zweifellos saher <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Mehrwerttheorie <strong>de</strong>n zentralen Punkt se<strong>in</strong>er Analyse. Nicht die viel diskutierten Themen,die uns später noch erhitzen wer<strong>de</strong>n, nicht das absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischenAkkumulation o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r ten<strong>de</strong>nzielle Fall <strong>de</strong>r Profitrate, son<strong>de</strong>rn die Mehrwerttheorie ist<strong>de</strong>r Dreh- und Angelpunkt. Daran schei<strong>de</strong>n sich die Geister. Deshalb entpuppen sich alle Angriffeauf M.s Werttheorie bei näherer Betrachtung als Angriffe auf die Mehrwerttheorie, ihren legitimenSprößl<strong>in</strong>g. 244Mit <strong>de</strong>n Kategorien absoluter Mehrwert und relativer Mehrwert wer<strong>de</strong>n die ökonomischen unddie <strong>pol</strong>itischen Beziehungen zwischen <strong>Kapital</strong> und Arbeit vom Kern ihres Verhältnisses aus, vomStandpunkt <strong>de</strong>r Verwertung nämlich betrachtet. <strong>Das</strong> ist nicht <strong>de</strong>r Standpunkt, <strong>de</strong>r im Aktionsraum<strong>de</strong>r Produktionsweise von ihren Akteuren e<strong>in</strong>genommen, son<strong>de</strong>rn außen durch <strong>de</strong>n Analytikere<strong>in</strong>genommen wird. Dabei s<strong>in</strong>d die bei<strong>de</strong>n Kategorien M.s Kompaß. Damit spürt er die Interessenauf, die <strong>de</strong>m ökonomischen Klassenkampf zugrun<strong>de</strong> liegen, ob es um die Länge <strong>de</strong>sArbeitstags wie überhaupt um Umfang und Verteilung <strong>de</strong>r Arbeitszeit 245 , um die Höhe <strong>de</strong>sLohns o<strong>de</strong>r um die Gestaltung <strong>de</strong>r Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen geht.durch absolute Verlängrung <strong>de</strong>s Arbeitstags; andrerseits, bei gegebner Grenze <strong>de</strong>s Arbeitstags, ist die Rate <strong>de</strong>s Mehrwerts nur erhöhbardurch relativen Größenwechsel se<strong>in</strong>er Bestandteile, <strong>de</strong>r notwendigen Arbeit und <strong>de</strong>r Mehrarbeit, was se<strong>in</strong>erseits, soll <strong>de</strong>r Lohn nicht unter<strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft s<strong>in</strong>ken, Wechsel <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktivität o<strong>de</strong>r Intensität <strong>de</strong>r Arbeit voraussetzt." (MEW 23, S.534)Daraus leitet er die Varianten zur Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Mehrwertgröße ab, die er als Produktion von absolutem Mehrwert und von relativemMehrwert unterschei<strong>de</strong>t: "Durch Verlängrung <strong>de</strong>s Arbeitstags produzierten Mehrwert nenne ich absoluten Mehrwert; <strong>de</strong>n Mehrwert dagegen,<strong>de</strong>r aus Verkürzung <strong>de</strong>r notwendigen Arbeitszeit und entsprechen<strong>de</strong>r Verändrung im Größenverhältnis <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Bestandteile <strong>de</strong>sArbeitstags entspr<strong>in</strong>gt – relativen Mehrwert." (MEW 23, S.334)Bei<strong>de</strong> Verfahren haben unterschiedliche Wirkungen auf die Organisation <strong>de</strong>r Arbeit: "Die Verlängrung <strong>de</strong>s Arbeitstags über <strong>de</strong>n Punkt h<strong>in</strong>aus,wo <strong>de</strong>r Arbeiter nur e<strong>in</strong> Äquivalent für <strong>de</strong>n Wert se<strong>in</strong>er Arbeitskraft produziert hätte, und die Aneignung dieser Mehrarbeit durch das<strong>Kapital</strong> – das ist die Produktion <strong>de</strong>s absoluten Mehrwerts. Sie bil<strong>de</strong>t die allgeme<strong>in</strong>e Grundlage <strong>de</strong>s kapitalistischen Systems und <strong>de</strong>n Ausgangspunkt<strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts. Bei dieser ist <strong>de</strong>r Arbeitstag von vornhere<strong>in</strong> <strong>in</strong> zwei Stücke geteilt: notwendige Arbeitund Mehrarbeit. Um die Mehrarbeit zu verlängern, wird die notwendige Arbeit verkürzt durch Metho<strong>de</strong>n, vermittelst <strong>de</strong>ren das Äquivalent<strong>de</strong>s Arbeitslohns <strong>in</strong> weniger Zeit produziert wird. Die Produktion <strong>de</strong>s absoluten Mehrwerts dreht sich nur um die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags;die Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts revolutioniert durch und durch die technischen Prozesse <strong>de</strong>r Arbeit und die gesellschaftlichenGruppierungen." (MEW 23, S.532f)244Warum das so ist, läßt sich leicht sagen: In <strong>de</strong>r Mehrwerttheorie zeigt <strong>de</strong>r Theoretiker M. se<strong>in</strong>e unverbesserlichen <strong>pol</strong>itischen Neigungen.Dabei möchte ihn die Kulturschickeria allzugern als "genialen Wissenschaftler" und "weitsichtigen Analytiker se<strong>in</strong>er(!) Zeit" feiernund <strong>de</strong>m eigenen Fundus großer Männer e<strong>in</strong>verleiben - aber wie soll das gehen? Alles an<strong>de</strong>re könnte man ihm vergeben; man könnte esunter "genial daneben, aber ungeme<strong>in</strong> anregend" abheften und sich ansonsten M.s literarischer und patriotischer Verwertung als "großerDeutscher" und als Superstar <strong>de</strong>r Philosophie widmen. Aber diese Mehrwerttheorie... verständnisloses Kopfschütteln.245Die Geschichte zeigt uns die unterschiedliche Länge <strong>de</strong>r jeweiligen Arbeitstage. Tatsächlich gibt es für die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags ke<strong>in</strong>eobjektive o<strong>de</strong>r dauerhafte Regelung:118


Mit <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Kategorien steckt M. das Terra<strong>in</strong> ab, auf <strong>de</strong>m sich die Beziehungen zwischen<strong>Kapital</strong> und Arbeitskraft, zwischen <strong>de</strong>n Hauptklassen <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft, im Klassenkampfentfalten. Bis h<strong>in</strong> zur Frage, wie <strong>de</strong>r gesellschaftlich erzeugte Mehrwert angeeignet undverwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n soll. Wem "Klassenkampf" zu martialisch kl<strong>in</strong>g, kann auch "Streit <strong>de</strong>r Interessen"o<strong>de</strong>r "Konflikte <strong>de</strong>r Tarifparteien" sagen. <strong>Das</strong> kl<strong>in</strong>gt manchem angenehmer, bezeichnetaber dasselbe.Mit <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>n jeweils dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion hat M. fürdie Analyse dieser Beziehungen se<strong>in</strong>e Leitfrage gefun<strong>de</strong>n. Ihre Beantwortung steht immer neuauf <strong>de</strong>r Tagesordnung. Wie an<strong>de</strong>rs könnte man im <strong>pol</strong>itischen Kampf mit <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Verän<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise Schritt halten? Nur so kann <strong>de</strong>r Grundriss <strong>de</strong>r Klassenverhältnisseaktualisiert wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich durch technische Umgestaltung <strong>de</strong>r Arbeitsprozesseund die Optimierung <strong>de</strong>r Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen fortlaufend verän<strong>de</strong>rt. Ohne Kenntnis diesesGrundrisses wäre e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ordnung <strong>de</strong>r vielen Details <strong>de</strong>s alltäglichen Klassenkampfs nicht möglich.Aber auch die Verän<strong>de</strong>rungen etwa <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters, also die <strong>in</strong>nerenDifferenzierungen <strong>de</strong>r Arbeiterklasse, lassen sich von dieser Leitfrage aus viel ergiebiger untersuchen.247Über e<strong>in</strong>es sollten wir uns aber klar se<strong>in</strong>: Wenn wir lässig von absolutem und relativem Mehrwertre<strong>de</strong>n, s<strong>in</strong>d das unsere analytischen Begriffe. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nicht die Zielpunkte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten.Der <strong>Kapital</strong>ist sagt sich nicht: "Prima, verlängern wir doch die Arbeitszeit, damit <strong>de</strong>r absoluteMehrwert steigt", o<strong>de</strong>r: "Wir sollten mal <strong>de</strong>n Lohn e<strong>in</strong> wenig senken und <strong>de</strong>n relativen Mehrwertsteigern" o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichen. Für ihn gibt es es genausowenig e<strong>in</strong>en Mehrwert, we<strong>de</strong>r absolutennoch relativen, wie es Platz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sicht für e<strong>in</strong>en objektiven Wertbegriff gibt. Für ihnstellt sich alles als unternehmerische Kostenrechnung dar. <strong>Das</strong> "Zwangsgesetz <strong>de</strong>r Konkurrenz"248 richtet se<strong>in</strong>e Interessen darauf aus, m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens so kostengünstig zu produzieren wiese<strong>in</strong>e Konkurrenten, am besten noch günstiger, um Gew<strong>in</strong>n und Marktposition zu verbessern."Der <strong>Kapital</strong>ist behauptet se<strong>in</strong> Recht als Käufer, wenn er <strong>de</strong>n Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus e<strong>in</strong>em Arbeitstag zwei zumachen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur <strong>de</strong>r verkauften Ware e<strong>in</strong>e Schranke ihres Konsums durch <strong>de</strong>n Käufer e<strong>in</strong>, und <strong>de</strong>rArbeiter behauptet se<strong>in</strong> Recht als Verkäufer, wenn er <strong>de</strong>n Arbeitstag auf e<strong>in</strong>e bestimmte Normalgröße beschränken will. Es f<strong>in</strong><strong>de</strong>t hier alsoe<strong>in</strong>e Ant<strong>in</strong>omie statt, Recht wi<strong>de</strong>r Recht, bei<strong>de</strong> gleichmäßig durch das Gesetz <strong>de</strong>s Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechtenentschei<strong>de</strong>t die Gewalt. Und so stellt sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion die Normierung <strong>de</strong>s Arbeitstags als Kampf umdie Schranken <strong>de</strong>s Arbeitstags dar – e<strong>in</strong> Kampf zwischen <strong>de</strong>m Gesamtkapitalisten, d.h. <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, und <strong>de</strong>m Gesamtarbeiter,o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeiterklasse." (MEW 23, S.249)Verän<strong>de</strong>rt sich das Machtverhältnis zu Gunsten <strong>de</strong>r Unternehmer, wie wir es seit 1990 beobachten, hat das auch Auswirkungen auf dieArbeitszeit. So ist es erstmals seit 1950 wie<strong>de</strong>r zur Verlängerung <strong>de</strong>r Arbeitszeit, zum Verlust bereits erkämpfter Arbeitszeitverkürzungengekommen.246Bevorzugte Formulierung ankreuzen; Mehrfachauswahl ist möglich.247Beispiel: Man kann die E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>r Leiharbeit als Beitrag zur Standortsicherung begreifen, also als Stärkung <strong>de</strong>r Unternehmen <strong>in</strong>Deutschland für <strong>de</strong>n <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerb. <strong>Das</strong> war auch die wichtigste <strong>pol</strong>itische Begründung, die <strong>de</strong>r Regierung e<strong>in</strong>gefallen ist,als man das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von 1972 im Zuge <strong>de</strong>r berüchtigten Hartz-Gesetze 2004 unternehmensgerecht mo<strong>de</strong>rnisierte.Dah<strong>in</strong>ter steht zweifellos <strong>de</strong>r Versuch, die Lohnkosten für die Unternehmen zu senken, also die Ausgaben für Arbeitskräfte besser an<strong>de</strong>n aktuellen, und nicht etwa an <strong>de</strong>n längerfristigen Durchschnittsbedarf anzupassen. Diese Ökonomisierung <strong>de</strong>r Lohnkosten ist <strong>in</strong> M.sLesart Steigerung <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts, da bei s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong>r Nachfrage die tatsächlich bezahlte Arbeitszeit zurückgefahren und bei steigen<strong>de</strong>rNachfrage leicht ausgeweitet wer<strong>de</strong>n kann. In <strong>de</strong>r gegenwärtigen Krise hat sich die Leiharbeit bestens bewährt. <strong>Das</strong> waren dieArbeitskräfte, die man sofort entlassen konnte.<strong>Das</strong>s nebenbei mit dieser Maßnahme <strong>de</strong>r Stammbelegschaft immer wie<strong>de</strong>r die drohen<strong>de</strong> Arbeitslosigkeit vor Augen geführt wird, machtsie kompromißbereit und For<strong>de</strong>rungen nach Lohnsenkung und Mehrbelastung zugänglich. Mit <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>r Leiharbeit waren daherfast immer Maßnahmen zur Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit verbun<strong>de</strong>n, was wir <strong>in</strong> M.s Lesart ebenfalls als Steigerung <strong>de</strong>s relativen Mehrwertsverbuchen. Die Spaltung <strong>de</strong>r Belegschaft und die Schwächung ihrer Wi<strong>de</strong>rstandskraft gibt es für <strong>de</strong>n Unternehmer als Gratisdienst dazu,was ihn <strong>in</strong> immer mehr Unternehmen befähigt, sogar die Arbeitszeit selbst zu verlängern, o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> M.s Lesart: Den absoluten Mehrwert zuerhöhen.248M. ist sich über die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Konkurrenz völlig im klaren, geht aber im Mehrwertkapitel nur dort ausnahmsweise darauf e<strong>in</strong>, woer die Anstrengungen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten zur Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität würdigt. Ansonsten ist er hier, wo es um <strong>de</strong>n Mehrwert als119


Auch für die Arbeitskraft existiert ke<strong>in</strong> Mehrwert. 249 Ihre Interessen richten sich auf die Gestaltung<strong>de</strong>s Kaufvertrags, <strong>de</strong>n sie mit <strong>de</strong>m Käufer <strong>de</strong>r Arbeitskraft e<strong>in</strong>geht, also auf Arbeitszeit,Lohn und Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen. Wie sich das im Kampf <strong>de</strong>r Interessen zu mobilisieren<strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungennach <strong>de</strong>m 8-Stun<strong>de</strong>n-Tag o<strong>de</strong>r nach gerechtem Lohn o<strong>de</strong>r nach Humanisierung <strong>de</strong>r Arbeitsweltverdichtet, geht über unser Thema h<strong>in</strong>aus und wäre Gegenstand e<strong>in</strong>er darauf aufbauen<strong>de</strong>nAnalyse <strong>de</strong>r Klassenkämpfe <strong>in</strong> Deutschland. Aber wir sehen, dass e<strong>in</strong>e solche Analyse aus<strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie heraus erfolgen müßte.Deshalb ist die Frage nach Entstehung <strong>de</strong>s Mehrwerts und nach <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>er Steigerungfür M. und uns von so großer Be<strong>de</strong>utung. Damit fragen wir nach <strong>de</strong>r Art und Weise, <strong>in</strong> <strong>de</strong>rsich die ökonomischen Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Klassen über die technologische und organisatorischeGestaltung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses als Sozialstruktur ausbil<strong>de</strong>t. Und wir wer<strong>de</strong>n sehen,dass die beständige technologische und organisatorische Umgestaltung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses zurSicherung <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion mit ebenso beständigen Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Sozialstruktur allerbeteiligten Klassen verbun<strong>de</strong>n ist.Und warum wird das Thema an dieser Stelle, im <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" so ausführlich behan<strong>de</strong>lt,noch vor <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation und <strong>de</strong>r kapitalistischen Konkurrenz?Noch bevor uns M. mit <strong>de</strong>m Profit bekannt macht, <strong>de</strong>r die e<strong>in</strong>zige Form ist, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Unternehmer<strong>de</strong>r Mehrwert überhaupt begegnet? Es gibt e<strong>in</strong>e didaktische und e<strong>in</strong>e pragmatischeAntwort.Didaktisch: Damit wir uns ganz und gar über <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>s Mehrwertsklar wer<strong>de</strong>n. Er entspr<strong>in</strong>gt nicht e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Fabrik und auch nicht e<strong>in</strong>fach allen Fabrikengleichzeitig. Er entspr<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Produktionsverhältnis, das wir <strong>Kapital</strong> nennenund das durch die gesellschaftliche Anwendung <strong>de</strong>r Arbeitskraft als Ware <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert ist.Pragmatisch gesehen war M.s Wunsch leitend, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st die Rolle und Quelle <strong>de</strong>s Mehrwertsausführlich zu behan<strong>de</strong>ln. Er wollte <strong>in</strong> dieser zentralen Frage Klarheit schaffen, unabhängig davon,ob es ihm überhaupt gel<strong>in</strong>gen wür<strong>de</strong>, die weiteren Bän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" fertigzustellen. 250gesellschaftliche Kategorie geht, an <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten e<strong>in</strong>fach nicht <strong>in</strong>teressiert: "Die Art und Weise, wie die immanentenGesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion <strong>in</strong> <strong>de</strong>r äußern Bewegung <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e ersche<strong>in</strong>en, sich als Zwangsgesetze <strong>de</strong>r Konkurrenzgeltend machen und daher als treiben<strong>de</strong> Motive <strong>de</strong>m <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>isten zum Bewußtse<strong>in</strong> kommen, ist jetzt nicht zu betrachten"sagt er schlicht (MEW 23,S. 335). Später, vor allem im 3. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>", wer<strong>de</strong>n wir sehen, welche enorme Be<strong>de</strong>utung für M.sTheorie die kapitalistische Konkurrenz hat.M. (und Engels als Herausgeber) bleiben <strong>de</strong>m Ste<strong>in</strong>-auf-Ste<strong>in</strong> setzen<strong>de</strong>n Stil <strong>de</strong>r Darstellung treu und blen<strong>de</strong>n die Konkurrenz auch an dieserStelle so weit als möglich aus. Wir folgen <strong>in</strong> diesem Punkt und auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen an<strong>de</strong>ren nicht. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Punkte, wo die Ste<strong>in</strong>-auf-Ste<strong>in</strong>-Metho<strong>de</strong> für heutige Leser überstrapaziert wird. Vor allem unsere Leser, die wenig Erfahrung mit <strong>de</strong>m methodischen Geplänkel <strong>pol</strong>itökonomischerDebatten haben, sollen nicht allzusehr <strong>in</strong> Stress geraten o<strong>de</strong>r gar das Gefühl bekommen, auf <strong>de</strong>n Arm genommen zu wer<strong>de</strong>n.Wir lüften manche von M.s Geheimnissen <strong>de</strong>shalb schon vor <strong>de</strong>r methodisch vielleicht gebotenen Zeit. Richtig "geheim" s<strong>in</strong>d die jaschon lange nicht mehr.249Höchstens nach <strong>Teil</strong>nahme an e<strong>in</strong>er entsprechen<strong>de</strong>n Schulung <strong>in</strong> Politischer Ökonomie o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Studium unseres Textes. Es stehtje<strong>de</strong>m frei, die Sache mit <strong>de</strong>m Mehrwert sehr persönlich zu nehmen. Aber es wäre bestenfalls e<strong>in</strong> agitatorischer Scherz, wenn man etwanach 4 Stun<strong>de</strong>n Arbeit ernsthaft und lauthals das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r notwendigen und <strong>de</strong>n Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r Mehrarbeitszeit verkün<strong>de</strong>t. Wir erzeugen <strong>de</strong>nMehrwert we<strong>de</strong>r zeitlich separiert noch e<strong>in</strong>zeln. Er bleibt das gesellschaftliche Produkt <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters. Unsere eigene tagtäglicheLeistung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r betrieblichen Tretmühle ist dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gebettet.250Im <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" ist das umfangreiche Mehrwertkapitel <strong>de</strong>shalb <strong>in</strong> gewisser Weise passend, aber auch <strong>de</strong>m Plan <strong>de</strong>r Darstellungvorauseilend. Es paßt, weil es hier um <strong>de</strong>n Kern von M.s Theorie geht, ohne <strong>de</strong>n alles weitere ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n ergäbe. Es ist vorauseilend,weil M. nicht umh<strong>in</strong> kann, hier schon die Konkurrenz zwischen <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>en <strong>in</strong> die Überlegungen e<strong>in</strong>zubeziehen (was umfassend erst im3. Band erfolgt) und <strong>de</strong>n "Extramehrwert" als Antrieb <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>e zur Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität zu nutzen. Wir er<strong>in</strong>nernuns: In <strong>de</strong>r Mehrwerttheorie wird ja gera<strong>de</strong> das gesellschaftliche Produktionsverhältnis als Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts genannt. Für dasE<strong>in</strong>zelkapital tritt <strong>de</strong>r Mehrwert, wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, nur als Profit auf. Deshalb kann das e<strong>in</strong>zelne <strong>Kapital</strong> durch technische Innovationeigentlich ke<strong>in</strong>en "Extramehrwert", son<strong>de</strong>rn nur Extraprofit erzeugen. M. nimmt diese begriffliche Ungenauigkeit (wie manche an<strong>de</strong>re)gelassen h<strong>in</strong>, weil es ihm wichtiger ist, <strong>de</strong>n Antrieb <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s zur Technisierung <strong>de</strong>r Produktion auch an dieser Stelle schon mal begreifbarzu machen, ohne auf <strong>de</strong>n dritten Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" zu verweisen, von <strong>de</strong>m er zu diesem Zeitpunkt gar nicht wissen konnte, ob <strong>de</strong>r je120


Wir müssen uns an dieser Stelle wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Gesamtarbeiter er<strong>in</strong>nern, zu <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Schlosserebenso gehört wie <strong>de</strong>r Schweißer und <strong>de</strong>r Ingenieur, <strong>de</strong>r Kranführer ebenso wie <strong>de</strong>r Maurer undArchitekt und Statiker, <strong>de</strong>r LKW-Fahrer ebenso wie <strong>de</strong>r Lokführer, <strong>de</strong>r Lehrer ebenso wie <strong>de</strong>r IT-Fachmann, <strong>de</strong>r Buchhalter ebenso wie <strong>de</strong>r Geschäftsführer und so fort. Der gesellschaftliche Gesamtarbeiterunter <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist Basis und Quelle <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion, nichtdas e<strong>in</strong>zelne Unternehmen. <strong>Das</strong> e<strong>in</strong>zelne kapitalistische Unternehmen spielt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gesellschaftlichorganisierten Produktion dieselbe Rolle wie <strong>de</strong>r Warenproduzent <strong>in</strong> unserem Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Warenproduktion.Wie die mo<strong>de</strong>llierten Warenproduzenten s<strong>in</strong>d auch die E<strong>in</strong>zelkapitale aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rangewiesen und bil<strong>de</strong>n nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesamtheit e<strong>in</strong>en funktionieren<strong>de</strong>n zusammenhängen<strong>de</strong>nArbeitsprozess, <strong>de</strong>r die wirkliche Grundlage ihrer <strong>in</strong>dividuellen Verwertungs<strong>in</strong>teressen ist. Gleichzeitigstehen sie <strong>in</strong> scharfer Konkurrenz zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, nicht nur als Produzenten <strong>de</strong>rselben Brancheum Marktanteile, son<strong>de</strong>rn viel umfassen<strong>de</strong>r: In Konkurrenz als <strong>Kapital</strong>verwerter um die Verteilung<strong>de</strong>s gesellschaftlich produzierten Mehrwerts.Der kapitalistischen Anwendung <strong>de</strong>r Arbeitskraft entspr<strong>in</strong>gt nicht nur <strong>de</strong>r Mehrwert, son<strong>de</strong>rnüberhaupt die soziale Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft. Und <strong>de</strong>r Sicherung und Steigerung <strong>de</strong>s Mehrwertsentspr<strong>in</strong>gen die historisch wechseln<strong>de</strong>n Formen dieser Anwendung, die immer auch Än<strong>de</strong>rungen<strong>in</strong> <strong>de</strong>r sozialen Struktur zur Folge haben: Manufaktur o<strong>de</strong>r Fabrik o<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Industrieo<strong>de</strong>r transnationaler Konzern, Fließbandproduktion und Gruppenarbeit, Kernbelegschaft undRandbelegschaft, M<strong>in</strong>ijobs und Leiharbeit... s<strong>in</strong>d immer nur bestimmte Formen, die sich herausbil<strong>de</strong>no<strong>de</strong>r durch an<strong>de</strong>re Formen verdrängt wer<strong>de</strong>n, weil und soweit sie <strong>de</strong>r Mehrwertproduktionunter <strong>de</strong>n jeweiligen Bed<strong>in</strong>gungen mehr o<strong>de</strong>r weniger dienlich s<strong>in</strong>d.Wer es bis jetzt noch nicht gemerkt hat, dass im "<strong>Kapital</strong>" beständig über uns, über unsere Gesellschaft,über unsere Lebensfragen gesprochen wird: Spätestens hier sollte uns e<strong>in</strong> Licht aufgehen.Se<strong>in</strong>en zeitgenössischen Lesern hat M. selbst e<strong>in</strong>en Kronleuchter angezün<strong>de</strong>t, <strong>in</strong><strong>de</strong>m ermit Hilfe <strong>de</strong>r neu gewonnenen Kategorien absoluter Mehrwert und relativer Mehrwert beschreibt,wie sich die Klassenverhältnisse unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s zwischen 1600 und1865 immer wie<strong>de</strong>r neu strukturieren. Wir sehen uns das näher an und versuchen, Bezüge zurGegenwart herzustellen.Romantische Freiheitsduselei und e<strong>in</strong>e Menge DressurWas ist an <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>m absoluten Mehrwert für uns wichtig? Mit <strong>de</strong>r Frage erhalten wire<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Perspektive. Wir erkennen, warum für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags,überhaupt die Gestaltung <strong>de</strong>r Arbeitszeit e<strong>in</strong>e so große Rolle spielt und wie <strong>de</strong>r Kampf umdie Regulierung <strong>de</strong>s Arbeitstags, gera<strong>de</strong> auch um se<strong>in</strong>e Verkürzung, die kapitalistische Entwicklungvorantreibt und nicht etwa hemmt.In <strong>de</strong>r Frühphase <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus g<strong>in</strong>g es darum, die handwerkliche Produktion <strong>in</strong> praktisch unverän<strong>de</strong>rterForm unter die Regie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s zu nehmen. <strong>Das</strong> ist die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Verlagssystemsund <strong>de</strong>r Manufakturen, noch stark geprägt durch die umgeben<strong>de</strong> feudale Gesellschaft. Wir habendas <strong>in</strong> <strong>de</strong>r strukturellen Analyse als formelle Subsumtion bereits kennengelernt.M.s historische Skizze im achten Kapitel <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" 251 zeigt uns diese Perio<strong>de</strong> als harten un<strong>de</strong>rbitterten Kampf <strong>de</strong>r englischen Bourgeosie, die sich auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite gegen die etablierteersche<strong>in</strong>en wür<strong>de</strong>. Und das war weitsichtig, <strong>de</strong>nn se<strong>in</strong>e Ausführungen zur Rolle <strong>de</strong>r Durchschnittsprofitrate und <strong>de</strong>s Extraprofits wur<strong>de</strong>nuns ja tatsächlich erst lange nach M.s Tod durch Engels' Herausgabe <strong>de</strong>s 3. Ban<strong>de</strong>s 1894 zugänglich gemacht.251<strong>Das</strong> Kapitel heißt "Der Arbeitstag" (MEW 23, S.245ff).121


Klasse <strong>de</strong>r Grundbesitzer behaupten, die sich auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>n "doppelt freien Lohnarbeiter"erst gefügig machen muß. Ohne diesen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Schritt, <strong>in</strong> England zwischen1600 und 1750 getan, <strong>in</strong> Deutschland etwa 100 Jahre später und zu<strong>de</strong>m mit viel preußischemDrill 252 , wäre <strong>de</strong>r Übergang zur mo<strong>de</strong>rnen Industrie im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt mit ihrer straffen Arbeitsdiszipl<strong>in</strong>kaum vorstellbar.In <strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>r formellen Subsumtion war <strong>de</strong>r "Kampf gegen die Faulenzerei" (sprich: die gewohnteLebensweise) das große bourgeoise Projekt. Denn <strong>de</strong>r junge <strong>Kapital</strong>ismus hatte die Arbeitskräfteerst e<strong>in</strong>mal zu nehmen, wie er sie vorfand - und so, wie sie waren, waren sie vollerMucken. Man stelle sich vor: Die Tagelöhner <strong>de</strong>s 17. und 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts pflegten <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Manufakturenso lange zu arbeiten, wie es für sie selbst nötig war. Ke<strong>in</strong>en Tag länger. In Jahren guterErnte, wenn Lebensmittel preiswert waren, reichten oft schon 4 Arbeitstage mit selten mehrals 8 bis 10 Arbeitsstun<strong>de</strong>n, um e<strong>in</strong>e ganze Woche über die Run<strong>de</strong>n zu kommen. Warum dannlänger arbeiten? Warum an sechs Tagen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Woche arbeiten? Warum im Dunkeln noch vor<strong>de</strong>n Hühnern aufstehen? 253M. zitiert aus e<strong>in</strong>er damals viel diskutierten Flugschrift von 1770. Dar<strong>in</strong> wird das Elend <strong>de</strong>r frühen<strong>Kapital</strong>isten beklagt, das ihnen durch e<strong>in</strong>e faule Arbeiterbevölkerung bereitet wird. Es heißt:"Wenn es für e<strong>in</strong>e göttliche E<strong>in</strong>richtung gilt, <strong>de</strong>n siebenten Tag <strong>de</strong>r Woche zu feiern, so schließtdies e<strong>in</strong>, daß die andren Wochentage <strong>de</strong>r Arbeit angehören, und es kann nicht grausam gescholtenwer<strong>de</strong>n, dies Gebot Gottes zu erzw<strong>in</strong>gen... Daß die Menschheit im allgeme<strong>in</strong>en vonNatur zur Bequemlichkeit und Trägheit neigt, davon machen wir die fatale Erfahrung im Betragenunsres Manufakturpöbels, <strong>de</strong>r durchschnittlich nicht über 4 Tage die Woche arbeitet, außerim Fall e<strong>in</strong>er Teuerung <strong>de</strong>r Lebensmittel... Die Kur wird nicht vollständig se<strong>in</strong>, bis unsre <strong>in</strong>dustriellenArmen sich beschei<strong>de</strong>n, 6 Tage für dieselbe Summe zu arbeiten, die sie nun <strong>in</strong> 4 Tagen verdienen."Und welche Kur gegen Bequemlichkeit und Trägheit schlägt <strong>de</strong>r Autor 1770 vor? Zur "Ausrottung<strong>de</strong>r Faulenzerei, Ausschweifung und romantischen Freiheitsduselei" sowie "zur M<strong>in</strong><strong>de</strong>rung<strong>de</strong>r Armentaxe, För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Geistes <strong>de</strong>r Industrie und Herabdrückung <strong>de</strong>s Arbeitspreises <strong>in</strong>252E<strong>in</strong> beson<strong>de</strong>re Variante <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Erzeugung diszipl<strong>in</strong>ierter Manufakturarbeiter entwickelte sich <strong>in</strong> Preußen, wo Soldaten und <strong>de</strong>ren Ehefrauenan Manufakturen vermietet wur<strong>de</strong>n und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Sp<strong>in</strong>nereien arbeiten mußten, um <strong>de</strong>n wachsen<strong>de</strong>n Tuchbedarf (nicht zuletzt <strong>de</strong>rpreußischen Armee) zu <strong>de</strong>cken. Dabei erhielt <strong>de</strong>r Kompaniechef für die soldatischen Leiharbeiter die Hälfte <strong>de</strong>s Solds. Die Soldaten undihre Frauen erhielten für die Dauer <strong>de</strong>r "Beurlaubung" die an<strong>de</strong>re Hälfte und kümmerlichen Lohn. Genaugenommen han<strong>de</strong>lt es sich ume<strong>in</strong>en Vorläufer unserer heutigen Leiharbeit, ganz ohne Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Der Manufakturbesitzer erhielt Arbeitskräfte, die<strong>de</strong>r Militärgerichtsbarkeit unterlagen, also nicht e<strong>in</strong>fach gehen konnten, wenn ihnen danach war. Denn genau das passierte zum Kummer<strong>de</strong>r Manufakturbetreiber immer wie<strong>de</strong>r, wenn er auf <strong>de</strong>n doppelt freien Lohnarbeiter zurückgreifen mußte. Wer genug verdient hatte,machte sich davon, um von se<strong>in</strong>em Verdienst erst e<strong>in</strong>mal ohne Plackerei zu leben. <strong>Kapital</strong>istische Lohnarbeit kam ke<strong>in</strong>eswegs als Traum<strong>de</strong>r Massen <strong>in</strong> die Welt, eher schon als Albtraum.253O<strong>de</strong>r gar Nachtarbeit? Noch vor 200 Jahren wäre die For<strong>de</strong>rung nach Nachtarbeit nicht e<strong>in</strong>mal <strong>de</strong>m Hirn e<strong>in</strong>es umnachteten <strong>Kapital</strong>istenentsprungen. Es dauert aber nicht lange, dann erwächst aus <strong>de</strong>m Bedürfnis <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, die neu entstan<strong>de</strong>ne teure Masch<strong>in</strong>erienicht die halbe Nacht als totes <strong>Kapital</strong> ruhen, son<strong>de</strong>rn ihr Tag wie Nacht leben e<strong>in</strong>hauchen zu lassen, e<strong>in</strong>e neue "Naturnotwendigkeit" mit<strong>de</strong>m Namen Nachtarbeit. <strong>Das</strong> durchaus Kannibalische dieses Triebs beschreibt M.: "Die Verlängrung <strong>de</strong>s Arbeitstags über die Grenzen <strong>de</strong>snatürlichen Tags <strong>in</strong> die Nacht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> wirkt nur als Palliativ (= Mittel zur L<strong>in</strong><strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Symptome), stillt nur annähernd <strong>de</strong>n Vampyrdurstnach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Tags anzueignen ist daher <strong>de</strong>r immanente Trieb <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktion. Da dies aber physisch unmöglich, wür<strong>de</strong>n dieselben Arbeitskräfte Tag und Nacht fortwährend ausgesaugt, so bedarf es, zurÜberw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>s physischen H<strong>in</strong><strong>de</strong>rnisses, <strong>de</strong>r Abwechslung zwischen <strong>de</strong>n bei Tag und Nacht verspeisten Arbeitskräften." (MEW 23,S.271) Tatsächlich stehen <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>führung von Tag-Nacht-Schichten zu M.s Zeiten erhebliche moralische Be<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>r englischenÖffentlichkeit gegenüber. Die Be<strong>de</strong>nken äußern sich vor allem mediz<strong>in</strong>isch und betonen zum Beispiel die schädlichen Auswirkungen<strong>de</strong>r Nachtarbeit auf die Gehirnfunktionen. M. dazu trocken: "Daß solche D<strong>in</strong>ge überhaupt <strong>de</strong>n Gegenstand ernsthafter Kontroversen bil<strong>de</strong>n,zeigt am besten, wie die kapitalistische Produktion auf die 'Gehirnfunktionen' <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten und ihrer reta<strong>in</strong>ers (= Gefolgsleute)wirkt." (MEW 23, S.273, Fußnote) Man kann das auch an<strong>de</strong>rs sagen: <strong>Das</strong> heutige Ausmaß an "unvermeidlicher Nachtarbeit" übersteigtsogar <strong>de</strong>n Anteil <strong>de</strong>r Nachtarbeit <strong>in</strong> <strong>de</strong>n "f<strong>in</strong>steren Zeiten" <strong>de</strong>s jungen englischen <strong>Kapital</strong>ismus. O<strong>de</strong>r: Gar so hell s<strong>in</strong>d unsere Zeiten ebendoch nicht; wir haben uns nur daran gewöhnt.122


<strong>de</strong>n Manufakturen" wird die gewaltsame Dressur <strong>de</strong>r Faulenzer <strong>in</strong> Arbeitshäusern verlangt: "E<strong>in</strong>solches Haus muß zu e<strong>in</strong>em Hause <strong>de</strong>s Schreckens (House of Terror) gemacht wer<strong>de</strong>n", <strong>in</strong> <strong>de</strong>mman die e<strong>in</strong>gesperrten Faulenzer nach Abzug <strong>de</strong>r Essenszeiten 12 Stun<strong>de</strong>n täglich an sechs Tagen<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Woche arbeiten läßt. 254Diese For<strong>de</strong>rungen galten 1770 noch als e<strong>in</strong> brutaler Vorstoß; <strong>de</strong>shalb wur<strong>de</strong>n sie auch anonymveröffentlicht. Aber dieselbe For<strong>de</strong>rung von 1770 nach e<strong>in</strong>er Verlängerung <strong>de</strong>s Arbeitstags auf12 Stun<strong>de</strong>n war schon 60 Jahre später e<strong>in</strong>e menschenfreundliche Reform zu se<strong>in</strong>er Verkürzung -auf 12 Stun<strong>de</strong>n. Denselben 12 Stun<strong>de</strong>n Tag, <strong>de</strong>r 1770 zur Dressur <strong>de</strong>r Faulenzer gefor<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>,führte das englische Parlament 1833 zum Schutz <strong>de</strong>r K<strong>in</strong><strong>de</strong>r zwischen 12 und 18 Jahren alsgroße Errungenschaft wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>. M. br<strong>in</strong>gt die historische Ironie auf <strong>de</strong>n Punkt: "<strong>Das</strong> 'Haus <strong>de</strong>sSchreckens' für Paupers, wovon die <strong>Kapital</strong>seele 1770 noch träumte, erhob sich wenige Jahrespäter als riesiges 'Arbeitshaus' für die Manufakturarbeiter selbst. Es hieß Fabrik. Und diesmalerblaßte das I<strong>de</strong>al vor <strong>de</strong>r Wirklichkeit." 255In wenigen Jahrzehnten gelang es <strong>de</strong>r neuen Produktionsweise, e<strong>in</strong>e Lebensweise, die bis dah<strong>in</strong>als natürliche Ordnung 256 galt, zu überrennen. Die Menschen haben sich dieser Entwicklungnicht freiwillig unterworfen. Sie unterwarfen sich <strong>de</strong>r Gewalt <strong>de</strong>r neuen Verhältnisse, um nichtzu verhungern. Und um nicht zu verhungern blieb nur die Lohnarbeit. 257 Während hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>von Arbeitskräften, Männer, Frauen und K<strong>in</strong><strong>de</strong>r, <strong>in</strong> die Fabriken und Bergwerke gesaugtwur<strong>de</strong>n und sich <strong>de</strong>r 14-Stun<strong>de</strong>n-Tag, häufig mehr, an sechs Tagen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Woche als neues natürlichesRegime etablierte, blieben auch die Folgen nicht aus.M. hat genügend statistische Berichte se<strong>in</strong>er Zeit ausgewertet, um vom "Vampyrdurst nach lebendigemArbeitsblut" sprechen zu dürfen, ohne sich <strong>de</strong>n Vorwurf moralisieren<strong>de</strong>r Übertreibunge<strong>in</strong>zuhan<strong>de</strong>ln. So offenbart die frühkapitalistische Verwertungsmasch<strong>in</strong>e vom brutalen undblutigen Quick & Dirty-Typ, von Sozialhistorikern etwas verharmlosend als Manchester-<strong>Kapital</strong>ismusbezeichnet, sehr schnell ihre Risiken.Erstens zeigten sich selbstmör<strong>de</strong>rische Ten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>s Systems. Innerhalb von drei Jahrzehntenwur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, dass bei ungestörter Selbstregulation die Versorgung mit leistungsfähigen und254Vgl. MEW 23, S.291f. Man kann <strong>de</strong>n Text von 1770 direkt <strong>in</strong>s Mo<strong>de</strong>rne übersetzen. Man könnte von fehlen<strong>de</strong>r Leistungsbereitschaft,von Anspruchs<strong>de</strong>nken und übermäßiger Freizeitorientierung re<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d schließlich Fehlentwicklungen <strong>de</strong>s Sozialstaats, die uns aus<strong>de</strong>n Kommentaren <strong>de</strong>r Wirtschaftspresses bestens bekannt s<strong>in</strong>d. Und die Therapie zielt auf M<strong>in</strong><strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Sozialausgaben, auf Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g für<strong>de</strong>n Arbeitsmarkt und E<strong>in</strong>übung <strong>in</strong> die betrieblichen Werte wie E<strong>in</strong>satzfreu<strong>de</strong>, Flexibilität und Belastbarkeit. Und natürlich gehört auch Zurückhaltungbei <strong>de</strong>n Löhnen zum Standardprogramm. Was damals als Schutz vor <strong>de</strong>r Trägheit gut war, kann heute als Beitrag zur Stärkung<strong>de</strong>s Standorts Deutschland nicht schlecht se<strong>in</strong>. Wenn wir <strong>de</strong>n Autor von 1770 <strong>in</strong> dieser Weise übersetzen, ist das nicht e<strong>in</strong>mal <strong>pol</strong>emisch.Die e<strong>in</strong>fache Übersetzbarkeit ist nur möglich, weil das Grundproblem, <strong>de</strong>r Kampf um <strong>de</strong>n absoluten Mehrwert, auch 240 Jahre spätergenauso die Richtung bestimmt - ganz unabhängig davon, wie sich diese objektiven Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Verwertung sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Köpfen<strong>de</strong>r Beteiligten präsentieren.255MEW 23, S.293. M. verwen<strong>de</strong>t für <strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Flugschrift geschmähten "Manufakturpöbel" das Wort "paupers", womit <strong>in</strong> <strong>de</strong>r öffentlichenDebatte die Armen, Elen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r auch Almosenempfänger bezeichnet wur<strong>de</strong>n. Mo<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong> man das je nach Standort und Abgebrühtheitals E<strong>in</strong>kommensschwache o<strong>de</strong>r Hängemattenlieger o<strong>de</strong>r Sozialschmarotzer o<strong>de</strong>r work<strong>in</strong>g poor übersetzen.256Ach ja, die Natürlichkeit: Tatsächlich wird je<strong>de</strong>r Lebensweise, die nur e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> die Vorzeit <strong>de</strong>r leben<strong>de</strong>n Generationen reicht, dasEtikett "natürlich" aufgeklebt. <strong>Das</strong> gilt auch für uns: Sogar Autofahren, als Massenphänomen ke<strong>in</strong>e 50 Jahre alt, hat für viele schon <strong>de</strong>nStatus e<strong>in</strong>es natürlichen Rechts. Und "natürlich" macht man jährlich Flugreisen <strong>in</strong> frem<strong>de</strong> Län<strong>de</strong>r - war das <strong>de</strong>nn nicht immer so?257<strong>Das</strong> mit <strong>de</strong>m Verhungern ist wörtlich zu nehmen. Denn flankierend zu zahlreichen Zwangsgesetzen, mit <strong>de</strong>nen die Menschen <strong>in</strong> "ungeordnetenLebensverhältnissen" <strong>de</strong>r Willkür <strong>de</strong>r Polizeit und <strong>de</strong>r Arbeitshäuser ausgeliefert wur<strong>de</strong>n, gab es an<strong>de</strong>re Gesetze: VerschärftesVorgehen gegen Wil<strong>de</strong>rei und Waldfrevel, damit ja niemand sich an Kan<strong>in</strong>chen o<strong>de</strong>r Beeren o<strong>de</strong>r Brennholz vergreift und dadurch se<strong>in</strong>enLebensunterhalt bestreitet. Hart waren die Strafen für je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r so <strong>de</strong>m Fabrikanten als "Parasit frem<strong>de</strong>n Eigentums" e<strong>in</strong>e Nase drehenwollte. Noch brutaler die Gesetze gegen Bettelei und Vagabundage, die zeitweilig zu groß angelegten Menschenjag<strong>de</strong>n führten, damitArbeitshäuser aufgefüllt und <strong>de</strong>n Fabrikanten billige Arbeitskräfte zugeführt wer<strong>de</strong>n konnten, an <strong>de</strong>nen die Betreiber <strong>de</strong>r Arbeitshäuser,echte K<strong>in</strong><strong>de</strong>r <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus, dank <strong>de</strong>s Handgelds e<strong>in</strong>en guten Profit erzielten. Alles im Namen e<strong>in</strong>er natürlichen und daher göttlichenOrdnung - natürlich.123


elastbaren Arbeitskräften und damit das System selbst <strong>in</strong> Gefahr geraten wür<strong>de</strong>. Sprich: Zu vieleArbeitstote, zu viele Invali<strong>de</strong>n. Krankheiten und Mangelernährung gefähr<strong>de</strong>ten zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s19. Jahrhun<strong>de</strong>rts das etwa ab 1750 stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Bevölkerungswachstum. 258 Für das fast vollständignoch auf extensive Ausweitung <strong>de</strong>r Produktion orientierte <strong>Kapital</strong> wur<strong>de</strong> es im erstenDrittel <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rs immer schwieriger, ausreichen<strong>de</strong>n Nachschub an belastbaren unddiszipl<strong>in</strong>ierten Arbeitskräften zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, auch wenn man versuchte, durch Anwerbungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>nländlichen Gegen<strong>de</strong>n und <strong>in</strong> Irland die Verwertungsmasch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Gang zu halten.Zweitens ist die an<strong>de</strong>re Seite zu beachten. Die Elen<strong>de</strong>n von Manchester und Newcastle, vonLondon und Bedford haben ihren eigenen Kopf. Spätestens mit <strong>de</strong>m ersten großen Arbeiterstreik,<strong>de</strong>m Weberstreik von 1812, wird klar, dass auch mit <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft<strong>in</strong> Zukunft zu rechnen se<strong>in</strong> wür<strong>de</strong>. In zahllosen, kaum dokumentierten kle<strong>in</strong>en und kle<strong>in</strong>stenAktionen, bekommen die Fabrikanten diesen Wi<strong>de</strong>rstand als alltäglichen Klassenkampf zuspüren. Schließlich tritt <strong>in</strong> immer lauter wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen nach Begrenzung <strong>de</strong>s Arbeitstags<strong>de</strong>r Gesamtarbeiter selbst als soziale Klasse mit eigenen Persönlichkeiten und eigenen Interessenauf. 259Zwischenfrage 49: Kann man sagen, dass e<strong>in</strong> großer <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s ökonomischen Klassenkampfs ebenso zumWohl <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten wie zum Wohl <strong>de</strong>r Arbeiter erfolgt, die ihn führen? (S.282)Die Gewerkschaften (unions), obwohl lange Zeit verboten, geben <strong>de</strong>n Klassenkämpfen neue Impulseund leisten ironischerweise mehr für die Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweiseals die <strong>in</strong>sgesamt doch eher engstirnigen, ganz auf ihre unmittelbaren Interessen fixierten <strong>Kapital</strong>istendas tun. Die müssen tatsächlich erst durch Verkürzung <strong>de</strong>s Arbeitstags, dann auch durchErhöhung <strong>de</strong>r Löhne zu ihrem Glück gezwungen wer<strong>de</strong>n.Mit <strong>de</strong>r staatlichen Fixierung <strong>de</strong>s Arbeitstags, die <strong>in</strong> England etwa 1833 beg<strong>in</strong>nt und <strong>in</strong> an<strong>de</strong>renkapitalistischen Län<strong>de</strong>rn etwas später e<strong>in</strong>setzt, wird das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r quick & dirty Phase <strong>de</strong>s frühen<strong>Kapital</strong>ismus e<strong>in</strong>geleitet. Nicht nur zum Wohl <strong>de</strong>r Arbeiterklasse, die je<strong>de</strong> Arbeitszeitverkürzungzu Recht als Erfolg feierte. Es ist vor allem zum Wohl <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten selbst geschehen, wenndas ihren bornierten Vertretern auch immer erst im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>leuchtete.258Die E<strong>in</strong>wohnerzahl Manchesters hat sich zwischen 1760 und 1830 auf 180.000 mehr als verzehnfacht. Um die Kosten für Baulichkeitenzu reduzieren haben die Fabriken bis zu 12 Stockwerke. Bis zu 15 Männer, Frauen und K<strong>in</strong><strong>de</strong>r leben zusammengepfercht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Raum <strong>in</strong>heruntergekommenen Häusern. <strong>Das</strong> Städtewachstum war sowohl e<strong>in</strong>e Folge <strong>de</strong>r Verdrängung von Arbeitskräften auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> als auche<strong>in</strong>e Folge allgeme<strong>in</strong>en Bevölkerungswachstums <strong>in</strong> England ab 1750. <strong>Das</strong> Bevölkerungswachstum war selbst e<strong>in</strong>e Folge <strong>de</strong>r Industrialisierung:Erhöhte Produktivität <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Landwirtschaft und Vertreibung <strong>in</strong> die Großstädte war die Grundlage. Die neuen Lebensverhältnisse <strong>in</strong><strong>de</strong>n Städten, aber auch die endgültige Durchsetzung <strong>de</strong>r Lohnarbeit auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>, senkten das Heiratsalter und erhöhten die Ehequoteund Geburtenzahlen.259Von großem E<strong>in</strong>fluß auf die Kompromißbereitschaft <strong>de</strong>r Bourgeosie war <strong>de</strong>r Lyoner Aufstand vom 2<strong>1.</strong> November 1831 <strong>in</strong> Frankreich,<strong>de</strong>r <strong>in</strong> ganz Europa für Aufsehen sorgte. Hungern<strong>de</strong> Sei<strong>de</strong>nweber protestierten gegen Lohnkürzungen. Von <strong>de</strong>r Nationalgar<strong>de</strong> angegriffen,g<strong>in</strong>gen die Weber zum bewaffneten Wi<strong>de</strong>rstand über. Ihre Losung: "Arbeitend leben o<strong>de</strong>r kämpfend sterben!"Die noch an das Verlagswesen gebun<strong>de</strong>nen 40.000 Kle<strong>in</strong>eigentümer und Lohnarbeiter, abhängig von <strong>de</strong>r Willkür von 392 Fabrikanten,brachten die Stadt <strong>in</strong> ihre Gewalt. Drei Tage lang dauerten die Straßenkämpfe. Die Aufständischen eroberten Waffenlager und Munitions<strong>de</strong>pots,zermürbten die 3000 Soldaten umfassen<strong>de</strong> Garnison und vertrieben die noch stärkere Nationalgar<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Stadt.Erst durch lügnerische Versprechungen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Weber gebrochen. Aber statt <strong>de</strong>r vere<strong>in</strong>barten Gespräche über "gerechteTarife" wur<strong>de</strong> das Recht <strong>de</strong>r Fabrikanten bestätigt, Löhne nach freiem Ermessen zu zahlen. Dennoch: Der Aufstand von Lyon war e<strong>in</strong>schwerer Schock für die Bourgeoisie <strong>in</strong> ganz Europa. Ludwig Börne als Vertreter <strong>de</strong>s liberalen Bürgertums erkannte die Zeichen: "Es istwahr, <strong>de</strong>r Krieg <strong>de</strong>r Armen gegen die Reichen hat begonnen, und wehe jenen Staatsmännern, die zu dumm o<strong>de</strong>r zu schlecht s<strong>in</strong>d, zu begreifen,daß man nicht gegen die Armen, son<strong>de</strong>rn gegen die Armut zu Fel<strong>de</strong> ziehen müsse." (Ludwig Börner, Briefe aus Paris; 1832)124


Was ist normal am Normalarbeitstag?Mit <strong>de</strong>r ersten staatlichen Regulierungen zur Arbeitszeit beg<strong>in</strong>nt die Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung um<strong>de</strong>n "Normalarbeitstag": Von <strong>de</strong>n Kämpfen um <strong>de</strong>n regulären 12-Stun<strong>de</strong>n-Tag bis zur E<strong>in</strong>führung<strong>de</strong>s 8-Stun<strong>de</strong>n-Tags 260 führt e<strong>in</strong> langer und längst nicht abgeschlossener Weg. Denn tatsächlichist an <strong>de</strong>r Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags überhaupt nichts "normal": Se<strong>in</strong>e Länge wie auch <strong>de</strong>rUmfang <strong>de</strong>r Arbeitszeit verteilt auf die Woche, auf das Jahr und das Leben e<strong>in</strong>es Menschen s<strong>in</strong>dErgebnis beständiger Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungen, die auch nicht <strong>de</strong>shalb aufhören, wirklicher Klassenkampfzu se<strong>in</strong>, weil die Beteiligten dafür harmlos kl<strong>in</strong>gen<strong>de</strong> Bezeichnungen wie Tarifkonflikto<strong>de</strong>r Arbeitsmarkt<strong>pol</strong>itik o<strong>de</strong>r Flexibilisierung verwen<strong>de</strong>n und e<strong>in</strong>ige sich nicht entblö<strong>de</strong>n, lauthalsdas En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Klassenkampfs zu verkün<strong>de</strong>n. Aber mit <strong>de</strong>m Klassenkampf ist es <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sichtwie mit <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>, von <strong>de</strong>r e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer Karl, e<strong>in</strong> sogenannter Mo<strong>de</strong>schöpfer, klugerweisesagte: "Der Mo<strong>de</strong> entkommt man nicht. Denn auch wenn Mo<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> kommt, ist dasschon wie<strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>."Blicken wir mit e<strong>in</strong>em kurzen Auszug aus <strong>de</strong>m 8. Kapitel <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" auf jene Zeit zurück, als<strong>de</strong>r Kampf um die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags ganz oben auf <strong>de</strong>r Agenda <strong>de</strong>s Klassenkampfs standund wo er, da s<strong>in</strong>d wir sicher, <strong>de</strong>mnächst auch wie<strong>de</strong>r stehen wird:Lektüre: Karl Marx: S.321Die Steigerung <strong>de</strong>s absoluten Mehrwerts ist ke<strong>in</strong>eswegs Geschichte. M.s Feststellung: "DieSchöpfung e<strong>in</strong>es Normalarbeitstags ist daher das Produkt e<strong>in</strong>es langwierigen, mehr o<strong>de</strong>r m<strong>in</strong><strong>de</strong>rversteckten Bürgerkriegs zwischen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse und <strong>de</strong>r Arbeiterklasse" 261 wür<strong>de</strong>n wirheute weniger martialisch formulieren und nicht gleich vom Bürgerkrieg re<strong>de</strong>n. Aber wer willleugnen, dass dieser Kampf im vollen Gange ist? Mit <strong>de</strong>m Wegfall <strong>de</strong>r Systemkonkurrenz durchdie sozialistischen Staaten nach 1990 und mit <strong>de</strong>r Machtverschiebung h<strong>in</strong> zum harten neoliberalenKern <strong>de</strong>r Bourgeoisie hat die For<strong>de</strong>rung nach "weniger Staat" und "mehr Markt" auch dasgesamte System <strong>de</strong>r tariflichen Arbeitszeitregelung <strong>in</strong> Deutschland zugunsten <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenwie<strong>de</strong>r verschoben. 262Man ahnt vielleicht, was <strong>de</strong>r alte Vampyrdurst, wie M. das nannte, bei nachlassen<strong>de</strong>m gewerkschaftlichemWi<strong>de</strong>rstand noch anrichten könnte. E<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> die heutigen Schwitzbu<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sebenso wie <strong>in</strong> die mo<strong>de</strong>rnen Produktionsstätten <strong>de</strong>r transnationalen Konzerne <strong>in</strong> <strong>de</strong>n so-260Der 8-Stun<strong>de</strong>n-Tag als Normalarbeitstag wur<strong>de</strong> erstmals 1866 durch die Internationale Arbeiterassoziation gefor<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>ren SekretariatM. angehörte. Danach dauerte es noch mehr als 50 Jahre. Erst die revolutionäre Krise nach <strong>de</strong>m <strong>1.</strong> Weltkrieg legte <strong>in</strong> vielen europäischenLän<strong>de</strong>rn die Grundlage. So blieb uns von <strong>de</strong>r Novemberrevolution 1918 <strong>in</strong> Deutschland vielleicht nicht viel, immerh<strong>in</strong> aber das Gesetz über<strong>de</strong>n 8-Stun<strong>de</strong>n-Tag (e<strong>in</strong>er 6-Tage-Woche) und das gleiche Wahlrecht für Männer und Frauen. Die Verwirklichung <strong>de</strong>s rechtlichen Anspruchsfreilich dauerte noch wesentlich länger.261MEW 23, S.316262Dieser Kampf um die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags ist ke<strong>in</strong>eswegs been<strong>de</strong>t. <strong>Das</strong> dürften viele Leser aus eigener Erfahrung wissen. Machtverhältnisseverän<strong>de</strong>rn sich. Waren es vor 30 Jahren noch die Gewerkschaften, die für <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>r Arbeiterklasse e<strong>in</strong>e Verkürzung <strong>de</strong>r Wochenarbeitszeitdurchsetzen konnten, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Jahren die Unternehmer am Drücker. Es gel<strong>in</strong>gt ihnen <strong>in</strong> vielen Bereichen, Arbeitszeitverkürzungenwie<strong>de</strong>r rückgängig zu machen, so wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Automobil<strong>in</strong>dustrie wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r 35- und 37-Stun<strong>de</strong>nwoche zur 38,5 zurückgekehrtwur<strong>de</strong>; für große <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>r Belegschaften wur<strong>de</strong> sogar e<strong>in</strong>e 42 Stun<strong>de</strong>nwoche festgeschrieben, was nur die Richtung beschreibt,die das nehmen soll.Auch die Kürzung <strong>de</strong>r Ansprüche auf Urlaub und Son<strong>de</strong>rurlaub, <strong>de</strong>r durch angedrohte Entlassungen reduzierte Krankenstand ("aus Angstvor Entlassung gesund gewor<strong>de</strong>n"), die Streichung von Feiertagen... mit solchen Maßnahmen wird flächen<strong>de</strong>ckend an <strong>de</strong>r Ausweitung <strong>de</strong>rArbeitszeit gearbeitet.Vor allem bei <strong>de</strong>r Reduzierung <strong>de</strong>r Urlaubsansprüche gibt es offenbar noch Reserven, wie man gerne durch Rückgriff auf <strong>de</strong>n japanischenArbeitnehmer illustriert; über <strong>de</strong>n lesen wir nämlich: "Im Durchschnitt nahmen die Arbeitnehmer nur 46 Prozent <strong>de</strong>r ihnen pro Jahr zustehen<strong>de</strong>n17 Tage bezahlter Ferien." (NZZ 23.12.2008)125


genannten Schwellen- und Entwicklungslän<strong>de</strong>rn 263 gibt uns e<strong>in</strong>en Vorgeschmack. Was dort geschieht,ist ja nicht nostalgisch geme<strong>in</strong>t. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Vorboten weiterer Angriffe auf die bestehen<strong>de</strong>nArbeitszeitregelungen bei uns. Sie s<strong>in</strong>d fester Bestandteil <strong>de</strong>r strategischen Überlebensplanungfür gefähr<strong>de</strong>te Profitraten. Wer glaubt, <strong>de</strong>r absolute Mehrwert sei etwas aus <strong>de</strong>r alt<strong>in</strong>dustriellenMottenkiste, wird e<strong>in</strong>es besseren belehrt.Zurück zu M.s Skizze über die Geschichte <strong>de</strong>s "Normalarbeitstags" zwischen 1600 und 1865:Mit <strong>de</strong>r staatlichen Regulation <strong>de</strong>r Arbeitszeit wird <strong>de</strong>r <strong>in</strong>nere Vampir-Trieb <strong>de</strong>s Systems umgelenkt.Dabei g<strong>in</strong>g es vor und zurück. Ke<strong>in</strong> Argument war dumm genug, um nicht breit ausgewälztzu wer<strong>de</strong>n: Mit je<strong>de</strong>r Verkürzung <strong>de</strong>s Arbeitstages prophezeiten die <strong>Kapital</strong>isten ihr eigenesEn<strong>de</strong>.<strong>Das</strong> Gegenteil war <strong>de</strong>r Fall. Tatsächlich erweist sich die unter Kämpfen erzwungene Grenzziehungbeim Arbeitstag und bei <strong>de</strong>r Wochenarbeitszeit alles <strong>in</strong> allem als echter Glücksgriff für die<strong>Kapital</strong>isten. Alle <strong>Kapital</strong>e erhalten bezüglich <strong>de</strong>s Arbeitstags wie<strong>de</strong>r vergleichbare Konkurrenzbed<strong>in</strong>gungen.So können an<strong>de</strong>re Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund treten,die viel erfolgreicher s<strong>in</strong>d und die wir bereits als Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts bei M.kennenlernten."...revolutioniert durch und durch..."In <strong>de</strong>r Frühphase <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise, geprägt durch Verlagssystem und Manufaktur,hatten die Akteure kaum begriffen, dass etwas historisch völlig Neues entstan<strong>de</strong>n war.Was man selbst machte, erschien <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten <strong>de</strong>s 17. und 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts nur als e<strong>in</strong>e Art263Bei <strong>de</strong>n Schwitzbu<strong>de</strong>n geht es nicht nur um die sogenannte "Dritte Welt". Solche Schwitzbu<strong>de</strong>n gibt es auch bei uns <strong>in</strong> Mengen. Wiesollen wir es nennen, wenn zehntausen<strong>de</strong> Arbeitskräfte <strong>in</strong> Deutschland, meistens Frauen, zu ungünstigsten Arbeitszeiten und niedrigstenLöhnen <strong>de</strong>n Krawattenträgern <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters die Büros und Klos säubern? Der durch Outsourc<strong>in</strong>g und an<strong>de</strong>re Maßnahmen erzeugteDruck auf die Löhne ist längst bei uns angekommen und hat sich seit 15 Jahren von e<strong>in</strong>em Brückenkopf zu e<strong>in</strong>em akzeptierten Tarifbereichentwickelt, <strong>de</strong>n auch kritische Gewerkschafter <strong>de</strong>rzeit bestenfalls mit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach e<strong>in</strong>em M<strong>in</strong><strong>de</strong>stlohn bekämpfen wollen.Die Entwicklung geht weiter: Durch zunehmen<strong>de</strong> Leiharbeit wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Unternehmen die Lohnkosten gesenkt, tarifliche Vere<strong>in</strong>barungenunterlaufen und die Belegschaft <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger verdienen<strong>de</strong> Leiharbeiter und Gelegenheitsarbeiter und besser verdienen<strong>de</strong> Stammbelegschaftgespalten. Es gibt bereits Unternehmen, die eigene Leiharbeitsfirmen betreiben o<strong>de</strong>r daran beteiligt s<strong>in</strong>d, um sich auf diesem Wegselber billige tariffreie Arbeitskräfte mit verlängerten Arbeitszeiten zuzuführen.Neben <strong>de</strong>n Angriffen auf die <strong>in</strong> Tarifen fixierten Errungenschaften gibt es die tagtäglichen Sticheleien, die von außen nicht sichtbaren, fürdie Betroffenen aber sehr wohl spürbaren Zumutungen. In <strong>de</strong>n meisten Unternehmen wird stillschweigend viel mehr an E<strong>in</strong>satz erwartet,als im Arbeitsvertrag festgeschrieben ist. Zeitlich befristete Arbeitsverträge o<strong>de</strong>r sogenannte <strong>in</strong>formelle Arbeitsverhältnisse wie Praktikantenstellen,Werkverträge und merkwürdige Probezeiten schaffen dafür die Grundlage. H<strong>in</strong>zu kommt <strong>de</strong>r allgegenwärtige Druck durchständige Drohungen <strong>de</strong>s Managements mit Abbau von Arbeitsplätzen. Und ohne Frage haben wir es selbst auch <strong>de</strong>n lange Jahre praktiziertenautomatischen Tarifrallys zu verdanken, wenn es heute kampferfahrene Belegschaften kaum mehr gibt.In <strong>de</strong>r IT-Branche s<strong>in</strong>d unbezahlte Überstun<strong>de</strong>n ("Mehrarbeitszeit") an <strong>de</strong>r Tagesordnung. Schließlich will man doch Karriere machen...E<strong>in</strong>satzbereitschaft zeigen... Man macht das nicht wirklich freiwillig, <strong>de</strong>nn man weiß, dass an<strong>de</strong>rnfalls <strong>de</strong>r zeitlich befristete Arbeitsvertragwohl kaum verlängert wür<strong>de</strong>. Durch vielfältige Metho<strong>de</strong>n, W<strong>in</strong>kelzüge und Kniffe s<strong>in</strong>d die Unternehmen dabei, noch mehr Arbeitszeit aus<strong>de</strong>n Arbeitskräften herauszuholen und <strong>de</strong>ren <strong>in</strong>dividuellen Wi<strong>de</strong>rstand zu brechen.Doch statt <strong>de</strong>n durch Riesenerfolge seit mehr als 120 Jahren bewährten Weg <strong>de</strong>s gewerkschaftlichen Wi<strong>de</strong>rstands zu gehen, geben sichviele Angehörige <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters damit zufrie<strong>de</strong>n, ihren eigenen kle<strong>in</strong>en Kampf mit ihren eigenen kle<strong>in</strong>en Siegen zu führen: Da male<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten für sich rausholen, dort mal e<strong>in</strong>e Erkältung verlängern. Aussichtslos, damit etwas gew<strong>in</strong>nen zu wollen. Die schnell sichverbreiten<strong>de</strong>n Personal-Kontroll-Systeme, die mit <strong>de</strong>n elektronischen Ausweisen nicht nur die Anwensenheit im Betrieb, son<strong>de</strong>rn auch je<strong>de</strong>nBesuch beim Kaffeeautomaten, je<strong>de</strong> P<strong>in</strong>kelpause, je<strong>de</strong> M<strong>in</strong>ute <strong>de</strong>r Mittagspause dokumentieren können, s<strong>in</strong>d schon <strong>in</strong>stalliert undwarten nur noch auf <strong>de</strong>n Große<strong>in</strong>satz. Sogar <strong>de</strong>r gesamte Aktionsraum e<strong>in</strong>es Beschäftigten läßt sich kontrollieren und se<strong>in</strong>em Leistungsprofilh<strong>in</strong>zufügen. Da erfüllt sich mancher uralte Unternehmertraum. Unter Big Brothers Bewachung bleibt <strong>de</strong>r Belegschaft nur völlige Unterwerfung(womöglich mit gegenseitigem Mobb<strong>in</strong>g)... o<strong>de</strong>r geme<strong>in</strong>samer Wi<strong>de</strong>rstand. Diese Lektion muß aber unter <strong>de</strong>n verän<strong>de</strong>rten Bed<strong>in</strong>gungenerst wie<strong>de</strong>r voller Mühen gelernt wer<strong>de</strong>n.126


neuer Fronarbeit durch Lohnarbeit, als e<strong>in</strong>e Fortsetzung <strong>de</strong>s alten feudalen Systems mit neuen,mo<strong>de</strong>rnen Mitteln. 264 Und lange Zeit war es auch nur das.Erst als <strong>de</strong>r direkte und brutale "quick & dirty" Weg über die Steigerung <strong>de</strong>s absoluten Mehrwertsdurch <strong>de</strong>n Normalarbeitstag begrenzt wur<strong>de</strong>, beschreitet die neue Klasse <strong>de</strong>r Fabrikantenauch neue Wege. M. beschreibt diesen Weg als Übergang von <strong>de</strong>r Manufaktur zum entwickeltenFabriksystem unter <strong>de</strong>m Stichwort Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts. Uns ist das als Übergangvon <strong>de</strong>r formellen zur reellen Subsumtion bereits begegnet. Aber jetzt kommt sozusagenFleisch und Fell an das Gerippe unserer strukturellen Analyse.Zwischenfrage 50: Ist <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist durchweg e<strong>in</strong> technischer Neuerer? O<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d ihm klare Grenzengezogen? (S.282)Der Zwang zur Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, zur Mehrwertproduktion, hört mit <strong>de</strong>m Normalarbeitstagnicht auf. Aber wegen <strong>de</strong>r physischen und jetzt auch <strong>pol</strong>itischen Grenzen <strong>de</strong>s Arbeitstagsmuß die Verwertungsmasch<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>rs <strong>in</strong> Gang gehalten wer<strong>de</strong>n. Die brutale Metho<strong>de</strong>, immermehr Arbeitskräfte immer länger arbeiten zu lassen, funktioniert nicht mehr richtig. Jetzt geht esdarum, die vorhan<strong>de</strong>ne Arbeitskraft besser zu nutzen, die man im Ganzen doch zutreffend alshands 265 bezeichnete. Dieser Wechsel von <strong>de</strong>r extensiven Anwendung <strong>de</strong>r Lohnarbeit, extensivnach Zahl <strong>de</strong>r Beschäftigten wie nach <strong>de</strong>r Zeitdauer ihrer Ausnutzung, h<strong>in</strong> zu <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnenFormen <strong>de</strong>s <strong>in</strong>tensivierten Produktionsprozesses, geht ke<strong>in</strong>eswegs gradl<strong>in</strong>ig. <strong>Das</strong> geht zunächsttastend und mit vielen Sackgassen und sche<strong>in</strong>baren Umwegen. 266 Aber <strong>in</strong> diesen Jahrzehntenzwischen 1780 und 1850, ent<strong>de</strong>ckt die junge Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten ihre historisch neuen, e<strong>in</strong>zigartigenMöglichkeiten, durch die man sich im Ergebnis endgültig von allem verabschie<strong>de</strong>t,was mit <strong>de</strong>r feudalen Ökonomie noch verb<strong>in</strong><strong>de</strong>t.Jetzt erfahren wir, was reelle Subsumtion wirklich be<strong>de</strong>utet: <strong>Das</strong> ist ke<strong>in</strong> neues Produktionsmo<strong>de</strong>ll,von genialen Unternehmern entworfen und umgesetzt. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>e fast 400jährige Entwicklungvon <strong>de</strong>n ersten Manufakturen, die überwiegend auf feudale Initiative zurückg<strong>in</strong>genund häufig <strong>de</strong>r Produktion von gut exportierbaren Luxusartikeln dienten, über die Manufakturenim Textilbereich, die erstmals so etwas wie e<strong>in</strong>e Masssenproduktion anstrebten, bis zu <strong>de</strong>n erstenGroßfabriken <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen hun<strong>de</strong>rte von Werkzeugmasch<strong>in</strong>en durch264Deshalb galt ihnen auch so lange die extensive Verwertung, also die Steigerung <strong>de</strong>s Mehrwerts durch Verlängerung <strong>de</strong>r Arbeitszeit unddurch Vermehrung <strong>de</strong>r gleichzeitig angewen<strong>de</strong>ten Arbeitskräfte, als <strong>de</strong>r naheliegen<strong>de</strong> Weg, so wie <strong>de</strong>r feudale Grundherr se<strong>in</strong>en Reichtumdurch Ausweitung <strong>de</strong>s Grundbesitzes und mehr Leibeigene und Pächter steigerte. Die junge Bourgeoisie, die ihre Rechte <strong>in</strong> England gegen<strong>de</strong>n alten A<strong>de</strong>l durchsetzte, etablierte sich nicht zufällig als e<strong>in</strong>e Art neuer A<strong>de</strong>l. Sie kopierte <strong>de</strong>n Lebensstil ihrer Vorgänger. Lan<strong>de</strong>rwerbund Leben als Grundbesitzer war für die neue Fabrikantenklasse <strong>de</strong>r angestrebte Lebensstil. Entsprechend feudal und selbstherrlich wardie Haltung <strong>de</strong>s Fabrikanten zu "se<strong>in</strong>en Arbeitskräften". Die doppelte Freiheit <strong>de</strong>s Lohnarbeiters war aus se<strong>in</strong>er Sicht nur für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>istengemacht, damit <strong>de</strong>r sich die Freiheit nehmen konnte, ganz nach Bedarf zu heuern und zu feuern. <strong>Das</strong> ist die uns auch heute noch bestensbekannte "Gutsherrenart".265Die "Zahl <strong>de</strong>r Hän<strong>de</strong>" war das übliche Maß <strong>de</strong>s frühkapitalistischen Unternehmers. Er war praktisch noch Alle<strong>in</strong>herrscher im Klassenkampf.Er brauchte sich ke<strong>in</strong>e Verzierungen abzubrechen und von "Mitarbeitern" und "Unternehmensphilosophie" zu schwatzen. Die an<strong>de</strong>n Werktischen saßen waren hands; nur das, was ihre Hän<strong>de</strong> leisteten, war von Interesse. Für Kopf und Geist gab es bestenfalls Erbauungssprücheaus <strong>de</strong>r Bibel an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r frühen Werkhallen, sozusagen als Schmiermittel für das unternehmerische Gewissen."Im Schweiße <strong>de</strong><strong>in</strong>es Angsichts sollst Du <strong>de</strong><strong>in</strong> Brot verdienen" war vermutlich unter <strong>de</strong>n Top Ten für geistig-moralisch aufbauen<strong>de</strong>nWandschmuck - und als Unternehmensphilosophie auch völlig ausreichend.266Es steht ausser Frage, dass die <strong>in</strong>dustrielle Umwälzung, die zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>in</strong> England e<strong>in</strong>setzte, auch schon 100 Jahrefrüher hätte beg<strong>in</strong>nen können. Tatsächlich brauchte die neue Produktionsweise e<strong>in</strong>ige Jahrzehnte, um sich <strong>de</strong>r längst schon vorhan<strong>de</strong>nentechnischen Erf<strong>in</strong>dungen, etwa <strong>de</strong>r Dampfkraft, auch produktiv zu bedienen. Erst die Vitalisierung durch die klassenkämpferischen Aktionen<strong>de</strong>s Gesamtarbeiters brachten die Bourgoisie <strong>in</strong> Schwung; jetzt ent<strong>de</strong>ckten Sie, dass sich Technik auch hervorragend eignet, um aufmüpfigeArbeiter zu diszipl<strong>in</strong>ieren. Auch die Technisierung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses wird zu e<strong>in</strong>em Instrument <strong>de</strong>s Klassenkampfs. Wir kommendarauf noch zu sprechen.127


Dampfkraft angetrieben wur<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Arbeitsrhythmus für e<strong>in</strong>ige hun<strong>de</strong>rt, später dann vieletausend Arbeitskräfte bestimmten.In se<strong>in</strong>er historischen Skizze zeichnet M. diese Entwicklung nach, freilich nicht als Wirtschaftso<strong>de</strong>rTechnikhistoriker. 267 Für ihn s<strong>in</strong>d die treiben<strong>de</strong>n Kräfte dieser Entwicklung von Interesse:Warum entsteht aus <strong>de</strong>r Manufaktur die Fabrik? Warum entstehen aus kle<strong>in</strong>en Fabriken großeFabriken? Warum nimmt die Entwicklung <strong>de</strong>r Produktionstechnik mit <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweisee<strong>in</strong>e so stürmische Entwicklung? Wie wirkt sich das alles unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungene<strong>in</strong>es geregelten Normalarbeitstags auf <strong>de</strong>n Mehrwert aus? Welche Möglichkeiten hat <strong>de</strong>r Unternehmerüberhaupt, unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>es gekürzten Arbeitstags die Produktion vonMehrwert <strong>in</strong> Gang zu halten, nach Möglichkeit zu steigern?Die grundlegen<strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n zur Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts umreißt M. mit <strong>de</strong>n Begriffen<strong>de</strong>r Intensifikation (sprich: Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit) und <strong>de</strong>r Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität.Diese Metho<strong>de</strong>n faßt M. so zusammen: "Die Produktion <strong>de</strong>s absoluten Mehrwertsdreht sich nur um die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstags; die Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts revolutioniertdurch und durch die technischen Prozesse <strong>de</strong>r Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen."268Zwischenfrage 51: Ist M.s Analyse nicht schon wegen <strong>de</strong>r gravieren<strong>de</strong>n sozialen Verän<strong>de</strong>rungen seit 1865hoffnungslos veraltet? (S.283)267Wer <strong>de</strong>n vierten Abschnitt im <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" liest, wird ke<strong>in</strong>e Technik- o<strong>de</strong>r Wirtschaftsgeschichte, son<strong>de</strong>rn so etwas wie e<strong>in</strong>earbeitssoziologische Pionierarbeit f<strong>in</strong><strong>de</strong>n; dabei geht es immer wie<strong>de</strong>r um die Frage, wie sich die Stellung <strong>de</strong>r lebendigen Arbeit im Produktionsprozessverän<strong>de</strong>rt und vom führen<strong>de</strong>n Akteur zu e<strong>in</strong>em Anhängsel <strong>de</strong>r Werkzeugmasch<strong>in</strong>e wird. M. zeigt, wie die zunehmen<strong>de</strong> Technisierung<strong>de</strong>s Produktionsprozesses mit <strong>de</strong>m Fabriksystem die eigentliche Grundlage <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen <strong>Kapital</strong>ismus im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt hervorbr<strong>in</strong>gt.Dieser Prozess ist ke<strong>in</strong>eswegs planvoll; schließlich dauert es fast 100 Jahre, bis <strong>Kapital</strong>isten die Möglichkeiten <strong>de</strong>r Dampfkrafterkennen und im großen Stil e<strong>in</strong>setzen. Tatsächlich erfolgen die Neuerungen häufiger als Reaktion auf Verän<strong>de</strong>rungen, die <strong>de</strong>r Klassenkampfhervorbr<strong>in</strong>gt, sowohl <strong>de</strong>r Kampf zwischen Unternehmern und Belegschaften, als auch <strong>de</strong>r Konkurrenzkampf <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten untere<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r.M.s historische Skizze zum relativen Mehrwert ist von großer Be<strong>de</strong>utung, <strong>de</strong>nn mit <strong>de</strong>r Manufaktur- und Fabrikperio<strong>de</strong> nimmt er e<strong>in</strong>e Unterscheidung<strong>de</strong>r Entwicklungsetappen <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise vor. An <strong>de</strong>r Analyse solcher Entwicklungsetappens<strong>in</strong>d wir brennend <strong>in</strong>teressiert, <strong>de</strong>nn wir wollen schließlich noch herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, ob es beson<strong>de</strong>re Merkmale gibt, die <strong>de</strong>n gegenwärtigen<strong>Kapital</strong>ismus als spezifische Perio<strong>de</strong> se<strong>in</strong>er Entwicklung auszeichnen.Wer genauer wissen will, auf welchen Schleich-, Irr- und Holzwegen sich die kapitalistische Produktionsweise zur unbestritten herrschen<strong>de</strong>nProduktionsweise entwickelt hat, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t aus marxistischer Sicht für Großbritannien bei Hobsbawm (1968a; 1968b) o<strong>de</strong>r für Deutschlandbei Mottek (1957; 1964) e<strong>in</strong>e gute Übersicht. Wer an <strong>de</strong>n welthistorischen Dimensionen <strong>de</strong>s Übergangs zum kapitalistischen Zeitalterim 15. bis 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>in</strong>teressiert ist, wird Brau<strong>de</strong>ls (1979) Darstellung aus nicht marxistischer Sicht auf je<strong>de</strong>n Fall spannend und anregendf<strong>in</strong><strong>de</strong>n.Hans Mottek: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. E<strong>in</strong> Grundriss (Band 1+2); Berl<strong>in</strong>: Deutscher Verlag <strong>de</strong>r wissenschaften 1957/1964; EricJ. Hobsbawm: Industrie und Empire (2 Bän<strong>de</strong>); Frankfurt: Suhrkamp 1970; Fernand Brau<strong>de</strong>l: Sozialgeschichte <strong>de</strong>s 15. - 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts (3Bän<strong>de</strong>); Frankfurt: Büchergil<strong>de</strong> Gutenberg 1990268MEW 23, S.532f. Mit <strong>de</strong>r Formulierung, "revolutioniert durch und durch... die gesellschaftlichen Gruppierungen" ist nicht geme<strong>in</strong>t,dass dadurch revolutionäre Bestrebungen entstehen. Hier geht es um die mit <strong>de</strong>r technologischen Umgestaltungen <strong>de</strong>s Produktionsprozessesebenfalls stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> <strong>in</strong>nere Differenzierung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit, die ja nichts an<strong>de</strong>res ist als die <strong>in</strong>nere Differenzierung <strong>de</strong>rArbeiterklasse, aber auch die <strong>in</strong>nere Differenzierung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Die soziale Struktur <strong>de</strong>r Klassen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Prozess ständigen Verän<strong>de</strong>rungenunterworfen. Es verän<strong>de</strong>rt sich die Stellung <strong>de</strong>r Arbeitskräfte im Produktionsprozess. Der Gesamtarbeiter wird <strong>in</strong> immer mehrsoziale Positionen differenziert.Wenn Marx-Befasser auf die Strukturwandlungen <strong>de</strong>r Arbeiterklasse <strong>in</strong> <strong>de</strong>n kapitalistischen Metro<strong>pol</strong>en verweisen, fügen sie meist bedauerndund verständnisvoll h<strong>in</strong>zu, M. habe das nun wirklich nicht vorhersehen können. Damit wollen sie sagen, dass M.s Theorie offensichtlichveraltet sei. Warum eigentlich? Sie basiert doch gar nicht auf e<strong>in</strong>er bestimmten Struktur <strong>de</strong>r Arbeiterklasse, son<strong>de</strong>rn zeigt uns nur die<strong>in</strong>neren Triebkräfte, die für e<strong>in</strong>e ständige Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Klassenverhältnisse sorgen; <strong>de</strong>ren beständige Verän<strong>de</strong>rung ist bei M. sogar e<strong>in</strong>fester Erwartungswert, <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>er Theorie.Ob je<strong>de</strong>n Morgen Millionen im Drillichzeug und mit Schiebermütze, zu Fuß o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Fahrrad rauchgeschwärzte Fabriktore passiereno<strong>de</strong>r ob je<strong>de</strong>n Morgen Millionen im Anzug gewan<strong>de</strong>t <strong>in</strong> die Bürostädte eilen o<strong>de</strong>r im sportiven Freizeitdress auf die Werksparkplätze fahren:Ohne Frage macht das e<strong>in</strong>en großen Unterschied für die Millionen. Aber wie groß <strong>de</strong>r Unterschied auch immer se<strong>in</strong> mag, <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fallgeht es dabei um <strong>de</strong>n Mehrwert. Gegenprobe: Bleibt <strong>de</strong>r aus, bleiben Parkplätze und Büros und Werkhallen plötzlich genauso leer wieAnno dazumal <strong>in</strong> <strong>de</strong>n schlotgesäumten Fabriken.128


Zweifellos ist die Mehrwertproduktion so etwas wie die unverkennbare Signatur <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise, ihr typisches Merkmal. Betrachten wir aber die Frühzeit dieser Produktionsweise,sche<strong>in</strong>t sie sich im Grun<strong>de</strong> auch nicht sehr von <strong>de</strong>r Hervorbr<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>es Mehrproduktsunter feudalen Bed<strong>in</strong>gungen zu unterschei<strong>de</strong>n: Aneignung durch Fronarbeit dort, Aneignungdurch Mehrarbeit hier. Dort stecken es die feudalen Grundbesitzer, A<strong>de</strong>l und Klerus e<strong>in</strong>.Hier s<strong>in</strong>d es die clevereren Fabrikanten, die sich mit Hilfe <strong>de</strong>s Lohnsystems die Arbeitsergebnisse<strong>de</strong>r eigentlichen Produzenten aneignen. Aber was <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Frühphase <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus <strong>de</strong>r altenfeudalen Ökonomie äußerlich noch so ähnlich sieht, offenbart sehr schnell gewaltige Unterschie<strong>de</strong>.Jetzt kommen wir nämlich auf die <strong>in</strong>neren Triebkräfte zu sprechen. In dieser H<strong>in</strong>sichterweist sich die kapitalistische Produktionsweise als ausseror<strong>de</strong>ntlich dynamisch.Deshalb spricht M. so abfällig über <strong>de</strong>n absoluten Mehrwert. Der drehe sich "nur um die Länge<strong>de</strong>s Arbeitstags", schreibt er. Diese quick&dirty Ausbeuter mit ihrem 14- und 16-Stun<strong>de</strong>n-Tag:wie primitiv. Ähnlich primitiv wie die zahllosen Gewaltmaßnahmen, mit <strong>de</strong>nen sich die Feudalherrendas bäuerliche Mehrprodukt unter <strong>de</strong>n Nagel rissen. Erst die Sache mit <strong>de</strong>m relativenMehrwert macht <strong>de</strong>n ganzen historischen Unterschied aus. Hier stoßen wir erstmals auf <strong>de</strong>nMotor <strong>de</strong>r kapitalistischen Entwicklung. Mehr noch: M. spricht nicht e<strong>in</strong>fach von "Entwicklung"o<strong>de</strong>r, wie man das heute tut, vom "sozialen Wan<strong>de</strong>l" o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren gemütlichen Verän<strong>de</strong>rungen.Er spricht von e<strong>in</strong>er fortdauern<strong>de</strong>n Revolutionierung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses und <strong>de</strong>r sozialenStrukturen, angetrieben durch die Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts.Die dichtere Ausfüllung <strong>de</strong>r Poren <strong>de</strong>r ArbeitszeitEr<strong>in</strong>nern wir uns: Der relative Mehrwert entsteht durch Verkürzung <strong>de</strong>r notwendigen Arbeitszeit.<strong>Das</strong> ist die Arbeitszeit, die von <strong>de</strong>r Arbeitskraft aufgewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n muß, um die eigenen Kostenzu ersetzen. Die dann noch übrig bleiben<strong>de</strong> Mehrarbeitszeit dient <strong>de</strong>r Mehrwerterzeugung.Je kürzer die notwendige Arbeitszeit, relativ zur Mehrarbeitszeit, <strong>de</strong>sto höher <strong>de</strong>r erzeugteMehrwert auch bei ansonsten gleichbleiben<strong>de</strong>m o<strong>de</strong>r sogar verkürztem Arbeitstag. Aber wiekriegt man das h<strong>in</strong>?M. beschreibt für se<strong>in</strong>e Zeit die Revolutionierung <strong>de</strong>r technischen Prozesse und die damit verbun<strong>de</strong>nentiefgreifen<strong>de</strong>n Wandlungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sozialen Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft. Es ist <strong>de</strong>r Übergangvon <strong>de</strong>r Manufaktur zum Fabriksystem. In <strong>de</strong>r Frühzeit, also im 17. und 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt,gibt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Bereichen die ersten Verän<strong>de</strong>rungen. Porzellan-, Glas-, Ton-, Sei<strong>de</strong>- undWollmanufakturen wer<strong>de</strong>n gegrün<strong>de</strong>t; dann greift <strong>de</strong>r Prozess auf traditionelle Handwerke über.Die vorgefun<strong>de</strong>ne handwerkliche Produktion wird Kraft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s auch hier zur neuen Form<strong>de</strong>r Manufaktur zusammengefaßt. Alle<strong>in</strong> daraus ergibt sich im Selbstlauf e<strong>in</strong>e höhere Arbeitsproduktivität;M. bezeichnet diese Produktivkraft als Kooperation.Der Manufakturkapitalist nutzt die Kooperation zunächst als Gratisdienst, wie M. das nennt. Esist Produktivkraft, die ihm <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Schoß fällt und sich alle<strong>in</strong> aus <strong>de</strong>r Zusammenfassung <strong>de</strong>r vielenArbeitskräfte ergibt: Geme<strong>in</strong>same Nutzung von Werkstatt und Arbeitsmitteln, Rohstoffquellen,Hilfskräften usw. Schon <strong>de</strong>r Gratisdienst <strong>de</strong>r Kooperation sorgt dafür, das dort, wo die handwerklicheProduktion <strong>in</strong> die Manufaktur übergeht, <strong>de</strong>m alten Handwerk die Konkurrenzfähigkeitentzogen wird. Aber das ist nur <strong>de</strong>r Anfangspunkt e<strong>in</strong>er sich beschleunigen<strong>de</strong>n Entwicklung.Am Anfang ist sie noch urwüchsig, zufällig, punktuell, durch Versuch und Irrtum gesteuert; esliegt ihr ke<strong>in</strong> Plan zugrun<strong>de</strong>.Treiben<strong>de</strong>s Motiv ist nicht wachsen<strong>de</strong> Arbeitsproduktivität. Dieser Begriff bil<strong>de</strong>t sich überhaupterst <strong>in</strong>nerhalb dieses Prozesses heraus. Es geht schlicht um die optimale Ausnutzung <strong>de</strong>r Ar-129


eitskraft. Man hat die Arbeitskraft für e<strong>in</strong>e bestimmte Zeit gekauft und will sie auch über diegesamte Zeit kont<strong>in</strong>uierlich nutzen. Die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r handwerklichen Produktion üblichen Stockungenim Arbeitsablauf durch Wechsel <strong>de</strong>s Werkzeugs, Umrüstung <strong>de</strong>r Arbeitsmittel, traditionelle Pausenund vieles an<strong>de</strong>re, die <strong>de</strong>m Handwerker als natürlicher Rhythmus se<strong>in</strong>er Arbeit ersche<strong>in</strong>en,s<strong>in</strong>d <strong>de</strong>m Käufer und Anwen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeitskraft e<strong>in</strong> Gräuel. Er will optimale Ausbeute für se<strong>in</strong>Geld.Die Arbeitskraft soll während <strong>de</strong>r Arbeitszeit nicht ruhn. Je<strong>de</strong> ihrer Handbewegungen soll möglichstviel <strong>in</strong> Bewegung setzen! So lautete das Leitmotiv <strong>de</strong>r Manufakturbetreiber im Übergangzum technisch organisierten Produktionsbetrieb. Die Zerlegung <strong>de</strong>s komplexen Arbeitsvorgangs<strong>in</strong> viele E<strong>in</strong>zelschritte dient genau diesem Ziel. Natürlich kann e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Handwerker aus e<strong>in</strong>emStück Draht e<strong>in</strong>e Nähna<strong>de</strong>l erzeugen. Aber wenn man die Herstellung e<strong>in</strong>er Nähna<strong>de</strong>l <strong>in</strong> diedafür notwendigen E<strong>in</strong>zelschritt zerlegt (zu M.s Zeit waren das bis zu 92 E<strong>in</strong>zelschritte), dannkönnen 92 <strong>Teil</strong>arbeiter, je<strong>de</strong>r für se<strong>in</strong>en Arbeitsschritt durch Übung und Werkzeug spezialisiert,e<strong>in</strong> Vielfaches an Nähna<strong>de</strong>ln herstellen, als das 92 selbständige Handwerker <strong>in</strong> gleicher Zeit nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rkönnten. 269Die höhere Produktivität ergäbe sich auch, wenn ke<strong>in</strong>e Spezialisierung <strong>de</strong>r Werkzeuge stattfän<strong>de</strong>,son<strong>de</strong>rn nur die Hand-<strong>in</strong>-Hand-Arbeit so organisiert wür<strong>de</strong>, dass die <strong>Teil</strong>e ohne Verzögerung<strong>in</strong> die nächste Hand übergehen. Man könnte diese Intensifikation <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses <strong>de</strong>shalbauch als "<strong>in</strong>nere Verlängerung" <strong>de</strong>r Arbeitszeit bezeichnen. M. nennt das die "dichtere Ausfüllung<strong>de</strong>r Poren <strong>de</strong>r Arbeitszeit." 270 Die äußeren Grenzen <strong>de</strong>s Arbeitstags bleiben bestehen; dasganze Augenmerk ist darauf gerichtet, je<strong>de</strong> Sekun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Arbeitszeit an je<strong>de</strong>m Arbeitsplatz zunutzen.Aber e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Konsequenz dieser Entwicklung trug viel mehr dazu bei, ihr <strong>de</strong>n Weg zu ebnen.Denn durch die Zerlegung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>e, aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r aufbauen<strong>de</strong> Arbeitsschrittewird die handwerklich geschulte Arbeitskraft, die noch <strong>de</strong>n gesamten Arbeitsprozessbeherrscht, zunehmend entbehrlich. Die Arbeitskraft wur<strong>de</strong> massenhaft <strong>de</strong>qualifiziert, wie wirdas heute nennen. 271 <strong>Das</strong> be<strong>de</strong>utet Senkung <strong>de</strong>r Lohnkosten für <strong>de</strong>n Unternehmer, <strong>de</strong>r jetzt ungelernteArbeitskräfte und die noch billigere Frauen- und K<strong>in</strong><strong>de</strong>rarbeit <strong>in</strong> Massen verwerten269M. aktualisiert mit <strong>de</strong>r Na<strong>de</strong>lmanufaktur e<strong>in</strong> Beispiel, das schon Adam Smith bemühte, um die riesigen Vorteile <strong>de</strong>r Arbeitsteilung zuillustrieren. Die Na<strong>de</strong>lmacher (p<strong>in</strong>-maker) erstellen nach Smith als e<strong>in</strong>zelne Handwerker gera<strong>de</strong> mal e<strong>in</strong>e Na<strong>de</strong>l am Tag und auch bei äußersterAnstrengung kaum mehr als 20. Ganz an<strong>de</strong>rs <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Manufaktur: In Komb<strong>in</strong>ation und Zerlegung <strong>de</strong>s Vorgangs <strong>in</strong> viele E<strong>in</strong>zelschritte,jeweils absolviert von e<strong>in</strong>zelnen Arbeitskräften, steigern sie ihren Ausstoß, so Smith, auf 48.000. E<strong>in</strong> Zuwachs an Arbeitsproduktivitätum das 240fache.Freilich rechnet Smith hier, genau betrachtet, nicht alle<strong>in</strong> die Folgen <strong>de</strong>r Arbeitsteilung, son<strong>de</strong>rn auch die durch spezielles Werkzeug undMasch<strong>in</strong>en erzielten Steigerungen <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität e<strong>in</strong>. Doch davon abgesehen s<strong>in</strong>d gegenüber Smith' quantitativen Angaben,wenn auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Grundaussage sicherlich richtig, Zweifel durchaus anzumel<strong>de</strong>n.270"Im allgeme<strong>in</strong>en besteht die Produktionsmetho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts dar<strong>in</strong>, durch gesteigerte Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>n Arbeiterzu befähigen, mit <strong>de</strong>rselben Arbeitsausgabe <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben Zeit mehr zu produzieren. Dieselbe Arbeitszeit setzt nach wie vor <strong>de</strong>m Gesamtprodukt<strong>de</strong>nselben Wert zu, obgleich dieser unverän<strong>de</strong>rte Tauschwert sich jetzt <strong>in</strong> mehr Gebrauchswerten darstellt und daher <strong>de</strong>rWert <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Ware s<strong>in</strong>kt. An<strong>de</strong>rs jedoch, sobald die gewaltsame Verkürzung <strong>de</strong>s Arbeitstags mit <strong>de</strong>m ungeheuren Anstoß, <strong>de</strong>n sie<strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Produktivkraft und <strong>de</strong>r Ökonomisierung <strong>de</strong>r Produktionsbed<strong>in</strong>gungen gibt, zugleich vergrößerte Arbeitsausgabe <strong>in</strong><strong>de</strong>rselben Zeit, erhöhte Anspannung <strong>de</strong>r Arbeitskraft, dichtere Ausfüllung <strong>de</strong>r Poren <strong>de</strong>r Arbeitszeit, d.h. Kon<strong>de</strong>nsation <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>mArbeiter zu e<strong>in</strong>em Grad aufzw<strong>in</strong>gt, <strong>de</strong>r nur <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s verkürzten Arbeitstags erreichbar ist. Diese Zusammenpressung e<strong>in</strong>er größrenMasse Arbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gegebne Zeitperio<strong>de</strong> zählt jetzt als was sie ist, als größres Arbeitsquantum. Neben das Maß <strong>de</strong>r Arbeitszeit als 'ausge<strong>de</strong>hnterGröße' tritt jetzt das Maß ihres Verdichtungsgrads. Die <strong>in</strong>tensivere Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s zehnstündigen Arbeitstags enthält jetzt so vielo<strong>de</strong>r mehr Arbeit, d.h. verausgabte Arbeitskraft, als die porösere Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s zwölfstündigen Arbeitstags." (MEW 23, S.432f)271"In <strong>de</strong>r Manufaktur ist die Bereicherung <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters und daher <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s an gesellschaftlicher Produktivkraft bed<strong>in</strong>gt durchdie Verarmung <strong>de</strong>s Arbeiters an <strong>in</strong>dividuellen Produktivkräften." (MEW 23, S.383) So beschreibt M. <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen Steigerung<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität im Ganzen und Dequalifizierung <strong>de</strong>r Arbeitskräfte im E<strong>in</strong>zelnen.130


kann. 272 Hier haben wir ihn schon, <strong>de</strong>n relativen Mehrwert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er primitiven Form, <strong>de</strong>r uns alsmo<strong>de</strong>rne Lohndrückerei erneut begegnet.Zu M.s Zeit ist das Fabriksystem <strong>de</strong>r krönen<strong>de</strong> Abschluß dieser Entwicklung: Was M. als "riesiges'Arbeitshaus' für die Manufakturarbeiter" bezeichnet, ist für ihn ohne Zweifel gleichzeitig e<strong>in</strong>großer Fortschritt <strong>in</strong> Sachen Produktivkraft. Mit <strong>de</strong>r Fabrik halten Wissenschaft und Technikendgültig E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> die Produktion und wer<strong>de</strong>n genauso e<strong>in</strong>gekauft wie Rohstoffe und an<strong>de</strong>reArbeitskräfte. Viele <strong>de</strong>r Fabrikanten s<strong>in</strong>d selbst begabte Ingenieure, die <strong>de</strong>n Arbeitsprozess unterihrer Regie nach wissenschaftlichen und technischen Grundsätzen gestalten. Der E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r Arbeitskräftewird bis <strong>in</strong> je<strong>de</strong>n Handgriff genauso geplant, wie man <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>satz von Masch<strong>in</strong>enplant, um je<strong>de</strong>n Handgriff <strong>de</strong>r Arbeitskraft so verlustfrei zu organisieren, wie man die Reibungsverlustee<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e reduziert.Hier geht es nicht darum, P<strong>in</strong>kelpausen mit <strong>de</strong>r Stoppuhr abzumessen, obwohl das durchaus dazugehört. Es geht um die organisatorische und technische Gestaltung <strong>de</strong>s gesamten Arbeitsprozesses:Dafür sorgen, dass je<strong>de</strong> Arbeitskraft nicht nur mit se<strong>in</strong>en zwei natürlichen, son<strong>de</strong>rn mitvielen technischen Hän<strong>de</strong>n gleichzeitig arbeitet. Dank dieses neuartigen Herangehens brachtedas durch Dampfmasch<strong>in</strong>en angetriebene Fabriksystem zu M.s Zeit e<strong>in</strong>e bis dah<strong>in</strong> beispielloseIntensivierung <strong>de</strong>r Arbeit hervor. 273272Tatsächlich wur<strong>de</strong> die Frauen- und K<strong>in</strong><strong>de</strong>rarbeit über die niedrigen Löhne für Männer erzwungen. Nur die Familien, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Frau o<strong>de</strong>rK<strong>in</strong><strong>de</strong>r mitarbeiteten, erreichten e<strong>in</strong>en Lebensstandard <strong>de</strong>utlich oberhalb <strong>de</strong>r re<strong>in</strong>en Armut. Man kann das sehr anschaulich e<strong>in</strong>em Reiseberichtvon Georg Weerth aus <strong>de</strong>m Jahre 1835 entnehmen:"An <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>richtung <strong>de</strong>r Wohnung kann man fast immer sehen, wieviel Lohn <strong>de</strong>r Arbeiter wöchentlich erhält. Bei 15 Schill<strong>in</strong>gen, was e<strong>in</strong>sehr mäßiger Lohn ist, be<strong>de</strong>ckt selten e<strong>in</strong> Teppich <strong>de</strong>n ste<strong>in</strong>ernen Fußbo<strong>de</strong>n – nur vor <strong>de</strong>m Kam<strong>in</strong>e liegt gewöhnlich e<strong>in</strong> schmaler Lappen –, die Wän<strong>de</strong> s<strong>in</strong>d schmucklos, das ganze Möblement besteht nur aus Tisch, Stuhl und Bett. Bei 20 Schill<strong>in</strong>gen sieht es schon besser aus;auf <strong>de</strong>n Stühlen liegen Kissen, <strong>de</strong>r Teppich, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> England <strong>de</strong>s Klimas wegen durchaus nötige Sache, ist größer, auf <strong>de</strong>m Schrank stehenGläser und Tassen, und an <strong>de</strong>r Stuben<strong>de</strong>cke hängt vielleicht e<strong>in</strong> Sch<strong>in</strong>ken o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e Speckseite. Bei Leuten, die 30 Schill<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>nehmen,gewahrt man schon e<strong>in</strong>en geregelten Komfort, <strong>de</strong>r sich bis auf kle<strong>in</strong>e Figuren, Tassen und Gläser erstreckt, die das Gesims <strong>de</strong>s Kam<strong>in</strong>eszieren. Hat e<strong>in</strong> Vater bereits K<strong>in</strong><strong>de</strong>r, die ebenfalls <strong>in</strong> Fabriken arbeiten und noch bei ihm wohnen, so ist die Summe <strong>de</strong>s wöchentlichenLohnes natürlich größer; für Essen und Tr<strong>in</strong>ken wird dann besser gesorgt und namentlich am Sonntagmittag etwas Beson<strong>de</strong>res auf <strong>de</strong>nTisch gebracht.Aber ach, all diese kle<strong>in</strong>e Herrlichkeit dauert ja nur, solange <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l gut geht. Ist es damit zu En<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r brechen gar Krankheiten o<strong>de</strong>rsonst Unglücksfälle über <strong>de</strong>n Arbeiter here<strong>in</strong>, da verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t bald <strong>de</strong>r Teppich von <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, das Kissen vom Stuhl, <strong>de</strong>r Stuhl selbstund das Bett, und auf <strong>de</strong>m Tische sucht man vergebens nach Fleisch und Ale. Tausen<strong>de</strong> wan<strong>de</strong>rn <strong>in</strong>s Armenhaus, und die, welche zu stolzs<strong>in</strong>d, sich e<strong>in</strong>schließen zu lassen, und Weib und K<strong>in</strong><strong>de</strong>r nicht aufgeben wollen, stehen <strong>in</strong> Lumpen an <strong>de</strong>n Straßenecken, damit – <strong>de</strong>r Reicheüber sie spotte." (Georg Weerth: Die englischen Arbeiter, 1845)273Zur Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit tragen nicht zuletzt auch neue Lohnformen wie Stücklohn o<strong>de</strong>r Akkordlohn bei. Was aber M. zu Lebzeitenan Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit erlebt hat, war längst nicht das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Fahnenstange. Vielmehr fand die von ihm skizzierte Entwicklung erstJahrzehnte später <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ford'schen Fließbän<strong>de</strong>rn, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n mit Obsession betriebenen Zeitstudien Taylors und Konsorten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r ersten Hälfte<strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts e<strong>in</strong>en Höhepunkt. Seit<strong>de</strong>m ist es Rout<strong>in</strong>e, bei <strong>de</strong>r Konstruktion von Masch<strong>in</strong>en und Produktionsabläufen je<strong>de</strong> Bewegung<strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en und <strong>de</strong>r Arbeitskräfte mit <strong>de</strong>r Stoppuhr zu folgen, um <strong>de</strong>m Unternehmen auch noch die letzte Zehntelsekun<strong>de</strong> <strong>de</strong>rbezahlten Arbeitszeit zu sichern. Aber <strong>de</strong>r krasse Versuch, auch die Arbeitskräfte dauerhaft wie Masch<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en zerglie<strong>de</strong>rten Produktionsprozesse<strong>in</strong>zuordnen, ist zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>in</strong> <strong>de</strong>n entwickelten kapitalistischen Län<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>n H<strong>in</strong>tergrund getreten. Denn mit Taylors rabiatenVerfahren konnte man zwar die Produktivität steigern, aber das funktionierte nur so lange, wie es um Tätigkeiten ger<strong>in</strong>ger Qualifikationg<strong>in</strong>g. Darüberh<strong>in</strong>aus verlor man <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Unternehmen zunehmend das notwendige M<strong>in</strong><strong>de</strong>stmaß an Loyalität <strong>de</strong>r Mitarbeiter, ohne daske<strong>in</strong> Unternehmen existieren kann. <strong>Das</strong> und die nach 1945 stark wachsen<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen an die Qualifikation <strong>de</strong>s Gesamtarbeiterslösten das alte System <strong>de</strong>s Tylorismus-Fordismus ab. Neue Techniken <strong>de</strong>r Mitarbeiterführung und Motivation traten ihre Arbeit an: Humanisierung<strong>de</strong>r Arbeitswelt, Human relations im Unternehmen, I<strong>de</strong>ntifikation <strong>de</strong>s Mitarbeiters mit <strong>de</strong>r Unternehmensphilosophie, flache Hierarchien,Mitsprache am Arbeitsplatz und Gruppenarbeit waren e<strong>in</strong>ige <strong>de</strong>r neuen Zauberworte, von <strong>de</strong>nen die meisten <strong>in</strong>zwischen wie<strong>de</strong>rihren Charme verloren haben. Aber wie auch immer die Mo<strong>de</strong> aussieht: Es muß <strong>de</strong>m Mehrwert nützen! Mehr über Taylorismus bei wikipedia.Auf die hier beschriebenen Wechsel im Akkumulationsregime (darum han<strong>de</strong>lt es sich nämlich), kommen wir im Akkumulationskapitelzu sprechen.131


Steigerung <strong>de</strong>r ArbeitsproduktivitätDie Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität ist neben <strong>de</strong>r Intensifikation die zweite wichtige Metho<strong>de</strong>zur Erhöhung <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts. Aber es hat damit se<strong>in</strong>e Tücken. Wie kann Steigerung<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität <strong>de</strong>n Mehrwert erhöhen?Wenn wir vom Wertgesetz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er bisherigen Formulierung ausgehen (darauf haben wir unszunächst gee<strong>in</strong>igt), ist Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität nicht Steigerung <strong>de</strong>r Wertmasse, son<strong>de</strong>rnSteigerung <strong>de</strong>r Gebrauchswertmasse, da ja mit <strong>de</strong>rselben Menge gesellschaftlich notwendigerArbeitszeit lediglich mehr produziert wird. 274 <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Erhöhung <strong>de</strong>s Mehrwerts wäre durchSteigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität nur <strong>in</strong>sofern zu erzielen, als damit <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraftgesenkt wird. Je niedriger <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft, <strong>de</strong>sto ger<strong>in</strong>ger <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r notwendigenArbeitszeit am Arbeitstag zugunsten <strong>de</strong>r Mehrarbeitszeit. So weit die Theorie. Aber wie sieht esdamit <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Praxis aus, damals, zu M.s Zeiten, und heute, bei uns?Wenn wir uns das Gerangel <strong>de</strong>r englischen Fabrikanten mit <strong>de</strong>n Agrarkapitalisten im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rtansehen, wird <strong>de</strong>r Zusammenhang für M.s Zeit sofort nachvollziehbar. Während dieHerren über Acker und Vieh hohe Getrei<strong>de</strong>preise und Schutzzölle für Agrarwaren durchsetzenwollten, fürchteten die Fabrikanten die damit verbun<strong>de</strong>nen steigen<strong>de</strong>n Preise für die Nahrungsmittelund die <strong>de</strong>shalb wachsen<strong>de</strong>n Lohnfor<strong>de</strong>rungen. Im Gegenzug waren sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>nquick&dirty Tagen <strong>de</strong>r Produktionsweise allzeit bereit, gute Ernten und niedrige Brotpreise <strong>in</strong> sofortigeLohnkürzungen umzusetzen. 275 Aber wie sieht das heute im "Hochlohnland Deutschland"aus? Kann man immer noch sagen, dass die Unternehmerklasse <strong>de</strong>n Mehrwert steigert,<strong>in</strong><strong>de</strong>m sie etwa dafür sorgt, die Reproduktionskosten für die Arbeitskraft zu senken?Ne<strong>in</strong>, so simpel ist das nicht. Dafür ist die Bildung <strong>de</strong>r Löhne <strong>in</strong> Deutschland viel zu sehr <strong>in</strong>stitutionalisiert,e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n <strong>in</strong> staatliche Gesetzgebung und tarifliche Vere<strong>in</strong>barungen. Der Arbeitgeberkann se<strong>in</strong>en Beschäftigten nicht e<strong>in</strong>fach mit H<strong>in</strong>weis auf preiswerte Unterhaltungselektronik<strong>de</strong>n Lohn um 100 Euro kürzen. (Auch wenn er es gerne wollte, ganz unabhängig von <strong>de</strong>rElektronik). Und im Ganzen s<strong>in</strong>d we<strong>de</strong>r die Unternehmer noch wir so naiv zu glauben, e<strong>in</strong>e274"Unter Erhöhung <strong>de</strong>r Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit verstehn wir hier überhaupt e<strong>in</strong>e Verändrung im Arbeitsprozeß, wodurch die zur Produktione<strong>in</strong>er Ware gesellschaftlich erheischte Arbeitszeit verkürzt wird, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>res Quantum Arbeit also die Kraft erwirbt, e<strong>in</strong> größres QuantumGebrauchswert zu produzieren. Während also bei <strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>s Mehrwerts <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bisher betrachteten Form die Produktionsweiseals gegeben unterstellt war, genügt es für die Produktion von Mehrwert durch Verwandlung notwendiger Arbeit <strong>in</strong> Mehrarbeit ke<strong>in</strong>eswegs,daß das <strong>Kapital</strong> sich <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er historisch überlieferten o<strong>de</strong>r vorhandnen Gestalt bemächtigt und nur se<strong>in</strong>e Dauerverlängert. Es muß die technischen und gesellschaftlichen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, also die Produktionsweise selbst umwälzen,um die Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit zu erhöhn, durch die Erhöhung <strong>de</strong>r Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft zu senken und so<strong>de</strong>n zur Reproduktion dieses Werts notwendigen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Arbeitstags zu verkürzen....Um <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft zu senken, muß die Steigerung <strong>de</strong>r Produktivkraft Industriezweige ergreifen, <strong>de</strong>ren Produkte <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>rArbeitskraft bestimmen, also entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Umkreis <strong>de</strong>r gewohnheitsmäßigen Lebensmittel angehören o<strong>de</strong>r sie ersetzen können." (MEW23, S.333f)275Wenn wir von M.s Zeit leichtfüßig <strong>in</strong> die unsere spr<strong>in</strong>gen und zurück, dürfen wir nicht die dazwischen liegen<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen außerAcht lassen. So spielen die Löhne heute e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re ökonomische Rolle. Zu M.s Zeit war das, was wir Arbeiterklasse nennen, e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>de</strong>rheit<strong>de</strong>r Gesellschaft. Diese M<strong>in</strong><strong>de</strong>rheit war für <strong>de</strong>n sich erst noch entwickeln<strong>de</strong>n kapitalistischen Warenmarkt von untergeordneter Be<strong>de</strong>utung.Mit <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>r Arbeiterklasse bei gleichzeitigem Wachstum <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion wan<strong>de</strong>lt sich das Bild. Dielohngebun<strong>de</strong>ne Kaufkraft gew<strong>in</strong>nt rapi<strong>de</strong> an Be<strong>de</strong>utung. Die Gesamtsumme <strong>de</strong>r Nettolöhne und -gehälter <strong>in</strong> Deutschland 2008 betrug642,5 Mrd.Euro. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d 26% <strong>de</strong>s Brutto<strong>in</strong>landprodukts.Wir wer<strong>de</strong>n uns mit <strong>de</strong>m daraus resultieren<strong>de</strong>n Problemen noch beschäftigen: Je<strong>de</strong>r Unternehmer möchte selber so wenig Lohn wie möglichzahlen. Gleichzeitig aber sollen die Beschäftigten aller an<strong>de</strong>ren Unternehmen <strong>in</strong> ihrer zweiten Rolle als Konsumenten so viel kaufenwie nur eben möglich, am besten bei ihm. Daraus leitet sich auch e<strong>in</strong> Gesamt<strong>in</strong>teresse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten an niedrigen Lebenshaltungskostenab. Denn was vom Lohne<strong>in</strong>kommen nicht für Miete, Heizung, Energie o<strong>de</strong>r Gesundheit (die sogenannten Fixkosten) gebun<strong>de</strong>n ist, liefertam Markt die Mittel, ohne die e<strong>in</strong>e Expansion <strong>de</strong>s Warenangebots nicht möglich gewesen wäre. Wer sollte Autos kaufen? Urlaubsreisenbuchen? Den neuesten Elektroniktrends kauffreudig folgen?132


Preissenkung für R<strong>in</strong>dfleisch, Bier und Kartoffeln habe e<strong>in</strong>en direkten E<strong>in</strong>fluß auf die Lohnhöhe.Ebensowenig, wie Preissteigerungen <strong>de</strong>rselben Waren sofort die Löhne erhöhen.Dennoch ist <strong>de</strong>r Zusammenhang von Arbeitsproduktivität (sprich: Entwicklung <strong>de</strong>r Lebenshaltungskosten)und Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft (sprich: Lohnhöhe) ke<strong>in</strong>e Spezialität <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts.Warum sonst gibt es große Behör<strong>de</strong>n wie das Statistische Bun<strong>de</strong>samt, die beständig mithohem Aufwand umfangreiche Statistiken zu Preisen, Lebenshaltung und Löhnen erstellen? Warumwer<strong>de</strong>n höhere Löhne mit H<strong>in</strong>weis auf Preissteigerungen und Kaufkraftverlust von <strong>de</strong>n Gewerkschaftengefor<strong>de</strong>rt? Auch heute dreht sich alles um die Lebenshaltungskosten, was ja nure<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res Wort für <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft ist. Und warum wohl gerät man im Unternehmerverband<strong>in</strong> Unruhe, wenn die Lebensmittel <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs, wenn Mieten und Heizkosten<strong>in</strong> die Höhe gehen? Dann stecken sie eben doch <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben Situation wie ihre Klassenkamera<strong>de</strong>nvor 170 Jahren <strong>in</strong> England, die <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Agrarkapitalisten nach höherenKornpreisen entschie<strong>de</strong>n entgegentraten, um die daraus resultieren<strong>de</strong>n Lohnfor<strong>de</strong>rungen abzuwehren.276Zwischenfrage 52: Warum ist <strong>de</strong>n Unternehmern wegen <strong>de</strong>r gestiegenen Löhne <strong>de</strong>r Mehrwert noch nichtausgegangen? (S.285)Zweifellos hat sich das Niveau <strong>de</strong>r Löhne seit M.s "<strong>Kapital</strong>" gemessen <strong>in</strong> Kaufkraft erhöht, wennes auch beachtliche Schwankungen gibt. Aber <strong>de</strong>r Anstieg <strong>de</strong>r Löhne ist we<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e "ewigeTen<strong>de</strong>nz" noch Ausdruck "<strong>in</strong>nerer Rationalität" o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichen. 277 Er ist Ergebnis von 140 JahrenKlassenkampf und e<strong>in</strong>er Ausweitung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise mit immer neuenWaren auf alle Bereiche <strong>de</strong>r Gesellschaft. <strong>Das</strong> war nur möglich wegen <strong>de</strong>r gleichzeitig stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>nSteigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität, die <strong>in</strong> diesem Ausmaß im Fabrikzeitalter we<strong>de</strong>r vonM. noch von irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>em Vertreter <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>seite wirklich für möglich gehalten wor<strong>de</strong>n wäre.Und das ist das entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>: Solange die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität e<strong>in</strong>er Steigerung<strong>de</strong>r Löhne vorauseilt, brauchen sich die Unternehmer nicht zu sorgen. 278 Und wenn wir dieLohnentwicklung mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität vergleichen, braucht sich auchniemand mehr wegen toller Löhne auf die Schulter zu klopfen.Haben die gestiegenen Löhne <strong>de</strong>m relativen Mehrwert <strong>de</strong>n Garaus gemacht? Spielt die Senkung<strong>de</strong>r Reproduktionskosten für die Arbeitskraft ke<strong>in</strong>e Rolle mehr? O<strong>de</strong>r ist sie wegen <strong>de</strong>r großenBe<strong>de</strong>utung dieser Löhne für die Kaufkraft e<strong>in</strong>fach nicht durchsetzbar? Wir wer<strong>de</strong>n sehen. <strong>Das</strong> istdas schöne an M.s Kategorien: Sie helfen uns, <strong>in</strong>teressante Fragen zu stellen. Aber wir müssen276Man könnte noch viele Beispiel anführen, die durchaus das Interesse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten an niedrigen Lebenshaltungskosten belegen: Sies<strong>in</strong>d sehr dafür, teuren Wohnraum o<strong>de</strong>r teure K<strong>in</strong><strong>de</strong>r über Mietgeld und K<strong>in</strong><strong>de</strong>rgeld sozial auszugleichen. Auch gegen die Rückerstattungvon beruflichen Kosten für Arbeitswege, Fortbildung usw. über <strong>de</strong>n Steuerausgleich haben sie nichts e<strong>in</strong>zuwen<strong>de</strong>n. Solche flankieren<strong>de</strong>nMaßnahmen m<strong>in</strong><strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Druck bei Lohnfor<strong>de</strong>rungen und sorgen dafür, dass e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Kosten für die Arbeitskraft von vornhere<strong>in</strong> vergesellschaftetund gar nicht erst als Frage <strong>de</strong>r Lohnhöhe behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n.277Man darf sich auch durch die die nom<strong>in</strong>elle Entwicklung <strong>de</strong>r Löhne und durch die gerne vorgebrachten Kaufkraftvergleiche für e<strong>in</strong>enMonatslohn nicht täuschen lassen. Wür<strong>de</strong>n wir die jährlichen Warenkäufe e<strong>in</strong>es Arbeiterhaushalts von 1870 <strong>in</strong> die Anteile dieser Warenan <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Gesamtarbeit umrechnen (was nicht möglich ist) und dasselbe für e<strong>in</strong>en vergleichbaren Arbeiterhaushalt heutetun (was ebenfalls nicht geht), fiele <strong>de</strong>r Vergleich gewiß nicht mehr so krass aus. E<strong>in</strong> DVD-Player 2008 repräsentiert weniger an gesellschaftlicherArbeit als e<strong>in</strong> Küchentisch von 1870. Ursache ist die enorm gestiegene Arbeitsproduktivität. Sie sorgt für die steigen<strong>de</strong> Kaufkraft<strong>de</strong>s Lohns, wenn wir die Gebrauchswerte betrachten, von <strong>de</strong>nen wir heute viel mehr erwerben können als unsere Vorfahren, unabhängigdavon, dass es die meisten Produkte, die heute e<strong>in</strong>en Arbeiterhaushalt ausmachen, 1870 noch gar nicht gab. Was aber e<strong>in</strong>em Arbeiterhaushalt1870 als Anteil am gesellschafttlichen Gesamtprodukt zugestan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, dürfte sich vom heutigen Anteil gar nicht sosehr unterschei<strong>de</strong>n. Wenn wir e<strong>in</strong>ige Indizien <strong>de</strong>r Armuts-Reichtums-Forschung h<strong>in</strong>zuziehen, ist dieser Anteil zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten 30Jahren sogar wie<strong>de</strong>r relativ gesunken.278"Aber mit <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit geht... die Verwohlfeilerung <strong>de</strong>s Arbeiters, also wachsen<strong>de</strong> Rate <strong>de</strong>s Mehrwerts,Hand <strong>in</strong> Hand, selbst wenn <strong>de</strong>r reelle Arbeitslohn steigt. Er steigt nie verhältnismäßig mit <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit." (MEW 23, S.631)133


an dieser Stelle wie<strong>de</strong>r daran er<strong>in</strong>nern, dass die Kategorie <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts e<strong>in</strong>e analytischeKategorie ist und ke<strong>in</strong>eswegs auf direkte Weise das Denken und Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Akteure bestimmt.Für <strong>de</strong>n Unternehmer geht es nicht um Reproduktionskosten <strong>de</strong>r Arbeitskraft, es geht ihm umse<strong>in</strong>e Lohnkosten. Aus dieser Perspektive ist "Senkung <strong>de</strong>r Reproduktionskosten" für ihn nichtsan<strong>de</strong>res als "Senkung me<strong>in</strong>er Lohnkosten". Und wir er<strong>in</strong>nern daran, dass <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraftsich von allen an<strong>de</strong>ren Wertbestimmungen durch se<strong>in</strong> "moralisches und historisches Element"unterschei<strong>de</strong>t. Über <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft als Lohn entschei<strong>de</strong>t letztlich <strong>de</strong>r Klassenkampf.Und da ist <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Jahren doch wirklich so viel <strong>in</strong> Bewegung geraten,dass es schwerfällt, <strong>de</strong>m relativen Mehrwert e<strong>in</strong> requiescas <strong>in</strong> pace 279 zuzurufen.LohnsenkungMit <strong>de</strong>n Kategorien absoluter und relativer Mehrwert steckt M. das Terra<strong>in</strong> ab, auf <strong>de</strong>m sich dieBeziehungen zwischen <strong>Kapital</strong>isten und Gesamtarbeiter, zwischen <strong>de</strong>n Hauptklassen <strong>de</strong>r bürgerlichenGesellschaft, im ökonomischen Klassenkampf entfalten. Wo das Kräfteverhältnis zwischen<strong>de</strong>n Klassen es zuläßt, wer<strong>de</strong>n nicht nur Versuche unternommen, <strong>de</strong>n Normalarbeitstag wie<strong>de</strong>rzu verlängern. Auch <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft, <strong>de</strong>m Unternehmer als Lohnkosten bestens vertraut,gerät unter Druck.Die Senkung <strong>de</strong>r Lohnkosten durch direkte Senkung <strong>de</strong>r Löhne war lange Zeit <strong>in</strong> Vergessenheitgeraten! Wo doch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland seit 1950 bis 1980 die Löhne praktischkont<strong>in</strong>uierlich, auch nach ihrer realen Kaufkraft 280 gestiegen s<strong>in</strong>d, hatten sich die meisten Beschäftigtenund Gewerkschafter daran gewöhnt und <strong>de</strong>n regelmäßigen Anstieg <strong>de</strong>r Löhne bereitsfür e<strong>in</strong>e dauerhafte, gleichsam natürliche Entwicklung gehalten.Seit Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r 80er Jahre stagnieren die Reallöhne, seit Mitte <strong>de</strong>r 90er Jahre s<strong>in</strong>ken sie sogar.Mit <strong>de</strong>r "Natürlichkeit" <strong>de</strong>s Lohnanstiegs <strong>in</strong> Deutschland hat es seit<strong>de</strong>m e<strong>in</strong> En<strong>de</strong>. Mal ganz abgesehendavon, dass für e<strong>in</strong>en großen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Bevölkerung durch Abdrängung <strong>in</strong> die Arbeitslosigkeitganz drastische "Lohnsenkungen" stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Auch die Beschäftigten wer<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rstärker zur Zielscheibe e<strong>in</strong>er recht betagten Metho<strong>de</strong> zur Steigerung <strong>de</strong>s Mehrwerts, <strong>de</strong>r direk-279requiescas <strong>in</strong> pace be<strong>de</strong>utet Ruhe <strong>in</strong> Frie<strong>de</strong>n. Kann man auf Grabste<strong>in</strong>en katholischer Friedhöfe als Wunsch <strong>de</strong>r H<strong>in</strong>terbliebenen lesen.Gäbe es e<strong>in</strong>en Friedhof für gerne beerdigte Theorien, gäbe es dort gewiß e<strong>in</strong>en Grabste<strong>in</strong> für <strong>de</strong>n Mehrwert mit dieser Aufschrift -sponsered by Unternehmerverband, Bun<strong>de</strong>sregierung und <strong>de</strong>m Berufsverband Deutscher Volkswirte und Nationalökonomen.280Auch hier ist zu beachten, dass die Reallöhne gera<strong>de</strong> durch die s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong>n Preise vieler Waren als Folge gestiegener Arbeitsprodukivitätgewachsen s<strong>in</strong>d, ohne dass <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft dadurch gewachsen wäre.281Die Grafik zeigt die Entwicklung seit 2000: Die Löhne s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sgesamt gesunken, während die Arbeitsproduktivität steil angestiegen ist.<strong>Das</strong> läßt die Unternehmensgew<strong>in</strong>ne und die Vermögense<strong>in</strong>kommen noch steiler ansteigen. Die Bereicherung zu Lasten <strong>de</strong>r Lohnentwicklungist e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r Quellen für die ungeheuren Geldmittel <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, mit <strong>de</strong>nen seit 2003 die F<strong>in</strong>anzmarktspekulation befeuertwur<strong>de</strong> und die Mitte 2008 e<strong>in</strong>bricht und die zyklische Krise verstärkt. Im doppelten S<strong>in</strong>ne also e<strong>in</strong>e Entwicklung auf Kosten <strong>de</strong>r Arbeiterund Angestellten, die nicht nur die Krise vorher, son<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> auch h<strong>in</strong>terher bezahlen müssen, durch Massenentlassungen, Sozialabbauund vermutlich Inflation.Jahnkes Interpretation läuft letztlich darauf h<strong>in</strong>aus, <strong>in</strong> solchen Entwicklungen Fehler <strong>de</strong>r Politik zu sehen; er spricht sogar von Sün<strong>de</strong>n.Triebkräfte dieser moralischen Fehltritte sche<strong>in</strong>en für ihn die weltwirtschaftlichen Verflechtungen zu se<strong>in</strong>: Ch<strong>in</strong>as Preisdump<strong>in</strong>g und osteuropäischesSozialdump<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d praktische Erklärungen, weil sie e<strong>in</strong>en äußeren Gegner ausmachen. Die Erklärungen treffen durchaus gewichtigePunkte, s<strong>in</strong>d aber nicht wirklich entschei<strong>de</strong>nd.Unsere Interpretation, die vom absoluten und relativen Mehrwert ausgeht, greift weiter aus. Die Grafik zeigt uns <strong>in</strong> komprimierter Formdie Folgen umfassen<strong>de</strong>r Maßnahmen zur Sicherung <strong>de</strong>s Mehrwerts. Diese Maßnahmen wer<strong>de</strong>n nicht <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a o<strong>de</strong>r Rumänien, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong><strong>de</strong>n Konzernzentralen gefaßt. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e hilflosen Reflexe auf äußere Ereignisse, son<strong>de</strong>rn stellt e<strong>in</strong> <strong>pol</strong>itisch-ökonomisches Dauerprogrammdar, das seit 1990 unter <strong>de</strong>n verän<strong>de</strong>rten Bed<strong>in</strong>gungen nur mo<strong>de</strong>rnisiert wird. Wie dieses Programm aussieht, wird uns späternoch beschäftigen.134


ten Lohnsenkung nämlich. <strong>Das</strong> umfaßt viele verschie<strong>de</strong>ne Maßnahmen: Von <strong>de</strong>r hundsord<strong>in</strong>ärenLohnprellerei <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Klitschen bis zur eleganten Abwälzung <strong>de</strong>r "Lohnnebenkosten" auf dieLohnempfänger im großen Stil. 282Warum ist Lohndrückerei möglich und warum ist sie wie<strong>de</strong>r so im Schwange? Weil es für <strong>de</strong>nPreis <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft, für <strong>de</strong>n Lohn, e<strong>in</strong>en so großen Spielraum gibt. Wenn es <strong>de</strong>n Unternehmern<strong>in</strong> Deutschland gelänge, Löhne und Gehälter um 40% o<strong>de</strong>r noch mehr zu senken,wür<strong>de</strong> das zwar <strong>de</strong>n Lebensstandard <strong>de</strong>utlich verän<strong>de</strong>rn (und die Kaufkraft m<strong>in</strong><strong>de</strong>rn und e<strong>in</strong>eMenge ökonomischer Probleme erzeugen), aber ke<strong>in</strong>eswegs die Arbeitsfähigkeit <strong>de</strong>r Betroffenenbee<strong>in</strong>trächtigen. Und da je<strong>de</strong>r auf diese Weise <strong>de</strong>m Lohn abgepreßte Euro direkt <strong>de</strong>m Gew<strong>in</strong>n<strong>de</strong>s Unternehmens zufließt, bleibt <strong>de</strong>r Klassenkampf um die Lohnhöhe e<strong>in</strong> Dauerthema. Ob eszu Lohnkürzungen kommt, sei es durch direkte Lohnkürzungen, sei es durch gesellschaftlicheUmschichtung, hängt jedoch immer vom Kräfteverhältnis, von <strong>de</strong>r Gegenwehr <strong>de</strong>r Betroffenenab. 283Wir wollen das Thema <strong>de</strong>r direkten Lohnsenkung hier nicht weiter verfolgen. Es sollte nur klarwer<strong>de</strong>n, wie die Frage nach <strong>de</strong>m relativen Mehrwert sofort die ökonomischen Interessen offen-282Wenn nämlich Unternehmer <strong>in</strong> Deutschland ihren vor mehr als 50 Jahren vere<strong>in</strong>barten "Arbeitnehmeranteil" an <strong>de</strong>n Sozialabgabenschrittweise <strong>de</strong>n Beschäftigten aufbür<strong>de</strong>n, ist das nichts an<strong>de</strong>res als geschickte Lohnkürzung. <strong>Das</strong>selbe gilt natürlich für <strong>de</strong>n Abbau sogenannter"außertariflicher Leistungen", vom Zuschuß zum Kant<strong>in</strong>enessen über Urlaubsgeld bis zum 13. Monatsgehalt. Genaugenommenfällt auch die Kürzung <strong>de</strong>r Unternehmenssteuern unter diesen Punkt. Denn wesentliche Folge <strong>de</strong>r ger<strong>in</strong>geren Steuere<strong>in</strong>nahmen <strong>de</strong>s Staatesist die Abwälzung von Kosten auf die Lohnempfänger. <strong>Das</strong> reicht von Zuzahlungen zu Medikamenten über die Praxisgebühr bis h<strong>in</strong> zu teurenZusatzversicherungen für Gesundheits- und Altersversorgung.So bleibt <strong>de</strong>r Lohn formal gleich, erhöht sich vielleicht sogar. Aber durch zunehmen<strong>de</strong> Zwangsausgaben s<strong>in</strong>kt er real. Sogar <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Jahren2003 bis 2007, die für Deutschland kuriose Jahre e<strong>in</strong>es Aufschwungs waren, <strong>de</strong>n niemand recht bemerkte, s<strong>in</strong>d die realen Nettolöhne um4,2 % gesunken. Beson<strong>de</strong>rs gravierend ist hier die gleichzeitige Polarisierung <strong>de</strong>r Beschäftigten nach <strong>de</strong>m Lohne<strong>in</strong>kommen. Gemessen an<strong>de</strong>n Stun<strong>de</strong>nlöhnen g<strong>in</strong>g das reale E<strong>in</strong>kommen im unteren E<strong>in</strong>kommensviertel zwischen 1995 und 2006 um 14% zurück, während diehöheren E<strong>in</strong>kommensgruppen noch Zuwächse um 4% erzielten. Davon hat die Inflation mit offiziellen Raten um 3% bis Herbst 2008* fürdie e<strong>in</strong>en kräftig an <strong>de</strong>n Zuwächsen genagt, für die an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n Reallohnverlust noch erhöht. Nur 2008 gab es erstmals wie<strong>de</strong>r auf breiterFront Reallohnzuwächse, wenn auch beschei<strong>de</strong>ner Art. Die haben immerh<strong>in</strong> die En<strong>de</strong> 2008 e<strong>in</strong>setzen<strong>de</strong> Rezession, das ist Schrumpfung<strong>de</strong>r Wirtschaftskraft gemessen am Brutto<strong>in</strong>landsprodukt, anfänglich verlangsamt, wer<strong>de</strong>n aber <strong>in</strong> 2009 durch gestiegene Kurzarbeit undsteigen<strong>de</strong> Arbeitslosenzahlen aufgefressen.*Vor allem durch <strong>de</strong>n Verfall er Erdölpreises seit Herbst 2008 ist die berechnete Inflationsrate gesunken. Aber auch das ist zum <strong>Teil</strong> Täuschung.Denn erstens ist die Preisentwicklung für Waren <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigen Krise noch aufwärts gerichtet,so dass untere E<strong>in</strong>kommensgruppen nach wie vor e<strong>in</strong>er spürbaren Inflation ausgesetzt s<strong>in</strong>d. Zum an<strong>de</strong>rn gilt ohneh<strong>in</strong> <strong>de</strong>r EuropäischenZentralbank e<strong>in</strong>e Inflation knapp unter 2 % als i<strong>de</strong>ale Preisstabilität. Gegenwärtig (Juni 2009) steigen die Rohstoffpreise wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlichan. Verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r exzessiven Geld<strong>pol</strong>itik <strong>de</strong>r Zentralbanken wird die Inflation für 2010 o<strong>de</strong>r 2011 und damit Reallohn- und Vermögensverlustevor allem für Arbeiter und Angestellte zu e<strong>in</strong>er bedrohlichen Gefahr.** Reallohn mißt <strong>de</strong>n Lohn nicht als Geldmenge, son<strong>de</strong>rn als Kaufkraft, betrachtet <strong>de</strong>n Lohn danach, was damit an Gebrauchswerten gekauftwer<strong>de</strong>n kann. <strong>Das</strong> hat nichts mit <strong>de</strong>m Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft zu tun. Der Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft könnte sogar trotz gestiegenem Reallohns<strong>in</strong>ken; dann nämlich, wenn durch steigen<strong>de</strong> Arbeitsproduktivität die Preise <strong>de</strong>r Waren stärker s<strong>in</strong>ken, die <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraftbestimmen. Freilich dürfen wir dabei nicht nur uns selbst als E<strong>in</strong>zelperson sehen und an unsere alltäglichen Warenkäufe <strong>de</strong>nken, son<strong>de</strong>rnmüssen <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft im Auge behalten, also die Gesamtaufwendungen für <strong>de</strong>n Gesamtarbeiter, se<strong>in</strong>e Erziehung,Ausbildung, Bereitstellung. <strong>Das</strong> än<strong>de</strong>rt aber nichts an <strong>de</strong>r Feststellung, dass steigen<strong>de</strong>r Reallohn für alle Beschäftigten zwar e<strong>in</strong>eerfreuliche Überraschung ist, aber nicht automatisch e<strong>in</strong>en steigen<strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft signalisiert.283Wir wollen nicht vergessen, dass <strong>in</strong> diesem Punkt auch die <strong>pol</strong>itische L<strong>in</strong>ie <strong>de</strong>r Staats<strong>pol</strong>itik e<strong>in</strong>e Rolle spielt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich die unterschiedlichenInteressen <strong>de</strong>r Wirtschaftsgruppen immer wie<strong>de</strong>r neu verb<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Die Vertreter dieser Gruppen s<strong>in</strong>d ja nicht alle vom Hau-drauf-Typ.Es s<strong>in</strong>d erfahrene Strategen, die nicht nur die Kosten, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n oft größeren <strong>pol</strong>itischen Nutzen von Zugeständnissen kennen.284Die Lohnverhältnisse s<strong>in</strong>d nicht geheim; was <strong>de</strong>n Gesamtarbeiter betrifft, ist man auf Unternehmerseite dank <strong>in</strong>tensiver Datenerhebungenbestens über <strong>de</strong>ssen Lebenshaltung <strong>in</strong>formiert.H<strong>in</strong> und wie<strong>de</strong>r f<strong>in</strong><strong>de</strong>n Lohnstatistiken auch ihren Weg <strong>in</strong> die Tagespresse, wie hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Grafik <strong>de</strong>r WAZ. Die Überschrift "Wer verdientwieviel <strong>in</strong> Deutschland?" verspricht mehr, als die Grafik halten kann. Deutschland wird eben nicht nur von Lohnempfängern bewohnt.Man könnte witzelnd h<strong>in</strong>zufügen, dass die Grafik auch nicht zeigt, was Lohnempfänger verdienen, son<strong>de</strong>rn nur, was sie bekommen.Was die Grafik uns aber immerh<strong>in</strong> verrät: Billige Frauenarbeit ist nach wie vor e<strong>in</strong>e Stütze <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion. Zu e<strong>in</strong>em Schrei <strong>de</strong>rEmpörung ist es <strong>de</strong>nnoch nicht gekommen. Es gilt nach wie vor als normal.Zu beachten: Es han<strong>de</strong>lt sich immer um Durchschnittswerte formaler Gruppen. Der Durschnittswert ist e<strong>in</strong> erprobtes statistisches Kampfmittel,um sich alle subversiven Fragen vom Hals zu schaffen. Was heißt schon Geschäftsführer? Der Leiter e<strong>in</strong>er "Nordsee"-Filiale steckt135


legt, die nicht nur zu M.s Zeit, son<strong>de</strong>rn auch vor unseren eigenen Augen tiefgreifen<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>r Gesellschaftsstruktur bewirken. Stichworte: Vertiefung <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>kommensunterschie<strong>de</strong><strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Arbeiterklasse durch Schaffung von "privilegierten" Kernbelegschaften und ungesichertenBedarfsbelegschaften ("Leiharbeiter"), Entstehung <strong>de</strong>r "work<strong>in</strong>g poor" als wachsen<strong>de</strong>Gruppe am unteren E<strong>in</strong>kommensrand, Herausbildung e<strong>in</strong>er neuen Abteilung <strong>de</strong>r Arbeiterklasse,<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>r überhaupt ke<strong>in</strong>e Regelbeschäftigung haben, son<strong>de</strong>rn die Rolle von je<strong>de</strong>rzeit abrufbarenTagelöhnern spielen, um damit die wechseln<strong>de</strong> Nachfrage <strong>de</strong>r Unternehmen nach billigerArbeitskraft bedarfsgerecht zu befriedigen.Zwischenfrage 53: Hat die Debatte über die M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsicherung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n M<strong>in</strong><strong>de</strong>stlohn irgen<strong>de</strong>twas mit<strong>de</strong>m Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft zu tun? (S.286)In <strong>de</strong>n Versuchen zur Lohndrückerei tritt zwar enorme Habgier <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten zutage; aber diebeschreibt nur das psychologische Milieu, nicht die Ursache. Wo solche Versuche zur Verlängerung<strong>de</strong>r Arbeitzeit und zur direkten Senkung <strong>de</strong>s Lohns e<strong>in</strong>e größere Rolle spielen, s<strong>in</strong>d sie Anzeichenfür <strong>in</strong>nere Umbrüche und Krisenersche<strong>in</strong>ungen <strong>de</strong>r Produktionsweise. Sie entspr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Gesetzen und Wi<strong>de</strong>rsprüchen <strong>de</strong>r Produktionsweise selbst, die e<strong>in</strong>en ständigenDruck auf das Allerheiligste je<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten ausüben: Se<strong>in</strong>e Profitrate. Aber dazu kommen wirja noch.Triebkraft "Extramehrwert"Die Interessen und Handlungen, die auf <strong>de</strong>r sozialen Struktur <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>verhältnisses aufbauenund die wir Konkurrenz und Klassenkampf nennen, s<strong>in</strong>d bis jetzt noch gar nicht Gegenstand <strong>de</strong>rAnalyse, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong> mal Farbtupfer zur Illustration gewesen. <strong>Das</strong> ist nicht Vergeßlichkeit,son<strong>de</strong>rn M.s Absicht. Wir er<strong>in</strong>nern an M.s abwehren<strong>de</strong> Festellung zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r Mehrwert-Kapitel. Dort sagt er: "Wie die immanenten Gesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion...als treiben<strong>de</strong>Motive <strong>de</strong>m <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>isten zum Bewußtse<strong>in</strong> kommen, ist jetzt nicht zu betrachten."285 Aber so e<strong>in</strong>fach kann er an dieser Stelle doch nicht auf die "treiben<strong>de</strong>n Motive"verzichten.ebenso da dr<strong>in</strong> wie <strong>de</strong>r CEO e<strong>in</strong>es Unternehmens. Und sehr viele "Raumpfleger<strong>in</strong>nen" wären froh, wenn sie <strong>de</strong>n hier aufgeführten Bruttojahresverdienterreichenen wür<strong>de</strong>n.Es gilt auch für diese w<strong>in</strong>zige Statistik, was für die meisten Veröffentlichungen <strong>de</strong>s statistischen Bun<strong>de</strong>samts zu sagen wäre: Viele Zahlen,wenig Aussage. O<strong>de</strong>r: Man bleibt letztlich doch arg h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>n eigenen Möglichkeiten zurück. Sogar die Armuts- und Reichtumsberichte<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung machen e<strong>in</strong>en vornehmen Bogen um die wirklich Reichen. Angeblich aus Datenschutzgrün<strong>de</strong>n. Tatsächlich wür<strong>de</strong>ndie E<strong>in</strong>kommensdaten dieser Gruppe von weniger als 1% <strong>de</strong>r Bevölkerung die Statistiken or<strong>de</strong>ntlich purzeln lassen. Dann wür<strong>de</strong>n wir auchüber jene mit <strong>de</strong>m XXXXXXL E<strong>in</strong>kommen etwas erfahren und die Frage wür<strong>de</strong> womöglich aufkommen, ob wir uns die wirklich leisten können.285Mit diesem Zitat leitet M. e<strong>in</strong>e knappe Skizze zum "Extramehrwert" e<strong>in</strong>, die er <strong>in</strong> die Darstellung zum relativen Mehrwert e<strong>in</strong>schiebt.Dort heißt es:"Die Art und Weise, wie die immanenten Gesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion <strong>in</strong> <strong>de</strong>r äußern Bewegung <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e ersche<strong>in</strong>en, sichals Zwangsgesetze <strong>de</strong>r Konkurrenz geltend machen und daher als treiben<strong>de</strong> Motive <strong>de</strong>m <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>isten zum Bewußtse<strong>in</strong> kommen,ist jetzt nicht zu betrachten, aber soviel erhellt von vornhere<strong>in</strong>: Wissenschaftliche Analyse <strong>de</strong>r Konkurrenz ist nur möglich, sobald die<strong>in</strong>nere Natur <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s begriffen ist, ganz wie die sche<strong>in</strong>bare Bewegung <strong>de</strong>r Himmelskörper nur <strong>de</strong>m verständlich, <strong>de</strong>r ihre wirkliche,aber s<strong>in</strong>nlich nicht wahrnehmbare Bewegung kennt." (MEW 23, S.335)Soll sagen: Ohne Mehrwerttheorie muß ich das, was <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist für se<strong>in</strong>e Motive hält, ebenfalls für die Erklärung halten. Wenn ich nichtweiß, dass alle<strong>in</strong> die auf <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Anwendung <strong>de</strong>r Arbeit basieren<strong>de</strong> Mehrwertproduktion, also die Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s,über Erfolg o<strong>de</strong>r Mißerfolg entschei<strong>de</strong>n, kann ich auch von erfolgreichem o<strong>de</strong>r schlechtem Kostenmanagement o<strong>de</strong>r von starker o<strong>de</strong>rschwacher Wettbewerbsposition o<strong>de</strong>r von steigen<strong>de</strong>m o<strong>de</strong>r fallen<strong>de</strong>n Dax re<strong>de</strong>n.Klar, wer auf die Mehrwerttheorie verzichtet, hat es e<strong>in</strong>facher. Vom erfolgreichen <strong>Kapital</strong>isten sagt man: Gutes Management! Hat die Zeichen<strong>de</strong>r Zeit erkannt! pipapo. Vom gescheiterten <strong>Kapital</strong> sagt man: Managementfehler! Anschluß verpasst! und ähnliches. Nur: Warummuß er überhaupt "Kostenmanagement" betreiben? Was treibt <strong>de</strong>n Konkurrenzkampf an? Warum steht <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e als Gew<strong>in</strong>ner, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>reunversehens als Depp da? Warum muß es überhaupt Gew<strong>in</strong>ner und Verlierer geben? Und warum wer<strong>de</strong>n, trotz aller Verlierer,136


Denn g<strong>in</strong>ge es <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten wirklich darum, die Reproduktionskosten für die Arbeitskraft zusenken, könnten sie sich getrost auf die Branchen konzentrieren, die mit <strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>r Lebensmittel(im weitesten S<strong>in</strong>ne) für die Arbeitskraft beschäftigt s<strong>in</strong>d und von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>rArbeitskraft direkt bee<strong>in</strong>flußt wird. Aber die Jagd nach höherer Arbeitsproduktivität und niedrigenKosten ergreift alle Branchen und Sektoren und br<strong>in</strong>gt sogar immer wie<strong>de</strong>r neue Branchenmit neuen Produkten hervor. Und wie es aussieht, führt das nicht e<strong>in</strong>mal durchweg zu e<strong>in</strong>erSenkung, son<strong>de</strong>rn zu e<strong>in</strong>er Steigerung im Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft. Woran liegt es? Wodurch wer<strong>de</strong>ndie "technischen Prozesse <strong>de</strong>r Arbeit durch und durch revolutioniert"? <strong>E<strong>in</strong>e</strong>s ist uns schonklar: <strong>Das</strong> "durch und durch" <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen funktioniert nur dann und nur soweit, wie es<strong>de</strong>r Mehrwertproduktion, unserem Oberschiedsrichter, ke<strong>in</strong>en Scha<strong>de</strong>n zufügt.Wie aber kann <strong>de</strong>r Mehrwert als Oberschiedsrichter wirken, wenn er doch, wie wir zugebenmüssen, we<strong>de</strong>r für die Manufakturiers <strong>de</strong>r frühen Perio<strong>de</strong> noch für die <strong>in</strong>dustriellen Fabrikantenaus M.s Zeit noch für die Manager und CEOs <strong>de</strong>r Gegenwart irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e Be<strong>de</strong>utung hat? Warumhan<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist für <strong>de</strong>n Mehrwert ohne ihn zu kennen? Wir wer<strong>de</strong>n sehen, dass <strong>de</strong>rMehrwert als unbekanntes Wesen <strong>de</strong>nnoch die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt, auch wenn er <strong>de</strong>nAkteuren selbst nur als Profit und Profitrate, Rendite und Aktienkurs o<strong>de</strong>r als ihr allgegenwärtigesGebetsmühlen-Mantra "Wir müssen kostengünstiger produzieren!" <strong>in</strong>s Bewußtse<strong>in</strong> tritt. 286Wie schon erwähnt, eilt M. an diesem Punkt se<strong>in</strong>er ursprünglich geplanten Darstellung voraus.Der Grund dafür liegt auf <strong>de</strong>r Hand. Denn wie soll er uns, se<strong>in</strong>em ungeduldigen Publikum, andieser Stelle begreiflich machen, warum die "technischen Prozesse <strong>de</strong>r Arbeit durch und durchrevolutioniert" wer<strong>de</strong>n, ohne die Konkurrenz <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>e <strong>in</strong>s Spiel zu br<strong>in</strong>gen?<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> existiert ja nicht als re<strong>in</strong>er Begriff; mit Begriffen dieser Art versuchen wir nur, uns dieZusammenhänge gedanklich zu erarbeiten. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> existiert als viele E<strong>in</strong>zelkapitale, die zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r<strong>in</strong> Konkurrenz stehen: Nicht nur als Produzenten <strong>de</strong>rselben Gebrauchswerte, son<strong>de</strong>rnauch unabhängig vom jeweiligen Arbeitsprozess als konkurrieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>verwerter. Wir wer<strong>de</strong>ndas als Konkurrenz um <strong>de</strong>n jeweiligen Anteil am gesellschaftlich produzierten Mehrwertnoch kennenlernen.An dieser Stelle reichen uns die allgeme<strong>in</strong>en Feststellungen: Je<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> versucht, kostengünstigerzu produzieren als <strong>de</strong>r Konkurrent. Ziel ist es, mit E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>rselben Mittel <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben Zeitmehr Produkte herzustellen als <strong>de</strong>r Konkurrent. Denn wer kostengünstiger produziert, kann<strong>de</strong>nnoch zu <strong>de</strong>n marktüblichen Preisen verkaufen o<strong>de</strong>r diese unterbieten und se<strong>in</strong>e Marktpositiletztenen<strong>de</strong>s<strong>de</strong>nnoch alle <strong>Kapital</strong>isten zusammen immer reicher? Wir haben das bereits mehrmals erwähnt: Man wird M. nur gerecht,wenn man sich se<strong>in</strong>er Suche nach <strong>de</strong>m <strong>in</strong>neren Zusammenhang <strong>de</strong>r Produktionsweise anschließt, aus <strong>de</strong>nen sich die Konkurrenz <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>enicht als Verhaltensstörung habgieriger Manager, son<strong>de</strong>rn als struktureller Zwang ergibt, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n subjektiven Motiven <strong>de</strong>r Akteurenur i<strong>de</strong>ell aufbereitet wird. -Im Anschluß an das Zitat oben br<strong>in</strong>gt M. übrigens e<strong>in</strong> Beispiel zum "Extramehrwert", das wir <strong>in</strong> ähnlicher Form (nur ohne die krummenZahlen <strong>de</strong>r britischen Währung im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt) für unsere Illustration im nächsten Kapitel verwen<strong>de</strong>n.286Nehme ich <strong>in</strong> dieser Frage die Perspektive <strong>de</strong>s Unternehmers e<strong>in</strong>, dann betrachte ich die Kosten me<strong>in</strong>er eigenen Produktion. Etwas an<strong>de</strong>res<strong>in</strong>teressiert mich nicht, <strong>de</strong>nn etwas an<strong>de</strong>res bekomme ich auch nicht zu sehen. Geld geht h<strong>in</strong>aus: <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Kosten für Arbeitskräfte,Rohstoffe, Zulieferer, Energie, Werbung, Patentgebühren, Mieten, Z<strong>in</strong>sen usw. Geld kommt here<strong>in</strong>: <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r Umsatz. Ziehe ichvom Umsatz alle Kosten ab, bleibt mir me<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n. Also entspr<strong>in</strong>gt für <strong>de</strong>n Unternehmer <strong>de</strong>r Mehrwert aus <strong>de</strong>r kostengünstigen Komb<strong>in</strong>ationaller Elemente <strong>de</strong>s Produktionsprozesses.Was wir im früheren Kapitel sehr allgeme<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Fetischcharakter <strong>de</strong>r Ware nannten, setzt sich hier fort: Für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten ist se<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>ndas Ergebnis kostengünstiger Produktion. Niedrige Löhne, effektiver E<strong>in</strong>satz von Masch<strong>in</strong>en und Arbeit, billig e<strong>in</strong>kaufen, gute Marktanalyseusw.usf. Zweifellos s<strong>in</strong>d diese Faktoren wichtig, um die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Unternehmen und die Differenzierung <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen<strong>Kapital</strong>e nach Größe, Markte<strong>in</strong>fluß und Rendite zu erklären.Aber sie erklären nicht, wie die Konkurrenz überhaupt entsteht, warum <strong>de</strong>r Reichtum <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong>sgesamt wächst, obwohl es so viele<strong>Kapital</strong>e <strong>in</strong> diesem Prozess zerbröselt, und woher dieser Zuwachs stammt, und warum dieser Prozess so oft und regelmäßig durch Krisenunterbrochen und vorangestrieben wird.137


on ausbauen. 287 Und bei all <strong>de</strong>m verschafft er sich zusätzlich e<strong>in</strong>en "Extramehrwert" - für kürzereo<strong>de</strong>r längere Zeit. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r höhere Gew<strong>in</strong>n, <strong>de</strong>n er sich gegenüber <strong>de</strong>r Konkurrenz sichert,und <strong>de</strong>r, richtig <strong>in</strong>vestiert, se<strong>in</strong>e Position weiter festigen kann, etwa durch Verdrängung <strong>de</strong>rKonkurrenz vom Markt und die beschleunigte Entwicklung weiterer Produkte, um die Konkurrenzabzuhängen. Die Entwicklung neuer Produkte ist von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung. Denn das be<strong>de</strong>utet:Als e<strong>in</strong>ziger Anbieter <strong>de</strong>s neuen Produkts kann er erneut für e<strong>in</strong>en gewissen Zeitraume<strong>in</strong>e quasi-mono<strong>pol</strong>istische Situation mit all ihren kreativen Möglichkeiten zur Erzielung von Extraprofitund Markteroberung schaffen. 288Freisetzung und Aus<strong>de</strong>hnung und Gully<strong>de</strong>ckelWas sich ab 1750 <strong>in</strong> England <strong>in</strong> wenigen Jahrzehnten herausbil<strong>de</strong>t, s<strong>in</strong>d die mo<strong>de</strong>rnen kapitalistischenProduktionsverhältnisse, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die <strong>in</strong>dustrielle Produktion auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>s masch<strong>in</strong>ellenFabriksystems die Führung übernimmt. Wir haben schon darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass <strong>de</strong>r relati-287M. entwickelt se<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong> Unternehmen, das se<strong>in</strong>e Produktivität bei sonst gleichbleiben<strong>de</strong>n Kosten verdoppelt. Natürlich ergibtdie Anwendung <strong>de</strong>r Werttheorie, dass sich damit die Wertmasse und also auch die Mehrwertmasse nicht erhöht:"Trotz <strong>de</strong>r verdoppelten Produktivkraft schafft <strong>de</strong>r Arbeitstag nach wie vor nur e<strong>in</strong>en Neuwert von 6 sh. (=Shill<strong>in</strong>g; 20 sh waren e<strong>in</strong>Pfund), welcher sich jedoch jetzt auf doppelt soviel Produkte verteilt. Auf je<strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelne Produkt fällt daher nur noch 1/24 statt 1/12 diesesGesamtwerts, 3 d. statt 6 d (= Pence; 12 Pence waren 1 Shill<strong>in</strong>g), o<strong>de</strong>r, was dasselbe ist, <strong>de</strong>n Produktionsmitteln wird bei ihrer Verwandlung<strong>in</strong> Produkt, je<strong>de</strong>s Stück berechnet, jetzt nur noch e<strong>in</strong>e halbe statt wie früher e<strong>in</strong>e ganze Arbeitsstun<strong>de</strong> zugesetzt. Der <strong>in</strong>dividuelleWert dieser Ware steht nun unter ihrem gesellschaftlichen Wert, d.h., sie kostet weniger Arbeitszeit als <strong>de</strong>r große Haufen <strong>de</strong>rselben Artikel,produziert unter <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Durchschnittsbed<strong>in</strong>gungen. <strong>Das</strong> Stück kostet im Durchschnitt 1 sh. o<strong>de</strong>r stellt 2 Stun<strong>de</strong>n gesellschaftlicherArbeit dar; mit <strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rten Produktionsweise kostet es nur 9 d. o<strong>de</strong>r enthält nur 1 1/ 2 Arbeitsstun<strong>de</strong>n. Der wirklicheWert e<strong>in</strong>er Ware ist aber nicht ihr <strong>in</strong>dividueller, son<strong>de</strong>rn ihr gesellschaftlicher Wert, d.h., er wird nicht durch die Arbeitszeit gemessen, diesie im e<strong>in</strong>zelnen Fall <strong>de</strong>m Produzenten tatsächlich kostet, son<strong>de</strong>rn durch die gesellschaftlich zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit.Verkauft also <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist, <strong>de</strong>r die neue Metho<strong>de</strong> anwen<strong>de</strong>t, se<strong>in</strong>e Ware zu ihrem gesellschaftlichen Wert von 1 sh., so verkauft er sie 3d. über ihrem <strong>in</strong>dividuellen Wert und realisiert so e<strong>in</strong>en Extramehrwert von 3 d. Andrerseits stellt sich aber <strong>de</strong>r zwölfstündige Arbeitstagjetzt für ihn <strong>in</strong> 24 Stück Ware dar statt früher <strong>in</strong> 12. Um also das Produkt e<strong>in</strong>es Arbeitstags zu verkaufen, bedarf er doppelten Absatzeso<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>es zweifach größern Markts. Unter sonst gleichbleiben<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n erobern se<strong>in</strong>e Waren nur größern Marktraum durch Kontraktionihrer Preise. Er wird sie daher über ihrem <strong>in</strong>dividuellen, aber unter ihrem gesellschaftlichen Wert verkaufen, sage zu 10 d. dasStück. So schlägt er an je<strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zelnen Stück immer noch e<strong>in</strong>en Extramehrwert von 1 d. heraus. Diese Steigerung <strong>de</strong>s Mehrwerts f<strong>in</strong><strong>de</strong>tfür ihn statt, ob o<strong>de</strong>r ob nicht se<strong>in</strong>e Ware <strong>de</strong>m Umkreis <strong>de</strong>r notwendigen Lebensmittel angehört und daher bestimmend <strong>in</strong> <strong>de</strong>n allgeme<strong>in</strong>enWert <strong>de</strong>r Arbeitskraft e<strong>in</strong>geht. Vom letztren Umstand abgesehn, existiert also für je<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten das Motiv, die Waredurch erhöhte Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit zu verwohlfeilern.(...)Andrerseits aber verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t jener Extramehrwert, sobald die neue Produktionsweise sich verallgeme<strong>in</strong>ert und damit die Differenz zwischen<strong>de</strong>m <strong>in</strong>dividuellen Wert <strong>de</strong>r wohlfeiler produzierten Waren und ihrem gesellschaftlichen Wert verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t. <strong>Das</strong>selbe Gesetz <strong>de</strong>rWertbestimmung durch die Arbeitszeit, das <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten mit <strong>de</strong>r neuen Metho<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form fühlbar wird, daß er se<strong>in</strong>e Ware unterihrem gesellschaftlichen Wert verkaufen muß, treibt se<strong>in</strong>e Mitbewerber als Zwangsgesetz <strong>de</strong>r Konkurrenz zur E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>r neuen Produktionsweise.Die allgeme<strong>in</strong>e Rate <strong>de</strong>s Mehrwerts wird also durch <strong>de</strong>n ganzen Prozeß schließlich nur berührt, wenn die Erhöhung <strong>de</strong>rProduktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit Produktionszweige ergriffen, also Waren verwohlfeilert hat, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r notwendigen Lebensmittele<strong>in</strong>gehn, daher Elemente <strong>de</strong>s Werts <strong>de</strong>r Arbeitskraft bil<strong>de</strong>n." (MEW 23, S.336ff)M. zeigt hier erstmals, wie die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität (o<strong>de</strong>r Senkung <strong>de</strong>r Kosten, was dasselbe ist) <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten Extraprofitsichert und se<strong>in</strong>e Marktposition erweitert. Der oben schon zitierte Satz aus <strong>de</strong>m "Kommunistischen Manifest", 1848 noch ganz aus <strong>de</strong>rAnschauung gewonnen, nämlich: "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktions<strong>in</strong>strumente, also die Produktionsverhältnisse,also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren", f<strong>in</strong><strong>de</strong>t jetzt mit <strong>de</strong>m relativen Mehrwert und <strong>de</strong>mExtramehrwert se<strong>in</strong>e erste theoretische Begründung. Wir wer<strong>de</strong>n auf die Kategorie <strong>de</strong>s Extraprofits noch ausführlich zurückkommen müssen,sobald es um die seit M.s Zeiten bewirkte Strukturverän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und die Analyse <strong>de</strong>s gegenwärtigen <strong>Kapital</strong>ismus geht.288Wir s<strong>in</strong>d diesem Zusammenhang bereits früher begegnet, als wir uns zum ersten Mal Gedanken über die Wirkung <strong>de</strong>s Wertgesetzesmachten. Dabei behan<strong>de</strong>lten wir diesen Zustand, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die Produzenten <strong>de</strong>rselben Waren mit unterschiedlicher Produktivität arbeiten, alsAbweichung vom Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Warenproduktion. Jetzt nehmen wir es als Abbild <strong>de</strong>r Realität <strong>in</strong> unsere Überlegungen erstmals auf und fügendie kapitalistische Konkurrenz h<strong>in</strong>zu. Die Unterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität wer<strong>de</strong>n zu e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>r wesentlichen Triebkräfte <strong>de</strong>rkapitalistischen Entwicklung. Es ist aber auch hier wie<strong>de</strong>r nicht e<strong>in</strong>fach die Arbeitsproduktivität schlechth<strong>in</strong>, auf die es ankommt. Wie immergilt die Feststellung: "Produktiv" im kapitalistischen S<strong>in</strong>n ist nur, was <strong>de</strong>r Verwertung dient. Deshalb wur<strong>de</strong>n tatsächlich viele Potentialezur Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität nicht zum Zeitpunkt ihrer technischen Ent<strong>de</strong>ckung, son<strong>de</strong>rn mit unterschiedlich großer zeitlicherVerzögerung übernommen. Nämlich erst dann, wenn neben <strong>de</strong>r technischen Realisierung auch die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen gegebenwaren. Es reicht nicht, mit dampfgetriebenen Sp<strong>in</strong>nmasch<strong>in</strong>en zu arbeiten; <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>erie muß gegenüber <strong>de</strong>r Arbeitskraftkostengünstiger se<strong>in</strong> und die vergrößerte Produktmasse muß natürlich auch e<strong>in</strong>en aufnahmefähigen Markt f<strong>in</strong><strong>de</strong>n.138


ve Mehrwert nicht die treiben<strong>de</strong> Kraft für das bewußte Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten ist; ihnen istdiese Kategorie unbekannt. Die Produktion <strong>de</strong>s Mehrwerts ist nur <strong>de</strong>r unsichtbare Oberschiedsrichterim H<strong>in</strong>tergrund, <strong>de</strong>r, wenn <strong>de</strong>r beschrittene Weg e<strong>in</strong> Holzweg ist, <strong>de</strong>n Daumen nach untensenkt. Der, wenn sich <strong>de</strong>r Weg durch wachsen<strong>de</strong> Gew<strong>in</strong>ne bestätigt, schnell Nachahmer f<strong>in</strong><strong>de</strong>tund schneller, als es <strong>de</strong>n Beteiligten lieb ist, zum gesellschaftlichen Standard wird. Die direkteAntriebskraft dieses sozialen Prozesses war und ist <strong>de</strong>r Klassenkampf selbst <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>en Facetten:<strong>E<strong>in</strong>e</strong>rseits als Konkurrenz zwischen <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>en und <strong>Kapital</strong>gruppen, an<strong>de</strong>rerseitsals geme<strong>in</strong>samer Kampf <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und <strong>in</strong>dividueller Kampf e<strong>in</strong>zelner <strong>Kapital</strong>isten gegendie For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r <strong>in</strong> wachsen<strong>de</strong>r Stückzahl e<strong>in</strong>gekauften Arbeitskraft.Die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität durch technische und organisatorische Umgestaltung<strong>de</strong>s Arbeitprozesses ist dabei alles an<strong>de</strong>re als e<strong>in</strong> Selbstläufer gewesen. Aber e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Gang gesetzt,zeigt sie historische Wirkung. Nehmen wir e<strong>in</strong>en Fabrikanten für Gully<strong>de</strong>ckel zur Illustration.Der beschäftigt e<strong>in</strong>en schlauen Ingenieur (o<strong>de</strong>r ist selbst so schlau) und es gel<strong>in</strong>gt, durchUmbau von Masch<strong>in</strong>en und Neugestaltung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, die Arbeitsproduktivität zuverdoppeln, also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit die doppelte Zahl an Gully<strong>de</strong>ckeln mit <strong>de</strong>rselben Zahlan Arbeitskräften herzustellen. Es ist klar, was passiert, o<strong>de</strong>r?Da sich zunächst nur <strong>de</strong>r Arbeitsaufwand <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Fabrik <strong>de</strong>s Innovators verm<strong>in</strong><strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>r gesellschaftlichnotwendige Arbeitsaufwand für diese Ware jedoch zunächst unverän<strong>de</strong>rt bleibt, kann<strong>de</strong>r Innovator entschei<strong>de</strong>n: Will er trotz se<strong>in</strong>er viel ger<strong>in</strong>geren Kosten die Gully<strong>de</strong>ckel zum nochgültigen Marktpreis verkaufen? Dann sackt er e<strong>in</strong>e Menge "Extramehrwert" e<strong>in</strong>. Er kann aberauch die noch gültigen Marktpreise unterbieten, sich e<strong>in</strong>en größeren Marktanteil sichern und dieKonkurrenten unter Druck setzen, vielleicht sogar vom Markt fegen. Dann wird er zunächst zwaretwas weniger Extramehrwert pro Stück, dafür aber höhere Marktanteile gew<strong>in</strong>nen. 289Die Sache hat nur e<strong>in</strong>en Haken. Sobald se<strong>in</strong>e Konkurrenten dah<strong>in</strong>ter kommen, wer<strong>de</strong>n sie dieproduktiveren Metho<strong>de</strong>n ebenfalls übernehmen. 290 Dann wird sich bald zeigen, dass sich durchdie gesteigerte Arbeitsproduktivität für die Verwertung eigentlich nichts verän<strong>de</strong>rt hat: Die verdoppelteZahl <strong>de</strong>r Gully<strong>de</strong>ckel repräsentiert immer noch dieselbe Wertmasse, <strong>de</strong>nselben Anteilan <strong>de</strong>r gesamtgesellschaftlichen Arbeit. We<strong>de</strong>r Wertmasse noch Mehrwertmasse verän<strong>de</strong>rn sichgrundlegend durch die wachsen<strong>de</strong> Arbeitsproduktivität. 291 Der Vorteil <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten,289Meistens wird er <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Marktoffensive beschreiten müssen; selten hat er die hier beschriebene Wahl. Se<strong>in</strong>e verdoppelte Produktionwill verkauft wer<strong>de</strong>n. Wenn die Nachfrage nach Gully<strong>de</strong>ckeln nicht gleichzeitig angestiegen ist, ist <strong>de</strong>r Verdrängungswetttbewerbschon programmiert. Aber wenn se<strong>in</strong>e Preis<strong>pol</strong>itik gut läuft, wird er am En<strong>de</strong> nicht nur preiswerter und mehr verkauft haben als die Konkurrenz.Er wird an je<strong>de</strong>m Gully<strong>de</strong>ckel wegen se<strong>in</strong>er gesunkenen Kosten mehr verdienen als je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re aus <strong>de</strong>r Branche.Im übrigen gehen wir <strong>in</strong> unserem Beispiel nicht auf die Probleme e<strong>in</strong>, die unser Innovator bereits gelöst haben muß, um überhaupt se<strong>in</strong>eProduktion technisch umzukrempeln. Darauf kommen wir im Akkumulationskapitel erstmals zu sprechen und greifen die Frage nach <strong>de</strong>nBed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Wachstums wie<strong>de</strong>r auf, wenn wir M.s Analyse zum Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s folgen.290Wir ahnen hier, warum die kapitalistische Entwicklung von Anfang an auf die Sicherung von Erf<strong>in</strong>dungen und Produktionsverfahren auswar, sei es durch strikte Geheimhaltung, Patente und staatlichen Schutz. In Zeiten gefähr<strong>de</strong>ter Profitraten wer<strong>de</strong>n solche Maßnahmen"zum Schutz <strong>de</strong>s geistigen Eigentums" sogar zu strategischen Grundfragen aufgepustet, die heute wesentlichen Raum <strong>in</strong> <strong>de</strong>n diversenWelthan<strong>de</strong>lsabkommen e<strong>in</strong>nehmen. Ziel: E<strong>in</strong>mal gewonnenen Vorsprung mit allen Mittel sichern, natürlich auch mit Hilfe <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischenMacht.291Ohne Frage ist unsere Behauptung, dass gesteigerte Arbeitsproduktivität ke<strong>in</strong>e Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Wertmasse bewirkt, nur bed<strong>in</strong>gt richtig.Sie gilt nur für unser vere<strong>in</strong>fachtes Beispiel. Da gesteigerte Produktivität hier überweigend als technologische Produktivität gesehen wird,wächst <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Regel <strong>de</strong>r Wertumfang <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>gesetzten konstanten <strong>Kapital</strong>s; wir lernten das bereits als wachsen<strong>de</strong> organische Zusammensetzung<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s kennen. Wir vernachlässigen diese Wirkung wachsen<strong>de</strong>r Technisierung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses an dieser Stelle mit <strong>de</strong>mVersprechen, <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s noch genügend Aufmerksamkeit zu schenken.Zweifellos ist die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität e<strong>in</strong>e zentrale Antriebskraft für das <strong>Kapital</strong>. Aber gesteigerte Arbeitsproduktivität be<strong>de</strong>uteteben nicht sofort absolute Steigerung <strong>de</strong>s Mehrwerts, son<strong>de</strong>rn bewirkt erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Umverteilung. Um diesen Zusammenhangrichtig zu erfassen, müssen wir e<strong>in</strong>en Schritt weitergehen und das Gesamtkapital als viele agieren<strong>de</strong> E<strong>in</strong>zelkapitale betrachten, die <strong>in</strong> Konkurrenzzue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r stehen. In dieser Konkurrenz wird die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität für die <strong>Kapital</strong>e zum Königsweg, um <strong>de</strong>n139


<strong>de</strong>r sich <strong>in</strong> größerem Gew<strong>in</strong>n nie<strong>de</strong>rschlägt, reicht nur so lange, wie er die Vorteile höherer Arbeitsproduktivitätgegenüber <strong>de</strong>n Konkurrenten behaupten kann.Wenn wir das Beispiel unseres Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikanten fortsetzen, müssen wir auch die an<strong>de</strong>reWirkung <strong>de</strong>s Wertgesetzes beachten: Denn wenn mit <strong>de</strong>r Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivitätnicht im selben Maße die Nachfrage nach Gully<strong>de</strong>ckeln steigt, wird Arbeitskraft im Gully<strong>de</strong>ckel-Sektor überflüssig. Dem e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten ersche<strong>in</strong>t diese Verdrängung lebendiger Arbeitdurch Technik ke<strong>in</strong>eswegs als Belastung, son<strong>de</strong>rn als Lösung se<strong>in</strong>er Probleme. Sie bietet ihm vieleVorteile: Weniger Beschäftigte be<strong>de</strong>utet weniger Lohnkosten, weniger Ärger mit muckigenArbeitskräften. Und schon sehr früh lernen die <strong>Kapital</strong>isten, die Technisierung <strong>de</strong>s Arbeitsprozessesals Mittel zur Diszipl<strong>in</strong>ierung <strong>de</strong>r Arbeitskräfte e<strong>in</strong>zusetzen. 292Aber unser Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikant bemerkt mit <strong>de</strong>r Zeit, worauf er sich da e<strong>in</strong>gelassen hat. Mit<strong>de</strong>r Ruhe ist es vorbei. Se<strong>in</strong> zeitweiliger Konkurrenzvorteil verflüchtigt sich und am En<strong>de</strong> ist mit<strong>de</strong>n Gully<strong>de</strong>ckeln womöglich sogar weniger Geld zu verdienen als zuvor. Er muß erleben, wiedie Preise für Gully<strong>de</strong>ckel s<strong>in</strong>ken, weil die Konkurrenten nicht geschlafen haben. Sie haben fl<strong>in</strong>knachgezogen und damit <strong>de</strong>m Wertgesetz auf die Sprünge geholfen. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Überproduktion vonGully<strong>de</strong>ckeln droht. Vielleicht muß unser Innovator sogar mit ansehen, wie alte Konkurrenten,statt erledigt zu se<strong>in</strong>, unter <strong>de</strong>m Druck se<strong>in</strong>es eigenen Angriffs rechtzeitig auf neue Produkteumsteigen und dabei am En<strong>de</strong> sogar besser fahren als er selbst mit se<strong>in</strong>er hochproduktiven Gully<strong>de</strong>ckel-Produktionam Ran<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r jenseits <strong>de</strong>r Marktsättigung.Es gibt für unseren rührigen Fabrikanten <strong>de</strong>shalb ke<strong>in</strong>en Stillstand. Er wird überlegen, wie er se<strong>in</strong>eInvestitionen <strong>in</strong> die Technik durch Erweiterung <strong>de</strong>r Produktpalette besser nutzt. Vielleicht zusätzlichgußeiserne Öfen herstellen? O<strong>de</strong>r Gaslaternen? O<strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>enteile? Am besten etwasganz neues, das ke<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer produziert, aber auf gute Nachfrage trifft. Die Arbeitskräfte für e<strong>in</strong>eAusweitung <strong>de</strong>r Produktion s<strong>in</strong>d ja da. Er und se<strong>in</strong>e ausgeschlafenen, aber auch die <strong>in</strong>zwischenerledigten Konkurrenten haben sie zuvor selber freigesetzt. So wer<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Druck<strong>de</strong>r eigenen Konkurrenz aus schlichten Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikanten dynamische <strong>Kapital</strong>isten, dieimmer auf <strong>de</strong>r Suche nach neuen profitablen Geschäftsfel<strong>de</strong>rn s<strong>in</strong>d, auf <strong>de</strong>nen es dann nachPhasen <strong>de</strong>r Freisetzung auch wie<strong>de</strong>r zur B<strong>in</strong>dung von Arbeitskraft kommt. 293 Je<strong>de</strong>nfalls so lange,eigenen Platz <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz zu sichern o<strong>de</strong>r durch Erzielung von Wettbewerbsvorteilen zu verbessern. Dabei gehen Steigerung vonMehrwert mit Maßnahmen zur Umverteilung <strong>de</strong>s Mehrwerts zwischen <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>en Hand <strong>in</strong> Hand.Klar, wir könnten diesen Schritt auch sofort vollziehen, könnten uns sagen "Schluß mit langatmigem Mehrwert-Gere<strong>de</strong>. Sehen wir unsdoch statt<strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>n Wettbewerb <strong>de</strong>r Unternehmen an. E<strong>in</strong>ige s<strong>in</strong>d große Gew<strong>in</strong>ner, an<strong>de</strong>re dümpeln vor sich h<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>ige Zehntausendjährlich werfen das Handtuch." Aber was hätten wir davon? Wir wür<strong>de</strong>n dann vor lauter Unternehmen <strong>de</strong>n Zusammenhang nicht mehrsehen. Am En<strong>de</strong> müßte uns notgedrungen das geschickte Kostenmanagement als Quelle <strong>de</strong>r Wertschöpfung ersche<strong>in</strong>en, und wir hättenwie<strong>de</strong>r unser altes Problem: Woher kommt <strong>de</strong>r Mehrwert? Aber auch im entwickelten <strong>Kapital</strong>ismus br<strong>in</strong>gt cleveres Kostenmanagementke<strong>in</strong>en Mehrwert hervor. Es sorgt nur dafür, dass das Unternehmen <strong>de</strong>n Vorgaben <strong>de</strong>s Wertgesetzes folgt und mit se<strong>in</strong>er Arbeitsproduktivitätm<strong>in</strong><strong>de</strong>stens <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Durchschnitt entspricht. Wer auf Dauer mit se<strong>in</strong>en Kosten über <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Durchschnittliegt, fliegt raus. Wer darunter produziert, sichert sich e<strong>in</strong>en Wettbewerbsvorteil. Wir wer<strong>de</strong>n uns das noch genauer ansehen undvor allem die Wi<strong>de</strong>rsprüche untersuchen, die daraus erwachsen.292M. betont gera<strong>de</strong> diese Wirkung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r technischen Innovationen auf <strong>de</strong>n Gesamtarbeiter: "Die Masch<strong>in</strong>erie wirkt jedoch nicht nur alsübermächtiger Konkurrent, stets auf <strong>de</strong>m Sprung, <strong>de</strong>n Lohnarbeiter 'überflüssig' zu machen. Als ihm fe<strong>in</strong>dliche Potenz wird sie laut undten<strong>de</strong>nziell vom <strong>Kapital</strong> proklamiert und gehandhabt. Sie wird das machtvollste Kriegsmittel zur Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r periodischen Arbeiteraufstän<strong>de</strong>,strikes usw. wi<strong>de</strong>r die Autokratie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Nach Gaskell war gleich die Dampfmasch<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Antagonist <strong>de</strong>r 'Menschenkraft',<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten befähigte, die steigen<strong>de</strong>n Ansprüche <strong>de</strong>r Arbeiter nie<strong>de</strong>rzuschmettern, die das beg<strong>in</strong>nen<strong>de</strong> Fabriksystem zurKrise zu treiben drohten. Man könnte e<strong>in</strong>e ganze Geschichte <strong>de</strong>r Erf<strong>in</strong>dungen seit 1830 schreiben, die bloß als Kriegsmittel <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>swi<strong>de</strong>r Arbeiteremeuten <strong>in</strong>s Leben traten." (MEW 23, S.459)293Der Begriff Freisetzung für Entlassungen soll die Vorgänge nicht verniedlichen. An<strong>de</strong>rerseits geht es uns an dieser Stelle auch nicht darum,e<strong>in</strong>fach aus unserer strukturellen Analyse <strong>in</strong> die Sozial<strong>pol</strong>itik <strong>de</strong>r Gegenwart zu hüpfen und daraus e<strong>in</strong>en Sozialreport zu machen.Schon gar nicht geht es um alberne Sprachreglungen e<strong>in</strong>er <strong>pol</strong>iticial correctness.Wenn wir aktuelle Vorgänge e<strong>in</strong>beziehen, ist es für unsere <strong>Spurensuche</strong> viel wichtiger, sich klar zu machen, wie das Wechselspiel von Freisetzungund B<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Arbeitskräfte <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verwoben ist und beständig um uns herum stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t, allerd<strong>in</strong>gs mit zyklisch wechseln-140


is sich auch auf <strong>de</strong>n neuen Fel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Konkurrenzkampf voll entfaltet. 294 Freilich gel<strong>in</strong>gt dasnicht je<strong>de</strong>m. Wo e<strong>in</strong> Fabrikant die Kurve nicht kriegt, muß er sich vorzeitig vom Wettbewerbund vermutlich auch von se<strong>in</strong>em <strong>Kapital</strong> verabschie<strong>de</strong>n, wenn er auch privat für sich und se<strong>in</strong>eFamilie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Regel gut vorgesorgt haben dürfte.Zwischenfrage 54: Ist <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ismus nicht tatsächlich e<strong>in</strong>e tolle Erfolgsgeschichte? (S.287)Genug jetzt von Gully<strong>de</strong>ckeln. Solange die Konkurrenz wirkt, ist <strong>de</strong>r Erfolg für <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen<strong>Kapital</strong>isten immer nur kurzfristig. Trotz<strong>de</strong>m ist die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität ke<strong>in</strong>eswegsmit e<strong>in</strong>em Hamsterrennen im Käfig vergleichbar, wo sich zwar das Laufrad rasend bewegt,aber im Grun<strong>de</strong> alles beim Alten bleibt. Im Gegenteil: <strong>Das</strong> kurzfristige Ziel <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, ihreeigene, auf relativ kle<strong>in</strong>e Aktionsräume beschränkte Konkurrenzsituation zu verbessern, hat <strong>in</strong>200 Jahren weitreichen<strong>de</strong> und umfassen<strong>de</strong> historische Wirkungen gezeigt.Wir wollen diese Wirkungen hier nur <strong>in</strong> Stichworten beschreiben: Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Produktionssphärenmit Entstehung immer neuer Produkte, Integration von Wissenschaft und Technik <strong>in</strong><strong>de</strong>n Arbeits- und Verwertungsprozess, Entstehung e<strong>in</strong>es wachsen<strong>de</strong>n Dienstleistungsbereichsneben <strong>de</strong>r materiellen Produktion. Aber natürlich gibt es genauso die an<strong>de</strong>re Seite: Arbeitsqualfür Millionen, Natur- und Ressourcenvernichtung, Kolonialismus und an<strong>de</strong>re aggressive Versuche,durch Welt- und Regionalkriege <strong>de</strong>n Zugang zu Rohstoffen und Märkten zu behaupten undauszuweiten.Wie sich die kapitalistische Produktionsweise, von wenigen Fel<strong>de</strong>rn ausgehend, mit Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r<strong>in</strong>dustriellen Revolution um 1750 zunächst <strong>in</strong> England, dann auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n europäischen Nachah<strong>de</strong>rIntensität. Für die Jahre 1998 bis 2008 berechnet die Bun<strong>de</strong>sagentur für Arbeit im Durchschnitt die E<strong>in</strong>stellung von 30.690 Arbeitskräftenpro Arbeitstag. Dem stehen 30.510 Entlassung pro Arbeitstag gegenüber. <strong>Das</strong> leichte Plus ist auf die Aufstiegsjahre 1997 bis 2000und 2005 bis 2008 zurückzuführen und wird <strong>de</strong>rzeit von <strong>de</strong>r En<strong>de</strong> 2008 e<strong>in</strong>setzen<strong>de</strong>n Wirtschaftskrise geschred<strong>de</strong>rt.* Die Zahlen zeigenuns die Wechselwirkungen von Freisetzung und B<strong>in</strong>dung als normale Bewegungsform <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Entwicklung, <strong>de</strong>ren Intensität<strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r zyklischen Bewegung ist. <strong>Das</strong> heißt: Auch <strong>de</strong>r krisenhafte Abbau <strong>de</strong>r Arbeitsplätze vollzieht sich immer noch im Wechselspiel vonFreisetzung und B<strong>in</strong>dung von Arbeitskräften, nur dass <strong>in</strong> diesem Fall die Freisetzungen <strong>de</strong>utlich überwiegen.Man darf nicht übersehen, dass <strong>de</strong>r "Aufschwung" bis 2008 zu mehr als e<strong>in</strong>em Viertel auf die Ausweitung <strong>de</strong>r Leiharbeit zurückgeht. Zuetwa e<strong>in</strong>em Drittel s<strong>in</strong>d <strong>de</strong>f<strong>in</strong>itorische Än<strong>de</strong>rungen beteiligt, nach <strong>de</strong>nen Personen schon ab e<strong>in</strong>er Stun<strong>de</strong> Arbeit pro Woche als beschäftigtgelten, sofern Sozialversicherung gezahlt wird. M<strong>in</strong>ijobs und ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse über- wiegen bei <strong>de</strong>n "neuen" Arbeitsplätzen*Anmerkung 18 Monate später: Vertan, vertan... mit e<strong>in</strong>em <strong>pol</strong>itisch geschickten Zug, <strong>de</strong>r die Kurzarbeiterregelung kurzerhand verlängerteund ausweitete,wur<strong>de</strong>n bis zu 1,5 Mio. Beschäftigte zeitweilig <strong>in</strong> Kurzarbeit geschickt. Die kurzfristigen Erfolge dieser Maßnahme liegenauf <strong>de</strong>r Hand: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich mo<strong>de</strong>rate Arbeitslosenrate von unter 8% und e<strong>in</strong>e flachere Rezession als <strong>in</strong> 2008 vorhergesagt.Die fortdauern<strong>de</strong> Beschäftigung <strong>de</strong>r Kurzarbeiter, die von <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sagentur für Arbeit alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> 2009 mit 4,6 Mrd. Euro gestütztwur<strong>de</strong>, wirkt viel direkter und schneller auf die B<strong>in</strong>nennachfrage als alle Konjunkturprogramme. Aber mit <strong>de</strong>r Kurzarbeiterregelung g<strong>in</strong>g esum mehr: Da wur<strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r die Absicht betont, <strong>de</strong>n Unternehmen das Know-how e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>gespielten Belegschaft zu erhalten, umauf dieser Grundlage besser und schneller als die <strong>in</strong>ternationale Konkurrenz aus <strong>de</strong>n Startlöchern <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Aufschwung zu spr<strong>in</strong>ten. Ob sichsolche strategischen Ziele <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischen Konkurrenz so e<strong>in</strong>fach erreichen lassen? Wir wer<strong>de</strong>n sehen.294Solange das <strong>Kapital</strong> durch Wissen und Erfahrung an <strong>de</strong>n Arbeitsprozess gebun<strong>de</strong>n ist, also zum Beispiel: Masch<strong>in</strong>en und Know how fürGußeisenprodukte besitzt, wird sich se<strong>in</strong>e Aus<strong>de</strong>hnung auch zunächst auf diese Sphäre <strong>de</strong>r Produktion beschränken. Man wird versuchen,zusätzlich zu Gully<strong>de</strong>ckeln mit gußeisernen Haushaltsgeräten, Straßenlaternen usw. das Geschäft auszu<strong>de</strong>hnen.Aber unserem <strong>Kapital</strong>isten (und spätestens se<strong>in</strong>en Erben) geht es im Grun<strong>de</strong> nicht um Gußeisen. <strong>Das</strong> ist nur <strong>de</strong>r Weg, <strong>de</strong>r sich irgendwanne<strong>in</strong>mal auftat, um aus Geld noch mehr Geld zu machen. Man ahnt hier schon <strong>de</strong>n großen und absur<strong>de</strong>n Traum <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, sich von <strong>de</strong>rstofflichen Basis <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion unabhängig zu machen. Diese erträumte Unabhängigkeit realisiert sich (sche<strong>in</strong>bar) im mo<strong>de</strong>rnenF<strong>in</strong>anzkapital, das sich mal <strong>in</strong> dieser, mal <strong>in</strong> jener Branche verwertet, <strong>de</strong>n ganzen Globus als Aktionsraum nutzt, um sich dort anzulegen,wo kurzfristig beste Verwertung w<strong>in</strong>kt.Damit wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m stofflich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r materiellen Produktion gebun<strong>de</strong>nen <strong>Kapital</strong> neue Handlungsvorgaben gesetzt. Dieses fungieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>,von <strong>de</strong>n Akteuren <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzmarkts als Realwirtschaft tituliert, muss sich daher nicht nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz um Marktanteile, son<strong>de</strong>rnauch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz um das Wohlwollen <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzkapitals immer wie<strong>de</strong>r bewähren. Die Orientierung auf das Wohlwollen jener om<strong>in</strong>ösenInvestoren ist für Unternehmensmanager heute sogar zu e<strong>in</strong>er bestimmen<strong>de</strong>n Größe gewor<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r wie es <strong>de</strong>r Manager e<strong>in</strong>ergroßen Wirtschaftsberatung formulierte: "Die <strong>Kapital</strong>sammelstellen (= Private Equity und Hedge Fonds) geben heute <strong>in</strong> Unternehmenstärker <strong>de</strong>n Ton an als das Management, das für die Produktion <strong>de</strong>r realen Güter verantwortlich ist." Auch dieses Thema wird uns noche<strong>in</strong>igen Stoff liefern.141


merstaaten immer weiter aus<strong>de</strong>hnt, kann <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r guten Wirtschaftsgeschichte 295 nachgelesenwer<strong>de</strong>n. Worauf es M. mit se<strong>in</strong>er Untersuchung zum relativen Mehrwert ankommt, ist die Offenlegung<strong>de</strong>r Konkurrenz als <strong>in</strong>nere Triebkraft, als zwanghaftes Han<strong>de</strong>ln zur Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität.So erschließt sich die kapitalistische Produktionsweise <strong>in</strong> wenigen Jahrzehntenim Wechsel von Freisetzung <strong>de</strong>r Arbeitskraft und Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Produktion immer neue Bereiche,öffnet immer neue Mehrwertquellen, steigert auch dort die Arbeitsproduktitivät undwälzt so die Verteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit fortlaufend um - und damit natürlich auchdie soziale Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft.Verschärfte Konkurrenz am ArbeitsmarktWas M. uns als Metho<strong>de</strong>n zur Steigerung <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts präsentiert, führt nicht ausnahmsweiseo<strong>de</strong>r vorübergehend, son<strong>de</strong>rn mit Notwendigkeit und immer dauerhafter zu e<strong>in</strong>emÜberangebot an Arbeitskraft. Er nennt diese überzähligen Arbeitskräfte die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee.Wir kommen später noch e<strong>in</strong>mal darauf zurück, wenn wir uns <strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>r Akkumulationzuwen<strong>de</strong>n. Für das Mehrwert-Thema ist <strong>in</strong>teressant, wie die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmeeimmer wie<strong>de</strong>r die Konkurrenz am Arbeitsmarkt herstellt, auf die Löhne drückt und die Arbeitskraftanpassungsfähig und kompromißbereit macht. 296Kann man <strong>de</strong>shalb die Arbeitslosigkeit als e<strong>in</strong>e Art Opfer für <strong>de</strong>n Fortschritt bezeichnen, das periodischzu br<strong>in</strong>gen ist, um <strong>de</strong>r kapitalistischen Erfolgsgeschichte nach je<strong>de</strong>r Krise e<strong>in</strong> weiteresKapitel anzuhängen? Darauf läuft die Darstellung <strong>de</strong>r Berufserklärer <strong>in</strong> Talkshows und Leitartikelnimmer wie<strong>de</strong>r h<strong>in</strong>aus. Sie nennen es krisenhafte Anpassungen: "Manchmal schmerzhaft,aber eben unvermeidlich." 297 Diese Spezialisten für Marktfragen verkaufen uns eben alle Krisen295Wir nannten bereits für Großbritannien die Arbeit von Hobsbawm (1968a; 1968b) o<strong>de</strong>r für Deutschland die ältere von Mottek (1957;1964), die e<strong>in</strong>e gute Übersicht geben. Wer an <strong>de</strong>n welthistorischen Dimensionen <strong>de</strong>s Übergangs zum kapitalistischen Zeitalter im 15. bis18. Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>in</strong>teressiert ist, wird Brau<strong>de</strong>ls (1979) Darstellung aus nicht marxistischer Sicht auf je<strong>de</strong>n Fall spannend und anregend f<strong>in</strong><strong>de</strong>n.296Wir kennen das: Während <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Betrieben <strong>de</strong>r Druck auf die Beschäftigten zunimmt und die Arbeitsbelastung wächst, müssen sichqualifizierte Arbeitskräfte auf <strong>de</strong>m Arbeitsamt regelmäßig die Nummer ziehen, um sich anzuhören, dass sie sich mehr Mühe geben müssen.M. kannte das auch:"Die Überarbeit <strong>de</strong>s beschäftigten <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>r Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, während umgekehrt <strong>de</strong>r vermehrte Druck,<strong>de</strong>n die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>szw<strong>in</strong>gt. Die Verdammung e<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>r Arbeiterklasse zu erzwungnem Müßiggang durch Überarbeit <strong>de</strong>s andren <strong>Teil</strong>s und umgekehrt,wird Bereicherungsmittel <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten und beschleunigt zugleich die Produktion <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Reservearmee auf e<strong>in</strong>em<strong>de</strong>m Fortschritt <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Akkumulation entsprechen<strong>de</strong>n Maßstab." (MEW 23, S.665f)M.s Lösung ist uns auch bekannt. Er sagt über England: "Se<strong>in</strong>e technischen Mittel zur 'Ersparung' von Arbeit s<strong>in</strong>d kolossal. Dennoch, wür<strong>de</strong>morgen allgeme<strong>in</strong> die Arbeit auf e<strong>in</strong> rationelles Maß beschränkt und für die verschiednen Schichten <strong>de</strong>r Arbeiterklasse wie<strong>de</strong>r entsprechendnach Alter und Geschlecht abgestuft, so wäre die vorhandne Arbeiterbevölkerung absolut unzureichend zur Fortführung <strong>de</strong>r nationalenProduktion auf ihrer jetzigen Stufenleiter. Die große Mehrheit <strong>de</strong>r jetzt 'unproduktiven' Arbeiter müßte <strong>in</strong> 'produktive' verwan<strong>de</strong>ltwer<strong>de</strong>n." (MEW 23, S.666)Die Entlastung <strong>de</strong>r Beschäftigten wür<strong>de</strong> zur Auflösung <strong>de</strong>r Reservearmee führen. Es gibt Marxisten, die wür<strong>de</strong>n diese Marx'sche I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>rgestuften Arbeitszeitverkürzung für völlig unmarxistisch erklären.297Wer die Tagespresse liest, wird immer wie<strong>de</strong>r auf Meldungen dieser Art stoßen. Sie erschien passend zum Jahreswechsel am 2.<strong>1.</strong>2009<strong>in</strong>mitten <strong>de</strong>r Weltwirtschaftskrise. Die hatte Deutschland zwar kaum erreicht, warf ihre Schatten aber voraus. Da ist es Aufgabe <strong>de</strong>r PRAbteilung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sagentur für Arbeit, ihren ganz beson<strong>de</strong>ren Optimismus mit solchen Meldungen zu verbreiten: "Junge Leute solltentrotz<strong>de</strong>m ihren Kopf nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Sand stecken, son<strong>de</strong>rn stetig an ihrem Marktwert arbeiten."Der eigentliche Witz <strong>de</strong>r Meldung: Unter <strong>de</strong>m Etikett "Marktwert steigern" wird nur empfohlen, sich selber marktgängiger zu machen, alses <strong>de</strong>r Konkurrent ist. Und Konkurrenten s<strong>in</strong>d alle an<strong>de</strong>ren: Freun<strong>de</strong>, Schulkamera<strong>de</strong>n, die vielen coolen Typen aus <strong>de</strong>r Disco.Bekommt man dann aber <strong>de</strong>n Arbeitsplatz wegen untertänigster Anpassung an die Bedürfnisse se<strong>in</strong>er Majestät, <strong>de</strong>s Arbeitsgebers, wirdman schnell merken, dass von gestiegenem Marktwert gar ke<strong>in</strong>e Re<strong>de</strong> ist. Mit <strong>de</strong>r Ellenbogenkonkurrenz gegen die Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegenhat man nämlich <strong>de</strong>n wirklichen "Marktwert", <strong>de</strong>n man als Lohn o<strong>de</strong>r Gehalt gezahlt bekommt, runterkonkurriert.142


und platzen<strong>de</strong>n Spekulationsblasen, alle Lasten, die wir tragen müssen, als lediglich vorübergehen<strong>de</strong>"Verwerfungen" auf <strong>de</strong>m Weg zum allgeme<strong>in</strong>en Wohlstand.Wenn wir uns aber M.s Metho<strong>de</strong> bedienen, verlieren wir die Zusammenhänge nicht aus <strong>de</strong>mBlick. Dann haben wir es gar nicht mit ungebremstem technischem Fortschritt, mit überbor<strong>de</strong>n<strong>de</strong>rInnovationskraft, mit immerfort steigen<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität, mit unbestechlich wissenschaftlicherArbeitsorganisation zu tun. <strong>Das</strong>, was fortschrittlich daran zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, s<strong>in</strong>d <strong>de</strong>m<strong>Kapital</strong>isten aufgezwungene Mittel zum Zweck. M. beschreibt diesen Zweck mit <strong>de</strong>r Kategorie<strong>de</strong>s relativen Mehrwerts. Dem Unternehmer ist die Sicherung und möglichst Steigerung <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>nedas Ziel. Nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Grenzen dieser Zielsetzung wird er zum begeisterten Ingenieur, zumFachmann für zeitsparen<strong>de</strong> Arbeitsabläufe, zum Technik-Freak und Innovations-Fan. Wir wer<strong>de</strong>nnoch sehen, dass diese Grenzen sehr eng wer<strong>de</strong>n können. Außerhalb dieser Grenzen bleibentechnische Projekte nur Luftnummern, <strong>in</strong>novative Zukunftsentwürfe nur geduldiges Papier, mögensie für das Wohlergehen <strong>de</strong>r Gesellschaft auch noch so wünschenswert se<strong>in</strong>. Außerhalb dieserGrenzen muß alles erkämpft wer<strong>de</strong>n. 298So schließt sich <strong>de</strong>r Kreis: Die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität schafft im Wechsel von Aus<strong>de</strong>hnung<strong>de</strong>r Mehrwertproduktion und Freisetzung von Arbeitskraft immer auch die Voraussetzungenfür alle oben bereits beschriebenen Versuche, auf die Höhe <strong>de</strong>r Löhne auf breiter Fronte<strong>in</strong>zuwirken. Die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität ist auf diese Weise an <strong>de</strong>r Sicherung <strong>de</strong>srelativen Mehrwerts <strong>in</strong> viel stärkerem Maße beteiligt, als es zu Anfang dieses Themas schien.Freilich ist sie auch, e<strong>in</strong>gezwängt <strong>in</strong> die Erfor<strong>de</strong>rnisse kapitalistischer Verwertung, randvoll mitsozialer und ökonomischer Sprengkraft. Wetten?298Reduktion von CO2 Abgasen? Gerne, aber das darf für die <strong>de</strong>utschen Autofirmen, die dreist <strong>de</strong>n Klimaschutz ignorierten, nicht zu E<strong>in</strong>bußenführen. Neue Antriebe für Automobile? Warum nicht, wenn die Entwicklungskosten sozialisiert, die Gew<strong>in</strong>ne weiter privat angeeignetwer<strong>de</strong>n und am En<strong>de</strong> m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens genauso hoch s<strong>in</strong>d wie vorher – am besten noch höher. Sonst bleiben wir lieber beim alten... Mankann es immer wie<strong>de</strong>r beobachten: Wo <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Debatte Varianten e<strong>in</strong>er Maßnahme diskutiert wer<strong>de</strong>n, wird sich mit großerWahrsche<strong>in</strong>lichkeit diejenige durchsetzen, die umfassend mehrwertkompatibel ist. "<strong>Das</strong> muß sich schließlich rechnen" ist dann die wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>Re<strong>de</strong>wendung, wobei das, was da berechnet wird, immer nur das Geld <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Taschen <strong>de</strong>r Aktionäre und Investoren ist.Damit ke<strong>in</strong>e Mißverständnis aufkommen: In je<strong>de</strong>r Produktionsweise müssen Aufwand und Ergebnis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vernünftigen Verhältnis stehen.Aber die kapitalistische Produktionsweise hat hier Grenzen. Gewiß gibt es non-profit Betriebe: K<strong>in</strong><strong>de</strong>rgärten, Opernhäuser, Museen...die wer<strong>de</strong>n durch Steuern im Umlageverfahren f<strong>in</strong>anziert. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten aber durchaus nicht geheuer. Deshalb drängt er danach,alles, buchstäblich: Alles! <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>m Pr<strong>in</strong>zip <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>norientierung zu unterwerfen, das ihm selbst so sehr zusagt. Nursteckt dah<strong>in</strong>ter noch mehr.Selbst e<strong>in</strong>e Kooperative von Menschen, die e<strong>in</strong>e Fabrik für K<strong>in</strong><strong>de</strong>rwagen o<strong>de</strong>r Fahrrä<strong>de</strong>r betreiben und dabei e<strong>in</strong>e soli<strong>de</strong> Rendite von 3%erwirtschaftet, wäre zwar ökonomisch rentabel, aber kapitalistisch nicht lebensfähig. Sie wür<strong>de</strong> trotz <strong>de</strong>s völlig ausreichen<strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>nssogenannte "rote Zahlen" schreiben. Warum das so ist? Kriegen wir später.Kommen wir auf die verme<strong>in</strong>tliche Innovationsfreu<strong>de</strong> und Technikbegeisterung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten zurück. Auch dafür ist die Klima<strong>de</strong>battee<strong>in</strong>e gute Illustration: Wo es darauf ankommt, schnelle und spürbare absolute Reduktionen <strong>de</strong>s CO2 Ausstoßes zu erzielen, wer<strong>de</strong>n dieMaßnahmen immer weiter auf die lange Bank geschoben. Was 2012 passiert se<strong>in</strong> sollte (mit 15 Jahren Vorlauf!), wird im Dezember 2008zur e<strong>in</strong>en Hälfte auf 2015 und zur an<strong>de</strong>ren noch e<strong>in</strong>mal auf 2020 verschoben. Was aber tatsächlich sofort herauskommt: Z<strong>in</strong>sgünstigeKredite für die Firmen, um damit angeblich die Autos zu entwickeln, an <strong>de</strong>nen man angeblich schon seit Jahren arbeitet und die man als"Gespensterautos" seit Jahren auf <strong>de</strong>n Autombobilsalons <strong>in</strong> Frankfurt, Genf, Paris und Detroit präsentiert, angeblich kurz vor <strong>de</strong>r Serienreife.Aber das s<strong>in</strong>d nur Tribute an das Gewissen; nicht an das eigene Gewissen, son<strong>de</strong>rn an das <strong>de</strong>r Autofreaks!Am En<strong>de</strong> reduziert sich <strong>de</strong>r Klimaschutz auf fragwürdigen Zertifikatehan<strong>de</strong>l, auf e<strong>in</strong>en börsenmäßig organisierten Han<strong>de</strong>l mit Lizenzen zumKlimakill. Auch hier w<strong>in</strong>kt uns <strong>de</strong>r relative Mehrwert freundlich zu: Denn dieser Trick mit <strong>de</strong>n Zertifikatebörsen erlaubt es <strong>de</strong>n technischfortgeschrittenen Unternehmen, ihren Vorsprung bei <strong>de</strong>r Umwelttechnik <strong>in</strong> Kostenvorteil und damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Extraprofit auf Kosten <strong>de</strong>rweniger entwickelten Industrien und Län<strong>de</strong>r zu verwan<strong>de</strong>ln. Der Nutzen für das Klima? M<strong>in</strong>imal, auf je<strong>de</strong>n Fall viel zu wenig, undschlimmstenfalls sogar e<strong>in</strong> Nullsummenspiel. Am En<strong>de</strong> vielleicht nichts weiter als <strong>de</strong>r gelungene Versuch, auch noch mit <strong>de</strong>r Erhaltung <strong>de</strong>sgefahrvollen Status quo Geld zu verdienen.143


Die Sache mit <strong>de</strong>r AusbeutungIn e<strong>in</strong>er älteren E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Politische Ökonomie aus <strong>de</strong>r UdSSR haben wir im Kapitel über<strong>de</strong>n Mehrwert nach 50mal "Ausbeutung" aufgehört zu zählen. Die häufige Verwendung imS<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es <strong>pol</strong>itisch-moralischen Vorwurfs sollte offenbar als schlagkräftiges Argument im i<strong>de</strong>ologischenKampf <strong>de</strong>r Systeme funktionieren. Mal abgesehen davon, dass es offenbar nicht funktionierthat: In <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itisch-ökonomische Analyse geht es überhaupt nicht um "Schuld" o<strong>de</strong>r"moralische Ver<strong>de</strong>rbtheit", son<strong>de</strong>rn darum herauszuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wie die kapitalistische Produktionsweisefunktioniert, wie sie sich entwickelt und wo ihre Bruchstellen s<strong>in</strong>d.Also "wertfreie Wissenschaft"? Emotionsfreie Betrachtung? Soll es <strong>de</strong>nn nicht darum gehen, diekapitalistische Produktionsweise und das sich darauf aufbauen<strong>de</strong> Gesellschaftssystem anzuprangern?Schließlich hat M. selbst ke<strong>in</strong>e Sekun<strong>de</strong> gezögert, die Grausamkeiten und die Habgier <strong>de</strong>rFabrikanten beim Namen zu nennen. Gera<strong>de</strong> im ersten Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" ist e<strong>in</strong>e Fülle an Materiale<strong>in</strong>gearbeitet, das die Verachtung menschlichen Lebens und menschlicher Wür<strong>de</strong> durchdie Aktivisten <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s dokumentiert.Zwischenfrage 55: Läßt sich das Gute am <strong>Kapital</strong>ismus nicht bewahren, wenn man gerechte Löhne e<strong>in</strong>führtund die Auswüchse beschnei<strong>de</strong>t? Was ist überhaupt von <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach "gerechter Bezahlung"vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund von M.s Werttheorie zu halten? (S.289)Völlig richtig. M. macht damit se<strong>in</strong>en Lesern klar, dass "kapitalistische Produktionsweise" nichtsEntferntes o<strong>de</strong>r Vorgestelltes, ke<strong>in</strong> aka<strong>de</strong>misches Thema, son<strong>de</strong>rn genau das ist, was um sieherum tagtäglich passiert. Aber zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt war es se<strong>in</strong>e Absicht, Amoralität, Heucheleiund Gier <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten als Ursache <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise darzustellen. Er illustriertdamit ihre Folgen. Amoralität, Heuchelei und Gier e<strong>in</strong>er Klasse s<strong>in</strong>d selbst soziale Produkte<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise, gehen aus ihr hervor, f<strong>in</strong><strong>de</strong>n <strong>in</strong> ihr günstige Möglichkeiten<strong>de</strong>r Entfaltung. Deswegen zielt M. schließlich auf die Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise,nicht auf die moralische Besserung ihrer Akteure. Deswegen geht es ihm um die Verän<strong>de</strong>rung<strong>de</strong>r Verhältnisse, nicht um die missionarische Besserung <strong>de</strong>s Verhaltens. In gar ke<strong>in</strong>emFall geht es darum, diese Produktionsweise über moralische Qualitäten zu <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ieren.Schon an an<strong>de</strong>rer Stelle haben wir dafür plädiert, moralische Bewertungen wie "gut-böseverwerflich-brutal..."aus <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie im engeren S<strong>in</strong>ne fern zu halten, das heißt:Sie wer<strong>de</strong>n nicht zu e<strong>in</strong>em <strong>Teil</strong> unserer Analyse. Daran halten wir fest. 299 Aber wir wer<strong>de</strong>n mitBlick auf <strong>de</strong>n absoluten wie relativen Mehrwert weiterh<strong>in</strong> von Ausbeutung <strong>de</strong>r lebendigen Ar-299<strong>Das</strong> schreibt sich leichter als es sich machen läßt. Wir wollen schließlich nicht als zynische Analyse-Aka<strong>de</strong>miker en<strong>de</strong>n, die von "<strong>in</strong>nerer<strong>Kapital</strong>logik" schwatzen, wo e<strong>in</strong>e verständliche Darstellung <strong>de</strong>r ökonomischen und sozialen Gewalt und ihre entschie<strong>de</strong>ne <strong>pol</strong>itische wiemoralische Verurteilung notwendig ist. Die Art von Wissenschaft, die von offenbar gefühllosen Th<strong>in</strong>ktanks (also: Denk-Panzern) betriebenwird, passt uns nicht. Die bil<strong>de</strong>n sich e<strong>in</strong>, ihre Objektivität und Wertfreiheit zu beweisen, <strong>in</strong><strong>de</strong>m sie alles ausblen- <strong>de</strong>n, was als Mitgefühlersche<strong>in</strong>en könnte.Diesen Weg hat uns M. versperrt, <strong>in</strong><strong>de</strong>m se<strong>in</strong>e Metho<strong>de</strong> zu e<strong>in</strong>er historischen Sicht und eben zu wechseln<strong>de</strong>n Perspektiven zw<strong>in</strong>gt. DieFrage nach <strong>de</strong>n Machtstrukturen und <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r beteiligten Gruppen und nach ihrer Entstehung ist dar<strong>in</strong> fest e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n. WerM.s Ansatz folgt, kann sich nicht auf e<strong>in</strong>en neutralen Beobachterposten zurückziehen und sich dabei auf Sachzwänge o<strong>de</strong>r die Natur <strong>de</strong>sMenschen berufen.Wir versuchen es wie M. zu machen: "S<strong>in</strong>e ira et studio", also: Ohne Zorn und Eifer! war e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Leitsprüche. Denn Zorn und Wutdämpfen die Erkenntnisfähigkeit. Gut geme<strong>in</strong>ter Eifer neigt dazu, sich die D<strong>in</strong>ge im Kopf zurechtzurücken, um sie <strong>de</strong>n eigenen Wünschenanzubequemen. Nur, wenn wir Zorn und Eifer unter Kontrolle halten, kann die nüchterne <strong>pol</strong>itisch-ökonomische Analyse <strong>in</strong> M.s Traditionunserer Empörung e<strong>in</strong> Fundament geben. Uns geht es ja <strong>in</strong> dieser <strong>Spurensuche</strong> nicht darum, die Untaten <strong>de</strong>r Produktionsweise aufzulisten;das ist e<strong>in</strong>e Menge Arbeit und wur<strong>de</strong> schon von an<strong>de</strong>ren geleistet. Wir wollen die Verwurzelung dieser Untaten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise begreifen.144


eitskraft re<strong>de</strong>n. Allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> M.s S<strong>in</strong>ne. Der Vorwurf, M. wer<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Ausbeutungselbst ausgesprochen moralisch, hat eben nur zum <strong>Teil</strong> recht.Zweifellos hat gera<strong>de</strong> das Thema "Mehrwert und Ausbeutung" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung <strong>de</strong>nstärksten Wi<strong>de</strong>rhall gefun<strong>de</strong>n. Ke<strong>in</strong> Wun<strong>de</strong>r: Begrün<strong>de</strong>t M. damit doch auf neue Weise, was allePolit-Ökonomen vor ihm schon wußten und was je<strong>de</strong>m von uns ebenfalls klar se<strong>in</strong> sollte. Nämlich:Die menschliche Arbeit ist die Quelle aller Produkte, die unser Leben sichern und es schönermachen; aber auch aller an<strong>de</strong>ren Produkte wie Umweltgifte und Vernichtungswaffen, auf diewir gut verzichten könnten.Unter kapitalistischen Bed<strong>in</strong>gungen ist die gesellschaftliche Arbeit daher auch Quelle aller Werteund natürlich Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts. Reichtum und Macht <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse basieren nichtauf beson<strong>de</strong>ren Fähigkeiten o<strong>de</strong>r organisatorischen Talenten 300 , nicht auf Sparsamkeit undSelbstdiszipl<strong>in</strong>, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>r Aneignung dieses Mehrwerts, auf <strong>de</strong>n sie als Eigentümer <strong>de</strong>rProduktionsmittel und Käufer <strong>de</strong>r Arbeitskraft e<strong>in</strong>en sche<strong>in</strong>bar natürlichen Anspruch erheben. Esspielt dafür gar ke<strong>in</strong>e Rolle, ob all die gepriesenen "unternehmerischen Fähigkeiten" vorhan<strong>de</strong>ns<strong>in</strong>d o<strong>de</strong>r nicht. Die wer<strong>de</strong>n heute ohneh<strong>in</strong> zusammengekauft wie e<strong>in</strong>e Fußballmannschaft.Je<strong>de</strong>r wird für sich <strong>de</strong>n Begriff Ausbeutung <strong>de</strong>r Arbeitskraft mit zahlreichen negativen Empf<strong>in</strong>dungenverb<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Dennoch ist diese Kategorie zunächst nicht als moralische Kategorie geme<strong>in</strong>t.Wenn wir M.s Vorliebe für Mehr<strong>de</strong>utigkeit beachten, könnten wir <strong>de</strong>n Begriff Ausbeutungals die Schnittstelle sehen, wo sich nüchterne ökonomische Analyse und Moral berühren.Tatsächlich ist es e<strong>in</strong>e technische und e<strong>in</strong>e moralische Komponente, die sich im Begriff treffen.Ausbeutung und gleichbe<strong>de</strong>utend Exploitation wer<strong>de</strong>n von M. im "<strong>Kapital</strong>" auf die Arbeitskraftauf dieselbe Weise angewen<strong>de</strong>t wie auf Masch<strong>in</strong>en o<strong>de</strong>r Bergwerke. Wer f<strong>in</strong><strong>de</strong>t etwas dabei,wenn e<strong>in</strong> Kohlenflöz ausgebeutet wird? Wenn e<strong>in</strong>er Dampfmasch<strong>in</strong>e das äußerste abverlangtwird? Ohne Zweifel ist das e<strong>in</strong> bißchen tricksig, <strong>de</strong>nn natürlich weiß M., dass er damit implizitauch e<strong>in</strong>en moralischen Vorwurf erhebt, sobald diese technische Bezeichnung auf die lebendigeArbeitskraft angewen<strong>de</strong>t wird. Aber dieser Vorwurf ist eben zunächst nicht moralisch begrün<strong>de</strong>t,son<strong>de</strong>rn viel gravieren<strong>de</strong>r: Die Ausbeutung ist e<strong>in</strong>e unvermeidliche Konsequenz <strong>de</strong>r Verhältnisse!300Dafür gibt es viel zu viele blö<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>isten, die, wenn sie nicht reich geerbt hätten, vermutlich kaum auf eigenen Füßen stehen könntenund gera<strong>de</strong> mal als Futter für die Klatschpresse taugen. Aber es gibt und gab selbstverständlich auch e<strong>in</strong>e Menge sehr begabter <strong>Kapital</strong>isten,die als be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Erf<strong>in</strong><strong>de</strong>r und Ingenieure anf<strong>in</strong>gen und wichtige Beiträge zur Entwicklung <strong>de</strong>r Produktivkräfte geleistet haben.(Ne<strong>in</strong>, Bill Gates gehört nicht zu ihnen!) Insgesamt hat sich aber auch die <strong>Kapital</strong>istenklasse gewan<strong>de</strong>lt. Sie re<strong>de</strong>n vom freien Unternehmertum,unternehmen selber aber nichts mehr, son<strong>de</strong>rn lassen von gut bezahlten Managern unternehmen. Deren Gehalt wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>rF<strong>in</strong>anzkrise zum beliebten Politikerthema. Durch "radikale For<strong>de</strong>rungen" zur Beschneidung <strong>de</strong>r Manager-Gehälter haben uns Merkel,Ste<strong>in</strong>brück und Co. ihr "Bankenrettungspaket" als moralisch wertvolle Offensive verkauft.Natürlich ist das nur Theaterdonner. E<strong>in</strong> wenig Klassenkeile für das Publikum. Und vermutlich auch e<strong>in</strong>e Menge Neid. Da sehen dieschlechter bezahlten Klassenfunktionäre aus <strong>de</strong>r Berl<strong>in</strong>er Parallelgesellschaft e<strong>in</strong>e Möglichkeit, es <strong>de</strong>n Managern an <strong>de</strong>r Spitze mal so richtigzu zeigen... Es geht vorüber. Letztenen<strong>de</strong>s weiß die Klasse sehr genau, dass Manager ke<strong>in</strong>e normalen Angestellten s<strong>in</strong>d. Ihre Entlohnungist <strong>de</strong>shalb auch ke<strong>in</strong> Gehalt, son<strong>de</strong>rn die gol<strong>de</strong>ne Hun<strong>de</strong>le<strong>in</strong>e, mit <strong>de</strong>r man sie an die Interessen ihrer Auftraggeber b<strong>in</strong><strong>de</strong>t - die Eigentümer.Deshalb fallen die Entlohnungen <strong>de</strong>r Manager nicht nur üppig, son<strong>de</strong>rn bevorzugt <strong>in</strong> Aktienoptionen aus: Es s<strong>in</strong>d Zahlungenaus <strong>de</strong>r Klassenkasse für die wichtigsten Funktionäre <strong>de</strong>r Klasse, die sich durch "harte, aber unternehmerisch notwendige Entscheidungen"wenn nicht die Hän<strong>de</strong>, so doch vielleicht Gewissen und weiße Weste beschmutzen. Arbeitslöhne und Gehälter h<strong>in</strong>gegen s<strong>in</strong>d bestenfallsInstrumente <strong>de</strong>r Mitarbeiterführung, im Falle e<strong>in</strong>es Falles aber doch nur Kosten, die es zu senken gilt, und für <strong>de</strong>ren Senkung die Managerdann wie<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs honoriert wer<strong>de</strong>n.Da schließt sich <strong>de</strong>r Kreis: Wür<strong>de</strong>n die Manager e<strong>in</strong>fach nur Geld bekommen, kämen die Interessen <strong>de</strong>r Eigentümer und <strong>de</strong>r Manager womöglichnicht zur Deckung. Es sei <strong>de</strong>nn, man wür<strong>de</strong> Prämien für Massenentlassungen, gestiegene Arbeitshetze und ähnliches zahlen. <strong>Das</strong>aber käme <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Öffentlichkeit nicht gut an: Pro entlassenen Mitarbeiter 1000 Euro extra? Riecht nach unwaidmännischer Massenabschußprämie.Dann lieber Aktienoptionen: Denn so sicher wie das Amen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Kirche ist das Steigen <strong>de</strong>r Aktienkurse bei Massenentlassungenund ähnlichen Zumutungen. Der beliebte Markt sorgt für die rechte Belohnung für rechte Arbeit. Und die Art <strong>de</strong>r Belohnung b<strong>in</strong><strong>de</strong>tdie Managerkaste und macht sie als Miteigentümer nicht nur zum Personal, son<strong>de</strong>rn zu e<strong>in</strong>em <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse.145


"Exploitationsgrad"Wir haben bereits gezeigt, wie mit <strong>de</strong>m Kauf <strong>de</strong>r Arbeitskraft das Interesse <strong>de</strong>r Unternehmerentsteht, diese Arbeitskraft <strong>in</strong> <strong>de</strong>r vertraglich vere<strong>in</strong>barten Zeit optimal auszubeuten: Durchausim Rahmen <strong>de</strong>r ökonomischen Gesetze und zwangsweise <strong>in</strong> <strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Klassenkampf gesetztenGrenzen. Aber M.s ganz sachliche Feststellung ist die: Menschen wer<strong>de</strong>n unter diesenVerhältnissen wie Masch<strong>in</strong>en, im Fabriksystem sogar wie Anhängsel <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en, heute wür<strong>de</strong>nwir sagen: bloß als Kostenfaktor behan<strong>de</strong>lt.Wenn M. zum Abschluß se<strong>in</strong>es langen Mehrwert-Kapitels <strong>de</strong>n Exploitationsgrad <strong>de</strong>r Arbeitskraftals Quotienten aus <strong>de</strong>m produzierten Mehrwert m und <strong>de</strong>m aufgewen<strong>de</strong>ten variablen <strong>Kapital</strong> vbestimmt, also als m/v ausdrückt, soll das ke<strong>in</strong> Maß für die Ver<strong>de</strong>rbtheit o<strong>de</strong>r Ungerechtigkeit<strong>de</strong>r Verhältnisse se<strong>in</strong>, son<strong>de</strong>rn beschreibt die kapitalistische Produktivität <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters alsMehrwertrate. Wir er<strong>in</strong>nern uns an diese Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise: Inihr gilt je<strong>de</strong> Arbeit nur soweit als produktiv, wie sie zur Produktion von Mehrwert beiträgt.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> praktische Be<strong>de</strong>utung hat dieser Exploitationsgrad nicht. Je<strong>de</strong>nfalls nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>m S<strong>in</strong>ne, dassman damit irgen<strong>de</strong>twas rechnerisch beweisen könnte. Wollte man diesen Quotienten etwa fürDeutschland genau bestimmen, wür<strong>de</strong> man schnell an <strong>de</strong>n unzulänglichen Daten scheitern. Wasan ökonomischen Daten vorliegt, wird nicht erhoben, um die Mehrwertpotenz <strong>de</strong>s Gesamtarbeiterszu messen. Man müßte auf <strong>in</strong>direkte Metho<strong>de</strong>n ausweichen, um bestenfalls e<strong>in</strong>e ungefähreSchätzung abzugeben. Aber was solls? M. hatte ke<strong>in</strong>erlei ökonometrische 301 Absichten.Für ihn ist <strong>de</strong>r schlichte Quotient m/v die kürzeste Antwort auf e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r Grundfragen <strong>de</strong>r Ökonomie:Warum wer<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten reicher? Worauf grün<strong>de</strong>t ihre ökonomische Macht? <strong>Kapital</strong>istischerMehrwert entsteht alle<strong>in</strong> durch Lohnarbeit. Und die Abhängigkeit <strong>de</strong>r Mehrwertmassevon <strong>de</strong>r produktiv angewen<strong>de</strong>ten Arbeitskraft bün<strong>de</strong>lt alle <strong>in</strong>neren Wi<strong>de</strong>rsprüche <strong>de</strong>r Produktionsweise.<strong>Das</strong> ist das Thema <strong>de</strong>r nächsten Kapitel."Materiatur unbezahlter Arbeit"Ist die Mehrwettheorie e<strong>in</strong>fach? Ja. Ist sie schlicht? Ne<strong>in</strong>. Steckt sie voller Wi<strong>de</strong>rsprüche? Natürlich.Enthält sie Sprengstoff? Je<strong>de</strong> Menge. M.s Mehrwerttheorie ist das am <strong>in</strong>tensivsten bekämpfteElement se<strong>in</strong>er <strong>pol</strong>itökonomischen Analyse. Sie beantwortet die Frage nach <strong>de</strong>n Quellen<strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums. Sie sagt, wer ihn produziert und wer ihn sich aneignet. Sielüftet das Geheimnis <strong>de</strong>r kapitalistischen Verwertung. Sie entfernt die Kulissen und zeigt, wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fache Trick funktioniert. M. betont diesen zentralen Punkt an verschie<strong>de</strong>nen Stellen. ZumBeispiel hier, wo er Wert und Mehrwert <strong>in</strong> Analogie setzt:"So entschei<strong>de</strong>nd es für die Erkenntnis <strong>de</strong>s Werts überhaupt, ihn als bloße Ger<strong>in</strong>nung von Arbeitszeit,als bloß vergegenständlichte Arbeit, so entschei<strong>de</strong>nd ist es für die Erkenntnis <strong>de</strong>sMehrwerts, ihn als bloße Ger<strong>in</strong>nung von Surplusarbeitszeit, als bloß vergegenständlichte Mehrarbeitzu begreifen. Nur die Form, wor<strong>in</strong> diese Mehrarbeit <strong>de</strong>m unmittelbaren Produzenten, <strong>de</strong>m301Ökonometrie ist e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong>gebiet <strong>de</strong>r Wirtschaftswissenschaften, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m man versucht, ökonomische Mo<strong>de</strong>lle mit Daten zu prüfen, die<strong>de</strong>m wirtschaftlichen Geschehen entnommen s<strong>in</strong>d, o<strong>de</strong>r durch Auswertung solcher Daten zu Aussagen über das Wirtschaftsgeschehen zukommen. Solche Daten fallen <strong>in</strong> riesigen Mengen an: Als Daten für die Besteuerung <strong>de</strong>r Unternehmen, als Daten für die Rechenschaftslegung<strong>de</strong>r Unternehmen gegenüber <strong>de</strong>n Eigentümern (Bilanzdaten), als <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>es umfangreichen staatlichen Berichtssystems, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m dievon <strong>de</strong>n Unternehmen bzw. ihren Verbän<strong>de</strong>n gemel<strong>de</strong>ten Daten zusammengeführt und aufbereitet wer<strong>de</strong>n.146


Arbeiter, abgepreßt wird, unterschei<strong>de</strong>t die ökonomischen Gesellschaftsformationen, z.B. dieGesellschaft <strong>de</strong>r Sklaverei von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Lohnarbeit." 302Wir lernen nebenbei, dass Mehrwert historisch nichts Neues ist. Je<strong>de</strong> Gesellschaft mit e<strong>in</strong>igermaßenentwickelten Produktivkräften, br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Mehrwert hervor, <strong>de</strong>n wir unabhängig von<strong>de</strong>r jeweiligen Produktionsweise als Mehrprodukt bezeichnen. Klar: Wie hätten die Millionenrömischer Legionäre, <strong>de</strong>r gesamte Militärapparat e<strong>in</strong>es antiken Staats ohne agarisches undhandwerkliches Mehrprodukt versorgt wer<strong>de</strong>n können? Wie sonst hätten sich A<strong>de</strong>l und Ritterund Klerus im Mittelalter ernähren und schmücken sollen? Wie hätten Musiker, Maler o<strong>de</strong>r Bildhauerleben, wie hätten Pyrami<strong>de</strong>n und Kathedralen errichtet wer<strong>de</strong>n können? Was das kapitalistischeMehrprodukt, <strong>de</strong>n Mehrwert, vom Mehrprodukt an<strong>de</strong>rer Produktionsweisen unterschei<strong>de</strong>t,sagt M., ist die Form, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r dieser Mehrwert produziert und angeignet wird. 303 DieseForm ist eben das <strong>Kapital</strong>verhältnis, kürzer gesagt: das <strong>Kapital</strong> selbst, <strong>de</strong>ssen e<strong>in</strong><strong>de</strong>utige Signaturdie massenweise Anwendung <strong>de</strong>r Lohnarbeit ist.Was sich unseren Augen als <strong>Kapital</strong> darbietet, s<strong>in</strong>d Geldmengen, Aktien, Anlagen und Masch<strong>in</strong>en,dazwischen Menschen, bisweilen <strong>in</strong> großen Werkhallen vor lauter Technik kaum noch zusehen... Es sche<strong>in</strong>t, als wohne <strong>de</strong>r stofflichen Gestalt <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s selbst die geheimnisvolle Kraftzur Verwertung <strong>in</strong>ne, <strong>de</strong>r es gel<strong>in</strong>gt, aus Kostenbewusstse<strong>in</strong>, Organisation, Mitarbeiterführungund Technik, also alle<strong>in</strong> durch die Regie <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>n Mehrwert zu erzielen. Wir sehen dasan<strong>de</strong>rs, obwohl wir ke<strong>in</strong>en Augenblick die Be<strong>de</strong>utung dieser Punkte bestreiten. Schließlich s<strong>in</strong>ddiejenigen, die da Kosten und Qualität kontrollieren, die organisieren und motivieren, die dieTechnik entwickeln, konstruieren und bauen, mit <strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>re dann arbeiten, allesamt Glie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>s produktiven, weil Mehrwert produzieren<strong>de</strong>n Gesamtarbeiters. Aber wodurch gel<strong>in</strong>gt dieAneignung <strong>de</strong>s Mehrwerts? Er wird gesellschaftlich, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verb<strong>in</strong>dung von Millionen Menschenproduziert, aber <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>n Interessen e<strong>in</strong>er längst außerhalb <strong>de</strong>r Produktionssphäre leben<strong>de</strong>nKlasse voll und ganz unterworfen. M.s Mehrwerttheorie legt diesen Kern offen:"Aller Mehrwert, <strong>in</strong> welcher beson<strong>de</strong>rn Gestalt von Profit, Z<strong>in</strong>s, Rente usw. er sich später kristallisiere,ist se<strong>in</strong>er Substanz nach Materiatur 304 unbezahlter Arbeitszeit. <strong>Das</strong> Geheimnis von <strong>de</strong>r302MEW 23, S.231303Die "Form <strong>de</strong>r Aneignung" besteht nicht nur dar<strong>in</strong>, dass <strong>de</strong>r Mehrwert <strong>in</strong> die Taschen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten fließt. <strong>Das</strong> alle<strong>in</strong> wäre M. egal;das "<strong>Kapital</strong>" ist schließlich ke<strong>in</strong>e wissenschaftlich verbrämte Auffor<strong>de</strong>rung zum Neid. <strong>Kapital</strong>istische Aneignung <strong>de</strong>s Mehrwerts hat weiterreichen<strong>de</strong>und im Kern <strong>de</strong>struktive Folgen. Für die <strong>in</strong> private Produktionsprozesse zerlegte, ihrem wirklichen Zusammenhang nach abergesellschaftliche Produktion, spielen gesellschaftliche Interessen und Bedürfnisse ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tegrierte Rolle. Solche Fragen tauchen nur im<strong>pol</strong>itischen Prozess auf und tun sich außeror<strong>de</strong>ntlich schwer, auf die ökonomischen Prozesse e<strong>in</strong>zuwirken. Die Debatte zum Klimawan<strong>de</strong>list dafür e<strong>in</strong> anschauliches Beispiel. Die Verwendung <strong>de</strong>s gesellschaftlich produzierten Mehrwerts wird <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen privaten, immer begrenztenund daher oft auch bornierten Interessen untergeordnet. Es s<strong>in</strong>d Interessen, die nach ihrer Entstehung und Ausrichtung ke<strong>in</strong>eswegsmit <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft i<strong>de</strong>ntisch s<strong>in</strong>d. Im Gegenteil: Sehr oft laufen diese Privat<strong>in</strong>teressen <strong>de</strong>ngesellschaftlichen Interessen zuwi<strong>de</strong>r.An<strong>de</strong>rerseits wählt M. im Zitat die historische Parallele zum Mehrprodukt früherer Produktionsweisen nicht zufällig. Damit betont er dieNotwendigkeit für je<strong>de</strong> entwickelte Gesellschaft, e<strong>in</strong> Mehrprodukt zu erzielen. <strong>Das</strong> Mehrprodukt ist ja nicht nur die Voraussetzung fürbourgoisen Luxus, für Militärapparate und feudale Burgen und Schlösser. Es ist auch Voraussetzung für die Entwicklung <strong>de</strong>r Kultur undWissenschaft, für arbeitsfreie Zeit und Muße. Deshalb schwebt M. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en <strong>pol</strong>itischen Schlußfolgerungen ke<strong>in</strong>eswegs vor, <strong>de</strong>n produziertenMehrwert an die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters e<strong>in</strong>fach zu verteilen. Solche Vorstellungen <strong>de</strong>r frühen Arbeiterbewegung, wie sie auch<strong>in</strong> <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach gerechtem Lohn ankl<strong>in</strong>gen, hat M. scharf bekämpft. Der dialektische Konter zur privaten kapitalistischen Aneignung<strong>de</strong>s gesellschaftlich produzierten Mehrwerts liegt für M. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r engen Eigentumsverhältnisse, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Schaffung gesellschaftlichenEigentums mit gesellschaftlicher Aneignung <strong>de</strong>s Mehrprodukts. Also: Ausrichtung <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion auf die gesellschaftlichenEntwicklungsbedürfnisse. Wie das aussehen könnte ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Thema, <strong>de</strong>m wir uns im Rahmen dieses Ausflugs <strong>in</strong> die<strong>pol</strong>itische Ökonomie im Detail nicht widmen wer<strong>de</strong>n. Doch wird uns die <strong>pol</strong>itische Ökonomie helfen, über solche Fragen produktiv nachzu<strong>de</strong>nken.304Materiatur = aus <strong>de</strong>r klassischen <strong>de</strong>utschen Philosophie stammen<strong>de</strong> Bezeichnung für Stofflichkeit, besser Stoffwerdung, da mit <strong>de</strong>r Materiaturstets <strong>de</strong>r Prozess <strong>de</strong>r Entstehung betont wird. Hier also: Mehrwert, <strong>in</strong> welcher Form auch immer, entsteht nur als Resultat unbezahlterArbeit.147


Selbstverwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s löst sich auf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Verfügung über e<strong>in</strong> bestimmtes Quantumunbezahlter frem<strong>de</strong>r Arbeit." 305Wenn wir mit M. die lebendige Arbeitskraft als Quelle aller Werte und daher auch <strong>de</strong>s Mehrwertsbezeichnen, ist das vilelleicht für e<strong>in</strong>ige Leser neu. Aber es ist beileibe nicht Neues. Für diefeudale Ökonomie wür<strong>de</strong> niemand <strong>de</strong>r Behauptung wi<strong>de</strong>rsprechen, dass e<strong>in</strong> Burgherr nur essenkonnte, was zuvor durch bäuerliche Arbeit hervorgebracht wur<strong>de</strong>. Doch die konsequente Anwendungdieser B<strong>in</strong>senweisheit auf das <strong>Kapital</strong>verhältnis erzeugt Mißmut und Unruhe auf <strong>in</strong>teressierterSeite. Warum?Für die feudale Ökonomie sche<strong>in</strong>t die Sache klar zu se<strong>in</strong>: Dort erfolgt die Aneignung <strong>de</strong>s Mehrproduktsdurch <strong>de</strong>n Grundbesitzer. Bei aller Berufung auf Tradition und göttliche Ordnung erfolgtsie letztlich durch Gewaltmittel: Man nimmt e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Produktion weg. In <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise liegt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lohnarbeit <strong>de</strong>r ganze Trick. Denn wo die "Quelle aller Werte",die menschliche Arbeit, als Lohnarbeit angewen<strong>de</strong>t wird, sche<strong>in</strong>t doch alles mit rechtenD<strong>in</strong>gen zuzugehen. Nieman<strong>de</strong>m muß etwas durch Gewaltandrohung fortgenommen wer<strong>de</strong>n.Je<strong>de</strong>r bekommt, was ihm als juristisch gleichberechtigtem <strong>Teil</strong>nehmer <strong>de</strong>s Marktes zusteht. Wen<strong>in</strong>teressiert da noch die Frage nach <strong>de</strong>r Quelle <strong>de</strong>r Werte? Die rückt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n H<strong>in</strong>tergrund.Man beschäftigt sich statt<strong>de</strong>ssen mit Corporate I<strong>de</strong>ntity, Good Governance, Market<strong>in</strong>ganalysen,Mitarbeiterschulung, Bilanzpressekonferenzen... und schafft so die wichtigen Kanäle, auf <strong>de</strong>nensich <strong>de</strong>r Mehrwert von <strong>de</strong>r Quelle fortbewegt. Und siehe da: Es gibt ihn plötzlich nur noch alsBetriebsergebnis, Bilanzgew<strong>in</strong>n, Cashflow, Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, Kreditz<strong>in</strong>sen, Managerbonus... Was Wun<strong>de</strong>r,wenn am En<strong>de</strong> sogar das Drumherum, die kapitalistische Inszenierung <strong>de</strong>s Ganzen, als eigentlicheQuelle <strong>de</strong>s Mehrwerts ersche<strong>in</strong>t. 306Plötzlich gibt es sche<strong>in</strong>bar neue Wahrheiten: <strong>Das</strong>s nämlich unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen die Arbeitskraftoffensichtlich nur <strong>de</strong>shalb arbeiten kann, weil <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist ihr etwas zu arbeiten gibt.Weil Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffe und alles Drumherum vom <strong>Kapital</strong>isten bereitgestellt wer<strong>de</strong>n.Weil <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist alles organisiert... halt: Alles organisieren läßt! Deswegen wird <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istja auch Arbeitgeber genannt, obwohl er außer Lohn gar nichts gibt. Weil er Aktien besitzt o<strong>de</strong>rdas Unternehmen geerbt o<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>rweitig erworbenem Geld gekauft o<strong>de</strong>r als Investor daranAnteile hat... kurz: weil er Eigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel ist, gehört ihm automatischauch die Quelle und alles, was daraus spru<strong>de</strong>lt.Wie <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist das selber sieht? An<strong>de</strong>rs. Er sieht sich als Schöpfer <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>verhältnisses(was nur zum kle<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> und auch nur für se<strong>in</strong>e begabteren Vorläufer stimmt) und er betrachtetdaher alles, was dieses Verhältnis hervorbr<strong>in</strong>gt, als Resultat se<strong>in</strong>er Leistung. Gerne ist er bereit,auch die Rolle <strong>de</strong>r motivierten Mitarbeiter zu loben und regelmäßig auf Betriebsfeiern (bevorzugtzur Weihnachtszeit) <strong>de</strong>r Belegschaft gönnerhaft, jovial o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fach nur freundlich zudanken, wenn ihm nur niemand das natürliche Eigentum, an allem, was da spru<strong>de</strong>lt, streitigmacht.305MEW 23, S.556306"Als unabhängige Personen s<strong>in</strong>d die Arbeiter Vere<strong>in</strong>zelte, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verhältnis zu <strong>de</strong>mselben <strong>Kapital</strong>, aber nicht zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r treten. IhreKooperation beg<strong>in</strong>nt erst im Arbeitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie bereits aufgehört, sich selbst zu gehören. Mit <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong><strong>de</strong>nselben s<strong>in</strong>d sie <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> e<strong>in</strong>verleibt. Als Kooperieren<strong>de</strong>, als Glie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>es werktätigen Organismus, s<strong>in</strong>d sie selbst nur e<strong>in</strong>e besondreExistenzweise <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Die Produktivkraft, die <strong>de</strong>r Arbeiter als gesellschaftlicher Arbeiter entwickelt, ist daher Produktivkraft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s.Die gesellschaftliche Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit entwickelt sich unentgeltlich, sobald die Arbeiter unter bestimmte Bed<strong>in</strong>gungen gestellts<strong>in</strong>d, und das <strong>Kapital</strong> stellt sie unter diese Bed<strong>in</strong>gungen. Weil die gesellschaftliche Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> nichts kostet, weilsie andrerseits nicht von <strong>de</strong>m Arbeiter entwickelt wird, bevor se<strong>in</strong>e Arbeit selbst <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> gehört, ersche<strong>in</strong>t sie als Produktivkraft, diedas <strong>Kapital</strong> von Natur besitzt, als se<strong>in</strong>e immanente Produktivkraft." ( MEW 23, S.352f)148


<strong>Das</strong> ist die Hauptsache. Der Mehrwert mag im e<strong>in</strong>zelnen Fall mal hoch, mal niedrig, se<strong>in</strong>e Erzeugungsittenwidrig o<strong>de</strong>r menschenfreundlich erfolgen: Es geht <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall immer nur um diesenMehrwert, ob er als Gew<strong>in</strong>n o<strong>de</strong>r Rendite, Risikoprämie o<strong>de</strong>r Unternehmerlohn bezeichnet wird.Der Mehrwert ist das K.O. Kriterium für <strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Wo er fließt, wird er angeeignetund hält das <strong>Kapital</strong>verhältnis nicht nur am Leben, son<strong>de</strong>rn stellt es immer wie<strong>de</strong>r neuher. Wo er schwächelt o<strong>de</strong>r ausbleibt, riecht es nach Pleite und schwerer Krise und vielleicht sogare<strong>in</strong> bißchen nach Götterdämmerung, auch wenn das zunächst nur <strong>de</strong>r Geruch brennen<strong>de</strong>rAutos <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vorstädten ist.Kapitel 10: Akkumulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sVon schottischen Witwen führt uns unser Weg über Reproduktion und Akkumulationzur organischen Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, was glücklicherweise nichts mit Mediz<strong>in</strong>zu tun hat. Wir erfahren, was Akkumulation <strong>in</strong> M.s S<strong>in</strong>ne be<strong>de</strong>utet, und wie sieextensiv und <strong>in</strong>tensiv funktioniert.Wir befassen uns mit <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und lernen dabei auch erstmals dieRolle <strong>de</strong>s Kredits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en vielfältigen Formen kennen.Für e<strong>in</strong> paar Striche mehr...Masch<strong>in</strong>en, die nichts herstellen? Waren, die unverkauft herumstehen? Geld, das auf irgendwelchenKonten bewegungslos dümpelt? E<strong>in</strong> kapitaler Albtraum. Da geht es <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> plötzlichwie <strong>de</strong>m Mann im schottischen Sprichwort: Der ist zu nichts nütze, wenn se<strong>in</strong>e Frau Witwe ist.An<strong>de</strong>rs aber als <strong>de</strong>r Mann im Sprichwort verfügt das <strong>Kapital</strong> sche<strong>in</strong>bar über die Fähigkeit, sichimmer neu zu beleben und sogar nach Phasen mit spärlichen Lebenszeichen immer wie<strong>de</strong>r neuans vitale Verwertungswerk zu gehen.Unser G-W-G' Schema ist mit <strong>de</strong>m G' nicht been<strong>de</strong>t. Genausowenig, wie e<strong>in</strong> schlichter Warenproduzentunserer Mo<strong>de</strong>llwelt nach <strong>de</strong>m W-G-W aufhören wür<strong>de</strong>, zu arbeiten, nach<strong>de</strong>m er se<strong>in</strong>eWaren am Markt verkauft hat. Aufhören zu produzieren? <strong>Das</strong> wäre für ihn gleichbe<strong>de</strong>utendmit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> se<strong>in</strong>er Existenz, nicht nur als Warenproduzent, son<strong>de</strong>rn als Mensch. Wovon sollteer dann leben? Nur die stetige Produktion und <strong>de</strong>r fortgesetzte Tausch eröffnen ihm <strong>de</strong>n Zugangzu an<strong>de</strong>ren Waren, die er für se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt benötigt. Für unseren auf Verwertungdrängen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten ist das genauso. Doch für ihn erfor<strong>de</strong>rt die Existenzsicherung <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em G-W-G' Zyklus mehr als nur die Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>s Ausgangspunkts. Für ihn reicht esnicht, <strong>de</strong>nselben Prozess e<strong>in</strong>fach nur zu wie<strong>de</strong>rholen. Se<strong>in</strong>e Existenz als <strong>Kapital</strong>ist ermöglichtmehr und for<strong>de</strong>rt mehr.Zwischenfrage 56: Gibt es bestimmte "bürgerliche Tugen<strong>de</strong>n" wie Sparsamkeit o<strong>de</strong>r Enthaltsamkeit,gibt es so etwas wie e<strong>in</strong>e "bürgerliche Ethik", die <strong>de</strong>n Aufstieg <strong>de</strong>r Bourgoisie erklärt? (S.290)Warum mehr dr<strong>in</strong> ist als vorher, ist klar. Nach <strong>de</strong>m Verkauf <strong>de</strong>r Waren, <strong>de</strong>m Abschluß <strong>de</strong>r G'-Phase, ist mehr Geld vorhan<strong>de</strong>n als zu Beg<strong>in</strong>n. Daraus ergibt sich e<strong>in</strong>e neue Option. Gewiß, <strong>de</strong>r<strong>Kapital</strong>ist könnte sich das Strich vom G' als persönliche Belohnung e<strong>in</strong>sacken, still für sich konsumieren("vermöbeln" nennt M. das) und mit <strong>de</strong>m dann wie<strong>de</strong>r strichfreien G <strong>de</strong>n G-W-G' Zykluserneut durchlaufen. So könnte es se<strong>in</strong>, aber so ist es nicht. Natürlich nimmt <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist e<strong>in</strong>en<strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Gew<strong>in</strong>ns für se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuellen Bedürfnisse; er muß essen und tr<strong>in</strong>ken und wohnen.Aber plötzlich ist e<strong>in</strong>e Situation entstan<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r es nicht um <strong>de</strong>n Status quo, um diesen149


o<strong>de</strong>r jenen Gew<strong>in</strong>n geht. Plötzlich geht es um stetigen Gew<strong>in</strong>n und plötzlich ist <strong>de</strong>r stetige Gew<strong>in</strong>nuntrennbar mit <strong>de</strong>m Wachstum se<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s verbun<strong>de</strong>n.Nicht je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne von ihnen, aber als soziale Klasse waren die <strong>Kapital</strong>isten sche<strong>in</strong>bar ganz wilddarauf, das Strich am G' von Zyklus zu Zyklus zu vergrößern - und tatsächlich mauserten sie sichdadurch von <strong>in</strong>dividuellen Nutznießern <strong>de</strong>r Lohnarbeit, die es seit Jahrtausen<strong>de</strong>n schon gegebenhatte, zu wirklichen <strong>Kapital</strong>isten. 307 So wird aus unserem e<strong>in</strong>fachen Schema G-W-G' das neueSchema G-W-G'-W'-G''-W''-G''' usf., wobei die wachsen<strong>de</strong> Zahl <strong>de</strong>r Striche die wachsen<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>masse,also die Re-Investition <strong>de</strong>s Mehrwerts symbolisiert. <strong>Das</strong> ist die eigentliche Verwertung<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, das "geldhecken<strong>de</strong> Geld", wie es bei M. verschie<strong>de</strong>ntlich heißt. 308Die Folgen s<strong>in</strong>d für uns alle sichtbar. In <strong>de</strong>r Abfolge <strong>de</strong>r Produktionszyklen kommt es nicht nurzur Ausweitung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er stofflichen Form. Es kommt zur Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Produktionssphärenund damit zur Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>verhältnisses selbst. 309 Wir haben oben untersucht,wie aus <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>, also aus <strong>de</strong>r Lohnarbeit unter Regie e<strong>in</strong>es Geldgebers, <strong>de</strong>r Mehrwertentspr<strong>in</strong>gt. Jetzt untersuchen wir, wie aus <strong>de</strong>m Mehrwert wie<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong> wird. Diesen Prozessnennt M. die Akkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. 310Weil die neue Produktionsweise von Anfang an auf Ausweitung angelegt war, konnte es ihrüberhaupt gel<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r feudalen Gesellschaft zur dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>n Produktionsweise307Wir sprechen auch hier immer noch vom <strong>Kapital</strong>isten als Prototypen se<strong>in</strong>er Klasse. Mit M. "gilt uns <strong>de</strong>r kapitalistische Produzent alsEigentümer <strong>de</strong>s ganzen Mehrwerts o<strong>de</strong>r, wenn man will, als Repräsentant aller se<strong>in</strong>er <strong>Teil</strong>nehmer an <strong>de</strong>r Beute." (MEW 23, S.590) Nur alsGesellschaftsklasse ist <strong>de</strong>r prototypische <strong>Kapital</strong>ist an die Gesetze se<strong>in</strong>er Produktionsweise gebun<strong>de</strong>n, die sich ihm durch die Konkurrenzaufzw<strong>in</strong>gen. Wo nicht e<strong>in</strong> ausreichen<strong>de</strong>r <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s erzeugten Mehrwerts <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Zyklus zurückfließt und ihn <strong>in</strong> erweiterter Form fortsetzt,droht mehr als nur die gelbe Karte.Für <strong>de</strong>n <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>isten gab und gibt es immer auch e<strong>in</strong>e Vielzahl an<strong>de</strong>rer Optionen. Ke<strong>in</strong>e "Logik <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s" o<strong>de</strong>r irgend e<strong>in</strong>ean<strong>de</strong>re höhere Macht schützt ihn vor tödlichen Fehlern im Geschäft o<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r kostspieligen Lei<strong>de</strong>nschaft als Opernmäzen o<strong>de</strong>r Fußballsponsoro<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m Glücksspiel o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Ablenkungen von se<strong>in</strong>er Klassenpflicht. Da bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist sehr leicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselbenSituation wie <strong>de</strong>r Gastwirt, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong> bester Gast wird, auf <strong>de</strong>m absteigen<strong>de</strong>n Ast nämlich. Durchaus zur Freu<strong>de</strong> se<strong>in</strong>er Konkurrenten,die das Geschäft gerne übernehmen.308Für je<strong>de</strong> Verwendung <strong>de</strong>r Floskel vom "geldhecken<strong>de</strong>n Geld" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Marx-Literatur <strong>de</strong>r letzten 100 Jahre müßte man e<strong>in</strong>en Euro bekommen.Dann könnte man e<strong>in</strong>e Menge Geld hecken o<strong>de</strong>r sich General Motors kaufen o<strong>de</strong>r, noch viel besser, sich als hauptberuflicherPolitÖkonom nie<strong>de</strong>rlassen, um <strong>de</strong>n geheimen Geschäften von General Motors und Co. mal auf die Spur zu kommen.309<strong>Das</strong> ist im historischen Verlauf nicht nur die <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>r vorgefun<strong>de</strong>nen Produktion von Landwirtschaft, Handwerk und Han<strong>de</strong>l.<strong>Das</strong> ist vor allem die Entwicklung immer neuer Produktionsbereiche und neuer Waren. <strong>Das</strong> ist Ausweitung <strong>de</strong>r Märkte, Ausweitung <strong>de</strong>rLohnarbeit und E<strong>in</strong>beziehung von immer mehr Dienstleistungen unter dieselben Gesetze <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>verwertung. <strong>Das</strong> erleben wir doch zuunserer Zeit:Aus gegenseitigen Hilfeleistungen wird erst "Schwarzarbeit" und dann wer<strong>de</strong>n daraus Dienstleister, auf die man auch noch angewiesenist, weil das mit <strong>de</strong>r gegenseitigen Hilfe nicht mehr richtig klappt. Aus <strong>de</strong>m Dienst am Menschen wer<strong>de</strong>n rendite-starke Unternehmen fürWellness, Ag<strong>in</strong>g-Services o<strong>de</strong>r Healthcare. Da entstehen rasend schnell private Kl<strong>in</strong>iken mit sehr viel an kostengünstigem Ambiente, hervorragen<strong>de</strong>rBuchhaltung und immer stärker ausdifferenzierten mediz<strong>in</strong>ischen Standards von billig bis VIP-Niveau. Alles hat dann se<strong>in</strong>eneigenen Preis. Dann kommt <strong>de</strong>r Punkt, <strong>de</strong>m wir schon nahe s<strong>in</strong>d, wo es an vor<strong>de</strong>rster Stelle nicht um Gesundheit, son<strong>de</strong>rn darum geht,was man sich noch leisten kann.Aus <strong>de</strong>m Brotbäcker mit se<strong>in</strong>er Backstube wer<strong>de</strong>n Verkaufsstellen, die sich nur noch romantische Namen wie "Backstübchen" o<strong>de</strong>r "XY-Bäcker" geben, die <strong>in</strong> Wirklichkeit längst zu gut getarnten Backkonzernen gehören. In <strong>de</strong>n Verkaufsstellen wer<strong>de</strong>n die wochenlang gereisten,zentral <strong>in</strong> <strong>de</strong>r ganzen Welt e<strong>in</strong>gekauften und daher gut (o<strong>de</strong>r schlecht?) konservierten Backl<strong>in</strong>ge aufgepustet und verhökert. Dafürnimmt man Preise, die <strong>de</strong>m Handwerk <strong>de</strong>n gol<strong>de</strong>nen Bo<strong>de</strong>n entziehen, und kassiert <strong>de</strong>nnoch Gew<strong>in</strong>ne, von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Bäcker alter Zunftnicht e<strong>in</strong>mal zu träumen wagte. (Auch dann nicht, wenn er um vier Uhr morgens noch geschlafen hätte, statt schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Backstube zustehen, um unser täglich Brot zu backen.)Genug. Wir wollen nicht <strong>in</strong> kulturkritische Tränen ausbrechen. Je<strong>de</strong>r wird wohl aus eigener Beobachtung diese Liste verlängern können.Mag manche Verän<strong>de</strong>rung auch vernünftig o<strong>de</strong>r doch wenigstens unvermeidlich se<strong>in</strong>. Aber s<strong>in</strong>d es immer auch die Formen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen sichsolche Verän<strong>de</strong>rungen vollziehen? Je<strong>de</strong>nfalls fällt es immer schwerer, die Folgen <strong>de</strong>s Mehrwertrennens e<strong>in</strong>fach nur unter "Preis <strong>de</strong>s Fortschritts"abzuheften.310"Früher hatten wir zu betrachten, wie <strong>de</strong>r Mehrwert aus <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>, jetzt wie das <strong>Kapital</strong> aus <strong>de</strong>m Mehrwert entspr<strong>in</strong>gt. Anwendungvon Mehrwert als <strong>Kapital</strong> o<strong>de</strong>r Rückverwandlung von Mehrwert <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> heißt Akkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s." (MEW 23, S.605)150


e<strong>in</strong>er neuen Gesellschaftsformation zu wer<strong>de</strong>n. 311 Wie sich diese quantitative und qualitativeAus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Produktion vollzogen hat, haben wir im Kapitel über <strong>de</strong>n Mehrwert von außenbeschrieben. Jetzt zoomen wir uns näher ran und sehen uns <strong>de</strong>n Produktionsprozess (sprich: dieE<strong>in</strong>heit von Arbeits- und Verwertungsprozess) auch vom Standpunkt <strong>de</strong>r vielen beteiligten <strong>Kapital</strong>ean. Erst die Beziehungen dieser <strong>Kapital</strong>e zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, die wir Konkurrenz nennen, macht <strong>de</strong>nZwang zur erweiterten Verwertung verständlich.Die oben für <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten beschriebene Option, vom Strich am G' e<strong>in</strong> sattes Lebenaußerhalb <strong>de</strong>s kapitalistischen Wettbewerbs zu genießen, ist nämlich ke<strong>in</strong>e echte Option. O<strong>de</strong>ran<strong>de</strong>rs gesagt: Er könnte, wenn auch alle an<strong>de</strong>ren es so machten. Machen sie aber nicht. Und<strong>de</strong>shalb kann <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne <strong>Kapital</strong>ist nur so lange ohne Wachstum agieren, bis die wachsen<strong>de</strong><strong>Kapital</strong>kraft <strong>de</strong>r Konkurrenten se<strong>in</strong>er zurückbleiben<strong>de</strong>n Existenz e<strong>in</strong> ökonomisches En<strong>de</strong> bereitet.Die Akkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist gleichzeitig <strong>de</strong>r Prozess, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sich die Konkurrenz <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ezu e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verwirklicht.Produktion und ReproduktionBetrachten wir <strong>de</strong>n Produktionsprozess nur als Verwertungsprozess, haben wir es mit Geldflußzu tun: Vom <strong>Kapital</strong>isten zu <strong>de</strong>n Zulieferern und zu <strong>de</strong>n Arbeitskräften und über <strong>de</strong>n Verkauf<strong>de</strong>r Produkte zurück <strong>in</strong> die Taschen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten. <strong>Das</strong> ist simpel. Und weil es so e<strong>in</strong>fach ist,übersieht man leicht e<strong>in</strong>en wichtigen Umstand. Mit je<strong>de</strong>m erfolgreichen Verwertungszykluskommen nicht nur die h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gesteckten und die neu geschaffenen Werte <strong>in</strong> Geldform wie<strong>de</strong>rheraus. Gleichzeitig bleibt die Fabrik nicht nur erhalten; sie wird größer o<strong>de</strong>r es kommen weitereFabriken h<strong>in</strong>zu. Die Belegschaft bleibt Belegschaft; sie wächst o<strong>de</strong>r schrumpft ganz nach Bedarf<strong>de</strong>r Verwertung. Und vor allem: Der <strong>Kapital</strong>ist bleibt Eigentümer von allem. Um diesen größerenZusammenhang zu erfassen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Produktionsprozess nicht nur Arbeits- und Verwertungsprozess,son<strong>de</strong>rn immer auch sich ausweiten<strong>de</strong>r Akkumulationsprozess ist, verwen<strong>de</strong>t M.<strong>de</strong>n umfassen<strong>de</strong>ren Begriff <strong>de</strong>s Reproduktionsprozesses. 312311Sicher bedurfte es auch an<strong>de</strong>rer Bed<strong>in</strong>gungen, um <strong>de</strong>n Prozess <strong>in</strong> Gang zu setzen. Die Verfügung über e<strong>in</strong>e wachsen<strong>de</strong> Zahl an Lohnarbeiterngehört ebenso dazu wie die Entwicklung e<strong>in</strong>es ausreichen<strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Marktes, <strong>de</strong>r die steigen<strong>de</strong> Produktion aufnehmen konnte.Wir haben dieses Thema bereits als sogenannte ursprüngliche Akkumulation kennengelernt, an <strong>de</strong>r M. zwei Seiten hervorhebt: "In <strong>de</strong>rTat, die Ereignisse, die die Kle<strong>in</strong>bauern <strong>in</strong> Lohnarbeiter und ihre Lebens- und Arbeitsmittel <strong>in</strong> sachliche Elemente <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s verwan<strong>de</strong>ln,schaffen gleichzeitig diesem letztern se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Markt... Und nur die Vernichtung <strong>de</strong>s ländlichen Hausgewerbes kann <strong>de</strong>m <strong>in</strong>nernMarkt e<strong>in</strong>es Lan<strong>de</strong>s die Aus<strong>de</strong>hnung und <strong>de</strong>n festen Bestand geben, <strong>de</strong>ren die kapitalistische Produktionsweise bedarf." (MEW 23, 775f)Anfänglich verlangsamten die engen Grenzen von Arbeitsmarkt und Absatzmarkt die Ausweitung <strong>de</strong>r neuen Produktionsweise. Aber dasProblem wur<strong>de</strong> zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>in</strong> England ab 1750 recht schnell gelöst. Als <strong>de</strong>r <strong>in</strong>nere Markt zu eng wur<strong>de</strong>, konnten die englischen Fabrikantendie Kolonien nicht nur als Rohstofflieferanten, son<strong>de</strong>rn zunehmend auch als Absatzmärkte nutzen. <strong>Das</strong> und die E<strong>in</strong>beziehung <strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>rEuropas als äußeren Markt ließ dann auch <strong>de</strong>n englischen B<strong>in</strong>nenmarkt <strong>in</strong> historisch neue Dimensionen wachsen. Als schließlich auchan<strong>de</strong>re Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n "englischen Weg" beschritten, wur<strong>de</strong> dieser Prozess längst durch se<strong>in</strong>en eigenen Motor angetrieben, durch die ökonomischeKonkurrenz <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e und die <strong>pol</strong>itische Konkurrenz <strong>de</strong>r Staaten.Allerd<strong>in</strong>gs war dieser Prozess nicht kont<strong>in</strong>uierlich. Es war ke<strong>in</strong> Triumphmarsch mit flattern<strong>de</strong>n Fahnen, son<strong>de</strong>rn mehr e<strong>in</strong>e vorwärts hasten<strong>de</strong>Spr<strong>in</strong>g- und Hüpfprozession, immer wie<strong>de</strong>r durch Krisen und Kriege und <strong>pol</strong>itische Interventionen unterbrochen und vorangetrieben,bis sich schließlich Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts jener Weltmarkt herausbil<strong>de</strong>te, <strong>de</strong>n uns M. schon im "Kommunistischen Manifest" beschreibt,und <strong>de</strong>r zu unserer Zeit dabei ist, sich je<strong>de</strong>s Dorf auf diesem Planeten als Absatzmarkt zu erschließen.312<strong>Das</strong> gilt für alle Produktionsweisen. "Reproduktion" gehört zu <strong>de</strong>n an an<strong>de</strong>rer Stelle bereits erwähnten verständigen Abstraktionen, dieM.s Ausgangspunkte fixieren:"So wenig e<strong>in</strong>e Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, so wenig kann sie aufhören zu produzieren. In e<strong>in</strong>em stetigen Zusammenhangund <strong>de</strong>m beständigen Fluß se<strong>in</strong>er Erneuerung betrachtet, ist je<strong>de</strong>r gesellschaftliche Produktionsprozeß daher zugleich Reproduktionsprozeß."(MEW 23, S.591)Dieser Reproduktionsprozess, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, war <strong>de</strong>n größeren <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte e<strong>in</strong>fache Reproduktion:Was produziert wur<strong>de</strong>, sicherte die Existenz <strong>de</strong>r Menschen, ohne nennenswerte Produktion über diesen Bedarf h<strong>in</strong>aus. Der Kampf <strong>de</strong>rMenschen um das bloße Überleben gegen die Unbil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Natur dom<strong>in</strong>ierte. Bis sich die Produktivkräfte so weit entwickelten, um e<strong>in</strong>151


Wie immer bei M. geht es auch hier darum, mit <strong>de</strong>m neuen Begriff die neu gewonnene Perspektivezu markieren. Für <strong>de</strong>n Produktionsprozess untersuchten wir, wie im Arbeitsprozess die Gebrauchswerteentstehen und sich gleichzeitig im Wertbildungsprozesse die e<strong>in</strong>gespeisten Werteauf die produzierten Waren übertragen und die Behandlung <strong>de</strong>r Lohnarbeit als Ware <strong>de</strong>nMehrwert hervorbr<strong>in</strong>gt. In<strong>de</strong>m wir die Produktion als Reproduktion betrachten, gehen wir e<strong>in</strong>enSchritt weiter. Wir nehmen die Akkumulation h<strong>in</strong>zu, durch die sich <strong>de</strong>r Prozess nicht e<strong>in</strong>fachwie<strong>de</strong>rholt, son<strong>de</strong>rn stofflich und wertmäßig und sozial ausweitet. Gleichzeitig wird mit je<strong>de</strong>mZyklus dieses Prozesses immer auch das <strong>Kapital</strong>verhältnis selbst, die <strong>de</strong>m kapitalistischen Produktionsprozesszugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong> soziale Struktur reproduziert: "Der kapitalistische Produktionsprozeß,im Zusammenhang betrachtet o<strong>de</strong>r als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nurWare, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das <strong>Kapital</strong>verhältnis selbst, auf <strong>de</strong>re<strong>in</strong>en Seite <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten, auf <strong>de</strong>r andren <strong>de</strong>n Lohnarbeiter." 313Weil <strong>de</strong>r kapitalistische Produktionsprozess konkurrenzbed<strong>in</strong>gt nur als Akkumulationsprozessfunktioniert, sprechen wir mit M. nicht vom e<strong>in</strong>fachen, son<strong>de</strong>rn vom erweiterten Reproduktionsprozess.Wir haben bereits im Mehrwehrt-Kapitel aus an<strong>de</strong>rer Perspektive gesehen, wie sichdie soziale Struktur <strong>de</strong>s Gesamtkapitalisten und <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters fortlaufend umgestaltet,wie sich die Form <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>verhältnisses dabei wan<strong>de</strong>lt: Wie aus kle<strong>in</strong>en Manufakturen ersteFabriken und aus kle<strong>in</strong>en Fabriken große Fabriken wer<strong>de</strong>n, wie letztlich transnationale Konzerneentstehen, die Produktionsstätten mit <strong>in</strong>tegrierten Verwertungsprozessen auf mehreren Kont<strong>in</strong>entenbetreiben. All diesen Verän<strong>de</strong>rungen liegen die Mehrwertproduktion und die fortlaufen<strong>de</strong>Verwertung <strong>de</strong>s Mehrwerts durch Akkumulation zugrun<strong>de</strong>. Wir sehen uns näher an, wie diese"Rückverwandlung von Mehrwert <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>" funktioniert.Akkumulation und WertgesetzVerwertung ist immer an <strong>de</strong>n wirklichen Arbeitsprozess gebun<strong>de</strong>n. Es gibt ke<strong>in</strong>e davon losgelösteVerwertung, auch wenn die F<strong>in</strong>anzmarkt-Fuzzys so tun und stolz berichten, wie sie "Geld gestabilesMehrprodukt und damit Arbeitsteilung und Sicherheit <strong>de</strong>r Existenz herauszubil<strong>de</strong>n, brauchte es viele tausend Generationen. Sogesehen ist die kapitalistische Produktionsweise <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit weniger als e<strong>in</strong> Klacks. Wenn wir <strong>de</strong>n 2 Millionen Jahreumfassen<strong>de</strong>n Zeitraum unserer Menschheitsgeschichte e<strong>in</strong>em 8-Stun<strong>de</strong>n-Tag gleichsetzen, spielt sich <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ismus gera<strong>de</strong> mal <strong>in</strong> <strong>de</strong>nletzten 4,3 Sekun<strong>de</strong>n ab. <strong>Das</strong> reicht kaum, um nach <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>n Sp<strong>in</strong>d aufzuschließen.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> e<strong>in</strong>fache kapitalistische Reproduktion ist als Entscheidung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>isten vorstellbar. Aber eher wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n ganzenKrempel verkaufen und mit <strong>de</strong>m Geld sich sonstwo die Plautze bräunen lassen. Für die Klasse im Ganzen wäre <strong>de</strong>r Verzicht auf Akkumulationohne Perspektive. M. macht uns <strong>de</strong>n Unterschied ironisch klar: "Bei jener (e<strong>in</strong>fachen Reproduktion) vermöbelt <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist <strong>de</strong>ngesamten Mehrwert, bei dieser (erweiterten Reproduktion) beweist er se<strong>in</strong>e Bürgertugend durch Verzehrung nur e<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong>s, und Verwandlung<strong>de</strong>s Restes <strong>in</strong> Geld." (MEW 23, S.612)Freilich steckt h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>r "Bürgertugend" nichts an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r Zwang <strong>de</strong>r Konkurrenz, die "Wirkung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Mechanismus,wor<strong>in</strong> er (<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist) nur e<strong>in</strong> Triebrad ist. Außer<strong>de</strong>m macht die Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion e<strong>in</strong>e fortwähren<strong>de</strong> Steigerung<strong>de</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>dustriellen Unternehmen angelegten <strong>Kapital</strong>s zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz herrscht je<strong>de</strong>m <strong>in</strong>dividuellen<strong>Kapital</strong>isten die immanenten Gesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zw<strong>in</strong>gt ihn, se<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>fortwährend auszu<strong>de</strong>hnen, um es zu erhalten, und aus<strong>de</strong>hnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation." (MEW 23, S.618)313MEW 23, S.604. Es ist <strong>in</strong> diesem Prozess nicht nur so, dass die Arbeiter Arbeiter bleiben, ihre soziale Stellung also reproduziert wird. Eswird auch fortwährend produziert: Die Arbeiterklasse nimmt an Mitglie<strong>de</strong>rn zu, durch Vermehrung, durch Zuwan<strong>de</strong>rung, durch <strong>de</strong>n Verlustsozialer Positionen als Handwerker o<strong>de</strong>r Händler, Bediensteter o<strong>de</strong>r ru<strong>in</strong>ierter Kle<strong>in</strong>bürger. <strong>Das</strong> Lohnarbeitsverhältnis weitet sich auf immermehr Bereiche <strong>de</strong>r Gesellschaft aus.Weil wir jetzt nicht nur das Schema, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Prozess sehen, wird alles ungleich komplexer. Was wir für die e<strong>in</strong>fache Warenproduktionals "salto mortale" <strong>de</strong>r Ware kennenlernten, als ihre Schicksalsfrage: Wer<strong>de</strong> ich verkäuflich se<strong>in</strong>?, begegnet uns jetzt viel gewichtiger. Hiermuß muß <strong>de</strong>r komplette Akkumulationszyklus, sich ständig erweiternd und verän<strong>de</strong>rnd, <strong>in</strong> allen Zusammenhängen <strong>de</strong>r beteiligten Produktionsprozesses,immer wie<strong>de</strong>r funktionieren. Wo das <strong>de</strong>m <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong> nicht gel<strong>in</strong>gt, löst sich das <strong>Kapital</strong>verhältnis für <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>Pleite, für die vielen <strong>in</strong> Arbeitslosigkeit auf. Wo die Reproduktion im Ganzen gestört wird, geht’s <strong>in</strong> die Krise.152


nerieren" und "F<strong>in</strong>anzprodukte" verkaufen. 314 Wir er<strong>in</strong>nern uns: Der kapitalistische Produktionsprozessexistiert nur als E<strong>in</strong>heit von Arbeits- und Verwertungsprozess. Wie aber kann sichMehrwert, <strong>de</strong>r ja als Geld ans Tageslicht kommt, wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>ln, um erneutMehrwert zu produzieren? Um das fertig zu br<strong>in</strong>gen, muß auch die Ausweitung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesseserfolgen. Es müssen nicht nur die dafür notwendigen Arbeitskräfte, son<strong>de</strong>rn für diesemüssen auch die nötigen Lebensmittel, Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffe bereitstehen. 315Akkumulation funktioniert also nur durch parallele Ausweitung aller <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verwobenenProduktionsprozesse <strong>in</strong> bestimmten, zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r passen-<strong>de</strong>n Proportionen. Wie wird die Proportionalität<strong>de</strong>r Akkumulation gesichert? Es gibt ja ke<strong>in</strong>e Absprachen 316 zwischen <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten,ke<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Plan. Wir haben es mit E<strong>in</strong>zelproduzenten zu tun, die ihren eigenen privatenInteressen <strong>in</strong>s Ungewisse folgen, immer hoffend, dass sie sich im E<strong>in</strong>klang mit <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>enEntwicklung bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n.Die Regulation erfolgt e<strong>in</strong>zig über <strong>de</strong>n Markt. Wir haben das schon als Wertgesetz kennengelerntund für die e<strong>in</strong>fache Warenproduktion formuliert. Se<strong>in</strong>e wichtigste Leistung bestand dar<strong>in</strong>,über die Preisbildung höhere Arbeitsproduktivität zu för<strong>de</strong>rn und über die Konkurrenz die Verteilung<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit auf die Sektoren <strong>de</strong>r Produktion nach <strong>de</strong>r Nachfrage am314Die Akteure <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzmarkts er<strong>in</strong>nern uns an die bei<strong>de</strong>n Weber <strong>in</strong> An<strong>de</strong>rsens Märchen. Die versprechen <strong>de</strong>m Kaiser Klei<strong>de</strong>r, die sowun<strong>de</strong>rschön seien, dass angeblich nur kompetente und kluge Menschen sie sehen könnten. Natürlich lassen sie sich vorher bezahlen. Mitdiesem e<strong>in</strong>fachen Trick setzten die bei<strong>de</strong>n Weber (fast) alle Welt unter Druck, und schließlich wußte niemand mehr, was er eigentlich wußte.Da müssen wir <strong>de</strong>m Mädchen nacheifern, das unbee<strong>in</strong>druckt von <strong>de</strong>r Propaganda ausruft: "Der Kaiser ist ja nackt!" Die hätte ohne Zweifeldas Zeug zu e<strong>in</strong>er guten PolitÖkonom<strong>in</strong>. Klei<strong>de</strong>r, die nur von klugen Menschen gesehen wer<strong>de</strong>n, s<strong>in</strong>d genauso selten, wie e<strong>in</strong> Verwertungsprozessohne Arbeitsprozess.315Weil je<strong>de</strong> Akkumulation an die sich ausweiten<strong>de</strong> stoffliche Basis gebun<strong>de</strong>n ist, schreibt M.: "Um zu akkumulieren, muß man e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong><strong>de</strong>s Mehrprodukts <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>ln. Aber, ohne Wun<strong>de</strong>r zu tun, kann man nur solche D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>ln, die im Arbeitsprozeßverwendbar s<strong>in</strong>d, d.h. Produktionsmittel, und <strong>de</strong>s ferneren D<strong>in</strong>ge, von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Arbeiter sich erhalten kann, d.h. Lebensmittel.Folglich muß e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r jährlichen Mehrarbeit verwandt wor<strong>de</strong>n se<strong>in</strong> zur Herstellung zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel, im Überschußüber das Quantum, das zum Ersatz <strong>de</strong>s vorgeschossenen <strong>Kapital</strong>s erfor<strong>de</strong>rlich war. Mit e<strong>in</strong>em Wort: <strong>de</strong>r Mehrwert ist nur <strong>de</strong>shalb <strong>in</strong><strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>lbar, weil das Mehrprodukt, <strong>de</strong>ssen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile e<strong>in</strong>es neuen <strong>Kapital</strong>s enthält." (MEW23, S.606f)Akkumulation <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>s ist nur möglich bei Akkumulation aller <strong>Kapital</strong>e, mit <strong>de</strong>nen es verbun<strong>de</strong>n ist, durch Ausrichtung <strong>de</strong>sMehrprodukts auf Wachstum. Wird die Produktion von Gully<strong>de</strong>ckeln ausgeweitet, liegt <strong>de</strong>m vielleicht die Ausweitung <strong>de</strong>r Kanalisationzugrun<strong>de</strong>, ist aber nur möglich, wenn genügend Masch<strong>in</strong>en, Roheisen, Transportkapazität und Arbeitskräfte, dann natürlich auch Nahrungund Wohnung und Heizmaterial für die Arbeitskräfte verfügbar s<strong>in</strong>d, die für <strong>de</strong>n Bau <strong>de</strong>r Kanalisation und für die Produktion <strong>de</strong>r Gully<strong>de</strong>ckelbenötigte wer<strong>de</strong>n. Alles greift <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Hier f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n ersten H<strong>in</strong>weis darauf, warum die kapitalistische Produktionsweise gera<strong>de</strong>über das private Akkumulations<strong>in</strong>teresse <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>e so eng mit <strong>de</strong>m "Wirtschaftswachstum" als gesellschafts<strong>pol</strong>itischerOrientierung verbun<strong>de</strong>n ist.316<strong>Kapital</strong>istische Marktwirtschaft ist massenweiser Bl<strong>in</strong>dflug <strong>de</strong>r konkurrieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>e im Versuch-und-Irrtum-Schema. Wo es kracht,korrigiert man <strong>de</strong>n Irrtum. Doch <strong>in</strong> bestimmten Bereichen gibt es auch Absprachen, etwa im Bereich <strong>de</strong>r Normierung und Standardisierung,die je<strong>de</strong>m Vorteile br<strong>in</strong>gen. Aber so lange durch staatliche o<strong>de</strong>r quasi-staatlich Beihilfe solche Standards noch nicht existieren, versuchtje<strong>de</strong>r, se<strong>in</strong>e eigene Entwicklung zum Standard zu machen. <strong>Das</strong> ist harter Wirtschaftskrieg mit zahlreichen Opfern. Die Geschichte <strong>de</strong>rUnterhaltungselektronik hat solche Vorgänge immer wie<strong>de</strong>r mal e<strong>in</strong>er breiteren Öffentlichkeit präsentiert; etwa bei <strong>de</strong>r Durchsetzung e<strong>in</strong>ergültigen Norm für das Farbfernsehen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1960ern o<strong>de</strong>r für das digitale Fernsehen vor e<strong>in</strong>igen Jahren. Zur Begrenzung exzessiver, womöglichru<strong>in</strong>öser Wirtschaftskriege um Normen existiert e<strong>in</strong> breites Netz an Verbän<strong>de</strong>n und Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaften, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die Konkurrentendiese Form <strong>de</strong>r Konkurrenz begrenzen können und Festlegungen treffen, die ihrer Stärke am Markt entsprechen.Dann gibt es natürlich auch die (heute) verbotenen Absprachen über Preise und Produktionsmengen. Solche Syndikate, die bis <strong>in</strong> die1930er Jahre bei Kohle und Stahl, aber auch <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Bereichen legal herrschten, s<strong>in</strong>d mit <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Neuordnung nach <strong>de</strong>m 2.Weltkrieg als formelle Zusammenschlüsse verboten wor<strong>de</strong>n. In allen entwickelten kapitalistischen Län<strong>de</strong>rn wachen sogenannte Kartellbehör<strong>de</strong>no<strong>de</strong>r Anti-Trust-Kommissionen darüber, dass e<strong>in</strong> M<strong>in</strong><strong>de</strong>stmaß an Konkurrenz zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>de</strong>r Form nach bestehen bleibt. Wer aberdie Bewegungen <strong>de</strong>r Preise von Benz<strong>in</strong> o<strong>de</strong>r Rohstoffen verfolgt, weiß, dass man ke<strong>in</strong> Syndikat benötigt, um sich zu e<strong>in</strong>igen. <strong>Das</strong>Augezw<strong>in</strong>kern im Industrie- o<strong>de</strong>r Countryclub von CEO zu CEO genügt und läßt sich nicht beweisen.Durch das enorme Wachstum entstehen auch im Inneren <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e große Bereiche, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong>e zentrale Planung konzernweit dom<strong>in</strong>iert,die man auf gesellschaftlicher Ebene so sehr verabscheut. Der Abscheu vor gesellschaftlicher Planung entspr<strong>in</strong>gt nicht <strong>de</strong>r Vorliebefür Bl<strong>in</strong>dflüge, son<strong>de</strong>rn dient <strong>de</strong>m Erhalt <strong>de</strong>r Eigentumsrechte und damit <strong>de</strong>r Machtstrukturen, die durch gesellschaftliche Planvorgabenbedroht wür<strong>de</strong>n, wie auch immer diese aussähen.153


Markt zu regeln. Die kont<strong>in</strong>uierliche Ausweitung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion durch Akkumulation<strong>de</strong>r E<strong>in</strong>zelkapitale stellt ähnliche, nur <strong>de</strong>utlich komplexere Anfor<strong>de</strong>rungen an diese Regulation.<strong>Das</strong> Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Warenproduktion zeigte uns auch, wie das Wertgesetz wegen <strong>de</strong>rzentralen Rolle <strong>de</strong>s Marktes immer nur im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> reguliert, also nicht etwa die gesellschaftlicheArbeit vorausschauend e<strong>in</strong>teilt, son<strong>de</strong>rn Fehlentwicklungen korrigiert. Ke<strong>in</strong> erfreulicher Gedanke,wenn wir an Umfang und Komplexität <strong>de</strong>s kapitalistischen Reproduktionsprozesses <strong>de</strong>nken.Welche Risiken und Nebenwirkungen sich für die Akkumulation alle<strong>in</strong> ergeben, wenndurch <strong>Kapital</strong>isierung von Mehrwert die Masch<strong>in</strong>en- und Arbeiterzahl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sektor erhöhtwird, aber Zulieferer o<strong>de</strong>r Märkte dah<strong>in</strong>ter zurückbleiben, läßt sich leicht vorstellen: Totes <strong>Kapital</strong>,Verluste, Entlassungen, vielleicht sogar e<strong>in</strong>e Strukturkrise, wenn e<strong>in</strong>e ganze Branche betroffenist. Gewiß erzw<strong>in</strong>gt auch hier das Wertgesetz e<strong>in</strong>e Korrektur. Aber um welchen Preis? Wirwer<strong>de</strong>n uns später <strong>de</strong>m Wertgesetz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er spezifisch kapitalistischen Formulierung noch zuwen<strong>de</strong>n.Aber soviel ist uns schon klar: Krisen gehören ganz offenbar zu se<strong>in</strong>em festen Repertoireund spielen für die Durchsetzung <strong>de</strong>s Wertgesetzes e<strong>in</strong>e entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle.Organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sFür die Sicherung <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts erwies sich die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktvität alsdie entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Metho<strong>de</strong>. Ihr auffälligstes Element ist die Technisierung <strong>de</strong>r Produktion, wodurches gel<strong>in</strong>gt, mit <strong>de</strong>rselben Arbeitsmenge e<strong>in</strong>e größere Menge an Produktionsmitteln <strong>in</strong> Bewegungzu setzen. Solche technisch fortgeschrittenen Produktionsmittel schaffen sich nichtselbst. Sie müssen produziert und gekauft wer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> funktioniert natürlich nur, wenn auf entsprechen<strong>de</strong>mNiveau akkumuliert wird, also große <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s Mehrwerts <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsprozessals neue Produktionsmittel, Rohstoffe und Zulieferungen zurückfließen. Dabei verän<strong>de</strong>rtsich die Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s.Als wir <strong>de</strong>n Wertbildungsprozess untersuchten, haben wir die unterschiedliche Rolle <strong>de</strong>r stofflichenElemente <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses für die Verwertung herausgearbeitet. Die Aufteilung <strong>in</strong> Produktionsmittelund Arbeitskraft spiegelt sich auf <strong>de</strong>r Wertseite als <strong>Teil</strong>ung <strong>in</strong> konstantes <strong>Kapital</strong>und variables <strong>Kapital</strong>. E<strong>in</strong> bestimmtes Verhältnis zwischen bei<strong>de</strong>n ist zu je<strong>de</strong>m Zeitpunkt für <strong>de</strong>nStand <strong>de</strong>r Entwicklung typisch. In dieser Funktion e<strong>in</strong>es Gradmessers <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktivkraftnennt M. das die organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. 317Die organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong> <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen Produktionszweigen unterschei<strong>de</strong>tsich <strong>de</strong>utlich. Roheisengew<strong>in</strong>nung o<strong>de</strong>r Eisenbahnbetrieb erfor<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>en höheren Anteilan konstantem gegenüber variablem <strong>Kapital</strong> als etwa e<strong>in</strong>e Hem<strong>de</strong>nfabrik, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r 300 Nähmasch<strong>in</strong>enund e<strong>in</strong>e Werkhalle fast schon das ganze konstante <strong>Kapital</strong> darstellen. Solche Unterschie<strong>de</strong><strong>in</strong> <strong>de</strong>r organischen Zusammensetzung wer<strong>de</strong>n uns noch beschäftigen. Jetzt nimmt M.sie erst e<strong>in</strong>mal als Durchschnittswert für das Gesamtkapital e<strong>in</strong>es Lan<strong>de</strong>s, da es zunächst darum317"Die Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist <strong>in</strong> zweifachem S<strong>in</strong>n zu fassen. Nach <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Werts bestimmt sie sich durch das Verhältnis,wor<strong>in</strong> es sich teilt <strong>in</strong> konstantes <strong>Kapital</strong> o<strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Produktionsmittel und variables <strong>Kapital</strong> o<strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft, Gesamtsumme<strong>de</strong>r Arbeitslöhne. Nach <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Stoffs, wie er im Produktionsprozeß fungiert, teilt sich je<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> Produktionsmittel und lebendigeArbeitskraft; diese Zusammensetzung bestimmt sich durch das Verhältnis zwischen <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>r angewandten Produktionsmittel e<strong>in</strong>erseitsund <strong>de</strong>r zu ihrer Anwendung erfor<strong>de</strong>rlichen Arbeitsmenge andrerseits. Ich nenne die erstere die Wertzusammensetzung, die zweitedie technische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Zwischen bei<strong>de</strong>n besteht enge Wechselbeziehung. Um diese auszudrücken, nenne ichdie Wertzusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, <strong>in</strong>sofern sie durch se<strong>in</strong>e technische Zusammensetzung bestimmt wird und <strong>de</strong>ren Än<strong>de</strong>rungen wi<strong>de</strong>rspiegelt:die organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Wo von <strong>de</strong>r Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s kurzweg die Re<strong>de</strong> ist, ist stetsse<strong>in</strong>e organische Zusammensetzung zu verstehn." (MEW 23, S 640)154


geht, die Wirkung <strong>de</strong>r Akkumulation auf die Entwicklung <strong>de</strong>r Produktionsweise zu untersuchen.318Um besser die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r organischen Zusammensetzung für die Akkumulation analysierenzu können, unterschei<strong>de</strong>t M. zwei verschie<strong>de</strong>ne Akkumulationsregimes: <strong>Das</strong> erste Regime istdurch gleichbleiben<strong>de</strong> organische Zusammensetzung gekennzeichnet; wir nennen es extensiveAkkumulation. <strong>Das</strong> an<strong>de</strong>re Regime zeichnet sich durch steigen<strong>de</strong> organische Zusammensetzungaus, also Zunahme <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s im Verhältnis zum variablen <strong>Kapital</strong>; wir nennen es<strong>in</strong>tensive Akkumulation. 319 <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d theoretische Abgrenzungen <strong>de</strong>r bekannten Art: Sie wurzelnim historischen Stoff. Bei<strong>de</strong> Akkumulationsregimes haben ihre Spuren <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise bis heute h<strong>in</strong>terlassen. Allerd<strong>in</strong>gs kommen, von <strong>de</strong>r Frühphasevielleicht abgesehen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r praktisch nur extensive Akkumulation existierte, bei<strong>de</strong> Formen niemalsalle<strong>in</strong>e vor; vielmehr dom<strong>in</strong>iert mal die e<strong>in</strong>e, mal die an<strong>de</strong>re Form <strong>in</strong> wechseln<strong>de</strong>r Mischung.320Extensive AkkumulationWas geschieht, wenn die organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s bei fortdauern<strong>de</strong>r Akkumulationgleichbleibt? Dieses Akkumulationsregime f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir über e<strong>in</strong>en langen Zeitraum <strong>in</strong> <strong>de</strong>rFrühphase <strong>de</strong>r kapitalistischen Entwicklung. Bei extensiver Akkumulation wächst mit je<strong>de</strong>m Zyklus<strong>de</strong>r Arbeitsprozess stofflich: Mehr Fabriken, Masch<strong>in</strong>en und Rostoffe benötigen e<strong>in</strong>e größere318"Die zahlreichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Produktionszweig angelegten E<strong>in</strong>zelkapitale haben unter sich mehr o<strong>de</strong>r weniger verschiedneZusammensetzung. Der Durchschnitt ihrer E<strong>in</strong>zelzusammensetzungen ergibt uns die Zusammensetzung <strong>de</strong>s Gesamtkapitals dieses Produktionszweigs.Endlich ergibt uns <strong>de</strong>r Gesamtdurchschnitt <strong>de</strong>r Durchschnittszusammensetzungen sämtlicher Produktionszweige die Zusammensetzung<strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>es Lan<strong>de</strong>s, und von dieser alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> letzter Instanz ist im folgen<strong>de</strong>n die Re<strong>de</strong>." (MEW 23,S.640f)319Der Begriff "Akkumulationsregime" stammt nicht von M. Wir wer<strong>de</strong>n ihn hier <strong>de</strong>nnoch verwen<strong>de</strong>n, weil er M.s Überlegungen wie<strong>de</strong>rgibtund weil die Formwandlungen <strong>de</strong>r Akkumulation und die Dom<strong>in</strong>anz bestimmter Formen gegenüber an<strong>de</strong>ren gera<strong>de</strong> für die Analyse<strong>de</strong>s gegenwärtigen <strong>Kapital</strong>ismus hilfreich se<strong>in</strong> wird. Später wer<strong>de</strong>n wir damit M.s Analyse <strong>de</strong>s Akkumulationsprozesses, <strong>de</strong>r hier nach se<strong>in</strong>enWachstumsmerkmalen erfolgt, fortsetzen, <strong>in</strong><strong>de</strong>m wir nach <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>r Akkumulation, nach <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Konkurrenz und nach <strong>de</strong>rBeteiligung verschie<strong>de</strong>ner <strong>Kapital</strong>formen am Akkumulationsprozess fragen. Klar: Dabei wird es um die Rolle <strong>de</strong>s "F<strong>in</strong>anzkapitals" (auchnicht M.s Begriff) im heutigen <strong>Kapital</strong>ismus und die beson<strong>de</strong>re Form <strong>de</strong>s Akkumulationsregimes gehen, das durch die wachsen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung<strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzkapitals begrün<strong>de</strong>t wird. <strong>Das</strong> alles wird aber erst im dritten <strong>Teil</strong> unserer <strong>Spurensuche</strong> erfolgen, <strong>de</strong>nn wir wollen M.s Werkja nicht nur als Ste<strong>in</strong>bruch nutzen, <strong>de</strong>m wir nur e<strong>in</strong>zelne passen<strong>de</strong> Brocken entnehmen, son<strong>de</strong>rn als Fundament.Auch die Unterscheidung von extensiver und <strong>in</strong>tensiver Akkumulation stammt nicht von M. Er verwen<strong>de</strong>t als <strong>Kapital</strong>überschriften die Formulierungen"Wachsen<strong>de</strong> Nachfrage nach Arbeitskraft mit <strong>de</strong>r Akkumulation, bei gleichbleiben<strong>de</strong>r Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s" und"Relative Abnahme <strong>de</strong>s variablen <strong>Kapital</strong>teils im Fortgang <strong>de</strong>r Akkumulation und <strong>de</strong>r sie begleiten<strong>de</strong>n Konzentration" (MEW 23, S 640und 650). Uns s<strong>in</strong>d diese Formulierungen zu sperrig. Extensive und <strong>in</strong>tensive Akkumulation fassen das besser zusammen und greift e<strong>in</strong>eUnterscheidung auf, mit <strong>de</strong>r M. für die Arbeiterklasse das "Abhängigkeitsverhältnis vom <strong>Kapital</strong>" <strong>in</strong> Phasen gleichbleiben<strong>de</strong>r organischerZusammensetzung bezeichnet. Dort sagt er: "Unter <strong>de</strong>n bisher unterstellten, <strong>de</strong>n Arbeitern günstigsten Akkumulationsbed<strong>in</strong>gungen klei<strong>de</strong>tsich ihr Abhängigkeitsverhältnis vom <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> erträgliche o<strong>de</strong>r, wie E<strong>de</strong>n sagt, 'bequeme und liberale' Formen. Statt <strong>in</strong>tensiver zuwer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, wird es nur extensiver, d.h. die Exploitations- und Herrschaftssphäre <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>de</strong>hnt sich nuraus mit se<strong>in</strong>er eigenen Dimension und <strong>de</strong>r Anzahl se<strong>in</strong>er Untertanen." (MEW 23, S.645f) Wo er das Wechselspiel von Akkumulation undReproduktion im 2. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" wie<strong>de</strong>r aufgreift, verwen<strong>de</strong>t M. implizit unsere Unterscheidung, wenn er schreibt, "daß die Akkumulation,die Verwandlung von Mehrwert <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>, ihrem realen Gehalt nach Reproduktionsprozeß auf erweiterter Stufenleiter ist, obdiese Erweiterung extensiv <strong>in</strong> Gestalt <strong>de</strong>r Zufügung neuer Fabriken zu <strong>de</strong>n alten o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>in</strong>tensiven Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r bisherigen Stufenleiter<strong>de</strong>s Betriebs sich ausdrücke." (MEW 24, S.322)Die oben im Zitat erwähnte "Konzentration <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s" als Folge <strong>de</strong>r Akkumulation behan<strong>de</strong>ln wir geson<strong>de</strong>rt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eigenen Abschnittzusammen mit <strong>de</strong>r Zentralisation.320Die Frage, welches Akkumulationsregime wann und wo jeweils dom<strong>in</strong>iert, ist ohneh<strong>in</strong> nur durch konkrete Analyse zu beantworten.Dabei wird man e<strong>in</strong>e Abhängigkeit von technischen und Produkt<strong>in</strong>novationen, vom Konjunkturzyklus, von <strong>de</strong>n Konkurrenzverhältnissen,staatlichen Maßnahmen usw. feststellen. M. geht es hier darum, die bei<strong>de</strong>n Grundvarianten kapitalistischer Akkumulation darzustellen,die ihm <strong>de</strong>r englische <strong>Kapital</strong>ismus bereits <strong>in</strong> voller Schönheit <strong>de</strong>monstrierte. Wir wer<strong>de</strong>n aber für <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen <strong>Kapital</strong>ismus, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m diesogenannten F<strong>in</strong>anzmärkte e<strong>in</strong>e sehr viel stärkere Rolle spielen als zu M.s Zeit, Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Akkumulationsregimes und dieHerausbildung e<strong>in</strong>es neuen Typs feststellen.155


Arbeitsmenge. Wo die Verlängerung <strong>de</strong>s Arbeitstags schon die physische Grenze erreicht hato<strong>de</strong>r wo ihr durch <strong>de</strong>n Normalarbeitstag e<strong>in</strong>e <strong>pol</strong>itische Grenze gezogen ist, wächst die Nachfragenach Arbeitskraft. 321Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen be<strong>de</strong>utet Akkumulation nicht nur stoffliche, son<strong>de</strong>rn vor allem auchräumliche und soziale Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Produktionsweise, Wachstum <strong>de</strong>r Produktionsstandortenach Zahl und Größe und Wachstum <strong>de</strong>r Arbeiterklasse. 322 Solche Phasen <strong>de</strong>r Akkumulation habenihr Merkmal. Die Versorgung mit Arbeitskraft ist unsicher und stockt bisweilen. WeitereMaßnahmen s<strong>in</strong>d erfor<strong>de</strong>rlich. Wo Umschichtungen zwischen <strong>de</strong>n Sektoren <strong>de</strong>r Produktion nichtmöglich s<strong>in</strong>d, erfolgt Zuwan<strong>de</strong>rung von Arbeitskräften aus umliegen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r weiter entferntenagrarischen Regionen, aber auch Zuwan<strong>de</strong>rung aus an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn. Für die englischeTexttil<strong>in</strong>dustrie <strong>de</strong>s frühen 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts war Irland das bevorzugte Menschenreservoir. Fürdie <strong>de</strong>utsche Industrie <strong>de</strong>r 1960er Jahre waren das Italien, Spanien, Portugal, Griechenland undspäter die Türkei.Die stocken<strong>de</strong> Versorgung mit Arbeitskräften führt zu steigen<strong>de</strong>n Löhnen; natürlich nicht imSelbstlauf, son<strong>de</strong>rn durch <strong>de</strong>n Klassenkampf und die Konkurrenz <strong>de</strong>r Unternehmen. 323 Die Klagen<strong>de</strong>r Textilfabrikanten <strong>de</strong>s 18. und 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts über "unverschämte Löhne" lesen sichwie Auszüge unserer Wirtschaftspresse nach Tariffor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r IG Metall. Die frühen Fabrikantenmerkten nicht, dass mit steigen<strong>de</strong>n Löhnen auch ihnen selbst e<strong>in</strong> großer Vorteil erwuchs,nämlich die Stärkung <strong>de</strong>s <strong>in</strong>neren Marktes. 324Dennoch: In <strong>de</strong>n Phasen extensiver Akkumulation kommt es meist zu e<strong>in</strong>er spürbaren Anhebung<strong>de</strong>r Löhne und zu e<strong>in</strong>er Verbesserung <strong>de</strong>r Lebensbed<strong>in</strong>gungen zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st von <strong>Teil</strong>en <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters.M. bezieht sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analyse beson<strong>de</strong>rs auf die qualifizierten, mit <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>erieund <strong>de</strong>n Produktionsabläufen vertrauten Arbeiter: Aus <strong>de</strong>m "anschwellen<strong>de</strong>n und schwellend<strong>in</strong> Zusatzkapital verwan<strong>de</strong>lten Mehrprodukt strömt ihnen e<strong>in</strong> größerer <strong>Teil</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form von321Phasen extensiver Akkumulation f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir aber auch im entwickelten <strong>Kapital</strong>ismus, nämlich immer dann, wenn die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>rProduktion <strong>in</strong>sgesamt schneller erfolgt als das Wachstum arbeitssparen<strong>de</strong>r Investitionen <strong>in</strong> das konstante <strong>Kapital</strong>. Die letzte längere Phaseüberwiegend extensiven Wachstums <strong>in</strong> Deutschland hatten wir, mit sektoralen Unterschie<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>m 2. Weltkrieg bis etwa Mitte <strong>de</strong>r70er Jahre, als <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong> Bedarf an Arbeitskräften zunächst durch die Fluchtbewegungen von Ost- nach West<strong>de</strong>utschland, nach <strong>de</strong>rGrenzziehung zwischen DDR und BRD 1961 durch Anwerbung von Arbeitskräften <strong>in</strong> europäischen Län<strong>de</strong>rn, <strong>in</strong> Südkorea und <strong>de</strong>r Türkeibefriedigt wur<strong>de</strong>.Solche Phasen schneller Aus<strong>de</strong>hnung, die das verfügbare Potential an Arbeitskräften übersteigt, f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich immer wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnenSektoren. Als etwa die IT-Technologie im großen Stil <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Unternehmen e<strong>in</strong>geführt wur<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong> die Anwerbung von Arbeitskräften <strong>in</strong>Indien und Rußland versucht, um Engpässe zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n, aber natürlich auch, um <strong>de</strong>n günstigen Arbeitsmarktbed<strong>in</strong>gungen mit <strong>de</strong>n hohenGehältern für IT-Fachleute e<strong>in</strong>e Grenze zu ziehen.322"Akkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist also Vermehrung <strong>de</strong>s Proletariats."(MEW23, S.642) Mit diesem Satz wie<strong>de</strong>rholt M. im <strong>Kapital</strong> se<strong>in</strong>eschon zusammen mit Engels 1849 <strong>in</strong> "Lohnarbeit und <strong>Kapital</strong>" getroffene Feststellung (s. MEW 6, S.410). Die Festellung gilt aber <strong>in</strong> je<strong>de</strong>mFall mit <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>schränkung, dass die extensive Akkumulation <strong>in</strong>sgesamt o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Sektoren dom<strong>in</strong>iert, o<strong>de</strong>r, um M. selbst sprechenzu lasen: "...die Exploitations- und Herrschaftssphäre <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>de</strong>hnt sich nur aus mit se<strong>in</strong>er eigenen Dimension und <strong>de</strong>r Anzahl se<strong>in</strong>erUntertanen." (MEW 23, S.645f)323"Da <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Jahr mehr Arbeiter beschäftigt wer<strong>de</strong>n als im vorhergehen<strong>de</strong>n, so muß früher o<strong>de</strong>r später <strong>de</strong>r Punkt e<strong>in</strong>treten, wo dieBedürfnisse <strong>de</strong>r Akkumulation anfangen, über die gewöhnliche Zufuhr von Arbeit h<strong>in</strong>auszuwachsen, wo also Lohnsteigerung e<strong>in</strong>tritt."(MEW 23, S.641)Wohlgemerkt: <strong>Das</strong> ist ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Feststellung, son<strong>de</strong>rn an die Phasen gebun<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Akkumulation bei gleichbleiben<strong>de</strong>r organischerZusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t, was wir extensive Akkumulation nennen. M. selbst bezieht sich mit <strong>de</strong>r Feststellungausdrücklich auf das 15. und die <strong>1.</strong> Hälfte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts, also auf Zeiträume, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen durchweg das extensive Akkumulationsregimebei niedriger organischer Zusammensetzung allgeme<strong>in</strong> herrschte. In dieser re<strong>in</strong>en Form tritt es danach kaum mehr auf, son<strong>de</strong>rn bil<strong>de</strong>tsich nurmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Sektoren o<strong>de</strong>r phasenweise, meist nach Krisen und Kriegen, als aufholen<strong>de</strong> Entwicklung heraus.324So wie heute <strong>de</strong>n jammern<strong>de</strong>n Managern offenbar nicht klar ist, dass hohe Löhne vielleicht nicht für das eigene Unternehmen, ganzsicher aber für das System im Ganzen wichtig s<strong>in</strong>d. Für bei<strong>de</strong> war und ist die Senkung <strong>de</strong>r Löhne (was wir Steigerung <strong>de</strong>s relativen Mehrwertsnannten) das primäre Kampfziel. Wenn ihnen auch die Arbeiter <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Fabrikanten je<strong>de</strong>rzeit willkommene Konsumenten s<strong>in</strong>d:Die von ihnen selbst gezahlten Löhne wer<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>rzeit als gew<strong>in</strong>nreduzieren<strong>de</strong> Kosten empfun<strong>de</strong>n.156


Zahlungsmitteln zurück, so daß sie <strong>de</strong>n Kreis ihrer Genüsse erweitern, ihren Konsumtionsfondsvon Klei<strong>de</strong>rn, Möbeln usw. besser ausstatten und kle<strong>in</strong>e Reservefonds von Geld bil<strong>de</strong>n können."325Der Anstieg <strong>de</strong>r Löhne kennt Grenzen. Wir haben sie im Mehrwert-Kapitel kennengelernt. Waswir dort noch wegen unserer Betrachtung von außen etwas unbestimmt als Gefährdung <strong>de</strong>sMehrwehrts bezeichneten, können wir jetzt präzisieren. Wenn die Höhe <strong>de</strong>r Löhne e<strong>in</strong>e fortdauern<strong>de</strong>Akkumulation als nicht mehr lohnend ersche<strong>in</strong>en läßt, wird die Rückverwandlung <strong>de</strong>sMehrwerts <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> abnehmen. Damit en<strong>de</strong>t die Herrschaft <strong>de</strong>s extensiven Akkumulationsregimes.Die Nachfrage nach Arbeitskraft geht zurück. Die Löhne s<strong>in</strong>ken. 326Und woran erkennt <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist, ob sich die <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>s Mehrwerts, also die Fortführung<strong>de</strong>r Akkumulation lohnt o<strong>de</strong>r nicht? An <strong>de</strong>r "Mehrwertrate", wenn wir die von M. bei dieserBetrachtung bevorzugte Perspektive beibehalten. O<strong>de</strong>r, wenn wir die Perspektive <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen<strong>Kapital</strong>isten beziehen: An se<strong>in</strong>er Profitrate. Er erkennt es daran, dass die <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>sMehrwerts nicht mehr <strong>de</strong>nselben Gew<strong>in</strong>nzuwachs erbr<strong>in</strong>gt, <strong>de</strong>n er von früheren Zyklen <strong>de</strong>r Akkumulationgewohnt ist und <strong>de</strong>n er auch se<strong>in</strong>en Kreditgebern und Aktionären schul<strong>de</strong>t. Wirkommen im zweiten <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r <strong>Spurensuche</strong> auf diese zentrale Frage zurück, wenn wir uns für dieVerteilung <strong>de</strong>s Mehrwerts auf die <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e und die zentrale Rolle <strong>de</strong>r Profitrate <strong>in</strong>teressieren.Hier halten wir erstmal fest, dass extensive Akkumulation, sofern sie durch Nachschub an Arbeitskrafto<strong>de</strong>r gar durch steigen<strong>de</strong> Löhne gebremst wird, s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Akkumulation, vielleicht sogarStillstand o<strong>de</strong>r Rückgang <strong>de</strong>r Akkumulation zur Folge hat. Solange, bis s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Löhne dieAkkumulation wie<strong>de</strong>r lohnend machen. 327 O<strong>de</strong>r solange, bis <strong>de</strong>r ganze Prozess auf e<strong>in</strong>en Wechsel<strong>de</strong>s Akkumulationsregimes zusteuert.325MEW 23, S.646. Man beachte auch, dass M. hier nicht vom wachsen<strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft re<strong>de</strong>t. In solchen Phasen ist es möglich,am Mehrwert zu "knabbern". Ob diese Besserung <strong>de</strong>r Lebensverhältnisse beständig ist und sich zu dauerhaft höheren Löhnen verfestigt,hängt alle<strong>in</strong> von <strong>de</strong>r Position <strong>de</strong>r Arbeitskraft ab und wird durch die Nachfrage und <strong>de</strong>n Klassenkampf geregelt, <strong>de</strong>r ja <strong>in</strong> Bezug auf dieLöhne nichts an<strong>de</strong>res ist als Regulierung <strong>de</strong>s Angebots durch Solidarität. Damit aus höheren Löhnen e<strong>in</strong> höherer Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraftwird, muß es jedoch über zeitweilige Angebotsschwankungen h<strong>in</strong>aus auch zu e<strong>in</strong>er Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Reproduktionskostenkommen. Bessere Ausbildung und höhere Mobilität spielen dabei ebenso e<strong>in</strong>e Rolle wie <strong>de</strong>r sich immer neu herausbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> gesellschaftlicheKonsens über die angemessene Lebensweise. <strong>Das</strong> ist das von M. genannte "historische und moralische Element" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wertbestimmung<strong>de</strong>r Arbeitskraft.326"<strong>Das</strong> Verhältnis zwischen <strong>Kapital</strong>, Akkumulation und Lohnrate ist nichts als das Verhältnis zwischen <strong>de</strong>r unbezahlten, <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>ltenArbeit und <strong>de</strong>r zur Bewegung <strong>de</strong>s Zusatzkapitals erfor<strong>de</strong>rlichen zuschüssigen Arbeit. Es ist also ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Verhältnis zweiervone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängigen Größen, e<strong>in</strong>erseits <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, andrerseits <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r Arbeiterbevölkerung, es ist vielmehr <strong>in</strong>letzter Instanz nur das Verhältnis zwischen <strong>de</strong>r unbezahlten und <strong>de</strong>r bezahlten Arbeit <strong>de</strong>rselben Arbeiterbevölkerung. Wächst die Menge<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Arbeiterklasse gelieferten und von <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse akkumulierten, unbezahlten Arbeit rasch genug, um nur durch e<strong>in</strong>enaußergewöhnlichen Zuschuß bezahlter Arbeit sich <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>ln zu können, so steigt <strong>de</strong>r Lohn, und alles andre gleichgesetzt,nimmt die unbezahlte Arbeit im Verhältnis ab. Sobald aber diese Abnahme <strong>de</strong>n Punkt berührt, wo die das <strong>Kapital</strong> ernähren<strong>de</strong> Mehrarbeitnicht mehr <strong>in</strong> normaler Menge angeboten wird, so tritt e<strong>in</strong>e Reaktion e<strong>in</strong>: e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerer <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Revenue (= E<strong>in</strong>künfte; E<strong>in</strong>nahmen) wirdkapitalisiert, die Akkumulation erlahmt, und die steigen<strong>de</strong> Lohnbewegung empfängt e<strong>in</strong>en Gegenschlag. Die Erhöhung <strong>de</strong>s Arbeitspreisesbleibt also e<strong>in</strong>gebannt <strong>in</strong> Grenzen, die die Grundlagen <strong>de</strong>s kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, son<strong>de</strong>rn auch se<strong>in</strong>e Reproduktionauf wachsen<strong>de</strong>r Stufenleiter sichern. <strong>Das</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Naturgesetz mystifizierte Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation drückt also<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat nur aus, daß ihre Natur je<strong>de</strong> solche Abnahme im Exploitationsgrad <strong>de</strong>r Arbeit o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong> solche Steigerung <strong>de</strong>s Arbeitspreisesausschließt, welche die stetige Reproduktion <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>verhältnisses und se<strong>in</strong>e Reproduktion auf stets erweiterter Stufenleiter ernsthaftgefähr<strong>de</strong>n könnte." (MEW 23, S.649)327Was wir hier wie e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen Prozess behan<strong>de</strong>ln, ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wirklichkeit vielfältig geglie<strong>de</strong>rt. Der Rückgang <strong>de</strong>r Akkumulationsrateerfolgt niemals <strong>in</strong> allen Sektoren <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion gleichzeitig. In <strong>de</strong>n Bereichen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die Akkumulation nachläßt,wird sich das Geldkapital davonmachen, um <strong>in</strong> solche Sektoren zu wan<strong>de</strong>rn, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen mehr zu holen ist. In solchen Bereichen könnendann auch durchaus überdurchschnittliche Löhne gezahlt wer<strong>de</strong>n, während gleichzeitig <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Bereichen durch Technisierung dasLohnniveau gedrückt wird. Dennoch ist es wichtig, zunächst <strong>de</strong>n Prozess <strong>de</strong>r Akkumulation unter Weglassung <strong>de</strong>r Vielfalt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Grundstrukturzu untersuchen, aus <strong>de</strong>r sich die Vielfalt <strong>de</strong>r Ersche<strong>in</strong>ungen entwickelt.157


Intensive AkkumulationIm Mehrwert-Kapitel haben wir neben <strong>de</strong>r Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>ren steigen<strong>de</strong> Arbeitsproduktivitätals Königsweg <strong>de</strong>r Mehrwertsicherung kennengelernt. Aber wachsen<strong>de</strong> Arbeitsproduktivitätbe<strong>de</strong>utet für <strong>de</strong>n Arbeitsprozess e<strong>in</strong>en wachsen<strong>de</strong>n Anteil an Masch<strong>in</strong>erie und an<strong>de</strong>rerTechnik. Für <strong>de</strong>n Verwertungsprozess be<strong>de</strong>utet das e<strong>in</strong>en wachsen<strong>de</strong>n Anteil <strong>de</strong>s konstanten<strong>Kapital</strong>s im Verhältnis zum variablen <strong>Kapital</strong>. Wie kommt man dah<strong>in</strong>?Die Verän<strong>de</strong>rung dieser Anteile erfolgt hauptsächlich 328 über die Akkumulation. Der Ersatz fürMasch<strong>in</strong>en, die verschleißen, muß nicht unbed<strong>in</strong>gt auf dieselben Masch<strong>in</strong>en, son<strong>de</strong>rn wird auf<strong>in</strong>zwischen neu entwickelte und leistungsstärkere Masch<strong>in</strong>en zurückgreifen. Ziel <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>istenist es, se<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n so anzulegen, dass am En<strong>de</strong> m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens genausoviel herauskommt wiezuvor. Wenn die Konkurrenz ausgestochen und e<strong>in</strong> "Extramehrwert" erzielt wird, um so besser.Die Senkung <strong>de</strong>r Arbeitskosten ist e<strong>in</strong> wichtiger Punkt für die Re-Investition <strong>de</strong>s Gew<strong>in</strong>ns: Entwe<strong>de</strong>rkann man dann Leute entlassen o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>nselben Leuten mehr produzieren. Weil <strong>de</strong>r<strong>in</strong>vestierte Mehrwert sich an diesen Zielen orientiert, also e<strong>in</strong>en größeren <strong>Teil</strong> zunehmend <strong>in</strong> dietechnische Gestaltung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses <strong>in</strong>vestiert, verän<strong>de</strong>rt sich die wertmäßige Zusammensetzungse<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s.Was be<strong>de</strong>utet aber organische Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s? Wenn sich das Verhältnis <strong>de</strong>s konstantenzum variablen <strong>Kapital</strong> von 40:60 auf 80:20 än<strong>de</strong>rt: Wer<strong>de</strong>n dann doppelt so viele Masch<strong>in</strong>envon e<strong>in</strong>em Drittel <strong>de</strong>r Arbeiter bewegt? Eben nicht. Hier haben wir <strong>de</strong>n Unterschied zwischen<strong>de</strong>r technischen ("stofflichen") und <strong>de</strong>r wertmäßigen organischen Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>szu beachten. Die wachsen<strong>de</strong> organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s hat e<strong>in</strong>e noch stärkersteigen<strong>de</strong> Arbeitsproduktivität zum Ziel; sonst macht die Investition ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n und unterbleibt;so weit geht die Liebe <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten zur Technik dann doch nicht.Was <strong>in</strong> unserem Beispiel wertmäßig von 40 auf 80 verdoppelt wur<strong>de</strong>, repräsentiert jetzt e<strong>in</strong>eMasch<strong>in</strong>erie, die mit nur noch e<strong>in</strong>em Drittel <strong>de</strong>s früheren Anteils an gesellschaftlicher Arbeit vielleichtdas Zehnfache an Rostoffen zum vielfachen an Produkten verarbeitet.Die wachsen<strong>de</strong> organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s wird wegen wachsen<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivitätvon e<strong>in</strong>er stofflichen Aufblähung <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses begleitet: Mehr Rostoffe, Zulieferungen,Energie, Transportkapazität usw. müssen bereitgestellt wer<strong>de</strong>n. Klar, dass diese Entwicklungmit starkem S<strong>in</strong>ken <strong>de</strong>r Preise für die produzierten Waren verbun<strong>de</strong>n ist, je<strong>de</strong>nfalls be<strong>in</strong>ormaler Konkurrenz. Verglichen mit <strong>de</strong>m extensiven stellt das <strong>in</strong>tensive Akkumulationsregime,<strong>de</strong>ssen Verwertungserfolg ganz vom Anstieg <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität abhängt, sehr viel höhereAnfor<strong>de</strong>rungen an das parallele Wachstum <strong>de</strong>s Marktes, weil ihr die relative M<strong>in</strong><strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s variablen<strong>Kapital</strong>s als Bremse <strong>de</strong>r Kaufkraft e<strong>in</strong>gebaut ist.Es ist schon e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Ironie, dass diese e<strong>in</strong>gebaute Bremse <strong>de</strong>r Verwertung für die e<strong>in</strong>zelnen<strong>Kapital</strong>isten <strong>de</strong>n eigentlichen Vorzug dieses Akkumulationsregimes ausmachen: Reduzierung<strong>de</strong>s Konstenfaktors Arbeit. Die Ironie hat Folgen. Sie verknüpft die <strong>in</strong>tensive Akkumulationunlösbar mit ihrem extensiven Gegenstück, macht Aus<strong>de</strong>hnung von Produktion und Märkten zu328Der gesellschaftliche Durchschnitt <strong>de</strong>r organischen Zusammensetzung, von <strong>de</strong>r M. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analyse ausgeht, verän<strong>de</strong>rt sich auch durchdie Entstehung neuer Produktionszweige mit von Anfang an höherer organischer Zusammensetzung. Neue Produktionszweige können <strong>in</strong><strong>de</strong>r Regel nicht durch die Akkumulationskraft e<strong>in</strong>zelner Unternehmen entstehen, son<strong>de</strong>rn s<strong>in</strong>d Neugründungen durch Kredit, also durch<strong>Kapital</strong> aus <strong>de</strong>m Fonds <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Akkumulation, das sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n darauf spezialisierter <strong>Kapital</strong>isten sammelt o<strong>de</strong>r überhaupterst durch Gründung von Aktiengesellschaften gesammelt wird. Überhaupt spielt <strong>de</strong>r Kredit für die Akkumulation, also das Wachstum<strong>de</strong>r Unternehmen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz, e<strong>in</strong>e enorme Rolle. Wie <strong>de</strong>r Kredit und <strong>de</strong>r Investor als neue Rollen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten aus <strong>de</strong>r Akkumulationentsteht? Darüber mehr <strong>in</strong> wenigen Seiten.158


ihrer grundlegen<strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gung. Deshalb unsere Feststellung oben, dass extensive und <strong>in</strong>tensiveAkkumulation immer nur gleichzeitig <strong>in</strong> wechseln<strong>de</strong>r Durchdr<strong>in</strong>gung existieren.Konzentration und Zentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sJe<strong>de</strong> Akkumulation ist Wachstum <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Es ist Wachstum <strong>de</strong>s gesellschaftlich angewen<strong>de</strong>ten<strong>Kapital</strong>s und genauso Wachstum aller <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e - sofern ihnen die Akkumulationgel<strong>in</strong>gt. <strong>Das</strong> Wachstum <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e durch wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>isierung vonMehrwert nennt M. die Konzentration <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Warum Konzentration und nicht Wachstum<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s? Schon <strong>de</strong>r Begriff Akkumulation (= Anhäufung) macht klar, dass <strong>de</strong>r Prozess mitWachstum verbun<strong>de</strong>n ist. Konzentration <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s betont die Ausweitung <strong>de</strong>r Verwertungssphäre:Dadurch konzentriert sich e<strong>in</strong> immer größerer <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums <strong>in</strong><strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e.Konzentration <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s beschreibt die Wirkung <strong>de</strong>r Akkumulation auf die Verteilung <strong>de</strong>sReichtums. Dabei nimmt <strong>in</strong> bestimmten Phasen die Zahl <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e sogar zu: Abspaltungnach Erbteilung, Neugründungen durch ehrgeizige Ingenieure, die sich selbständig machen,o<strong>de</strong>r durch Entstehung neuer Produktionsbereiche als Folge von Erf<strong>in</strong>dungen und an<strong>de</strong>rentechnischen Innovationen. Die Zunahme <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Mehrwertmasse bil<strong>de</strong>t die Grundlagefür das Wachstum <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e, für <strong>de</strong>ren Differenzierung nach <strong>de</strong>r Größe undfür die Entstehung neuer <strong>Kapital</strong>e. 329Von <strong>de</strong>r durch die Akkumulation selbst angetriebenen Konzentration unterschei<strong>de</strong>t M. die Zentralisation<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Sie ist nicht an das Wachstum <strong>de</strong>r Mehrwertmasse gebun<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rnbeschreibt die wechseln<strong>de</strong> Verteilung <strong>de</strong>s Gesamtkapitals auf die <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e: Was <strong>de</strong>re<strong>in</strong>e <strong>Kapital</strong>ist verliert, gerät <strong>in</strong> die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren. 330 Könnte man sich die Konzentration<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s noch als proportionales Wachstum aller <strong>Kapital</strong>e mit gleicher Akkumulationsratevorstellen: Mit <strong>de</strong>r Zentralisation als ergänzen<strong>de</strong>m Prozess ist e<strong>in</strong>e solche Vorstellung erledigt.329"Die Akkumulation und die sie begleiten<strong>de</strong> Konzentration s<strong>in</strong>d also nicht nur auf viele Punkte zersplittert, son<strong>de</strong>rn das Wachstum <strong>de</strong>rfunktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>e ist durchkreuzt durch die Bildung neuer und die Spaltung alter <strong>Kapital</strong>e. Stellt sich die Akkumulation daher e<strong>in</strong>erseitsdar als wachsen<strong>de</strong> Konzentration <strong>de</strong>r Produktionsmittel und <strong>de</strong>s Kommandos über Arbeit, so andrerseits als Repulsion vieler <strong>in</strong>dividueller<strong>Kapital</strong>e vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r." (MEW 23, S.654)Mit <strong>de</strong>r Entstehung neuer <strong>Kapital</strong>e beschreibt M. nur e<strong>in</strong>e historische Entwicklung. Es ist ihm durchaus klar, dass mit wachsen<strong>de</strong>r organischerZusammensetzung die Gründung neuer selbständiger Unternehmen immer mehr Grün<strong>de</strong>rkapital erfor<strong>de</strong>rte und damit die Möglichkeiten<strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>isten zu übersteigen beg<strong>in</strong>nt. Aber "<strong>in</strong>dividuelles <strong>Kapital</strong>" be<strong>de</strong>utet ja nicht "<strong>in</strong>dividueller <strong>Kapital</strong>ist"; dah<strong>in</strong>terkann ebenso e<strong>in</strong>e Aktiengesellschaft mit tausen<strong>de</strong>n Eigentümern stecken. Daher kommt es im Zuge technologischer Entwicklungimmer wie<strong>de</strong>r auch zu neuen Grün<strong>de</strong>rphasen für neue Unternehmen: Ob es sich um die Erf<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>s Verbrennungsmotors und se<strong>in</strong> Verknüpfungmit <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Öl-Verwerter o<strong>de</strong>r um die Entwicklung <strong>de</strong>r Mikrocomputer han<strong>de</strong>lt, die viele zehntausend Neugründungenim Hard- und Softwarebereich zur Folge hatten.Am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischen Reproduktion entstehen laufend neue Kle<strong>in</strong>unternehmen, von Friseurgeschäften über Tattoo-Lä<strong>de</strong>n bis zuWollstübchen und Event-Kneipen, die nicht weniger <strong>in</strong> die Gesetze <strong>de</strong>r Verwertung e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Unter <strong>de</strong>nen waren die "Ich-AGs"<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sagentur für Arbeit e<strong>in</strong>e spezielle <strong>pol</strong>it-ökonomische Perversion, ganz darauf abgestellt, ihre Betreiber aus <strong>de</strong>nArbeitslostenstatistiken zu entfernen und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n existentiellen Stress und die Schul<strong>de</strong>nfalle zu treiben. Denn spätestens, wenn sie erkennen,wie kapitalkräftige Konkurrenten ihnen das Geschäft ver<strong>de</strong>rben, lernen große und kle<strong>in</strong>e Unternehmen die Lektion: Akkumulation istke<strong>in</strong>e Option, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> Zwang.330"Es ist dies nicht mehr e<strong>in</strong>fache, mit <strong>de</strong>r Akkumulation i<strong>de</strong>ntische Konzentration von Produktionsmitteln und Kommando über Arbeit.Es ist Konzentration bereits gebil<strong>de</strong>ter <strong>Kapital</strong>e, Aufhebung ihrer <strong>in</strong>dividuellen Selbständigkeit, Expropriation von <strong>Kapital</strong>ist durch <strong>Kapital</strong>ist,Verwandlung vieler kle<strong>in</strong>eren <strong>in</strong> weniger größere <strong>Kapital</strong>e. Dieser Prozeß unterschei<strong>de</strong>t sich von <strong>de</strong>m ersten dadurch, daß er nur verän<strong>de</strong>rteVerteilung <strong>de</strong>r bereits vorhandnen und funktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>e voraussetzt, se<strong>in</strong> Spielraum also durch das absolute Wachstum<strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums o<strong>de</strong>r die absoluten Grenzen <strong>de</strong>r Akkumulation nicht beschränkt ist. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> schwillt hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erHand zu großen Massen, weil es dort <strong>in</strong> vielen Hän<strong>de</strong>n verlorengeht. Es ist die eigentliche Zentralisation im Unterschied zur Akkumulationund Konzentration." (MEW 23, S.654)159


Wo schon ger<strong>in</strong>ge Unterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>größe bei gleicher Akkumulationsrate die Unterschie<strong>de</strong>vergrößern wür<strong>de</strong>n, gilt das <strong>in</strong> viel stärkerem Maße, wenn wir neben <strong>de</strong>n unterschiedlichen<strong>Kapital</strong>größen auch unterschiedliche Akkumulationsraten <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen <strong>Kapital</strong>e annehmen.Nicht alle <strong>Kapital</strong>e können im selben Tempo und im selben Umfang akkumulieren. Wirhaben <strong>de</strong>n Zusammenhang aus an<strong>de</strong>rem Blickw<strong>in</strong>kel bereits im Mehrwert-Kapitel unter <strong>de</strong>mStichwort "Extramehrwert" kennengelernt. M. greift <strong>de</strong>n Gedanken im folgen<strong>de</strong>n Zwischentextzur Illustration 331 erneut auf, um die treiben<strong>de</strong> Rolle <strong>de</strong>r Konkurrenz für die Akkumulation <strong>de</strong>utlichzu machen. Es s<strong>in</strong>d Konkurrenz und Akkumulationszwang, die e<strong>in</strong>e Zentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>svorantreiben.Lektüre: Karl Marx: S.323Akkumulation und kapitalistische Konkurrenz erzeugen zusammen stürmische Bewegungen <strong>in</strong>nerhalb<strong>de</strong>r Produktionsweise. Die "Konkurrenz rast", schreibt M. In diesem fast schon kriegerischenKampf gibt es Sieger und Besiegte und neu eroberte Sphären <strong>de</strong>r Produktion. Aber je<strong>de</strong>Nie<strong>de</strong>rlage vere<strong>in</strong>zelter <strong>Kapital</strong>e ist Ausgangspunkt erweiterter Reproduktion. Es ist <strong>de</strong>r Formnach Vernichtung o<strong>de</strong>r Eroberung von <strong>Kapital</strong> und gleichzeitig Erschaffung stofflich wie räumlichsich ausweiten<strong>de</strong>r Produktionse<strong>in</strong>heiten, "umfassen<strong>de</strong>re Organisation <strong>de</strong>r Gesamtarbeit vieler",kurz: <strong>Kapital</strong>istische Vergesellschaftung <strong>in</strong> Aktion, die M. als "fortschreiten<strong>de</strong> Umwandlungvere<strong>in</strong>zelter und gewohnheitsmäßig betriebner Produktionsprozesse <strong>in</strong> gesellschaftlich komb<strong>in</strong>ierteund wissenschaftlich disponierte Produktionsprozesse" beschreibt.Dabei bil<strong>de</strong>t die Akkumulation (also die Verwertung) <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall die Grundlage und markiertdie äußeren Grenzen <strong>de</strong>s Prozesses. Sie ist sozusagen Chassis und Karosserie <strong>de</strong>r sich vorwärtstreiben<strong>de</strong>nProduktionsweise. Motor <strong>de</strong>s Prozesses aber s<strong>in</strong>d "Konkurrenz und Kredit, die bei<strong>de</strong>nmächtigsten Hebel <strong>de</strong>r Zentralisation." 332 Wir wollen uns im nächsten Abschnitt klar machen,warum und wie die Akkumulation das Kreditwesen hervorbr<strong>in</strong>gt und wie es <strong>de</strong>m Akkumulationsregimee<strong>in</strong>e neue Dimension und neuen Antrieb gibt.Von <strong>de</strong>r "Beihilfe" zur "Waffe"Kommen wir auf <strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>r Zwischenlektüre zurück, von <strong>de</strong>m M. zurückhaltend bemerkt, ersei als "kurze tatsächliche An<strong>de</strong>utung" gedacht. Dar<strong>in</strong> schreibt er beiläufig, wie "sich mit <strong>de</strong>rkapitalistischen Produktion e<strong>in</strong>e ganz neue Macht, das Kreditwesen" herausbil<strong>de</strong>t. Dieses Kreditwesen,das uns schon nach e<strong>in</strong>igen Dutzend Reproduktionszyklen als mächtiges F<strong>in</strong>anzkapitalgegenübertreten wird, schleicht sich, wie M. das nennt, "<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen verstohlen, alsbescheidne Beihilfe <strong>de</strong>r Akkumulation" e<strong>in</strong>, erweist sich aber schon zu M.s Zeiten als "e<strong>in</strong>e neueund furchtbare Waffe im Konkurrenzkampf" und verwan<strong>de</strong>lt sich immer mehr "<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ungeheurensozialen Mechanismus zur Zentralisation <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e". 333331M. leitet <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Zwischentext mit <strong>de</strong>n Worten e<strong>in</strong>: "Die Gesetze dieser Zentralisation <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Attraktion von <strong>Kapital</strong>durch <strong>Kapital</strong> können hier nicht entwickelt wer<strong>de</strong>n. Kurze tatsächliche An<strong>de</strong>utung genügt." (MEW 23, S.654) Es s<strong>in</strong>d also nicht M.sabschließen<strong>de</strong> Worte zu dieser Angelegenheit; wir wer<strong>de</strong>n im dritten <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r <strong>Spurensuche</strong> darauf zurückkommen und sehen, was Marxistennach Marx, wie Hilferd<strong>in</strong>g und Len<strong>in</strong>, daraus gemacht haben.332MEW 23, S.655 und S.656. Vgl. dazu auch die Zwischenlektüre Karl Marx: auf S.318,<strong>de</strong>r die Zitate entnommen s<strong>in</strong>d.333MEW 23, S.655. Alle Zitate ausführlich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zwischenlektüre Karl Marx: auf S.318,auf die sich dieses Kapitel bezieht. In se<strong>in</strong>en weiteren Ausführungen kommt M. immer wie<strong>de</strong>r auf die Rolle <strong>de</strong>s Kredits zu sprechen undskizziert <strong>de</strong>ssen E<strong>in</strong>fluß.160


Wir er<strong>in</strong>nern uns an unseren Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikanten, <strong>de</strong>r mit technischen Neuerungen undneuer Arbeitsorganisation die Arbeitsproduktivität vergrößerte, se<strong>in</strong>e Produktion ausweitete,se<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n durch "Extramehrwert" steigerte und se<strong>in</strong>e Marktposition auf Kosten <strong>de</strong>r Konkurrentenfestigte. Dieser Coup brachte ihn nach vorn. Doch für unseren Fabrikanten wirft je<strong>de</strong>rVerkauf se<strong>in</strong>er Gully<strong>de</strong>ckel dieselbe wichtige Frage auf: Woh<strong>in</strong> mit <strong>de</strong>m erzielten Gew<strong>in</strong>n? <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n<strong>Teil</strong> davon behält er für sich; man will schließlich leben. Aber <strong>de</strong>n größeren <strong>Teil</strong> steckt er wie<strong>de</strong>r<strong>in</strong>s Unternehmen und erweitert die Produktion. Denn Gully<strong>de</strong>ckel verkauften sich bisher störungsfreiund die ständige Erweiterung <strong>de</strong>r städtischen Kanalisiation läßt auch für die Zukunftstörungsfreien Absatz erwarten. Doch parallel erweitert er das Produktsortiment. Er wittert auch<strong>in</strong> Straßenlaternen und Gasleitungsrohren e<strong>in</strong> gutes Geschäft, da nun preiswertes Kokereigasdarauf wartet, nutzbr<strong>in</strong>gend angewen<strong>de</strong>t zu wer<strong>de</strong>n.Wenn es gut geht, br<strong>in</strong>gt ihm <strong>de</strong>r richtige Riecher schon wenige Jahre später soviel an jährlichemGew<strong>in</strong>n, dass selbst e<strong>in</strong>e neue Villa und aufwändigste Lebensführung nur e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen<strong>Teil</strong> davon verbrauchen. Was macht er jetzt mit <strong>de</strong>n schnell anwachsen<strong>de</strong>n Geldsummen? Nochmehr Gully<strong>de</strong>ckel o<strong>de</strong>r Straßenlaternen? S<strong>in</strong>nvoller ist es vielleicht, Anteile an Gaswerken o<strong>de</strong>ran Kokereien o<strong>de</strong>r Eisenhütten zu erwerben. O<strong>de</strong>r soll er e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Gew<strong>in</strong>ns aus <strong>de</strong>r Gully<strong>de</strong>ckel-und Straßenlaternen-Produktion nutzen, um damit Eisenbahnaktien zu kaufen? O<strong>de</strong>r soller sich an e<strong>in</strong>er neuen Fabrik für Haushaltsgeräte o<strong>de</strong>r Werkzeugmasch<strong>in</strong>en beteiligen, für die ergleichzeitig Zulieferungen übernehmen kann?Was auch immer: Der umtriebige <strong>Kapital</strong>ist erreicht schon wenige Jahre später e<strong>in</strong>en Punkt, daer dank se<strong>in</strong>es akkumulierten Gel<strong>de</strong>s nicht nur se<strong>in</strong> eigenes Geschäft betreibt, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> vielenan<strong>de</strong>ren Geschäften mitmischt. Se<strong>in</strong>e Akkumulation ist gar nicht mehr an e<strong>in</strong>en bestimmtenProduktionsprozess gebun<strong>de</strong>n. Faktisch ist er für an<strong>de</strong>re <strong>Kapital</strong>isten zum Kreditgeber gewor<strong>de</strong>n,während das eigene Unternehmen weiter boomt. 334 Vielleicht wird es Zeit, <strong>de</strong>n Boom zunutzen und es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Aktiengesellschaft umzuwan<strong>de</strong>ln? Dadurch erhält er wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e MengeGeld, was erneut die Frage aufwirft: Woh<strong>in</strong> damit?Jetzt ist er vom Fabrikanten, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong> wohlhaben<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist war, zum schwerreichen <strong>Kapital</strong>istengewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r immer weniger als Fabrikant fungiert. Die re<strong>in</strong>e Geldform se<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s eröffnetihm viele weitere Möglichkeiten. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Zeitungsverlag kaufen und Politiker wer<strong>de</strong>n? ImAusland <strong>in</strong>vestieren, vielleicht <strong>in</strong> das <strong>in</strong>teressante Kanalbauprojekt? O<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> wenig Geld <strong>in</strong> dieneumodische Telegraphie stecken? O<strong>de</strong>r alles gleichzeitig tun? Die wun<strong>de</strong>rsame Welt <strong>de</strong>r Investitionensteht ihm offen. Unser <strong>Kapital</strong>ist, vormals Fabrikant, ist endgültig zum Investor gewor<strong>de</strong>n,<strong>de</strong>r, wie er es nennt, "se<strong>in</strong> Geld für sich arbeiten" läßt.Er könnte als nunmehr berufsmäßiger Kreditgeber auch e<strong>in</strong>e Bank grün<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Kompagnone<strong>in</strong>er Bank wer<strong>de</strong>n. Da wür<strong>de</strong>n ihm se<strong>in</strong>e Erfahrungen aus <strong>de</strong>r Gußeisen-Szene gewiß Nutzenbr<strong>in</strong>gen. Und er läge damit voll im Trend. Denn tatsächlich wird die Rolle <strong>de</strong>s Bankiers immermehr zu e<strong>in</strong>er zentralen Rolle für Akkumulation und Reproduktion. Diese Rolle ist zwar nichtneu. Wir er<strong>in</strong>nern uns an M.s Schema G-G', mit <strong>de</strong>m schon das Han<strong>de</strong>lskapital als Kreditgeber334M. erwähnt diese notwendige Folge <strong>de</strong>r Akkumulation an an<strong>de</strong>rer Stelle: "Sobald die Entwicklung <strong>de</strong>s Kredits dazwischenkommt, verwickeltsich das Verhältnis von ursprünglich vorgeschoßnem <strong>Kapital</strong> und kapitalisiertem Mehrwert noch mehr. Z.B. A borgt <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s produktiven<strong>Kapital</strong>s, womit er das Geschäft anfängt o<strong>de</strong>r während <strong>de</strong>s Jahrs fortführt, beim Bankier C. Er hat von vornhere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> eignesh<strong>in</strong>reichen<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> für Führung <strong>de</strong>s Geschäfts. Bankier C leiht ihm e<strong>in</strong>e Summe, die bloß aus bei ihm <strong>de</strong>poniertem Mehrwert <strong>de</strong>r IndustriellenD, E, F etc. besteht. Vom Standpunkt <strong>de</strong>s A han<strong>de</strong>lt es sich noch nicht um akkumuliertes <strong>Kapital</strong>. In <strong>de</strong>r Tat aber ist für D, E, F etc.<strong>de</strong>r A nichts als e<strong>in</strong> Agent, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n von ihnen angeeigneten Mehrwert kapitalisiert."(MEW 24, S.322)161


operierte. Nur ist die Rolle längst umgeschrieben wor<strong>de</strong>n und wird speziell für das Stück mit<strong>de</strong>m Titel "kapitalistische Akkumulation" neu besetzt.Überall ist Akkumulation. Überall entsteht Geld, das sich von se<strong>in</strong>em Ursprung löst und nachneuer Anlage sucht. 335 Also muß man als Bankier ke<strong>in</strong>esfalls mit <strong>de</strong>m eigenen Geld arbeiten;man nimmt das freie Geld <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Die Bank gibt <strong>de</strong>nen für ihren kle<strong>in</strong>en Betrag Z<strong>in</strong>sen undverdient als Herr <strong>de</strong>s großen Gel<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>n großen Geschäften selber e<strong>in</strong>iges mehr - dar<strong>in</strong> liegtdas ganze Geheimnis.Aussichtsreiche Sachen, die man f<strong>in</strong>anzieren könnte, gibt es reichlich. Sogar die Produktion vonGully-Deckeln und Straßenlaternen hat ja nicht aufgehört, auch wenn <strong>de</strong>r neue Bankier dar<strong>in</strong>nicht mehr <strong>in</strong> eigener Person, son<strong>de</strong>rn nur noch als Aktionär o<strong>de</strong>r Kreditgeber verwickelt ist.Doch das <strong>in</strong>zwischen als Aktiengesellschaft von beauftragten Managern geführte Unternehmenwill weitere Kokereien zur Sicherung <strong>de</strong>r Gasversorgung kaufen und große Produktionsanlagenfür die Herstellung von Leitungsrohren errichten. Die Bank verschafft die Mittel sofort, die durchnormale Akkumulation erst <strong>in</strong> Jahren verfügbar wären. Es ist e<strong>in</strong> nahezu todsichere Geschäftzum Vorteil bei<strong>de</strong>r: Des funktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s 336 im G-W-G' Schema, und natürlich <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzkapitalsim reduzierten Schema <strong>de</strong>r G-G' Verwertung.Erst mit <strong>de</strong>r Ausweitung <strong>de</strong>s Kreditwesens lassen sich Vorhaben <strong>in</strong> viel größeren Dimensionenund viel schneller als bisher realisieren 337 : <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Großstadt stellt auf Gasbeleuchtung um? Da trifftes sich gut, wenn man als Bank dafür die richtigen Unternehmen <strong>in</strong>s Boot holt, <strong>de</strong>nen manebenfalls per Kredit die nötigen Produktionskapazitäten für Straßenlaternen, Rohrleitungen undBaumasch<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>anziert. Jetzt kommt die Sache wirklich <strong>in</strong> Schwung... auf je<strong>de</strong>n Fall für dieBank.Wir sehen auf e<strong>in</strong>en Blick, dass sich Investor und Bankier sehr ähnlich sehen. Sie gehören zumkapitalen Drill<strong>in</strong>g, auch als Trio <strong>in</strong>fernale bekannt. Es besteht aus <strong>de</strong>m "funktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten",<strong>de</strong>r als aussterben<strong>de</strong> Gattung immer mehr von beauftragten Managern verdrängt wird.Und es besteht aus <strong>de</strong>n aufstreben<strong>de</strong>n jüngeren Brü<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen Bankier und F<strong>in</strong>anzmann338 , <strong>de</strong>r riesige Geldummen im Auftrag regiert, und aus <strong>de</strong>m unabhängigen Investor, <strong>de</strong>runs auch als Rentier o<strong>de</strong>r Kouponschnei<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Aktionär begegnet. 339 Bei<strong>de</strong> s<strong>in</strong>d auf die Vermehrungihres Gel<strong>de</strong>s durch gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong> Geldanlage aus.335<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Gel<strong>de</strong>r, die sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten sammeln und aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n nicht o<strong>de</strong>r noch nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>nVerwertungsprozess e<strong>in</strong>gespeist wer<strong>de</strong>n. Darauf gehen wir genauer e<strong>in</strong>, wenn wir uns <strong>de</strong>m Zirkulationsprozess zuwen<strong>de</strong>n und uns diedar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gebauten Verwertungsprobleme näher ansehen.336Wir übernehmen diese Formulierung vom "funktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>" und "funktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten" von M., <strong>de</strong>r sie mehrmalsverwen<strong>de</strong>t (lei<strong>de</strong>r auch etwas unpräzise und häufiger auch als "fungieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>"). Damit ist das <strong>Kapital</strong> geme<strong>in</strong>t, das <strong>in</strong> <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>heitvon Arbeitsprozess und Verwertungsprozess funktioniert. Entsprechend ist <strong>de</strong>r "funktionieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>ist" die wirkliche Regie <strong>de</strong>s Produktionsprozesses;heute wird diese Rolle überwiegend von beauftragten Managern als <strong>de</strong>n Funktionären <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten ausgefüllt,während die Eigentümer-<strong>Kapital</strong>isten als Aktionäre und Investoren überall zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, wo man angenehm und exklusiv lebt.337Hier wäre auch auf die Rolle <strong>de</strong>r Aktiengesellschaften h<strong>in</strong>zuweisen, die M. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Text erwähnt (MEW 23, S.656). <strong>Das</strong> ist historische<strong>in</strong>e sehr frühe Form <strong>de</strong>r Zentralisation von <strong>Kapital</strong> und ebenfalls natürlich e<strong>in</strong>e Form <strong>de</strong>s Kredits. Die zunehmen<strong>de</strong> Gründung von Aktiengesellschaftenbrachten das Bedürfnis nach Verwaltung und Kontrolle, wie man heute sagen wür<strong>de</strong>: nach Regulierung <strong>de</strong>s Verfahrenszum Schutz vor Betrug hervor. Diese Aufgaben wur<strong>de</strong>n schon zu M.s Zeit zwischen Banken und <strong>de</strong>n parallel sich herausbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnenBörsen aufgeteilt. Regulierungen s<strong>in</strong>d nichts neues, son<strong>de</strong>rn entstehen <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Maße, wie sich das Kreditsystem entfaltet.338Heute dürfen wir natürlich nicht nur auf die Banken schauen. Die verschie<strong>de</strong>nen Funds mit ihren e<strong>in</strong>flußreichen und vollends anonymenFundsmanagern machen <strong>de</strong>n Banken zunehmend Konkurrenz, wenn es darum geht, E<strong>in</strong>fluß auf Unternehmen per Kredit und auf die Verwertung<strong>de</strong>r Kredite zu nehmen.339Rentiers s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Rentner, son<strong>de</strong>rn Menschen, die ihr Geld <strong>in</strong> Rentenpapieren wie Staats- o<strong>de</strong>r Unternehmensanleihen, aber auch <strong>in</strong>Aktien anlegen und damit als Kreditgeber wirken, die von <strong>de</strong>n Renditen ihrer Anlagen leben. Kouponschnei<strong>de</strong>r ist e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer Name fürdieselbe Gattung, benannt nach <strong>de</strong>n Koupons, die zu e<strong>in</strong>em Wertpapier gehören. Diese Koupons wer<strong>de</strong>n bei Fälligkeit gegen die jeweiligeRendite o<strong>de</strong>r Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong> e<strong>in</strong>gelöst. Die Gruppe vermögen<strong>de</strong>r Geldkapitalisten, die wir Investoren nennen, s<strong>in</strong>d sowohl Überbleibsel <strong>de</strong>r al-162


Nun ist unser Bankier ganz und gar aufs Geldgeschäft spezialisiert. Die Bank wird zu e<strong>in</strong>em eigenensich tragen<strong>de</strong>n Unternehmen. Erst durch diese neue Bank wird auch <strong>de</strong>r Investor als sozialerPrototyp wirklich mächtig und allgegenwärtig. Jetzt darf je<strong>de</strong>r se<strong>in</strong> ungebun<strong>de</strong>nes Geld,bevor es ihm e<strong>in</strong> Loch <strong>in</strong> die Tasche brennt, <strong>de</strong>r Bank anvertrauen und auch mit kle<strong>in</strong>en Summenan zuvor kaum erreichbaren Geschäften teilnehmen. Die Bank macht ihrerseits aus <strong>de</strong>n vielenkle<strong>in</strong>en Summen die großen Summen, mit <strong>de</strong>nen nicht nur Unternehmen gekauft, fusionierto<strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rkonkurriert wer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> ist die von M. oben erwähnte "neue und furchtbare Waffeim Konkurrenzkampf".Mit <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen kapitalistischen Kreditwesen wer<strong>de</strong>n auch die Grenzen verschoben. Jetzt lassensich Projekte <strong>in</strong> erstaunlich kurzer Zeit angehen, für die unser Ex-Gully-Farikant an<strong>de</strong>rnfallshätte jahrelang Geld ansammeln müssen; und es s<strong>in</strong>d sogar Projekte möglich, die tausendfachund mehr über die Möglichkeiten e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Fabrikanten h<strong>in</strong>ausgegangen wären. Der Trick<strong>de</strong>r Bank ist simpel: Sie sammelt überschüssiges Geld aus tausen<strong>de</strong>n Akkumulationsquellen undsorgt für se<strong>in</strong>e Verwertung durch Kredite an produzieren<strong>de</strong> Unternehmen, durch Staatsanleihen,durch Rohstoffspekulationen, durch Währungsgeschäfte, durch Ausbeutung neuer Erf<strong>in</strong>dungenund Rohstofflagerstätten, durch Initiierung von Aktiengesellschaften und Fusionen, durch Schaffungmächtiger, ganze Märkte dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>r Trusts, durch F<strong>in</strong>anzierung von Aufrüstung undKrieg... mit <strong>de</strong>m Hebel <strong>de</strong>s Kredits sche<strong>in</strong>t alles möglich zu se<strong>in</strong>, wenn es nur genug abwirft! 340Was da kapitalisiert wird, als Gew<strong>in</strong>n zurückfließt und wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong>vestiert wird, läßt se<strong>in</strong>e Herkunftnicht mehr erkennen. Es entstammt e<strong>in</strong>em immer größer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n F<strong>in</strong>anzmarkt, <strong>de</strong>ssen B<strong>in</strong>dungenan Feuer und Rauchschwa<strong>de</strong>n und Lärm <strong>de</strong>r Produktion zwar geahnt wird, aber kaummehr sichtbar ist. Deshalb muß unser <strong>Kapital</strong>ist, vormals Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikant, auch von <strong>de</strong>r"Realwirtschaft" nichts mehr verstehen. Die Zeiten s<strong>in</strong>d irgendwann vorbei, zu <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istnoch durchweg "funktionieren<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist" war, als se<strong>in</strong>e Villa noch neben <strong>de</strong>r Fabrikstand und er selbst vielleicht sogar als tätiges Mitglied <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters kreatives Talent alsIngenieur o<strong>de</strong>r Chemiker e<strong>in</strong>brachte. Und irgendwann hören auch die Banken auf, E<strong>in</strong>-Mann-Betriebe zu se<strong>in</strong>. Sie wer<strong>de</strong>n selbst zu Aktiengesellschaften mit e<strong>in</strong>er Vielzahl von Eigentümern.Die Leitung liegt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n sorgfältig ausgewählter Spezialisten, die mit Milliar<strong>de</strong>nsummenoperieren.Im Verlauf von e<strong>in</strong>igen Dutzend Reproduktionszyklen erleben wir die soziale Differenzierung <strong>de</strong>r<strong>Kapital</strong>istenklasse. Nicht nur, dass sich die <strong>Kapital</strong>isten nach ihrem jeweiligen Akkumulationserfolgund daher nach ihrem Reichtum zunehmend unterschei<strong>de</strong>n. Es gibt kle<strong>in</strong>e und mittlere undgroße und bald auch sehr große Vertreter dieser Art. Auch ihre soziale Position än<strong>de</strong>rt sich. Dieist nicht mehr daran gebun<strong>de</strong>n, persönlich Regie über die Produktion zu führen. Die Produktionten Klasse ehemals funktionieren<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, als auch neu h<strong>in</strong>zugekommene Nutznießer diverser Spekulationen und an<strong>de</strong>rer Betrügereien,die es ihnen ermöglichten, für<strong>de</strong>rh<strong>in</strong> "ihr Geld für sich arbeiten" zu lassen. Sie verwalten ihre Investments übrigens selten selbst,son<strong>de</strong>rn nutzen dafür weltweit aktive Gesellschaften für Vermögensverwaltung, die sowohl zu Banken gehören, aber auch als Spezialistenselbständig agieren. <strong>Das</strong> von solchen Gesellschaften verwaltete Vermögen von Personen (nicht Unternehmen) betrug En<strong>de</strong> 2010 weltweitrund 121 Billionen US-Dollar. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d 12<strong>1.</strong>000 Milliar<strong>de</strong>n.340"Neben <strong>de</strong>r wirklichen Akkumulation o<strong>de</strong>r Verwandlung <strong>de</strong>s Mehrwerts <strong>in</strong> produktives <strong>Kapital</strong> (und entsprechen<strong>de</strong>r Reproduktion auferweiterter Stufenleiter) läuft also Geldakkumulation, Zusammenscharren e<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>s Mehrwerts als latentes Geldkapital, das erst später,sobald es gewissen Umfang erreicht, als zuschüssiges aktives <strong>Kapital</strong> fungieren soll. So stellt sich die Sache vom Standpunkt <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen<strong>Kapital</strong>isten dar. Mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion entwickelt sich jedoch gleichzeitig das Kreditsystem. <strong>Das</strong>Geldkapital, das <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist noch nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em eignen Geschäft anwen<strong>de</strong>n kann, wird von andren angewandt, von <strong>de</strong>nen er Z<strong>in</strong>sendafür erhält. Es fungiert für ihn als Geldkapital im spezifischen S<strong>in</strong>n, als e<strong>in</strong>e vom produktiven <strong>Kapital</strong> unterschiedne Sorte <strong>Kapital</strong>. Aber eswirkt als <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> andrer Hand. Es ist klar, daß mit <strong>de</strong>r häufigern Realisation <strong>de</strong>s Mehrwerts und <strong>de</strong>r steigen<strong>de</strong>n Stufenleiter, worauf erproduziert wird, die Proportion wächst, wor<strong>in</strong> neues Geldkapital o<strong>de</strong>r Geld als <strong>Kapital</strong> auf <strong>de</strong>n Geldmarkt geworfen und von hier aus wenigstensgroßenteils wie<strong>de</strong>r für erweiterte Produktion absorbiert wird." (MEW 24, S.323)163


f<strong>in</strong><strong>de</strong>t längst an weit entfernten o<strong>de</strong>r doch gut verborgenenen unwirtlichen Orten statt, die <strong>de</strong>nEigentümern nur vom Hörensagen bekannt s<strong>in</strong>d. Sie wird von beauftragten und bestens honoriertenFunktionären erledigt, die wie<strong>de</strong>rum Fachleute mit <strong>de</strong>r eigentlichen Kontrolle <strong>de</strong>r Produktionbeauftragen.Der <strong>Kapital</strong>ist ist nicht mehr direkter Eigentümer e<strong>in</strong>er Fabrik, son<strong>de</strong>rn Eigentümer um vieleEcken an vielen Fabriken, von <strong>de</strong>nen er möglicherweise ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige kennt. Was er im Kontore<strong>in</strong>er Bank o<strong>de</strong>r im gemütlichen Arbeitszimmer se<strong>in</strong>er Tess<strong>in</strong>er Villa o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Kanzlei se<strong>in</strong>esAnlagenberaters an Geld zählt und verplant, ist von allem Rauch und Schweiß befreit - sche<strong>in</strong>bar.Für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten als Bankier o<strong>de</strong>r Investor ersche<strong>in</strong>t das <strong>Kapital</strong> nur noch als Geld. Undwer hat, <strong>de</strong>r hat. Der Gew<strong>in</strong>n ersche<strong>in</strong>t als e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>m <strong>in</strong>vestierten Geld direkt entspr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong> E<strong>in</strong>kommensquelle.341 Und wer Geld hat und für Investition hergibt, erwirbt e<strong>in</strong>en gleichsam natürlichenAnspruch auf Rendite. Und diesem Anspruch hat sich <strong>de</strong>r gesamte materielle Produktionsprozess,letztlich die gesamte Gesellschaft unterzuordnen.Bankier und Investor haben auch die Macht, diesen Anspruch durchzusetzen: Gegenüber <strong>de</strong>mkapitalistischen Unternehmen zunächst durch Androhung, dann durch wirklichen Abzug <strong>de</strong>s<strong>Kapital</strong>s o<strong>de</strong>r durch Verkauf <strong>de</strong>r Aktien an fe<strong>in</strong>dliche Übernehmer o<strong>de</strong>r durch Verweigerungo<strong>de</strong>r Kündigung <strong>de</strong>s Kredits. Gegenüber <strong>de</strong>r Gesellschaft, <strong>in</strong><strong>de</strong>m man sich Medien und Politikdienstbar macht und <strong>de</strong>n zentralen Glaubenssatz allen Köpfen e<strong>in</strong>zupauken versucht: AllerReichtum <strong>de</strong>r Gesellschaft, auch Arbeitsplätze und Löhne, kommen ganz alle<strong>in</strong> aus <strong>de</strong>n Investitionenunseres <strong>Kapital</strong>s! 342So wird die ausreichen<strong>de</strong> Versorgung <strong>de</strong>r Investoren und Kreditgeber mit Rendite sche<strong>in</strong>bar zurSchicksalsfrage <strong>de</strong>r Gesellschaft. Nachrichten über fallen<strong>de</strong> Kurse und rote Bilanzzahlen wer<strong>de</strong>nzu Schreckensmeldungen. Wo das "Schicksal" mit Unternehmensschließung zuschlägt, richtensich alle Hoffnungen <strong>de</strong>r wirklichen Opfer nicht etwa auf die eigene Kraft. Die sche<strong>in</strong>t ihnen zuger<strong>in</strong>g zu se<strong>in</strong>, obwohl sie vor <strong>de</strong>m "Schicksalschlag" noch völlig ausreichte, um e<strong>in</strong>er toten Fabrikrentables Leben 343 e<strong>in</strong>zuhauchen. Alle Hoffnungen richten sich statt<strong>de</strong>ssen auf e<strong>in</strong>en vielleichtkommen<strong>de</strong>n Investor, <strong>de</strong>r gegen entsprechen<strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>n als Retter wie<strong>de</strong>r herstellt, wase<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer Investor als Täter zuvor vernichtet hat. Neuerliche Entlassungen und Kostensenkungens<strong>in</strong>d dieser "Lösung" schon e<strong>in</strong>gebaut!Der Exkurs zum Thema Gully<strong>de</strong>ckel und Kredit wur<strong>de</strong> durch M.s Text über Konzentration undZentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s angeregt; dabei haben wir (ohne das im E<strong>in</strong>zelnen auszuweisen) aufM.s Erkenntnisse vorausgegriffen, die im 2. und 3. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" präsentiert wer<strong>de</strong>n. Aber341"Die ökonomische Charaktermaske <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten hängt nur dadurch an e<strong>in</strong>em Menschen fest, daß se<strong>in</strong> Geld fortwährend als <strong>Kapital</strong>funktioniert. Hat z.B. die vorgeschoßne Geldsumme von 100 Pfd. St. sich dieses Jahr <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>lt und e<strong>in</strong>en Mehrwert von 20Pfd. St. produziert, so muß sie das nächste Jahr usf. dieselbe Operation wie<strong>de</strong>rholen. Als periodisches Inkrement <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>werts, o<strong>de</strong>rperiodische Frucht <strong>de</strong>s prozessieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s, erhält <strong>de</strong>r Mehrwert die Form e<strong>in</strong>er aus <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> entspr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>n Revenue (= E<strong>in</strong>künfte;E<strong>in</strong>nahmen)." (MEW 23, S.591f)342Der ehemalige Bun<strong>de</strong>skanzler Helmut Schmidt machte aus diesem Dogma die Wahlkampflosung für die SPD 1976: "Die Gew<strong>in</strong>ne vongestern s<strong>in</strong>d die Investitionen von heute und die Arbeitsplätze von morgen!" Damit sollte die <strong>pol</strong>itische Bevorzugung <strong>de</strong>r großen Unternehmenals vernünftig bemäntelt wer<strong>de</strong>n. Doch die erstmals <strong>in</strong> dieser Zeit wie<strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Arbeitslosenzahlen sprachen dagegen, weildie tatsächlichen Gew<strong>in</strong>ne und die tatsächlichen Investitionen <strong>de</strong>r Unternehmen nur die überflüssigen Mitarbeiter von morgen zum Zielhatten. Warum sonst <strong>in</strong>vestieren? Im Wechsel von Freisetzung und B<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Arbeitskräfte vollzieht sich die Akkumulation - bei klarerBetonung <strong>de</strong>r Freisetzung.343<strong>Das</strong> wird uns noch beschäftigen: E<strong>in</strong> rentables Unternehmen, das Gew<strong>in</strong>n abwirft, kann durchaus unprofitabel für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten se<strong>in</strong>.Kurz gesagt: Warum sollte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Unternehmen <strong>in</strong>vestieren, das ihm 4% Rendite e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt, wenn er durch <strong>de</strong>n Kauf von F<strong>in</strong>anzprodukten6% garantiert bekommt? Also lautet die For<strong>de</strong>rung an das 4%-Unternehmen: Pleite gehen o<strong>de</strong>r die Kosten gefälligst so weit senken,bis m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens 7% herauskommen! In diesem S<strong>in</strong>ne waren fast alle <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Jahren <strong>in</strong> Deutschland geschlossenen Unternehmen undStandorte durchaus rentabel, aber eben nicht profitabel.164


man kann Be<strong>de</strong>utung, Umfang und Tempo <strong>de</strong>r Akkumulation <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten 150 Jahren nur begreifen,wenn man die Rolle <strong>de</strong>s Kredits begreift. Der Exkurs zeigt uns, wie das Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulationauf direktem Weg zum mo<strong>de</strong>rnen F<strong>in</strong>anzmarkt, besser: zum F<strong>in</strong>anzkapital mit se<strong>in</strong>enBankern und Börsen und Funds und <strong>de</strong>n dr<strong>in</strong> und drumherum sich tummeln<strong>de</strong>n Investorenführt.Dieser F<strong>in</strong>anzmarkt existiert sche<strong>in</strong>bar neben <strong>de</strong>r "Realwirtschaft". So nennen die F<strong>in</strong>anzakteurewohlwollend-herablassend die Produktionsbetriebe, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Gesamtarbeiter <strong>de</strong>n gesellschaftlichenReichtum tatsächlich hervorbr<strong>in</strong>gt. Diesem Gesamtarbeiter gehören we<strong>de</strong>r Bankernoch Investoren an. Und längst auch nicht mehr die Manager an <strong>de</strong>r Spitze, die nicht nur durchAktienbesitz, hohes E<strong>in</strong>kommen und Bonuszahlungen an die Interessen <strong>de</strong>r Eigentümer gebun<strong>de</strong>ns<strong>in</strong>d, son<strong>de</strong>rn im hohen Maße auch dieser Klasse entstammen.Der von uns skizzierte Prozess betont die strukturellen Zusammenhänge. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> historische Analysezur Herausbildung <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzkapitals und <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzmarktes müßte gewiß viel mehr Details undFormvariationen und formen<strong>de</strong> <strong>pol</strong>itische E<strong>in</strong>flüsse berücksichtigen. Alle<strong>in</strong> die Unterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong><strong>de</strong>r Herausbildung <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzkapitals zwischen USA und Deutschland gibt Stoff für dicke Bücher.Dafür ist hier nicht <strong>de</strong>r Ort. Aber so variantenreich <strong>de</strong>r Prozess aus <strong>de</strong>r Nähe betrachtetauch immer war: Er entsprang <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation überall, wo diese stattgefun<strong>de</strong>nhat. Der Prozess hatte schon zu M.s Zeit erheblich Fahrt aufgenommen. Und das Ergebnisist heute weltweit bei allen Unterschie<strong>de</strong>n doch auch von erstaunlicher Uniformität.Kapitel 11: Zwei Pole <strong>de</strong>r AkkumulationUnser alltägliches Sozialproblem, die Arbeitslosigkeit, ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> neuem Licht. Ause<strong>in</strong>em <strong>in</strong>dividuellen Schicksalsschlag wird e<strong>in</strong> notwendiges Element <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise. So können wir erste Antworten auf unsere Leitfragen f<strong>in</strong><strong>de</strong>n.M. geht noch weiter: Er zeigt uns, mit welchem Zerstörungspotential die kapitalistischeAkkumulation auf die Gesellschaft e<strong>in</strong>wirkt. Er komprimiert diesen Zusammenhangzum absoluten, allgeme<strong>in</strong>en Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation. Es ist dasanregendste gesellschaftswissenschaftliche Gesetz, das bisher formuliert wur<strong>de</strong>, undgibt uns e<strong>in</strong>e Menge Stoff fürs eigene Hirn.ArbeitslosigkeitIm vorigen Kapitel haben wir uns mit <strong>de</strong>r Akkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s befaßt. Wir haben ihreAuswirkungen auf die Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s kennengelernt. Wir haben gesehen, wiedie Konkurrenz die Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s als Verwertungszwang etabliert, <strong>de</strong>r sich durchwechseln<strong>de</strong> Akkumulationsregimes verwirklicht. M. zeigt uns, wie durch Konzentration undZentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s die Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>eigentümer nicht nur reicher wird, son<strong>de</strong>rn sichgleichzeitig auch sozial differenziert. Aber wie sieht es auf <strong>de</strong>r Gegenseite aus? Wie wirkt dieAkkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s auf die Arbeiterklasse?Ausgangspunkt für M.s Analyse s<strong>in</strong>d die mit <strong>de</strong>r Akkumulation verbun<strong>de</strong>nen zyklischen Verän<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>s Arbeitsmarkts. Wir haben das bereits kennengelernt, als wir uns mit <strong>de</strong>m absolutenund relativen Mehrwert befaßten. Damit war e<strong>in</strong> abwechseln<strong>de</strong>s Aufsaugen und Freisetzenvon Arbeitskräften verbun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m e<strong>in</strong> beständiger Sockel an Arbeitslosigkeit zu Grun<strong>de</strong> lag.Warum ist das so? Mit dieser Frage greifen wir M.s Analyse wie<strong>de</strong>r auf.165


Woher kommt die Arbeitslosigkeit? Ist sie e<strong>in</strong> auf die Krisenphasen beschränktes soziales Problem?Geht <strong>de</strong>r Gesellschaft die Arbeit aus? Ist e<strong>in</strong>fach nicht mehr genug zu tun? Ist die Arbeitslosigkeitnur e<strong>in</strong> Ausdruck vorübergehen<strong>de</strong>r struktureller Disproportionen? Ist sie die bedauerliche,aber unvermeidliche Folge <strong>de</strong>s globalen Wettbewerbs? O<strong>de</strong>r ist sie e<strong>in</strong>fach <strong>de</strong>r Preis, <strong>de</strong>nwir h<strong>in</strong> und wie<strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n sozialen Wan<strong>de</strong>l zu zahlen haben? Dergleichen steht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Schulbüchernund f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>in</strong> wechseln<strong>de</strong>r Formulierung als Erklärung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Medien, wenn die üblichenBerichte vom Arbeitsmarkt mal wie<strong>de</strong>r fällig s<strong>in</strong>d. Zu M.s Zeit waren an<strong>de</strong>re Erklärungen<strong>de</strong>r Arbeitslosigskeit beliebt, etwa die ungehemmte Vermehrungssucht <strong>de</strong>r Arbeiter bei steigen<strong>de</strong>nLöhnen o<strong>de</strong>r das allgeme<strong>in</strong>e Bevölkerungswachstum o<strong>de</strong>r die Unzufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r ländlichenBewohner mit <strong>de</strong>n dörflichen Verhältnissen, die sie zur Wan<strong>de</strong>rung <strong>in</strong> die Städte veranlaßte.Nichts davon ist völlig falsch. Denn irgendwie ist an all diesen Erklärungen irgendwas dran.Nur gibt uns die Oberfläche ke<strong>in</strong>en Aufschluß auf die tiefer liegen<strong>de</strong>n Ursachen. Und so wird allesverdreht, wie man es gera<strong>de</strong> braucht.M. geht völlig an<strong>de</strong>rs an die Frage heran. Für ihn ist Arbeitslosigkeit e<strong>in</strong>e mit <strong>de</strong>r Produktionsweisedirekt verbun<strong>de</strong>ne Ersche<strong>in</strong>ung. Natürlich weiß er, dass es zu allen Zeiten Tagelöhner gegebenhat und also auch Menschen, die tageweise und länger ohne Erwerbsquelle waren. Aberwas zeichnet die Arbeitslosigkeit <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise aus? Wie kannes se<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e immer weiter expandieren<strong>de</strong>, immer mehr produzieren<strong>de</strong>, ganz auf Wachstumausgerichtete Produktionsweise von Arbeitslosigkeit offenbar begleitet wird?M.s Perspektive ist nicht die <strong>de</strong>s Arbeitsmarktforschers, <strong>de</strong>r die Arbeitslosen zählt, Schaubil<strong>de</strong>rmalt, <strong>in</strong>dividuelle Merkmale <strong>de</strong>r Arbeitslosen aufdröselt und aus <strong>de</strong>m Umstand, dass sich ger<strong>in</strong>gerqualifizierte Arbeitskräfte unter <strong>de</strong>n Arbeitslosen häufiger f<strong>in</strong><strong>de</strong>n als qualifizierte, sofort ableitet:Alles nur e<strong>in</strong> Problem <strong>de</strong>r Qualifikation! Denn nach je<strong>de</strong>r Qualifizierungsoffensive gibt esimmer wie<strong>de</strong>r aufs Neue ger<strong>in</strong>ger qualifizierte Arbeitslose. Und wenn es das nicht ist, ist esplötzlich die "fehlen<strong>de</strong> Flexibilität" o<strong>de</strong>r das "Anspruchs<strong>de</strong>nken" o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fach das enorm hoheLebensalter von 50 Jahren... Immer neue verme<strong>in</strong>tliche Ursachen <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit wer<strong>de</strong>n unsauf diese Weise <strong>in</strong> wissenschaftlichen Schaubil<strong>de</strong>rn präsentiert und über die Medien verbreitet.344Für M. ist das, was wir heute Arbeitslosigkeit nennen, e<strong>in</strong> notwendiges und dauerhaftes Resultat<strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation; sie erzeugt "im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang,beständig e<strong>in</strong>e relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s überschüssige,daher überflüssige o<strong>de</strong>r Zuschuß-Arbeiterbevölkerung." 345 Arbeitslosigkeit entsteht344Die Selektionsprozesse, die dazu führen, dass ältere, ger<strong>in</strong>ger qualifizierte, gesundheitlich e<strong>in</strong>geschränkte und an<strong>de</strong>re Arbeitskräftehäufiger unter <strong>de</strong>n Arbeitslosen zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, wer<strong>de</strong>n bereitwillig mit <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit verwechselt. Dadurch kann mandie Sache so aussehen lassen, als wer<strong>de</strong> die Arbeitslosigkeit durch persönliche Merkmale begrün<strong>de</strong>t und sei damit letzlich auch e<strong>in</strong> persönlichesProblem.Damit bleibt man allerd<strong>in</strong>g die eigentliche Antwort schuldig: Warum gibt es überhaupt regelmäßig mehr Entlassungen als E<strong>in</strong>stellungen?Warum wird die Massenarbeitslosigkeit zum Dauerzustand? Wieso kann die Arbeit nicht besser auf alle verteilt wer<strong>de</strong>n? Damit niemand <strong>in</strong>Versuchung gerät, diesen Fragen nachzuspüren, gibt es die weith<strong>in</strong> verbreitete Überzeugung, dass es ohne e<strong>in</strong>en festen Sockel an Arbeitslosigkeitüberhaupt nicht geht. Warum sonst sollten Volkswirtschaftler <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Vollbeschäftigung als Arbeitslosigkeit von unter6% <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ieren?<strong>Das</strong> er<strong>in</strong>nert doch irgendwie an die Art von Grundsätzen, die das M<strong>in</strong>isterium für Wahrheit <strong>in</strong> Orwell's Roman "1984" so lei<strong>de</strong>nschaftlichpropagiert: "Massenarbeitslosigkeit ist Vollbeschäftigung".345"Mit <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s Gesamtkapitals wächst zwar auch se<strong>in</strong> variabler Bestandteil, o<strong>de</strong>r die ihm e<strong>in</strong>verleibte Arbeitskraft, aber <strong>in</strong>beständig abnehmen<strong>de</strong>r Proportion. Die Zwischenpausen, wor<strong>in</strong> die Akkumulation als bloße Erweiterung <strong>de</strong>r Produktion auf gegebnertechnischer Grundlage wirkt, verkürzen sich. Nicht nur wird e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> wachsen<strong>de</strong>r Progression beschleunigte Akkumulation <strong>de</strong>s Gesamtkapitalserheischt, um e<strong>in</strong>e zusätzliche Arbeiterzahl von gegebner Größe zu absorbieren o<strong>de</strong>r selbst, wegen <strong>de</strong>r beständigen Metamorphose<strong>de</strong>s alten <strong>Kapital</strong>s, die bereits funktionieren<strong>de</strong> zu beschäftigen. Ihrerseits schlägt diese wachsen<strong>de</strong> Akkumulation und Zentralisation selbstwie<strong>de</strong>r um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Quelle neuer Wechsel <strong>de</strong>r Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s o<strong>de</strong>r abermalig beschleunigter Abnahme se<strong>in</strong>es variablen166


nicht, weil es zu viel Bevölkerung gibt, wie man zu M.s Zeiten allenthalben behauptete. Sie entstehtgenauso bei s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong>r Bevölkerungszahl. Was M. die "mittleren Verwertungsbedürfnisse"nennt, ist <strong>de</strong>r gedachte Durchschnitt: Da im Wechsel <strong>de</strong>r Akkumulationsregimes, <strong>de</strong>r Krisen undAufschwünge mal e<strong>in</strong>e Zufuhr an Arbeitskräften erfor<strong>de</strong>rlich ist, mal Arbeitskräfte freigesetztwer<strong>de</strong>n, wird e<strong>in</strong> Reservoir an Arbeitskräften benötigt, das mal Arbeitskräfte liefert, mal Arbeitskräfteaufnimmt, und so die wechseln<strong>de</strong>n Verwertungsbedürfnisse befriedigt. Dieses Reservoirbezeichnet M. als <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee.Gefällt uns <strong>de</strong>r Begriff? 346 Er kl<strong>in</strong>gt ähnlich martialisch wie das Wort "Bürgerkrieg", mit <strong>de</strong>m M.<strong>de</strong>n fortdauern<strong>de</strong>n Klassenkampf um <strong>de</strong>n Normalarbeitstag bezeichnete. Es steht je<strong>de</strong>m frei,statt<strong>de</strong>ssen von Arbeitslosen o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Arbeiterklasse im Wartestand o<strong>de</strong>r auch von Klienten<strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sagentur für Arbeit zu re<strong>de</strong>n. Wir wer<strong>de</strong>n im Folgen<strong>de</strong>n bei M.s Bezeichnung bleiben.Erstens geht es <strong>in</strong> unserem Text <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um ihn; wir wer<strong>de</strong>n ihn bisweilen kritisieren un<strong>de</strong>rgänzen, aber gewiß nicht schulmeistern. Zweitens nehmen wir se<strong>in</strong>e Begriffe, die uns dressiertenTarifvertragsverhandlungspartnern schrill <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Ohren kl<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong>fach als Mahnung. Sie er<strong>in</strong>nernuns daran, dass die Opfer <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise nach Millionen zählen.Tag für Tag kommen weltweit neue h<strong>in</strong>zu, vor allem dort, wo <strong>de</strong>r Klassenkampf noch nicht o<strong>de</strong>rnicht mehr ausreicht, um <strong>de</strong>n Verwertungszwang <strong>in</strong> "bequeme und liberale" Formen zu br<strong>in</strong>gen,wie M. das an an<strong>de</strong>rer Stelle glossierte.Die "<strong>in</strong>dustrielle Reservearmee" umfaßt nicht etwa die restliche Bevölkerung außerhalb <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktion. Sie wird durch die Arbeiterbevölkerung gebil<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>ren Arbeitskraft vorübergehendfür die Unternehmen nicht mehr produktiv verwertbar ist. Gleichzeitig ist die ReservearmeeSammelstelle für die <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>r Bevölkerung, die durch die fortschreiten<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>isierung<strong>de</strong>r Gesellschaft aus ihren alten B<strong>in</strong>dungen gelöst und zu Arbeit suchen<strong>de</strong>n Lohnabhängi-Bestandteils, verglichen mit <strong>de</strong>m konstanten. Diese mit <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s Gesamtkapitals beschleunigte und rascher als se<strong>in</strong> eignesWachstum beschleunigte relative Abnahme se<strong>in</strong>es variablen Bestandteils sche<strong>in</strong>t auf <strong>de</strong>r andren Seite umgekehrt stets rascheres absolutesWachstum <strong>de</strong>r Arbeiterbevölkerung als das <strong>de</strong>s variablen <strong>Kapital</strong>s o<strong>de</strong>r ihrer Beschäftigungsmittel. Die kapitalistische Akkumulation produziertvielmehr, und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig e<strong>in</strong>e relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s überschüssige, daher überflüssige o<strong>de</strong>r Zuschuß-Arbeiterbevölkerung." (MEW 23, S.658)346Bei Marxologen, <strong>in</strong> Schulbüchern und mies recherchierten Internet-Beiträgen f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man oft die Behauptung, M. habe e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>heitlichung<strong>de</strong>r Arbeiterklasse, so etwas wie e<strong>in</strong>e Entwicklung zur strukturlosen Proletariermasse prognostiziert. <strong>Das</strong> ist falsch. Da wird <strong>de</strong>r Begriff"Proletarisierung", <strong>de</strong>n M. selber nicht e<strong>in</strong>mal verwen<strong>de</strong>t, auf eigene Weise ge<strong>de</strong>utet. Vermutlich hat auch <strong>de</strong>r Begriff "Reservearmee"solche Fehl<strong>de</strong>utungen geför<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>r ja e<strong>in</strong>e uniforme Armee <strong>de</strong>r Arbeitskräfte nahelegt. Aber wenn M. von <strong>de</strong>r "Vermehrung <strong>de</strong>sProletariats" spricht, me<strong>in</strong>t er das, was er sagt: Ausweitung <strong>de</strong>r Lohnabhängigkeit. Mit <strong>de</strong>r Akkumulation erobert das <strong>Kapital</strong>verhältnispraktisch alle Bereiche <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft. Die Zahl <strong>de</strong>r Menschen, die ihren Lebensunterhalt nur durch Verkauf ihrer Arbeitskraftsichern können, wächst parallel, ob das Arbeiter bei Daimler, Buchhalter <strong>de</strong>r Sparkassen, freie Mitarbeiter beim WDR o<strong>de</strong>r Verkäuferbeim Media-Markt s<strong>in</strong>d. Und tatsächlich ist es diese Lohnabhängigkeit, die ihre Lebenslage bestimmt und ihre Unterordnung unter dasOberkommando <strong>de</strong>r Verwertung zur Folge hat. <strong>Das</strong> ist allen Angehörigen <strong>de</strong>r "Armee" wie auch <strong>de</strong>r "Reserve" geme<strong>in</strong>sam, sozusagenihre Uniform. Aber damit haben wir die Metapher mehr als strapaziert.Denn <strong>de</strong>r Akkumulationsprozess br<strong>in</strong>gt eben nicht soziale Gleichförmigkeit hervor; wenn <strong>de</strong>m so wäre, wäre je<strong>de</strong> Art von Gegenwehr viele<strong>in</strong>facher. Im Gleichschritt stapmfen<strong>de</strong> Arbeitermassen? Uniformiert mit Drillichanzug und Schiebermütze? Und die Funktionäre erkenntman an ihren Le<strong>de</strong>rmänteln und <strong>de</strong>r schwarzen Aktentasche... <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Schreckensbil<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n Geschichtstun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Fernsehenso<strong>de</strong>r prolet-kultige Verirrungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung, die mit M. nur am Ran<strong>de</strong> zu tun haben. Der hebt als bestimmen<strong>de</strong>s Merkmaldie soziale Differenzierung <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters hervor, was ja nur e<strong>in</strong>e <strong>pol</strong>it-ökonomische Bezeichnung für die Arbeiterklasse ist.Mehr als die Hälfte <strong>de</strong>s 23. Kapitels im ersten Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" widmet sich <strong>de</strong>r Frage, wie <strong>de</strong>m Akkumulationsprozess die soziale Differenzierung<strong>de</strong>s Gesamtarbeiters entspr<strong>in</strong>gt. Von <strong>de</strong>n Untersuchungen im 13. Kapitel sowie <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Kapiteln 17 bis 20 ganz abgesehen.Bei <strong>de</strong>n vielen Unterstellungen <strong>de</strong>r Marx-Versteher weiß man nie mit Sicherheit, ob sie auf Unkenntnis o<strong>de</strong>r auf f<strong>in</strong>stere Motive zurückgehen.Doch was solls? Wir gehen an dieser Stelle auf e<strong>in</strong>e dieser Verhohnepipelungen von M.s Theorie auch nur <strong>de</strong>shalb e<strong>in</strong>, um zu erklären,wie wenig uns das ansonsten juckt. Wir s<strong>in</strong>d das gewöhnt. Der lesenswerte (nicht-marxistische) Ökonom Galbraith sagte e<strong>in</strong>mal überdas "<strong>Kapital</strong>", es gehöre zusammen mit <strong>de</strong>r Bibel und <strong>de</strong>m "Wohlstand <strong>de</strong>r Nationen" von Adam Smith zu <strong>de</strong>n drei Büchern, auf die mansich sche<strong>in</strong>bar nach Belieben berufen dürfe, ohne sie gelesen zu haben. So ist es.167


gen wer<strong>de</strong>n. Die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee ist die zum Zeitpunkt unverkäufliche Ware auf <strong>de</strong>mArbeitsmarkt, die Gesamtheit <strong>de</strong>r verfügbaren Arbeitskräfte im Wartestand. 347M.s Feststellungen von 1867 beanspruchen allgeme<strong>in</strong>e Gültigkeit. Sie unterstellen für die kapitalistischeProduktionsweise e<strong>in</strong>e ständig existieren<strong>de</strong> "<strong>in</strong>dustrielle Reservearmee" als Reservoir <strong>de</strong>rAkkumulation. Dem ist empirisch ohne weiteres zuzustimmen. Ob wir nun M.s Begriff folgeno<strong>de</strong>r von Massenarbeitslosigkeit, vorübergehend beschäftigungslosen Menschen, Kun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rBun<strong>de</strong>sagentur für Arbeit usw. re<strong>de</strong>n: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> große Zahl von Menschen, die vergeblich ihre Arbeitskraftzum Kauf anbieten, ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus die Regel, nicht die Ausnahme.Unabhängig davon sollten wir uns M.s Begründung näher ansehen und auf Festigkeitprüfen.Industrielle ReservearmeeIm Mehrwert-Kapitel s<strong>in</strong>d wir bereits <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Reservearmee begegnet. Alle Versuche,<strong>de</strong>n relativen Mehrwert zu vermehren, führen zu e<strong>in</strong>em ständigen Wechsel <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Beschäftigung:Neue Bereiche wer<strong>de</strong>n erschlossen und b<strong>in</strong><strong>de</strong>n neue Arbeitskraft. Durch Steigerung <strong>de</strong>rArbeitsproduktivität wird gleichzeitig e<strong>in</strong>e ständige Freisetzung von Arbeitskraft betrieben. Jetztbetrachten wir diesen durch die Konkurrenz <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e erzwungenen Kampf um hohe Arbeitsproduktivitätund niedrige Kosten vom Standpunkt <strong>de</strong>s Akkumulationsprozesses. Die wachsen<strong>de</strong>organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist <strong>de</strong>r Bezugspunkt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich ja auch diewachsen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s relativen Mehrwehrts o<strong>de</strong>r, was dasselbe ist, die <strong>in</strong>sgesamt dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong>Rolle <strong>de</strong>s <strong>in</strong>tensiven Akkumulationsregimes zeigt. 348Die Nachfrage nach Arbeit wird durch <strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>s variablen <strong>Kapital</strong>s repräsentiert. 349Wächst <strong>de</strong>r Umfang <strong>de</strong>s Gesamtkapitals schneller als die organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s,nimmt auch die Nachfrage nach Arbeit absolut zu. Deshalb gibt es <strong>in</strong> bestimmten Phasen<strong>de</strong>r Entwicklung, die durch stürmische Expansion und extensives Akkumulationsregime gekennzeichnets<strong>in</strong>d, immer wie<strong>de</strong>r mal Mangel an Arbeitskräften und e<strong>in</strong>e spürbare Verbesserung <strong>de</strong>r347Ganz so <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ieren auch unsere Sozialgesetze <strong>de</strong>n Arbeitslosen. Se<strong>in</strong> wichtigstes Merkmal ist se<strong>in</strong>e wirkliche und sofortige Verfügbarkeitfür <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt: Wo er nachgefragt wird, muß er auch greifbar se<strong>in</strong>, wie e<strong>in</strong>e x-beliebige Ware im Regal <strong>de</strong>s Supermarkts.348Noch mal <strong>de</strong>r H<strong>in</strong>weis für alle, die über die ersten Kapitel unserer Reise schnell h<strong>in</strong>weggegangen s<strong>in</strong>d: M. sp<strong>in</strong>tisiert hier nichts aus irgendwelchenFormeln und Schematas heraus, son<strong>de</strong>rn sieht sich <strong>in</strong> Auswertung umfangreichen statistischen Materials die Entwicklung <strong>de</strong>rLohnarbeitsverhältnisse vor se<strong>in</strong>er Haustür an und kommt dabei zu <strong>de</strong>n von uns komprimierten Schlußfolgerungen. M.s Feststellungen s<strong>in</strong>dzunächst Erklärungen für das, was sich vor se<strong>in</strong>en Augen tatsächlich abspielt. Als e<strong>in</strong>e notwendige Begleitersche<strong>in</strong>ung <strong>de</strong>r kapitalistischenAkkumulation bezeichnet M. die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee erst, nach<strong>de</strong>m er die Akkumulation als wirklichen historischen Prozess analysierthat und se<strong>in</strong> Verlauf mit se<strong>in</strong>en Annahmen zu Mehrwert und Akkumulation übere<strong>in</strong>stimmt. <strong>Das</strong> ist hier wie überall im "<strong>Kapital</strong>" e<strong>in</strong>eAnalyse aus <strong>de</strong>m historischen Stoff heraus. Der dient nicht bloß zur Illustration, son<strong>de</strong>rn ist Ausgangspunkt wie Zielpunkt <strong>in</strong> M.s <strong>pol</strong>itischerÖkonomie. Ob die Annahme e<strong>in</strong>er für die kapitalistische Akkumulation unvermeidlichen Reservearmee stimmt, wer<strong>de</strong>n wir für se<strong>in</strong>e sehrviel umfassen<strong>de</strong>ren Schlußfolgerungen etwas später diskutieren.349Wir vernachlässigen hier die Verän<strong>de</strong>rungen im Lohn. M. diskutiert das ausführlicher. Es ist aber klar, dass die Verän<strong>de</strong>rungen im variablen<strong>Kapital</strong> nicht unbed<strong>in</strong>gt die wirklichen Verän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Menge <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>gesetzten lebendigen Arbeit wie<strong>de</strong>rgeben. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> direkteRepräsentation <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>gesetzten Arbeitsmenge haben wir nur für <strong>de</strong>n Fall gleichbleiben<strong>de</strong>r Löhne. Und das ist e<strong>in</strong>e Situation, die ebensoselten ist wie die Übere<strong>in</strong>stimmung von Preis und Wert.In Phasen ansteigen<strong>de</strong>r Löhne kann das variable <strong>Kapital</strong> zu Lasten <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s entgegen <strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nz kurzfristig sogar zunehmen.Spätestens dann aber wer<strong>de</strong>n gegenwirken<strong>de</strong> Maßnahmen e<strong>in</strong>geleitet, um <strong>de</strong>n Druck <strong>de</strong>r Lohnkosten auf <strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>n zu m<strong>in</strong><strong>de</strong>rn.Wenn das nicht funktioniert, weil alle Reserven zur Lohnsenkung durch Technisierung ausgeschöpft s<strong>in</strong>d? Dann wer<strong>de</strong>n solche Gewerbezweigeentwe<strong>de</strong>r als Segmente <strong>de</strong>r Luxusproduktion überleben o<strong>de</strong>r ganz verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n.Letzteres führt dann zu <strong>de</strong>n alltäglichen Klagen, dass Waren bestimmter Qualität überhaupt nicht mehr zu bekommen s<strong>in</strong>d. So verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>netwa Lebensmittel, die hohen Arbeitsaufwand erfor<strong>de</strong>rn, gegenüber <strong>in</strong>dustriell gefertigtem Ersatz vom Markt. Individuell vom Schnei<strong>de</strong>rgefertigte Kleidung ist (außerhalb <strong>de</strong>s Luxussegments) vollständig durch konfektionierte Massenware verdrängt wor<strong>de</strong>n. Handwerklichgefertigte Brotwaren s<strong>in</strong>d seit Jahren auf <strong>de</strong>m Rückzug und wer<strong>de</strong>n durch Fabrikbackwaren und Schnellbäckereien auf Basis zugelieferterBackl<strong>in</strong>ge verdrängt, die als <strong>in</strong>dustrielle Massenware kostengünstiger s<strong>in</strong>d.168


Löhne und Lebensbed<strong>in</strong>gungen, vor allem, wenn wir diese Phasen nicht nur auf das Gesamtkapital,son<strong>de</strong>rn auch auf se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelnen Sektoren beziehen, die sich ungleichmäßig entwickeln.350 Wir haben das im Abschnitt zur extensiven Akkumulation bereits behan<strong>de</strong>lt.Unabhängig von solchen wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Phasen <strong>de</strong>r Aus<strong>de</strong>hnung, die häufig auch geographischeAus<strong>de</strong>hnung von Produktionssphären und Märkten ist, nimmt das Wachstum <strong>de</strong>s variablen<strong>Kapital</strong>s, also die Nachfrage nach Arbeit, im Verhältnis zum Wachstum <strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>statsächlich ab. Diese historisch dom<strong>in</strong>ieren<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n organischen Zusammensetzung<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s führt uns mit M. zu e<strong>in</strong>er wichtigen Schlußfolgerung: Um e<strong>in</strong>e nur gleichbleiben<strong>de</strong>Nachfrage nach Arbeit aufrecht zu erhalten, bedarf es e<strong>in</strong>es stetig größeren Wachstumsim Gesamtkapital. Der Prozess <strong>de</strong>r Akkumulation verläuft aber nicht stetig, we<strong>de</strong>r für dasGesamtkapital noch für se<strong>in</strong>e Sektoren o<strong>de</strong>r die vielen <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e.Extensive und <strong>in</strong>tensive Akkumulation existieren fast immer <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. 352 Sie lösen e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rnur <strong>in</strong>sofern ab, als es um die Frage geht, welche Variante als Regime dom<strong>in</strong>iert. <strong>Das</strong> ist von vielenFaktoren abhängig. Bei<strong>de</strong> Akkumulationsregimes laufen <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Branchen und Sektorenvielleicht sogar nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r her. Dabei spielen strukturelle Krisen 353 vor allem durch ihreWirkung auf die Zentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>e wichtige vorantreiben<strong>de</strong> Rolle.350Wer sich mit <strong>de</strong>n neuen Technologien rund ums Internet auskannte, konnte <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1990er Jahren e<strong>in</strong> überdurchschnittliches Gehaltbekommen. Seit<strong>de</strong>m hat man e<strong>in</strong>e große Zahl solcher Fachleute produziert, die heute zu Dutzen<strong>de</strong>n <strong>in</strong> Großraumbüros mit unsicheren Arbeitsverträgenfür gar nicht mehr so tolle Gehälter ihren Job machen. Von Näher<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrik unterschei<strong>de</strong>n sie sich nur <strong>in</strong> dreiD<strong>in</strong>gen: Vor ihnen steht e<strong>in</strong> PC und ke<strong>in</strong>e Nähmasch<strong>in</strong>e. Ihr E<strong>in</strong>kommen ist immer noch <strong>de</strong>utlich höher. Und sie träumen von e<strong>in</strong>er großenKarriere, von <strong>de</strong>r sie hoffen, sie hänge nur von ihrem Fleiß und ihrer E<strong>in</strong>satzbereitschaft ab. Alles <strong>in</strong> allem aber ist die Annäherung diesersogenannten Zukunftsberufe an traditionelle Lohnarbeiten <strong>in</strong> nur wenigen Jahren frappierend.351Die Autoren von Sozial<strong>pol</strong>itik und soziale Lage <strong>in</strong> Deutschland kommentieren ihre grafische Darstellung <strong>de</strong>r Arbeitslosenzahlen für dieletzten 30 Jahre so:"Die sozialökonomische Entwicklung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland ist seit mehr als drei Jahrzehnten durch anhalten<strong>de</strong> Massenarbeitslosigkeitgekennzeichnet. Noch bis zur ersten Hälfte <strong>de</strong>r 1950er Jahre belief sich die absolute Zahl <strong>de</strong>r Arbeitslosen auf über e<strong>in</strong>e Mio.Personen. Die günstige Arbeitsmarktlage, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r weitgehend Vollbeschäftigung geherrscht hat, dauerte bis etwa zur Mitte <strong>de</strong>r 1970er Jahrean. Sie wur<strong>de</strong> abgelöst durch e<strong>in</strong> hohes und steigen<strong>de</strong>s Maß an Unterbeschäftigung - e<strong>in</strong>e Entwicklung, die noch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1960er und1970er Jahren unter <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>druck hoher Wachstumsraten und knapper Arbeitskräfte für unmöglich gehalten wur<strong>de</strong>. Mit <strong>de</strong>m Wirtschaftse<strong>in</strong>bruch<strong>in</strong> Folge <strong>de</strong>r ersten Ölpreiskrise 1974/75 wur<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Arbeitslosenzahl erstmals wie<strong>de</strong>r die Millionengrenze überschritten. DieArbeitslosigkeit konnte seit dieser Zeit zwar <strong>in</strong> konjunkturellen Aufschwungphasen abgebaut wer<strong>de</strong>n, doch <strong>de</strong>r verbleiben<strong>de</strong> Sockel stiegvon Krise zur Krise an, so dass <strong>in</strong> Deutschland seit rund dreißig Jahren e<strong>in</strong>e hohe und überzyklisch steigen<strong>de</strong> Arbeitslosigkeit besteht."Bäcker/Naegele/Bisp<strong>in</strong>ck/Hofemann/Neubauer: Sozial<strong>pol</strong>itik und soziale Lage <strong>in</strong> Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, E<strong>in</strong>kommen undF<strong>in</strong>anzierung, S.481f; Opla<strong>de</strong>n: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008352<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Hem<strong>de</strong>nfabrik läßt 300 Nähmasch<strong>in</strong>en zweischichtig rattern. Beliefert wer<strong>de</strong>n diese Arbeitsplätze durch 100 Zuschnei<strong>de</strong>plätze. ImH<strong>in</strong>tergrund wirken 40 Arbeiter, die Transport und Logistik, Buchhaltung und allgeme<strong>in</strong>e Verwaltung sicherstellen. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d 840 Arbeitskräfte.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Erweiterung um weitere 300 Nähmasch<strong>in</strong>en erfor<strong>de</strong>rt weitere 100 Zuschnei<strong>de</strong>plätze. <strong>Das</strong> wäre klassische extensive Akkumulation,mit <strong>de</strong>r die Reserverarmee um 800 Arbeitskräfte entlastet wird. Aber weil die 40 Arbeiter im H<strong>in</strong>tergrund jetzt die Versorgung von1600 statt vormals 800 Arbeitsplätzen garantieren, steckt natürlich e<strong>in</strong> Element <strong>de</strong>r Intensivierung dar<strong>in</strong>. Wenn aber im Zuge <strong>de</strong>r Erweiterung<strong>de</strong>r Zuschnitt auf computergesteuerte Technik umgestellt wird, wodurch die Versorgung von 600 zweischichtig genutzten Nähmasch<strong>in</strong>endurch <strong>in</strong>sgesamt 50 Zuschnei<strong>de</strong>r, 25 <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r Schicht, gesichert wird, gew<strong>in</strong>nt die <strong>in</strong>tensive Akkumulation noch mehr an Gewicht.Und die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee wird <strong>in</strong>sgesamt nur um 450 Arbeitskräfte entlastet. Nehmen wir an, dass diese Restrukturierung ausnahmsweisedarauf verzichtet, mit H<strong>in</strong>weis auf die Investitionen und die Sicherung <strong>de</strong>r Arbeitsplätze pipapo gleichzeitig auch die Akkordsätzean <strong>de</strong>n Nähmasch<strong>in</strong>en zu erhöhen. Dennoch s<strong>in</strong>d die Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Gesamtarbeiter ke<strong>in</strong>eswegs so günstig, wie es sche<strong>in</strong>t.Wenn nicht die Nachfrage nach Hem<strong>de</strong>n ebenfalls auf das doppelte steigt, wer<strong>de</strong>n die neu geschaffenen Arbeitsplätzen <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Hem<strong>de</strong>nfabrikenverloren gehen und <strong>de</strong>r Reservearmee zugeführt. Durch das <strong>in</strong>tensive Element <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r extensiven Akkumulation wirdsich die Reservearmee sogar um 150 Arbeitskräfte vermehren, nämlich um die durch die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität nicht mehrbenötigten Arbeitskräfte. Vielleicht ist die Wirkung noch größer, wenn es gel<strong>in</strong>gt, auch an <strong>de</strong>n Nähmasch<strong>in</strong>en durch sanften Druck <strong>de</strong>nAusstoß an Hem<strong>de</strong>n zu steigern. Immerh<strong>in</strong> macht e<strong>in</strong>e simple Steigerung um 1% pro Nähmasch<strong>in</strong>e und Schicht schon weitere 12 Arbeitsplätzeüberflüssig - entwe<strong>de</strong>r hier o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Fabrik irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>es Konkurrenten.353<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Krisen, die durch ungleichmäßige Akkumulation <strong>in</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abhängigen Sektoren hervorgerufen o<strong>de</strong>r durch technologischeNeuerungen ausgelöst wer<strong>de</strong>n. Klassisches Beispiel: Der Ausbau <strong>de</strong>s Eisenbahnsystems <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts wur<strong>de</strong>durch das Privileg <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>nraubs und die darauf basieren<strong>de</strong> Grundstücksspekulation angetrieben. Die Gew<strong>in</strong>ne und die Akkumulationsratenlagen anfänglich hoch. Sehr viel höher als die Akkumulationsraten <strong>de</strong>r Industrie und <strong>de</strong>ren Expansion. Übermäßig viel <strong>Kapital</strong> strömte<strong>in</strong> die Eisenbahn- und Bo<strong>de</strong>nspekulation, und <strong>de</strong>r Bereich koppelte sich von <strong>de</strong>r tatsächlichen Produktionsentwicklung ab.169


Den Phasen <strong>de</strong>r quantitativen Aus<strong>de</strong>hnung folgen Phasen <strong>de</strong>r verschärften Konkurrenz mit Rationalisierung<strong>de</strong>r Produktionsprozesse und Restrukturierung <strong>de</strong>r Unternehmen, wodurch <strong>in</strong> <strong>de</strong>nUnternehmen die Arbeitsproduktivität weiter gesteigert und zuvor gebun<strong>de</strong>ne Arbeit im großenStil wie<strong>de</strong>r "freigesetzt" wird. 354Dieselben Prozesse, die e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee immer wie<strong>de</strong>r neu hervorbr<strong>in</strong>gen, verän<strong>de</strong>rnbeständig die soziale Struktur <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters und <strong>de</strong>r ihn ergänzen<strong>de</strong>n Arbeitskräfteim Wartestand: Auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite e<strong>in</strong>e relativ gut bezahlte, mit <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Technik und <strong>de</strong>nkomplexen Produktionsabläufen vertraute Gruppe <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Arbeiterklasse. M. nennt sie dieArbeiteraristokratie, die zwar ke<strong>in</strong>eswegs gefeit ist gegen die Auswirkungen <strong>de</strong>r Krisen, dieseaber besser überstehen kann. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite die zahlreicher wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Zwischengruppenund unteren Gruppen <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters, die ger<strong>in</strong>ger qualifiziert s<strong>in</strong>d, disponible <strong>Teil</strong>arbeitenverrichten, nur vorübergehend beschäftigt wer<strong>de</strong>n, zwischen Reservearmee und produktiverNutzung pen<strong>de</strong>ln und dabei beständig Gefahr laufen, dauerhaft <strong>in</strong> die "Sphäre <strong>de</strong>s Pauperismus"355 zu fallen.Unverkäufliche Grundstücke und brachliegen<strong>de</strong> Transportkapazitäten waren die Folge. <strong>Das</strong> ließ die Bankkredite platzen und dann e<strong>in</strong>igeBanken krachen. Es entwickelte sich die Wirtschaftskrise von 1857 mit erstmals weltweiten Auswirkungen. <strong>Das</strong> klassische Beispiel von1857 wird <strong>in</strong> Zukunft durch die Weltwirtschaftskrise von 2008 abgelöst wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren Entstehung ebenfalls mit <strong>de</strong>n unterschiedlichenAkkumulationsraten im sogenannten F<strong>in</strong>anzmarkt und <strong>in</strong> weiten Bereichen <strong>de</strong>s funktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s zu tun hat. Dazu mehr im dritten<strong>Teil</strong> unsere Reise <strong>in</strong> die Politische Ökonomie.Beispiele für strukturelle Krisen als Folge technologischer Verän<strong>de</strong>rungen: Die Entwicklung <strong>de</strong>s Automobils ließ die Kutschen<strong>in</strong>dustrie unddamit verbun<strong>de</strong>ne Industriezweige, zu ihrer Zeit be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Zweige, <strong>in</strong> kurzer Zeit verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Nur wenigen Kutschenfabrikanten gelanges, die neue Technik zu <strong>in</strong>tegrieren. Auch die Entwicklung <strong>de</strong>r digitalen Technik liefert zahllose Beispiel: Denken wir an die Umwälzungen<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Druck<strong>in</strong>dustrie, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Medien und Verwaltungen. Wer für diese Bereiche Setzmasch<strong>in</strong>en o<strong>de</strong>r Schreibmasch<strong>in</strong>en produzierteund nicht rechtzeitig die Richtung än<strong>de</strong>rte, verlor se<strong>in</strong>e Existenz, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st aber se<strong>in</strong>e Selbständigkeit. Wer auf <strong>de</strong>n richtigen Dampferumbuchte, erlebte e<strong>in</strong>e Phase kollossaler und vornehmlich extensiver Akkumulation, mit <strong>de</strong>r die freigeräumten Märkte neu besetzt wur<strong>de</strong>n- bevor es e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer tat. Solche Jahre <strong>de</strong>r extensiven Akkumulation wer<strong>de</strong>n erstaunlicherweise immer wie<strong>de</strong>r aufs Neue als Beg<strong>in</strong>n ewigenWachstums verkauft. Natürlich nur solange, bis die extensive <strong>in</strong> die <strong>in</strong>tensive Akkumulation wechselt und sehr schnell zu neuerlicherBere<strong>in</strong>igung <strong>de</strong>s Markts führt. Der Wechsel wird dann meist als Wirtschaftskrise o<strong>de</strong>r als Platzen e<strong>in</strong>er sektoralen Spekulationsblase wahrgenommen.354Oft entwickeln sich expansive Phasen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n konjunkturellen Aufschwüngen. Aber noch vor <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Konjunktur erzw<strong>in</strong>gt dieKonkurrenz bereits e<strong>in</strong>e Wen<strong>de</strong>: Durch "Restrukturierung" <strong>de</strong>r Produktion wer<strong>de</strong>n sich die beteiligten <strong>Kapital</strong>e vom Druck steigen<strong>de</strong>r Arbeitskostenund vom Druck <strong>de</strong>r Konkurrenz zu befreien versuchen. Man kehrt unter <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>s <strong>in</strong>tensiven Akkumulationsregimes zurück.Die Expansion verebbt. "Jetzt stellt man sich neu auf!" sagen dann die Manager. Und sie sagen: "Wir <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ieren jetzt das eigeneKerngeschäft neu." Durch Zukäufe von Konkurrenten versucht man sich dort zu stärken, wo man das größte Potential für die künftige Akkumulationvermutet. Aber auch Verkäufe von eigenen Unternehmensteilen stehen an, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konjunktur h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>n Erwartungen zurückbliebenund <strong>de</strong>n Unternehmensdurchschnitt <strong>in</strong> Sachen Profit senkten. Wie auch immer man das Kerngeschäft <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert: Was da ime<strong>in</strong>zelnen produziert und verkauft wird, ist nur <strong>de</strong>r Trägerstoff, ohne <strong>de</strong>n es nicht geht. <strong>Das</strong> wirkliche Kerngeschäft zu je<strong>de</strong>r Zeit ist Sicherungund möglichst Ausbau <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konjunktur erreichten Akkumulationsrate zu Lasten <strong>de</strong>r eigenen Arbeitskräfte und natürlich zu Lasten<strong>de</strong>s Konkurrenten, was dann auch <strong>de</strong>ssen Arbeitskräfte gefähr<strong>de</strong>t.355"Der Pauperismus bil<strong>de</strong>t das Invali<strong>de</strong>nhaus <strong>de</strong>r aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Reservearmee. Se<strong>in</strong>e Produktionist e<strong>in</strong>geschlossen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>r relativen Übervölkerung, se<strong>in</strong>e Notwendigkeit <strong>in</strong> ihrer Notwendigkeit, mit ihr bil<strong>de</strong>t ere<strong>in</strong>e Existenzbed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion und Entwicklung <strong>de</strong>s Reichtums. Er gehört zu <strong>de</strong>n faux frais (= Nebenkosten) <strong>de</strong>rkapitalistischen Produktion, die das <strong>Kapital</strong> jedoch großenteils von sich selbst ab auf die Schultern <strong>de</strong>r Arbeiterklasse und <strong>de</strong>r kle<strong>in</strong>en Mittelklassezu wälzen weiß." (MEW 23, S.673)"Pauperismus" ist bei M. nicht e<strong>in</strong>fach das Fremdwort für Armut. <strong>Das</strong> be<strong>de</strong>utet Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er sozialen Klasse, <strong>de</strong>ren Entstehungund Wachstum durch die kapitalistische Akkumulation und die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee bestimmt wird. Die Gruppe bil<strong>de</strong>te sich zu M.sZeit aus <strong>de</strong>n Menschen, die durch Unfall, Krankheit o<strong>de</strong>r Alter von <strong>de</strong>r Verwertungsmasch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> großer Zahl aussortiert wur<strong>de</strong>n; heutespielen psychische Erkrankungen e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. H<strong>in</strong>zu kamen zu M.s Zeit die Männer, die als Soldaten die Kolonial- und Eroberungs<strong>pol</strong>itikmit Verstümmelung und Arbeitsunfähigkeit bezahlten. Nicht zu vergessen die Menschen, <strong>de</strong>nen die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise die traditionellen Lebensgrundlagen entzog, die nicht weiter als Handwerker, Kle<strong>in</strong>bauern, Tagelöhner, Fuhrleute,Knechte, Mäg<strong>de</strong>, Dienstboten usw. leben konnten. Sie wer<strong>de</strong>n vielleicht <strong>in</strong> Phasen extensiver Akkumulation als Lohnarbeiter benötigt o<strong>de</strong>rwechseln <strong>in</strong> die Reservearmee. Diejenigen aber, die für produktive Verwertung unbrauchbar s<strong>in</strong>d, füllen die Gruppe <strong>de</strong>r Paupers auf.170


Antworten auf e<strong>in</strong> DauerproblemNatürlich geht das heute nicht mehr so e<strong>in</strong>fach wie zu M.s Zeiten. Damals wur<strong>de</strong>n Beschäftigtevon heute auf morgen auf die Straße gesetzt, wenn sie nicht mehr benötigt wur<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r durchUnfall o<strong>de</strong>r Krankheit arbeitsunfähig waren. Die vielen Klassenkämpfe seither haben das verän<strong>de</strong>rtund <strong>de</strong>r quick & dirty Lösung auch auf diesem Gebiet Grenzen gesetzt. Aber die Verwertungszwänge,die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wechselhaften Akkumulationsprozess flexible Reaktionen verlangen,h<strong>in</strong>terlassen auch zu unserer Zeit ihre Spuren.Was sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Jahren als Spaltung <strong>in</strong> Stammbelegschaften und disponible Bedarfsbelegschaften<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Betrieben immer stärker abzeichnet, ist nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e I<strong>de</strong>e von pfiffigenManagern. Auch Regelungen zur Kurzarbeit, Flexibilisierung <strong>de</strong>r Arbeitszeiten, Frühberentungen,Ausweitung <strong>de</strong>r Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge usw. s<strong>in</strong>d die heutigen Antworten auf dasDauerproblem <strong>de</strong>r Produktionsweise:Wie kann man sich <strong>de</strong>r Belastung durch Arbeitskosten <strong>in</strong> Phasen s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong>r Akkumulation schnellentledigen? 356 Wie kann man sich die Vorteile <strong>in</strong>tensiver Akkumulation, die aus <strong>de</strong>r Perspektive<strong>de</strong>r Unternehmen als Rationalisierung o<strong>de</strong>r Restrukturierung bezeichnet wird, durch paralleleReduzierung <strong>de</strong>r Mitarbeiterzahlen schneller und billiger zunutze machen? Wie kann man zeitweiligwachsen<strong>de</strong>n Bedarf an Arbeitskraft schnell und qualifiziert befriedigen? Nicht überraschend,wenn <strong>de</strong>r Abbau <strong>de</strong>s Kündigungsschutzes, flexible Arbeitszeiten und E<strong>in</strong>schränkungen<strong>de</strong>r Mitbestimmung 357 ganz oben auf <strong>de</strong>r Agenda <strong>de</strong>r Unternehmerverbän<strong>de</strong> stehen.Als wir die Verän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionsweise vom Standpunkt <strong>de</strong>r Mehrwertproduktionbetrachteteten, war es <strong>de</strong>r relative Mehrwert, von <strong>de</strong>m M. sagte, er revolutioniere durch unddurch die gesamte Gesellschaft. Jetzt erfahren wir, dass dah<strong>in</strong>ter die Gesetze <strong>de</strong>r Akkumulationstehen: Zwang zur Verwertung mit e<strong>in</strong>em noch zu erklären<strong>de</strong>n Auf und Ab <strong>de</strong>r Akkumulation,stets wechselnd zwischen extensivem und <strong>in</strong>tensiven Akkumulationsregime mit Phasen <strong>de</strong>s Stillstandso<strong>de</strong>r Rückschritts. Die Hervorbr<strong>in</strong>gung und stete Erneuerung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Reservearmeeist dabei nicht beiläufiges Ergebnis, son<strong>de</strong>rn aus Sicht <strong>de</strong>r Verwertung wirkliche Notwendigkeit.Deshalb kommt M. zu <strong>de</strong>r Feststellung: "Die ganze Bewegungsform <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Industrieerwächst also aus <strong>de</strong>r beständigen Verwandlung e<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>r Arbeiterbevölkerung <strong>in</strong>unbeschäftigte o<strong>de</strong>r halbbeschäftigte Hän<strong>de</strong>." 358356In <strong>de</strong>r Wirtschaftskrise 2008/2009 hat die Bun<strong>de</strong>sregierung durch die großzügige Verlängerung <strong>de</strong>r Kurzarbeiterregelung auf 18 Monate,dann sogar auf 24 Monate nicht nur <strong>de</strong>n Anstieg <strong>de</strong>r Arbeitslosenzahlen gebremst. Mit <strong>de</strong>r ausgeweiteten Kurzarbeit will man die Unternehmenvon Lohnkosten befreien und ihnen helfen, die Stammbelegschaften kostengünstig zusammenzuhalten. <strong>Das</strong> ist nicht Menschenfreundlichkeit,son<strong>de</strong>rn Maßnahme im Wirtschaftskrieg. Damit will man <strong>de</strong>n von Deutschland aus operieren<strong>de</strong>n Unternehmen e<strong>in</strong>enguten Start nach <strong>de</strong>r Krise ermöglichen. Und das heißt: Während <strong>de</strong>r Krise mit Kurzarbeit restrukturieren und trimmen. Nach <strong>de</strong>r Krise mitgeballter Kraft und gestärkt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Konkurrenzkampf gehen. Ziel: Produktivitätspotentiale <strong>de</strong>r Restrukturierung nutzen und spätestensdann weitere Arbeitskräfte freisetzen.357Dabei geht es gegenwärtig weniger um die Abschaffung <strong>de</strong>r Mitbestimmungsrechte. Die Politik <strong>de</strong>r Unternehmerverbän<strong>de</strong> zielt auf dieStärkung <strong>de</strong>r Kooperation. Man will die Betriebsräte, <strong>de</strong>ren Mitwirkungspflicht ja von Anfang an <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Betriebsverfassungsgesetzes ist,noch stärker zur I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>m "eigenen" Unternehmen br<strong>in</strong>gen. Es gibt dafür e<strong>in</strong>e Reihe erprobter Maßnahmen.Wenn es nicht gel<strong>in</strong>gt, von vornhere<strong>in</strong> Gefolgsleute <strong>de</strong>s Managements <strong>in</strong> die Betriebsräte zu hieven, stehen <strong>de</strong>r Unternehmensleitung clevereBeratungsfirmen zur Seite, die <strong>in</strong>dividuelle Dossiers <strong>de</strong>r Betriebsräte erschnüffeln und Wege erkun<strong>de</strong>n, um wichtige Personen an dieLe<strong>in</strong>e zu nehmen. <strong>Das</strong> reicht von <strong>de</strong>r bauchstreicheln<strong>de</strong>n namentlichen Anre<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n Vorstandsvorsitzen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r kundigen Fragenach <strong>de</strong>m Wohlbef<strong>in</strong><strong>de</strong>n <strong>de</strong>r K<strong>in</strong><strong>de</strong>r (steht alles im Dossier), über kle<strong>in</strong>e Hilfsleistungen für Schlüsselpersonen im Betriebsrat unter Freun<strong>de</strong>n,bis zu or<strong>de</strong>ntlichen Bestechungen durch Karriere, gutbezahlte Posten o<strong>de</strong>r kostenlose Auslandsreisen mit Puffbesuch (alles zur Fortbildungund Schärfung <strong>de</strong>r unternehmerischen Perspektive).Natürlich gehören auch die klassischen Metho<strong>de</strong>n für die Wi<strong>de</strong>rborstigen dazu: Denunziationen, aufgestellte Fallen und Mobb<strong>in</strong>g für Betriebsräteund Mitarbeiter, die nicht mitziehen.358"Dieser eigentümliche Lebenslauf <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Industrie, <strong>de</strong>r uns <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em frühem Zeitalter <strong>de</strong>r Menschheit begegnet, war auch <strong>in</strong><strong>de</strong>r K<strong>in</strong>dheitsperio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion unmöglich. Die Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s verän<strong>de</strong>rte sich nur sehr allmählich.171


Die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee ist für <strong>de</strong>n Akkumulationsprozess lebensnotwendig. 359 Sie ist dasReservoir, aus <strong>de</strong>m wachsen<strong>de</strong>r Bedarf an Arbeitskraft sofort befriedigt und <strong>in</strong> das zeitweiligüberflüssige Arbeitskraft entlassen wird. Ohne sie wären die Wechsel <strong>de</strong>r Akkumulationsregimes,wären Beschleunigung, Verlangsamung, Stockung, Krise und Neubeg<strong>in</strong>n nicht möglich.Ohne sie gäbe es ke<strong>in</strong>e Entwicklung <strong>de</strong>r Produktionsweise durch Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Produktivkraftunter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen kapitalistischer Akkumulation.Zurück zu alten Fragen...Wir haben auf unserer Reise <strong>in</strong>s "<strong>Kapital</strong>" e<strong>in</strong>en Punkt erreicht, an <strong>de</strong>m wir auf e<strong>in</strong>ige <strong>de</strong>r Leitfragenzurückkommen sollten, die wir zu Reisebeg<strong>in</strong>n stellten: Woher kommt <strong>de</strong>r Reichtum <strong>de</strong>rGesellschaft? Warum bün<strong>de</strong>lt er sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten? Warum wächst <strong>in</strong>mitten<strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums die Armut? Vielleicht haben wir wegen <strong>de</strong>r Reisestrapazen dieseFragen unterwegs vergessen. Macht nichts, <strong>de</strong>nn wir haben trotz<strong>de</strong>m bisher nichts an<strong>de</strong>resgetan, als uns mit diesen Fragen zu befassen.Startpunkt unserer Reise war <strong>de</strong>r gesellschaftliche Reichtum, <strong>de</strong>r sich als Warenreichtum darbietet,für je<strong>de</strong>n sichtbar. Durch Analyse von Ware, Arbeitsteilung und Austausch fan<strong>de</strong>n wir zumWertgesetz für die e<strong>in</strong>fache Warenproduktion. (Auf das Wertgesetz für die kapitalistische Produktionsweisekommen wir später zu sprechen.) Aus <strong>de</strong>m Warentausch entwickelte sich dieGeldform. Wir analysierten <strong>de</strong>n Prozess, <strong>de</strong>r Geld und Lohnarbeit als neues gesellschaftlichesVerhältnis konfiguriert, das wir <strong>Kapital</strong> nannten. Dessen Signatur war die Mehrwertproduktion.Jetzt, nach<strong>de</strong>m wir die Mehrwertproduktion als kont<strong>in</strong>uierlichen Akkumulationsprozess untersuchthaben, liegen die Antworten auf die Fragen vor uns. Sortieren wir unsere bisherigen Ergebnisseneu:In <strong>de</strong>r erweiterten Reproduktion wer<strong>de</strong>n die e<strong>in</strong>gespeisten Werte auf die produzierten Warenübertragen, wird <strong>de</strong>r Mehrwert erzeugt, durch die Regie führen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten zusammen mit<strong>de</strong>m durch Verkauf <strong>de</strong>r Waren erzeugten Geld angeeignet und teilweise wie<strong>de</strong>r re<strong>in</strong>vestiert,eben verwertet. Es wun<strong>de</strong>rt nicht, dass Fabrikanten, Bankiers und Investoren mit je<strong>de</strong>m Reproduktionszyklus,trotz <strong>de</strong>r periodischen Rückschläge, immer reicher wer<strong>de</strong>n, also über immerSe<strong>in</strong>er Akkumulation entsprach also im Ganzen verhältnismäßiges Wachstum <strong>de</strong>r Arbeitsnachfrage. Langsam wie <strong>de</strong>r Fortschritt se<strong>in</strong>erAkkumulation, verglichen mit <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Epoche, stieß er auf Naturschranken <strong>de</strong>r exploitablen Arbeiterbevölkerung, welche nur durchspäter zu erwähnen<strong>de</strong> Gewaltmittel wegräumbar waren." M. spielt hier auf die zwangsweise Herbeischaffung von Arbeitskräften <strong>in</strong> <strong>de</strong>rPhase <strong>de</strong>r "Sogenannten ursprünglichen Akkumulation" an, die wir an an<strong>de</strong>rer Stelle behan<strong>de</strong>lten. <strong>Das</strong> Zitat fährt fort: "Die plötzliche undruckweise Expansion <strong>de</strong>r Produktionsleiter ist die Voraussetzung ihrer plötzlichen Kontraktion; letztere ruft wie<strong>de</strong>r die erstere hervor, aberdie erstere ist unmöglich ohne disponibles Menschenmaterial, ohne e<strong>in</strong>e vom absoluten Wachstum <strong>de</strong>r Bevölkerung unabhängige Vermehrungvon Arbeitern. Sie wird geschaffen durch <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>fachen Prozeß, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Arbeiter beständig 'freisetzt', durch Metho<strong>de</strong>n,welche die Anzahl <strong>de</strong>r beschäftigten Arbeiter im Verhältnis zur vermehrten Produktion verm<strong>in</strong><strong>de</strong>rn. Die ganze Bewegungsform <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnenIndustrie erwächst also aus <strong>de</strong>r beständigen Verwandlung e<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>r Arbeiterbevölkerung <strong>in</strong> unbeschäftigte o<strong>de</strong>r halbbeschäftigteHän<strong>de</strong>." (MEW 23, S.661f)359<strong>Das</strong> heißt auch: Die soziale Sicherung für die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Reservearmee, ob Arbeitslosengeld o<strong>de</strong>r Hartz IV, ist ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e sozialeTat. Sie ist genauso im Interesse <strong>de</strong>r Unternehmen, so lange je<strong>de</strong>nfalls, wie die Kosten dafür sozialisiert und zum überwiegen<strong>de</strong>n <strong>Teil</strong>vom beschäftigten <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Arbeiterklasse bezahlt wer<strong>de</strong>n. Und so lange, wie die Leistungen niedrig genug ausfallen, um Druck auf dieLöhne auszuüben. Qualifizierung <strong>de</strong>r Arbeitslosen? Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong> unternehmerischem Denken? <strong>Das</strong> ist unbed<strong>in</strong>gt wünschenswert. Nur e<strong>in</strong>equalifizierte, für je<strong>de</strong> Art Arbeit je<strong>de</strong>rzeit e<strong>in</strong>setzbare Reservearmee kann die ihr zufallen<strong>de</strong>n Funktionen erfüllen.Und natürlich haben die Taktiker und Strategen auf <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>seite auch begriffen, dass Sozialleistungen für Arbeitslose nicht e<strong>in</strong>fach nurKosten s<strong>in</strong>d. Sie entschärfen <strong>de</strong>n Konflikt und wirken als "automatische Stabilisatoren" (so nennen das die Volkswirte). <strong>Das</strong> heißt: Derfrüher so verhängnisvolle Rückgang <strong>de</strong>r Kaufkraft durch Massentlassungen wird erst durch Kurzarbeit, dann durch Arbeitslosengeld undHartz IV entschärft. Die Krise selbst fällt flacher aus. Die Probleme verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n dadurch nicht, wer<strong>de</strong>n aber zeitlich entzerrt. <strong>Das</strong> alles istnur möglich durch die wachsen<strong>de</strong> ökonomische Rolle <strong>de</strong>s Staats, auf <strong>de</strong>n die Problemlasten aus <strong>de</strong>r Verwertungssphäre abgela<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>nund die dort nicht zuletzt als wachsen<strong>de</strong> Staatsverschuldung weiterwirken, um nicht zu sagen: weiterticken. Auch das e<strong>in</strong> wichtiges Themafür <strong>de</strong>n dritten <strong>Teil</strong>.172


mehr <strong>Kapital</strong> verfügen, sowohl <strong>in</strong> Geldform als auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Anlageform als Fabrik, Grun<strong>de</strong>igentum,Bergwerk, Warenlager, Eisenbahn, Kaufhaus, Bank und an<strong>de</strong>ren.In <strong>de</strong>r erweiterten Reproduktion wird aber auch das <strong>Kapital</strong>verhältnis immer wie<strong>de</strong>r reproduziert.Die Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten bleibt <strong>in</strong> all ihren Rechten erhalten und wird mit je<strong>de</strong>m Produktionszyklusreicher. Die Klasse <strong>de</strong>r Lohnarbeiter bleibt nach je<strong>de</strong>m Zyklus, was sie zuvor gewesenist: Der korrekt nach Vertrag bezahlte lohnabhängige Gesamtarbeiter, <strong>de</strong>ssen e<strong>in</strong>zelne Mitglie<strong>de</strong>rnach je<strong>de</strong>m Reproduktionszyklus über nichts weiter als ihre Arbeitskraft verfügen, mit <strong>de</strong>renVerkauf sie alle<strong>in</strong> ihren Lebensunterhalt bestreiten können. 360Aber das ist nicht alles. Die erweiterte Reproduktion ist kapitalistische Reproduktion. Sie unterliegt<strong>de</strong>m Verwertungszwang und wird durch die Konkurrenz <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e angetrieben, durchKonzentration und Zentralisation <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e geformt. Nicht irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e solcheVerwertung muß erreicht wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>r die Position gegenüber an<strong>de</strong>ren <strong>Kapital</strong>en behauptet,nach Möglichkeit ausgebaut wird. <strong>Das</strong> geht nicht ohne <strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Wechsel von <strong>de</strong>rextensiven zur <strong>in</strong>tensiven Akkumulation. Investitionen als konstantes <strong>Kapital</strong> wachsen überproportionalund haben e<strong>in</strong>en relativen, <strong>in</strong> Krisen immer auch absoluten Rückgang <strong>de</strong>r produktivgenutzten Arbeitskraft zur Folge. Was <strong>in</strong> extensiven Phasen an Arbeitskraft zusätzlich e<strong>in</strong>gesaugtwird, wird <strong>in</strong> <strong>in</strong>tensiven Phasen wie<strong>de</strong>r freigesetzt. Die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee entsteht undwird <strong>in</strong> ausreichen<strong>de</strong>r Größe von e<strong>in</strong>em Produkt zu e<strong>in</strong>er Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation.<strong>Das</strong> "absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation"M. komprimiert se<strong>in</strong>e Analyse <strong>de</strong>s Akkumulationsprozesses. Es kommt e<strong>in</strong>e bündige und umstritteneAntwort auf unsere Leitfragen dabei heraus. Wir br<strong>in</strong>gen diesen Auszug aus <strong>de</strong>m "<strong>Kapital</strong>"als Zwischenlektüre. Danach wer<strong>de</strong>n wir uns <strong>de</strong>n streitbaren Fragen genauer zuwen<strong>de</strong>n.Lektüre: Karl Marx: S.325Der Text enthält e<strong>in</strong>ige <strong>de</strong>r am häufigsten zitierten Absätze aus M.s Werk. Sie wur<strong>de</strong>n von se<strong>in</strong>enAnhängern wie von se<strong>in</strong>en Gegnern immer wie<strong>de</strong>r zur Begründung verschie<strong>de</strong>ner Me<strong>in</strong>ungenund Theorien herangezogen. Bevor wir darauf e<strong>in</strong>gehen, müssen wir uns genau ansehen,was uns M. mitteilt. Unmißverständlich dies:Mit wachsen<strong>de</strong>m Reichtum, und das ist Wachstum <strong>de</strong>s funktionieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s, wächst dieArbeiterklasse und <strong>de</strong>ren Produktivkraft. Damit verbun<strong>de</strong>n wächst die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee,mit <strong>de</strong>ren Größe auch die "konsolidierte Übervölkerung" wächst, die im "Elend" lebt, dafüraber <strong>de</strong>n zweifelhaften Vorzug genießt, frei von "Arbeitsqual" zu se<strong>in</strong>.Ebenfalls wächst die "Lazarusschichte <strong>de</strong>r Arbeiterklasse", jene Gruppe <strong>de</strong>r Beschäftigten, <strong>de</strong>renLohn kaum zum Leben reicht und die M. mit <strong>de</strong>m biblischen Lazarus vergleicht, <strong>de</strong>r hungernd360"Da <strong>de</strong>r Produktionsprozeß zugleich <strong>de</strong>r Konsumtionsprozeß <strong>de</strong>r Arbeitskraft durch <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten, verwan<strong>de</strong>lt sich das Produkt <strong>de</strong>sArbeiters nicht nur fortwährend <strong>in</strong> Ware, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>, Wert, <strong>de</strong>r die wertschöpfen<strong>de</strong> Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personenkaufen, Produktionsmittel, die <strong>de</strong>n Produzenten anwen<strong>de</strong>n. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig <strong>de</strong>n objektiven Reichtum als<strong>Kapital</strong>, ihm frem<strong>de</strong>, ihn beherrschen<strong>de</strong> und ausbeuten<strong>de</strong> Macht, und <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive,von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bloßen Leiblichkeit <strong>de</strong>s Arbeitersexistieren<strong>de</strong> Reichtumsquelle, kurz <strong>de</strong>n Arbeiter als Lohnarbeiter. Diese beständige Reproduktion o<strong>de</strong>r Verewigung <strong>de</strong>s Arbeiters ist dass<strong>in</strong>e qua non <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion." (MEW 23, S. 596)173


vor <strong>de</strong>r Tür <strong>de</strong>s Reichen sitzt und davon träumt, sich von <strong>de</strong>ssen Abfall ernähren zu dürfen. 361Und alles <strong>in</strong> allem wächst <strong>de</strong>r "offizielle Pauperismus", also jene Gruppe von Menschen <strong>in</strong> tiefstermaterieller und seelischer Not, <strong>de</strong>ren Existenz niemand leugnen kann, weil sie für alle sichtbardie Elendsquartiere <strong>de</strong>r Großstädte bevölkern und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Statistiken <strong>de</strong>r staatlichen Armenfürsorgeals Zahlen ersche<strong>in</strong>en.Diese <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r greifen<strong>de</strong>n Wirkungen <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation nennt M. das absolute,allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation und läßt diese Feststellung, damit niemanddarüber h<strong>in</strong>wegliest, auch noch kursiv setzen. Wir wissen warum. <strong>Das</strong> ist M.s Antwort aufdie Fragen, die Ausgangspunkt unserer Reise waren: Der Verwertungszwang <strong>de</strong>r kapitalistischenAkkumulation ist für das gleichzeitige Nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r von wachsen<strong>de</strong>m Reichtum und wachsen<strong>de</strong>mElend verantwortlich. <strong>Das</strong> e<strong>in</strong>e gibt es nicht ohne das an<strong>de</strong>re: "Die Akkumulation vonReichtum auf <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei,Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf <strong>de</strong>m Gegen<strong>pol</strong>."Formuliert M. damit e<strong>in</strong>e für die kapitalistische Produktionsweise allzeit gültige Gesetzmäßigkeit?Ja. Warum sollte er sonst von e<strong>in</strong>em absoluten und allgeme<strong>in</strong>en Gesetz sprechen? Im Unterschiedzu vielen se<strong>in</strong>er Zitierer weiß M. freilich auch, worüber er re<strong>de</strong>t, wenn er von e<strong>in</strong>emgesellschaftlichen Gesetz spricht. Deshalb fügt er h<strong>in</strong>zu: "Es wird gleich allen andren Gesetzen <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Verwirklichung durch mannigfache Umstän<strong>de</strong> modifiziert, <strong>de</strong>ren Analyse nicht hierhergehört." Ist das als preiswerte Ausre<strong>de</strong> gedacht, falls sich das Gesetz doch nicht so entfaltet, wieer behauptet? Und warum verzichtet er auf die Analyse dieser "mannigfachen Umstän<strong>de</strong>"?Alles zu se<strong>in</strong>er ZeitKlar, man kann M.s Zitat über die "Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit,Brutalisierung und moralischer Degradation" als Rem<strong>in</strong>iszenz auf die alten Zeiten nehmenund ihr die Akkumulation von Autos, Spülmasch<strong>in</strong>en, DVD-Playern, Urlaubsreisen usw. gegenüberstellen.<strong>Das</strong> ist vermutlich schon mehr als 1000-mal literarisch verwurstet wor<strong>de</strong>n. Doch lassenwir diesen propagandistischen Knüller erst mal beiseite. Sehen wir uns statt<strong>de</strong>ssen genaueran, was M. uns wirklich geschrieben hat.M. wollte erklären, warum im England <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts gleichzeitig <strong>de</strong>r gesellschaftlicheReichtum und das soziale Elend steil anstiegen. Diese elendigen Verhältnisse im <strong>in</strong>dustriellenEngland se<strong>in</strong>er Zeit waren noch ke<strong>in</strong>e 50 Jahre alt. Und es war offensichtlich, dass <strong>in</strong> diesemZeitraum die Menschen ke<strong>in</strong>eswegs schlechter gewor<strong>de</strong>n waren und für ihre Schlechtigkeitdurch Elend bestraft wur<strong>de</strong>n. Deshalb g<strong>in</strong>gen M. die Verteidiger <strong>de</strong>r neuen Produktionsweise,die Propagandisten <strong>de</strong>s Freihan<strong>de</strong>ls um je<strong>de</strong>n Preis, die predigen<strong>de</strong>n Tugendwächter und die zynischenVulgärökonomen so heftig auf <strong>de</strong>n Geist. Ihre Erklärungen für die Ursachen <strong>de</strong>s Elendswaren offensichtlich falsch und fan<strong>de</strong>n nur <strong>de</strong>shalb Wi<strong>de</strong>rhall, weil sie <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>s Bürgertumsso pe<strong>in</strong>lich exakt folgten und das immer reicher wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Bürgertum von aller Verantwortungfür das Elend <strong>de</strong>r Vielen frei sprachen, <strong>in</strong><strong>de</strong>m man die Opfer <strong>de</strong>s Elends zu Opfern auseigener Schuld stempelte.361Im Gleichnis vom reichen und armen Mann heißt es im Lukas-Evangelium <strong>in</strong> <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen E<strong>in</strong>heitsübersetzung (Lk 16,20): "Es ware<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> reicher Mann, <strong>de</strong>r sich <strong>in</strong> Purpur und fe<strong>in</strong>es Le<strong>in</strong>en klei<strong>de</strong>te und Tag für Tag herrlich und <strong>in</strong> Freu<strong>de</strong>n lebte. Vor <strong>de</strong>r Tür <strong>de</strong>s Reichenaber lag e<strong>in</strong> armer Mann namens Lazarus, <strong>de</strong>ssen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern se<strong>in</strong>en Hunger mit <strong>de</strong>m gestillt, was vomTisch <strong>de</strong>s Reichen herunterfiel. Statt<strong>de</strong>ssen kamen die Hun<strong>de</strong> und leckten an se<strong>in</strong>en Geschwüren." Auf diesen Lazarus <strong>de</strong>s Neuen Testamentsdürfte sich die Bezeichnung "Lazarusschichte <strong>de</strong>r Arbeiterklasse" bei M. beziehen.174


M.s Gegenposition: Nicht Bevölkerungswachstum und lüsterne Geilheit, nicht Alkoholismus o<strong>de</strong>rallgeme<strong>in</strong>e moralische Verkommenheit br<strong>in</strong>gen das Elend hervor. Die Elendigen schaffen ihrElend we<strong>de</strong>r selbst noch begeben sie sich freiwillig h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Wenn man wissen will, woher dieelendigen Verhältnisse stammen, muss man untersuchen, was die mo<strong>de</strong>rne Industrie und mit ihrdas neue Elend hervorgebracht hat. Es s<strong>in</strong>d die ökonomischen Verhältnisse, <strong>de</strong>r Verwertungszwang<strong>de</strong>r Akkumulation, <strong>de</strong>r mit se<strong>in</strong>er ungeh<strong>in</strong><strong>de</strong>rten Entfaltung jene Verhältnisseschafft, die M. so ausdrucksstark als "Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit,Brutalisierung und moralischer Degradation" bezeichnet.M. begrün<strong>de</strong>t uns das so schlüssig, wie man <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gesellschaftswissenschaften überhaupt etwasbegrün<strong>de</strong>n kann. <strong>Das</strong> ganze lange Kapitel zum Akkumulationsprozess han<strong>de</strong>lt davon. Dar<strong>in</strong>gibt es Sätze, die heute als störend empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> ist vor allem die Absolutheit, mit<strong>de</strong>r M. das Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulation formuliert. Sofort gehen wir <strong>in</strong> Gedanken unsere eigenenErfahrungen durch und f<strong>in</strong><strong>de</strong>n für unsere Verhältnisse ke<strong>in</strong>e so direkte und vollständige Übere<strong>in</strong>stimmung<strong>in</strong> Sachen Reservearmee, Lazarusschicht und Pauperismus, die wir doch f<strong>in</strong><strong>de</strong>n müssten,wenn es sich um e<strong>in</strong> absolutes und allgeme<strong>in</strong>es Gesetz han<strong>de</strong>lt. Kommen wir damit auf <strong>de</strong>nbereits erwähnten propagandistischen Knüller zurück?Der Knüller ist von Leuten erfun<strong>de</strong>n, die nicht lesen können o<strong>de</strong>r M. als veralteten I<strong>de</strong>ologendarstellen wollen, ohne sich überhaupt mit se<strong>in</strong>en Aussagen vertraut zu machen. M. hat sich mitse<strong>in</strong>em Gesetz ke<strong>in</strong>eswegs verrannt. Wir müssen ihm, mit H<strong>in</strong>weis auf die extrem brutalen Arbeitskraftverwerterse<strong>in</strong>er Zeit, we<strong>de</strong>r mil<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Umstän<strong>de</strong> verschaffen noch an<strong>de</strong>rweitig irgendwie<strong>in</strong> Schutz nehmen.M. weiß sehr gut, wovon er re<strong>de</strong>t, und nimmt selbst die historische E<strong>in</strong>ordnung se<strong>in</strong>es Gesetzesvor. Lei<strong>de</strong>r wird das immer wie<strong>de</strong>r, sogar von erklärten und ansonsten kundigen Marxisten,überlesen. Die historische E<strong>in</strong>ordnung liegt natürlich im historischen Stoff selbst, <strong>de</strong>r M.s Formulierung<strong>de</strong>s Gesetzes zugrun<strong>de</strong> liegt. Nur wird allzugern die umfängliche Ausbreitung <strong>de</strong>s historischenStoffs im "<strong>Kapital</strong>" als didaktisches Beiwerk abgetan, das M. vor se<strong>in</strong>en zeitgenössischenLesern <strong>de</strong>r Anschaulichkeit wegen ausbreitet. 362 Aber das ist ke<strong>in</strong> Beiwerk, son<strong>de</strong>rn untrennbarmit se<strong>in</strong>er Metho<strong>de</strong> verbun<strong>de</strong>n.Auch hier. Unmittelbar nach se<strong>in</strong>er Formulierung <strong>de</strong>s Gesetzes illustriert uns M. auf 63 Seiten<strong>de</strong>ssen Wirkungsweise. Die sozialen Realitäten, die <strong>de</strong>n Ausgangspunkt unserer Reise markiertenund unsere Leitfragen formulierten, s<strong>in</strong>d auch wie<strong>de</strong>r Zielpunkt <strong>de</strong>r Analyse. Im Mittelpunktsteht jetzt England <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Jahren 1846 bis 1866. Hier liegt die Erklärung, warum M.s H<strong>in</strong>weiseauf "mannigfache Umstän<strong>de</strong>", die das Gesetz modifizieren, eben nicht als Ausre<strong>de</strong> gedacht s<strong>in</strong>dund warum er <strong>de</strong>nnoch zu se<strong>in</strong>er Zeit auf <strong>de</strong>ren Analyse verzichten konnte. Se<strong>in</strong>e Illustrationen362Daran ist M. nicht unschuldig. Er kokettiert damit, se<strong>in</strong>e historischen Ausflüge als Illustrationen o<strong>de</strong>r bloß h<strong>in</strong>geworfene Skizzen zu bezeichnen.<strong>Das</strong> ehrt ihn <strong>in</strong> gewisser Weise, <strong>de</strong>nn Geschichtsschreibung etwa im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er <strong>pol</strong>itischen Geschichte o<strong>de</strong>r Wirtschaftsgeschichteist es natürlich nicht. M. holt die historische Metho<strong>de</strong> <strong>in</strong> die Politische Ökonomie. Es ist Komprimierung <strong>de</strong>s historischen Materials.Vieles daran ist zweifellos zufällig, manches sogar <strong>in</strong>tuitiv. Ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Wissenschaftler kann <strong>de</strong>n gesamten historischen Stoff auchnur weniger Jahre beherrschen.Aber: Es ist Geschichte <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>er Umbruchgesellschaft, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich Prozesse entwickelten, die spürbar waren und die England zumgesellschaftlichen Laboratorium, zu e<strong>in</strong>em Experiment von welthistorischer Be<strong>de</strong>utung machten, <strong>de</strong>ssen Resultate nach und nach auf allean<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>r übergriffen. In diesem S<strong>in</strong>ne ist die englische Geschichte <strong>de</strong>s 18. und 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts genau wie <strong>de</strong>r Analyst zu e<strong>in</strong>emKlassiker gewor<strong>de</strong>n. Und wer immer Kritik an M. übt, muß die Hervorbr<strong>in</strong>gung se<strong>in</strong>er Theorie als Kritik vorhan<strong>de</strong>ner Theorien ebenso beachtenwie ihre Verwurzelung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r historischen Analyse.Was immer auch M. selbst an koketten Bemerkungen zu se<strong>in</strong>en Texten f<strong>in</strong><strong>de</strong>t: Als Spurenfolger nehmen wir gera<strong>de</strong> auch die historischen"Ausflüge" ernst. Politische Ökonomie ohne konkrete Analyse <strong>de</strong>r historischen Umstän<strong>de</strong> ist ebenso luftig wie <strong>pol</strong>itische Geschichtsschreibung,die nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ökonomischen Strukturen <strong>de</strong>r Gesellschaft wurzelt.175


zur Wirkungsweise <strong>de</strong>s Gesetzes zeigen uns aber auch, <strong>in</strong> welcher H<strong>in</strong>sicht das Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulationzu recht als absolut und allgeme<strong>in</strong> bezeichnet wer<strong>de</strong>n darf.Se<strong>in</strong> Kapitel "Illustration <strong>de</strong>s allgeme<strong>in</strong>en Gesetzes <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation" beg<strong>in</strong>ntM. mit folgen<strong>de</strong>r Feststellung:"Ke<strong>in</strong>e Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft ist so günstig für das Studium <strong>de</strong>r kapitalistischenAkkumulation als die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r letztverflossenen 20 Jahre. Es ist, als ob sie <strong>de</strong>nFortunatussäckel gefun<strong>de</strong>n hätte. Von allen Län<strong>de</strong>rn aber bietet England wie<strong>de</strong>r das klassischeBeispiel, weil es <strong>de</strong>n ersten Rang auf <strong>de</strong>m Weltmarkt behauptet, die kapitalistische Produktionsweisehier alle<strong>in</strong> völlig entwickelt ist, und endlich die E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>s Tausendjährigen Reichs <strong>de</strong>sFreihan<strong>de</strong>ls seit 1846 <strong>de</strong>r Vulgärökonomie <strong>de</strong>n letzten Schlupfw<strong>in</strong>kel abgeschnitten hat." 363M.s Illustrationen zur kapitalistischen Akkumulation <strong>in</strong> England <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Jahren 1846 bis 1866 zeigenfür diese "klassische" Phase fast vollständige Übere<strong>in</strong>stimmung mit <strong>de</strong>m formulierten Gesetz.Was nicht überrascht, <strong>de</strong>nn gera<strong>de</strong> diese Phase lieferte M. ja <strong>de</strong>n Stoff. Ist das e<strong>in</strong> ärgerlicherTaschenspielertrick? Kann e<strong>in</strong> Gesetz, das man aus <strong>de</strong>m historischen Stoff ableitet, dannmit H<strong>in</strong>weis auf <strong>de</strong>n historischen Stoff bestätigt wer<strong>de</strong>n? <strong>Das</strong> wäre tatsächlich merkwürdig,wenn M. es so gemacht hätte.Er<strong>in</strong>nern wir uns: Leitend für die Begründung <strong>de</strong>s Gesetzes war die strukturelle Analyse. Aus <strong>de</strong>nzuvor erarbeiteten Merkmalen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise wur<strong>de</strong>n die Merkmale <strong>de</strong>rkapitalistischen Akkumulation abgeleitet. Die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Reservearmee wur<strong>de</strong> strukturell,als Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>r wechseln<strong>de</strong>n Akkumulationsregimes und <strong>de</strong>r Bewältigung ihrer Ungleichmäßigkeitenbegrün<strong>de</strong>t. Wenn M. dadurch auch e<strong>in</strong>en Schlüssel erhielt, um die sozialenRealitäten se<strong>in</strong>er Zeit aus <strong>de</strong>r Produktionsweise heraus zu erklären, ist das ke<strong>in</strong> Trick, son<strong>de</strong>rn dieübliche Art, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich historische und strukturelle Analyse ergänzen. M. ist sich klar darüber,363MEW 23, S.677f. Mit <strong>de</strong>m Vergleich vom Fortunatussäckel bezieht M. sich auf e<strong>in</strong> altes <strong>de</strong>utsches Volksbuch, heute wenig bekannt,das 1509 erstmals <strong>in</strong> Augsburg als Druck veröffentlicht wur<strong>de</strong>. Dar<strong>in</strong> erhält die Hauptfigur Fortunatus auf Zypern von e<strong>in</strong>er Fee e<strong>in</strong>en Sack,<strong>de</strong>r stets Geld enthält, so oft man h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>greift; passen<strong>de</strong>rweise <strong>in</strong> <strong>de</strong>r jeweiligen Währung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m man sich bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Ebensounermüdlich spru<strong>de</strong>lnd wie Fortunatus Geldsack ersche<strong>in</strong>en M. die Mehrwertquellen <strong>in</strong> England zu Zeiten une<strong>in</strong>geschränkter Konkurrenz.Mit <strong>de</strong>n abgeschnittenen "letzten Schlupfw<strong>in</strong>kel" <strong>de</strong>r Vulgärökonomie ist folgen<strong>de</strong>s geme<strong>in</strong>t: In <strong>de</strong>n Jahren 1846 bis 1867 kennt <strong>in</strong> Englanddie kapitalistische Konkurrenz praktische ke<strong>in</strong>e Regulierung. Deshalb lassen sich die Folgen <strong>de</strong>r ungehemmten Konkurrenz und Akkumulationsogar an <strong>de</strong>r Oberfläche, <strong>de</strong>m angestammten Revier <strong>de</strong>r Vulgärökonomie, alle<strong>in</strong> durch schlichtes Studium von Parlamentsberichten,Zeitungen und offiziellen Sozialstatistiken beobachten. Und weil das Freihan<strong>de</strong>lsregime 1846 (wie auch bei <strong>de</strong>n Neoliberalen 130Jahre später) mit <strong>de</strong>m Versprechen allgeme<strong>in</strong>en Wohlstands durchgesetzt wur<strong>de</strong>, bleibt angesichts <strong>de</strong>r wirklichen Entwicklungen eigentlichauch ke<strong>in</strong> Raum für Ausre<strong>de</strong>n – wenn man nicht gera<strong>de</strong> Freihan<strong>de</strong>lsdogmatiker o<strong>de</strong>r neoliberaler Triebtäter ist.M.s Illustrationen zum Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulation umfassen sechs Kapitel: Im Kapitel "England von 1846-1866" (S.677ff) beschreibt M.<strong>de</strong>n Fortgang <strong>de</strong>r Akkumulation, das Bevölkerungswachstum, das rasche Anwachsen <strong>de</strong>r Privatvermögen, das relative Zurückbleiben <strong>de</strong>rLöhne wegen fortschreiten<strong>de</strong>r Inflation und die Ausweitung <strong>de</strong>s Pauperismus, wie er sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n offiziellen Almosenstatistiken nie<strong>de</strong>rschlägt.Im Kapitel "Die schlechtbezahlten Schichten <strong>de</strong>r britischen <strong>in</strong>dustriellen Arbeiterklasse" (S.684ff) geht es um die Lebenssituationdieser Gruppe. <strong>Das</strong> umfaßt ihren Ernährungsstatus, ihre Wohnsituation und damit verbun<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Erkrankungen und die Entwicklung <strong>de</strong>rMieten. Im Kapitel "<strong>Das</strong> Wan<strong>de</strong>rvolk" (S.693ff) wird die Lebenslage <strong>de</strong>r Arbeiter untersucht, die als Wan<strong>de</strong>rarbeiter <strong>de</strong>r Arbeitsnachfragefolgen, <strong>de</strong>ren improvisierten Wohnverhältnisse immer wie<strong>de</strong>r zum Ausbruch und zur schnellen Verbreitung von Krankheiten führen. ImKapitel "Wirkung <strong>de</strong>r Krisen auf <strong>de</strong>n bestbezahlten <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Arbeiterklasse" (S.697ff) zeigt M., dass auch zeitweilig höherer Lohn nicht vor<strong>de</strong>m Absturz <strong>in</strong>s Elend schützt, sobald e<strong>in</strong>e Krise <strong>de</strong>r galoppieren<strong>de</strong>n Akkumulation e<strong>in</strong> vorläufiges En<strong>de</strong> setzt. Die Metallschiffbauer, dieM. zur gut bezahlten "Arbeiteraristokratie" rechnet, bezahlen die Folgen <strong>de</strong>r Schiffsbauspekulation und <strong>de</strong>r darauf 1866 e<strong>in</strong>treten<strong>de</strong>nKrise, <strong>in</strong><strong>de</strong>m sie alle vorher aufgebauten Reservefonds verlieren und am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Krise wesentlich schlechter dastehen als vorher. Ausführlichbeschreibt M. im Kapitel "<strong>Das</strong> britische Ackerbauproletariat" (S.701ff) die Situation dieser Bevölkerungsgruppe <strong>in</strong> <strong>de</strong>n englischenGrafschaften und die Folgen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isierung für Löhne, Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen, Länge <strong>de</strong>r Arbeitswege und die Gesundheit. Im Kapitel"Irland" (S.726ff) wird die im Vergleich zu England zwar langsamere, aber <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Folgen um so verheeren<strong>de</strong>re Akkumulation <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kapitalisiertenLandwirtschaft beschrieben. Seit <strong>de</strong>m Hungerjahr 1846 wan<strong>de</strong>rn 30% <strong>de</strong>r Bevölkerung aus. Der Verlust an Bevölkerung treibtdie Akkumulationsrate durch großflächige Umstellung auf Vieh- und Schafwirtschaft an und läßt die E<strong>in</strong>kommen <strong>de</strong>r Grundbesitzer rasantsteigen. Für große <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s ländlichen Proletariats reduzieren sich die Verdienstmöglichkeiten zunehmend auf Saisonarbeit; für die <strong>in</strong>Dauerstellung gleichen die nom<strong>in</strong>ell gestiegenen Löhne nicht e<strong>in</strong>mal die Teuerungsrate bei landwirtschaftlichen Produkten aus. Abwan<strong>de</strong>rungen<strong>in</strong> die Städte drücken dort auf die Löhne und schaffen ähnliche Wohnverhältnisse wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>n englischen Industriestädten.176


dass er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weniger klassischen Umgebung, als sie <strong>de</strong>r englische Freihan<strong>de</strong>ls- und Konkurrenzkapitalismusjener Jahre darstellte, wohl nicht o<strong>de</strong>r nicht so leicht zu se<strong>in</strong>en Erkenntnissengelangt wäre und sie vermutlich auch weniger absolut und allgeme<strong>in</strong> formuliert hätte. 364Be<strong>de</strong>utet das e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung? Unbed<strong>in</strong>gt. Aber es wird nicht die Gültigkeit <strong>de</strong>s Gesetzese<strong>in</strong>geschränkt. Vielmehr wer<strong>de</strong>n die Bed<strong>in</strong>gungen benannt, unter <strong>de</strong>nen se<strong>in</strong>e ungeh<strong>in</strong><strong>de</strong>rteWirkung zu beobachten ist. Diese Bed<strong>in</strong>gungen leitet M. sehr klar und <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mitse<strong>in</strong>em üblichen Vorgehen ab, bei <strong>de</strong>m alles aus <strong>de</strong>m Gang <strong>de</strong>r Analyse heraus entsteht undnichts zuvor und auch nicht danach <strong>in</strong> starre Def<strong>in</strong>itionen gegossen wird. <strong>Das</strong> Gesetz wirkt ungeh<strong>in</strong><strong>de</strong>rt,wo die kapitalistische Produktionsweise völlig entwickelt ist und mit <strong>de</strong>m Freihan<strong>de</strong>ldie une<strong>in</strong>geschränkte, heute wür<strong>de</strong>n wir sagen: nicht regulierte kapitalistische Konkurrenz gilt.Dafür war England zu M.s Zeit das klassische Beispiel. Deshalb konnte M. dort das Gesetz auf<strong>de</strong>ckenund ungetrübt se<strong>in</strong>e Wirkungsweise studieren. Deshalb konnte er gar nicht untersuchen,wie "se<strong>in</strong>e Verwirklichung durch mannigfaltige Umstän<strong>de</strong> modifiziert" wird, da im Untersuchungszeitraumdiese Umstän<strong>de</strong> fast völlig fehlten. Sicher war ihm klar, was solche modifizieren<strong>de</strong>nUmstän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n: Staatliche E<strong>in</strong>griffe, wie sie zur Festlegung <strong>de</strong>s Normalarbeitstagsschon ansatzweise ergriffen wur<strong>de</strong>n, und natürlich <strong>de</strong>r Klassenkampf durch Gewerkschaftenund an<strong>de</strong>re Organisationen. Aber das alles wür<strong>de</strong> aus M.s Sicht das Gesetz nicht verän<strong>de</strong>rn,son<strong>de</strong>rn eben nur se<strong>in</strong>e Wirkung modifizieren....und zu unserer Zeit?Man mag M.s Ausführungen zum Akkumulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, die wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>n vorigenKapiteln nachgezeichnet haben, für schlüssig halten o<strong>de</strong>r nicht. Der H<strong>in</strong>weis, e<strong>in</strong>e solche "Akkumulationvon Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation"gäbe es für die Lohnabhängigen <strong>in</strong> Deutschland heute nicht, wäre <strong>de</strong>nnoch ke<strong>in</strong> Argumentdagegen. Man müßte erst e<strong>in</strong>mal das tun, was M. für se<strong>in</strong>e Zeit sehr ausführlich gemachthat, nämlich die Wirkung <strong>de</strong>s heutigen Akkumulationsregimes auf unsere Lebensbed<strong>in</strong>gungenuntersuchen und dabei die im Vergleich mit 1866 sehr zahlreichen Maßnahmen berücksichtigen,die <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus als <strong>pol</strong>itisch-ökonomisches System heute regulieren.An<strong>de</strong>rerseits: Wenn M.s Ansatz stimmt, müßte sich das absolute und allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulationmit <strong>de</strong>r seit 1980 stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Deregulierung 365 , <strong>de</strong>m Abbau von Tarifrechten,Rückbau <strong>de</strong>r Sozialgesetze erneut stärker bemerkbar machen. Genau das ist unserer Me<strong>in</strong>ungnach auch <strong>de</strong>r Fall. Wir haben an verschie<strong>de</strong>nen Stationen unserer Reise Beispiele dafür angeführt:Wachsen<strong>de</strong>r Druck auf die Löhne, Rückkehr zur Dauerarbeitslosgkeit, zunehmen<strong>de</strong> sozialeUnsicherheit, Tarifabbau, Flexibilisierung <strong>de</strong>r Arbeitszeit, Arbeitszeitverlängerung, Vergrößerung<strong>de</strong>s "offiziellen Pauperismus", zunehmen<strong>de</strong> psychische Belastungen durch Überschuldung,Angst vor sozialem Abstieg und an<strong>de</strong>re Lasten.364Man könnte auch sagen, dass M. unter an<strong>de</strong>ren als <strong>de</strong>n "klassischen" Bed<strong>in</strong>gungen vielleicht selbst nicht zum Klassiker gewor<strong>de</strong>n wäre.Denn zum Klassiker wird man nicht ernannt, das erarbeitet man sich mit viel Fleiß, e<strong>in</strong>er Portion Genie und, wie wir sehen, auch mit<strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>r zeitlich passen<strong>de</strong>n Geburt: Zur rechten Zeit am rechten Ort die richtigen Fragen stellen gehört dazu. Und dann natürlichnoch die Antworten.365Wir me<strong>in</strong>en hier mit Deregulierung die Schaffung von Verhältnissen, die ungeh<strong>in</strong><strong>de</strong>rten Warenaustausch und <strong>Kapital</strong>verkehr weltweiterlauben. Die also alle gesellschaftlichen Ordnungen nach <strong>de</strong>n Bedürfnissen ungeh<strong>in</strong><strong>de</strong>rter Verwertung umgestalten. <strong>Das</strong>s <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>rProduktionsweise durchaus Regulierungen zunehmen, die etwa die Art und Weise <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>verkehrs, rechtliche Ansprüche von Investorenbei grenzüberschreiten<strong>de</strong>n Investitionen, vertragliche und zwischenstaatliche Absicherung <strong>de</strong>s Warenverkehrs und ähnliches behan<strong>de</strong>ln,hat mit <strong>de</strong>r von uns geme<strong>in</strong>ten Deregulierung wenig bis gar nichts zu tun.177


<strong>Das</strong>s die Reichen reicher und die Armen ärmer wer<strong>de</strong>n hat schon <strong>de</strong>n Status e<strong>in</strong>er folkloristischenAllerweltsweisheit. Und die Ungleichheit <strong>de</strong>r Vermögensverteilung ist heute sogar vielausgeprägter als zu M.s Zeit, auch wenn sich die Lebensverhältnisse <strong>de</strong>r Arbeiterklasse, verglichenmit <strong>de</strong>r Lage <strong>de</strong>r Arbeiter 1866, verbessert haben. O<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs gesagt: 1860 war <strong>de</strong>rHaushalt e<strong>in</strong>es englischen Facharbeiters mit <strong>de</strong>n Massenwaren se<strong>in</strong>er Zeit ausgestattet. Heute ist<strong>de</strong>r Haushalt e<strong>in</strong>es Facharbeiters mit <strong>de</strong>n Massenwaren unserer Zeit ausgestattet. Der eigentlicheUnterschied liegt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Warenwelt.Die diversen Armuts- und Reichtumsberichte <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung und an<strong>de</strong>re Untersuchungen,die zum Thema "Armut <strong>in</strong> Deutschland" durchgeführt wur<strong>de</strong>n, liefern weiteres Material, ganzähnlich <strong>de</strong>m, das M. ausgewertet hat, freilich auf <strong>de</strong>m Niveau e<strong>in</strong>es 150 Jahre dauern<strong>de</strong>n Klassenkampfs,<strong>in</strong> <strong>de</strong>ssen Verlauf nicht nur die Arbeiterklasse mehr Rechte erkämpft hat. Auch dieBourgeoisie hat nach vielen ökonomischen und <strong>pol</strong>itischen Krisen gelernt, die Vorteile regulierter,konfliktreduzieren<strong>de</strong>r Akkumulationsregimes höher e<strong>in</strong>zuschätzen - zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st bis jetzt.Daher s<strong>in</strong>d auch heute die Wohnverhältnisse e<strong>in</strong>es Hartz IV Opfers besser als die <strong>de</strong>r englischenWan<strong>de</strong>rarbeiter im Kanalbau 1855. Nur ist das nicht <strong>de</strong>r Vergleich. Denn dann könnte manMenschen auch <strong>in</strong> Hühnerställe sperren und sagen: Immer noch besser als frühgermanische Erdhöhlenim späten Neolithikum. Wenn wir jedoch die Entwicklung <strong>de</strong>r letzten 25 Jahre fürDeutschland betrachten, f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir parallel mit <strong>de</strong>m erfolgreichen Versuch, e<strong>in</strong>en neoliberal <strong>de</strong>regulierten<strong>Kapital</strong>ismus weltweit durchzusetzen, das absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischenAkkumulation wie<strong>de</strong>r sehr viel spürbarer an <strong>de</strong>r Arbeit. Die "mannigfachen Umstän<strong>de</strong>",die das Gesetz seit M.s Zeiten modifizieren, s<strong>in</strong>d nicht immer dieselben. Wir leben <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>erPhase, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r das von M. formulierte Gesetz wie<strong>de</strong>r an Spürbarkeit gew<strong>in</strong>nt.Wir f<strong>in</strong><strong>de</strong>n e<strong>in</strong>e erweiterte Perspektive, wenn wir nach <strong>de</strong>n Folgen <strong>de</strong>s Verwertungszwangs <strong>de</strong>rAkkumulation nicht nur <strong>in</strong> unseren staatlichen Grenzen forschen. Die Verwertungssphäre <strong>de</strong>svon Deutschland aus operieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s überschreitet staatliche Grenzen und Kont<strong>in</strong>ente.Dort s<strong>in</strong>d die Wirkungen <strong>de</strong>s Akkumulationsregimes durchaus <strong>de</strong>nen vergleichbar, die M. für<strong>de</strong>n Zeitraum 1846 bis 1866 für England untersuchte. Wir kennen die Verarmung großer <strong>Teil</strong>e<strong>de</strong>r Weltbevölkerung, die Folge kapitalistischer Eroberung ist. Millionen Menschen wer<strong>de</strong>n durchHungersnöte heimgesucht, die <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>r traditionellen Landwirtschaft entspr<strong>in</strong>gen.Zwischen <strong>de</strong>n Lebensverhältnissen an <strong>de</strong>r Peripherie und M.s Illustrationen zum absoluten, allgeme<strong>in</strong>enGesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich erstaunliche Ähnlichkeiten.Wir s<strong>in</strong>d Zeitzeugen von Kriegen und Bürgerkriegen um Öl- und Gasvorkommen, die <strong>de</strong>r aufWachstum getrimmten kapitalistischen Produktionsweise als lebensnotwendig ersche<strong>in</strong>en. Wennwir die von globalisierungskritischen Bewegungen reichlich zusammengetragenen Anklagepunktegegen <strong>de</strong>n globalisierten <strong>Kapital</strong>ismus e<strong>in</strong>beziehen, gew<strong>in</strong>nt M.s Gesetz noch mehr an aktuellerBrisanz. Und se<strong>in</strong>e direkte, klare Aussage von 1867 ersche<strong>in</strong>t uns dann gar nicht mehr als sozeitenfern.SchlußfolgerungenKönnen wir mit M.s Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulation etwas anfangen? In je<strong>de</strong>r H<strong>in</strong>sicht. Denn es ergebensich für uns e<strong>in</strong>ige wichtige Schlußfolgerungen, die wir für <strong>de</strong>n Fortgang unserer Untersuchungim Gedächtnis behalten wollen:178


<strong>1.</strong> M. stellt fest: "Die Akkumulation von Reichtum auf <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en Pol ist also zugleich Akkumulationvon Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradationauf <strong>de</strong>m Gegen<strong>pol</strong>."Dieser "antagonistische Charakter <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation", wie M. das nennt, istnicht Ergebnis fehlerhafter Politik o<strong>de</strong>r Ausdruck e<strong>in</strong>er natürlichen Ordnung. Er ist <strong>in</strong>neresMerkmal <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise und ihr untrennbar e<strong>in</strong>gebaut. 366 Deshalb könnensozial<strong>pol</strong>itische Maßnahmen die Folgen zwar mil<strong>de</strong>rn; das wären dann e<strong>in</strong>ige <strong>de</strong>r von M.selbst angesprochenen "modifizieren<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>". Die Ursachen lassen sich dadurch jedochnicht beseitigen; sie wirken weiter. 367 <strong>Das</strong> hat Folgen. Wer sich unter diesen antagonistischenBed<strong>in</strong>gungen hartnäckig für Gerechtigkeit e<strong>in</strong>setzt, wird früher o<strong>de</strong>r später grundsätzliche Fragenzum System stellen müssen. Der muß womöglich zum Umstürzler wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r grundsätzlicheVerän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionsweise <strong>de</strong>r Gesellschaft anstrebt, wenn er nicht verzweifelno<strong>de</strong>r sich letztenen<strong>de</strong>s doch anpassen und ergeben will.2. M. stellt fest: Die wachsen<strong>de</strong> Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit wird nicht zu e<strong>in</strong>em Mittel <strong>de</strong>r Befreiungvon <strong>de</strong>r Arbeitslast und zu e<strong>in</strong>em Instrument <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Wohlstandssteigerung; imGegenteil: "je höher die Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit, <strong>de</strong>sto größer <strong>de</strong>r Druck <strong>de</strong>r Arbeiter auf ihreBeschäftigungsmittel (= <strong>de</strong>sto größer <strong>de</strong>r Druck auf <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt), <strong>de</strong>sto prekärer also ihreExistenzbed<strong>in</strong>gung." 368Dar<strong>in</strong> fasst M. die abson<strong>de</strong>rlichen Ergebnisse zusammen, die zu se<strong>in</strong>er Zeit mit <strong>de</strong>r stürmischenKarriere <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise ganz offensichtlich verbun<strong>de</strong>n waren: Trotz steilerEntwicklung <strong>de</strong>r Produktivität wird die Arbeitszeit nicht verkürzt, son<strong>de</strong>rn auf nie zuvor erreichteLängen geschraubt. Statt mehr freie Zeit zu haben, wird <strong>de</strong>r neu entstehen<strong>de</strong>n Arbeiterklassepraktisch die gesamte Lebenszeit <strong>in</strong> Arbeitszeit verwan<strong>de</strong>lt. Statt steigen<strong>de</strong>r Löhne f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wirFamilien, die nur dank <strong>de</strong>r Mitarbeit <strong>de</strong>r Frauen und K<strong>in</strong><strong>de</strong>r überleben können. S<strong>in</strong>d das wirklichalles Nachrichten aus <strong>de</strong>r Vergangenheit?Die soziale Unsicherheit <strong>de</strong>r Lohnarbeiter, ihre völlige Abhängigkeit von <strong>de</strong>n Verwertungs<strong>in</strong>teressen,wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> 150 Jahren Klassenkampf durch soziale Sicherungssysteme und Arbeitsrecht reduziert,aber niemals beseitigt. Wie sollte das gehen, ohne <strong>de</strong>n Verwertungs<strong>in</strong>teressen selbst ansLe<strong>de</strong>r zu gehen? In <strong>de</strong>n letzten 25 Jahren e<strong>in</strong>es zunehmend <strong>de</strong>regulierten <strong>Kapital</strong>ismus nimmtsogar <strong>in</strong> Deutschland, das immer mit se<strong>in</strong>er sozialen Sicherheit renommierte, die Unsicherheit366<strong>Das</strong> ist wichtig zu beachten: M. geht es nicht um die Erklärung <strong>de</strong>r "Armut an sich"; so etwas wäre für ihn e<strong>in</strong>e unfruchtbare, weilüberhistorische Konstruktion. Es geht auch nicht um die Frage, ob es immer Armut gegeben hat o<strong>de</strong>r immer wie<strong>de</strong>r geben wird, ob Armute<strong>in</strong>e menschliche Konstante ist usw. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r Vorwurf, <strong>de</strong>n M. im letzten Zwischentext se<strong>in</strong>en Vorgängern macht, wenn sie die unterkapitalistischen Bed<strong>in</strong>gungen produzierte Armut und "analoge, aber <strong>de</strong>nnoch wesentlich verschie<strong>de</strong>ne Ersche<strong>in</strong>ungen vorkapitalistischerProduktionsweisen damit zusammenwerfen." (MEW 23, S.675)Es geht um die Armut, die aus <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise als Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>r Akkumulation und damit als Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s gesellschaftlichenReichtums hervorwächst. Dabei soll nicht alles "<strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>ismus" <strong>in</strong> die Schuhe geschoben wer<strong>de</strong>n. Neben <strong>de</strong>m formationsspezifischenElend gibt es menschliches Leid, das <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>m Leben selbst, nicht <strong>de</strong>r Produktionsweise entspr<strong>in</strong>gt: Körperliche undseelische Erkrankungen, Verlust von Angehörigen, Unfallfolgen und an<strong>de</strong>res. Die Unterscheidung ist wichtig: <strong>Das</strong> formationsspezifischeElend kann beseitigt, das <strong>de</strong>m Leben selbst entspr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong> Leid kann nur bewältigt wer<strong>de</strong>n.Freilich muß man aufpassen, dass man das e<strong>in</strong>e nicht mit <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren verwechselt. Viele Erkrankungen, die uns als Lebensschicksal ersche<strong>in</strong>en,s<strong>in</strong>d tatsächlich ihrer Entstehung, vor allem aber ihrer sozialen Verteilung nach eng mit <strong>de</strong>r Produktionsweise und <strong>de</strong>n von ihrproduzierten und ungleich verteilten Belastungen und Gesundheitsrisiken verbun<strong>de</strong>n. Und natürlich ist e<strong>in</strong>e schwere Erkrankung durchgute mediz<strong>in</strong>ische Versorgung allemal besser zu bewältigen als ohne.367In Deutschland wer<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s Jahr nach wie vor beachtliche Mittel aufgewen<strong>de</strong>t, um die strukturellen Ungleichheiten <strong>de</strong>r Reichtumsverteilungabzuschwächen. Was aber durch solche Maßnahmen am unteren En<strong>de</strong> erreicht wird, geht durch fortschreiten<strong>de</strong> Akkumulation amoberen En<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r verloren. Tatsächlich schreitet <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten 25 Jahren die strukturelle Produktion <strong>de</strong>r Armut schneller voran als se<strong>in</strong>e"Modifizierung" durch soziale Transfers.368MEW 23, S.674179


und die prekäre Existenz <strong>de</strong>r Lohnabhängigen für alle spürbar zu, nicht obwohl, son<strong>de</strong>rn weil imselben Zeitraum die Arbeitsproduktivität weiter angewachsen ist. 3693. M. stellt fest: "Es folgt daher, daß im Maße wie <strong>Kapital</strong> akkumuliert, die Lage <strong>de</strong>s Arbeiters,welches immer se<strong>in</strong>e Zahlung, hoch o<strong>de</strong>r niedrig, sich verschlechtern muß."Zwischenfrage 57: Gibt es e<strong>in</strong> Gesetz <strong>de</strong>r absoluten Verelendung? (S.291)Die Lage <strong>de</strong>s Arbeiters verschlechtert sich unabhängig von <strong>de</strong>r Lohnhöhe: Hier spricht M. nichtmehr vom Gesamtarbeiter, son<strong>de</strong>rn vom <strong>in</strong>dividuellen Arbeiter, <strong>de</strong>r mit wachsen<strong>de</strong>r Produktivkraft<strong>de</strong>r Arbeit zu e<strong>in</strong>em austauschbaren Faktor <strong>de</strong>r Produktion, zu e<strong>in</strong>em "verstümmelten<strong>Teil</strong>menschen" <strong>de</strong>gradiert wird, <strong>de</strong>ssen Lebenszeit sich <strong>in</strong> Arbeitszeit verwan<strong>de</strong>lt.M.s Perspektive ist viel umfassen<strong>de</strong>r als unsere heutige Armuts<strong>de</strong>batte, die sich am E<strong>in</strong>kommen,bestenfalls an <strong>de</strong>r Vermögensverteilung orientiert. Er beschreibt die Perspektive mit <strong>de</strong>n BegriffenElend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation. <strong>Das</strong>s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Schlagworte, son<strong>de</strong>rn nur Zusammenfassung se<strong>in</strong>er eigenen Analysen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen er<strong>de</strong>r Wirkungsweise <strong>de</strong>s Gesetzes unter klassischen, nicht modifizierten Bed<strong>in</strong>gungen nachspürt.Wie steht es heute unter <strong>de</strong>n nicht klassischen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>es immer noch vielfältig regulierten<strong>Kapital</strong>ismus um M.s Perspektive? Gewiß wäre es unfair, gleich von "moralischer Degradation"zu sprechen, nur weil wir preiswerte T-Shirts o<strong>de</strong>r preisgünstige Jeans tragen, die für miesesteLöhne unter schwierigsten Bed<strong>in</strong>gungen von praktisch rechtlosen Frauen und K<strong>in</strong><strong>de</strong>rn <strong>in</strong>weit entfernten Län<strong>de</strong>rn hergestellt wur<strong>de</strong>n. Es wäre unfair, aber nicht völlig abwegig. Undkönnen wir nicht auch von e<strong>in</strong>er Brutalisierung unserer Lebensverhältnisse sprechen, weil "Ellenbogenverhalten"am Arbeitsplatz, <strong>in</strong> Schule, Studium, auf <strong>de</strong>r Autobahn und sonstwo als dynamischund clever gelten und das Gesetz <strong>de</strong>r Nächstenliebe (um nicht von Solidarität zu re<strong>de</strong>n)tief <strong>in</strong> die Reservate von Sonntags- und Weihnachtsre<strong>de</strong>n verdrängt wur<strong>de</strong>? Mit welcher Lässigkeitwird heute <strong>in</strong> Bild und Ton über brutale Kriege berichtet? Mit welcher Selbstverständlichkeitwer<strong>de</strong>n diese geführt, wer<strong>de</strong>n Bombar<strong>de</strong>ments und Leichen im Fernsehen live präsentiert? Je<strong>de</strong>rnehme e<strong>in</strong>e Tageszeitung o<strong>de</strong>r das tägliche Fernsehprogramm und suche sich weitere Beispielefür das, was M. Brutalisierung und moralische Degradation nennt.Zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st sollten wir M.s H<strong>in</strong>weise als ernsthaften Denkanstoß nutzen: Was richtet das aufWachstum ausgerichtete Akkumulationsregime mit unserer Lebensweise, mit unserer Umwelt,mit unseren Beziehungen zu an<strong>de</strong>ren Menschen hier und sonstwo auf <strong>de</strong>r Welt an? Ist es <strong>de</strong>nnnormal, wenn normale <strong>de</strong>utsche Bürger über Menschen <strong>in</strong> Polen o<strong>de</strong>r Ch<strong>in</strong>a immer mehr alsKonkurrenten für "unsere Produktion" und "unseren Export" re<strong>de</strong>n? Liegt <strong>de</strong>r gegenwärtig geschürtenIslam-Furcht nicht doch <strong>de</strong>r Ärger über die arabischen Völker zugrun<strong>de</strong>, die, wie es e<strong>in</strong>Witz <strong>de</strong>r US-Frie<strong>de</strong>nsbewegung sagt, frecherweise ihr Land auf unserem Öl gegrün<strong>de</strong>t haben? In369Als die SPD 1891 e<strong>in</strong>en Entwurf für ihr neues Parteiprogramm vorlegte, stand dar<strong>in</strong> auch dieser Satz: "Immer größer wird die Zahl unddas Elend <strong>de</strong>r Proletarier". Engels fand die Formulierung unpassend; er schrieb: "Dies ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation<strong>de</strong>r Arbeiter, ihr stets wachsen<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand wird <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>s Elends möglicherweise e<strong>in</strong>en gewissen Damm entgegensetzen.Was aber sicher wächst, ist die Unsicherheit <strong>de</strong>r Existenz. <strong>Das</strong> wür<strong>de</strong> ich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>setzen." (MEW 22, S.231) Die Unsicherheit <strong>de</strong>r Existenz füralle Lohnabhängigen tritt auch heute immer mehr als zentrales Merkmal ihrer Lebenslage zu Tage, aus <strong>de</strong>m sich viele an<strong>de</strong>re Merkmale<strong>de</strong>s "Elends" (psychische Belastungen, De-Solidarisierung, Verlust von Selbstwert und Wür<strong>de</strong>) ableiten. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Studie vom April 2009 <strong>de</strong>rOrganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) besagt, dass 1,8 Milliar<strong>de</strong>n Menschen, das s<strong>in</strong>d 60% <strong>de</strong>r globalenArbeitsbevölkerung, ohne formellen Arbeitsvertrag und ohne soziale Absicherung <strong>in</strong> sogenannten "<strong>in</strong>formellen Arbeitsverhältnissen"stehen. <strong>Das</strong> be<strong>de</strong>utet: ger<strong>in</strong>ge Entlohnung, hohe Unfallgefahr und nicht kontrollierte Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen, fehlen<strong>de</strong> soziale Absicherungbei Krankheit und Unfall (von Rente ganz zu schweigen) und daher e<strong>in</strong> sehr viel höheres Armutsrisiko. Die OECD ist e<strong>in</strong>e <strong>pol</strong>itische Plattform<strong>de</strong>r wirtschaftsstärksten Staaten. Doch die Studie muß e<strong>in</strong>räumen, dass die Zunahme ungesicherter, je<strong>de</strong>rzeit kündbarer Arbeitsverhältnisseauch für die entwickelten kapitalistischen Län<strong>de</strong>r gilt.180


diesem Wirrwarr <strong>de</strong>r Propaganda und nationalistischen Impfungen hilft M. uns, die richtigenFragen zu stellen. Und wer sich um eigene Antworten bemüht, könnte für sich wenigstens <strong>de</strong>nPunkt Unwissenheit aus M.s Liste <strong>de</strong>s Elends streichen.4. <strong>Das</strong> absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulation ist M.s zweite Schnittstelle, die von <strong>de</strong>r<strong>pol</strong>itischen Ökonomie zur Analyse sozialer Verhältnisse führt. Während die Theorie vom relativenMehrwert die Fragen nach <strong>de</strong>n Strukturverän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters <strong>in</strong> Bezug auf <strong>de</strong>nProduktionsprozess aufwarf, geht es jetzt um weitergehen<strong>de</strong> Fragen: Wie wirken sich die wechseln<strong>de</strong>nAkkumulationsregimes auf die Lage <strong>de</strong>r Arbeiterklasse und die Lebenslagen ihrer <strong>Teil</strong>gruppenaus? Welche Folgen haben Verän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>s Gesamtarbeiters, <strong>in</strong> <strong>de</strong>rOrganisation <strong>de</strong>r betrieblichen Arbeitsabläufe, haben neue Technologien, Lohn- und Tarifsystemeauf Gesundheit, soziales Verhalten und <strong>pol</strong>itische E<strong>in</strong>stellungen? Wie verän<strong>de</strong>rt sich die kulturelleLebensweise? Wie verän<strong>de</strong>rn sich die Wertsysteme und tatsächlichen Wertorientierungen?usw. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d zentrale Fragen für je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich antikapitalistischer Poltik verschreibt.5. M.s 1867 für die Phase <strong>de</strong>s praktisch unregulierten Freihan<strong>de</strong>ls- und Konkurrenzkapitalismusformulierte Gesetz sollte uns auch e<strong>in</strong> ständiger W<strong>in</strong>k mit <strong>de</strong>m Zaunpfahl, sogar e<strong>in</strong>e Art Menetekel370 se<strong>in</strong>. M.s Gesetz macht uns klar, was passiert, wenn wir erreichte soziale und <strong>pol</strong>itischeRechte für selbstverständlich halten. Es er<strong>in</strong>nert uns an <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Zusammenhang: Alle Errungenschaften<strong>de</strong>s Klassenkampfs s<strong>in</strong>d unbeständig, bedürfen <strong>de</strong>r stetigen kämpferischen Erneuerungund laufen Gefahr, während <strong>de</strong>r regelmäßigen Akkumulationskrisen beseitigt zu wer<strong>de</strong>n.371 Was alles kann uns auch hierzulan<strong>de</strong> noch blühen, wenn wir es geschehen lassen?370Unheil verkün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Warnung371Er<strong>in</strong>nern unsere nunmehr 150 Jahre dauern<strong>de</strong>n Bemühungen, das absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r Akkumulation <strong>in</strong> Schranken zu verweisen,womöglich an Sisyphos, <strong>de</strong>n erst cleveren, dann ziem- lich elen<strong>de</strong>n Griechen, <strong>de</strong>r immerfort e<strong>in</strong>e unlösbare Aufgabe zu lösen versuchte?Den hatten die Götter, die offenbar stolz auf ihren grimmig-zynischen Humor waren, dazu verurteilt, im Totenreich e<strong>in</strong>en schweren Ste<strong>in</strong><strong>de</strong>n Berg h<strong>in</strong>aufzurollen. Je<strong>de</strong>smal, wenn es be<strong>in</strong>ahe geschafft war, stürzte <strong>de</strong>r Ste<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Berg wie<strong>de</strong>r h<strong>in</strong>unter. <strong>Das</strong> bösartige Götterspielchenbegann für Sisyphos von vorn.Und wofür die Strafe? Sisyphos verriet e<strong>in</strong>en von Zeus' zahllosen Vergewaltigungsplänen an <strong>de</strong>n Vater <strong>de</strong>s ausgewählten Opfers. Dafürsollte Sisyphos (nicht Zeus) zur Strafe <strong>in</strong>s Totenreich. Allerd<strong>in</strong>gs gelang es ihm, <strong>de</strong>n Tod, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Gefangenentransport übernehmen sollte,zu übertölpeln und zu fesseln und <strong>de</strong>ssen Macht über das Leben damit zu been<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> mißfiel wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Göttern, vor allem KriegsgottAres, <strong>de</strong>m offenbar die Schlachtfeldopfer davonliefen. Ares befreite <strong>de</strong>n Tod, <strong>de</strong>r dann doch noch Sisyphos <strong>in</strong>s Totenreich verschleppte undihm se<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>e Strafarbeit aufbrummte. Da niemand sich mit <strong>de</strong>n Göttern und ihrer Propagandaabteilung ungestraft anlegt, gilt Sisyphosseit<strong>de</strong>m <strong>in</strong> gebil<strong>de</strong>ten Kreisen als <strong>de</strong>r verschlagenste und h<strong>in</strong>terhältigste aller Menschen. Was nur beweist, dass Bildung alle<strong>in</strong> auchnichts taugt.Gottseidank haben wir mit solchen Göttern nichts am Hut. Unser Rezept gegen hoffnungslos sche<strong>in</strong>en<strong>de</strong> Fälle dieser Art: Geme<strong>in</strong>samhan<strong>de</strong>ln, nicht alle<strong>in</strong>e anpacken (Solidarität!), alles gut organisieren (Synergien nutzen!), e<strong>in</strong>e Menge Seile, e<strong>in</strong>en Flaschenzug und or<strong>de</strong>ntlicheKeile mitnehmen (Produktivkräfte beherrschen!), dann oben am Gipfel mit 'nem Ruck <strong>de</strong>n Ste<strong>in</strong> hoch wuchten (Überraschungseffekt!).<strong>Das</strong> wär's.181


Kapitel 12: Der Zirkulationsprozeß <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sIm 2. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" geht es um <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Wir erfahren,wie sich Geld <strong>in</strong> Waren und Produktion und Waren wie<strong>de</strong>r zu Geld verwan<strong>de</strong>ln -wenn alles gut geht.Die schöne Metapher von <strong>de</strong>r "Verschl<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>r Metamorphosen" zeigt uns die Gefahren,sobald <strong>de</strong>r Zwang zur Kont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>r Zirkulation auf irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e Stockungtrifft.<strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> BewegungWir er<strong>in</strong>nern uns an unseren E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong>s Thema. Da sammelten wir die Werbeprospekte e<strong>in</strong>erWoche und warfen so e<strong>in</strong>en gebün<strong>de</strong>lten Blick auf unsere reiche alltägliche Warenwelt. Wirmachten uns klar, was sich h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>n Prospekten verbirgt: Damit uns e<strong>in</strong> solcher Prospekt irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>enKauf empfehlen kann, ob Hose o<strong>de</strong>r DVD-Player o<strong>de</strong>r Tiefkühlpizza, hat bereits dieProduktion stattgefun<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r Produktion gehen selbst zahllose Käufe voran: Rohstoffe, Masch<strong>in</strong>enund E<strong>in</strong>zelteile wer<strong>de</strong>n gekauft, die ebenfalls zuvor produziert wur<strong>de</strong>n und zu <strong>de</strong>renProduktion ebenfalls Rohstoffe, Masch<strong>in</strong>en und E<strong>in</strong>zelteile gekauft wer<strong>de</strong>n mußten. Und zu <strong>de</strong>renProduktion… Es ist e<strong>in</strong> verwobenes, sich ständig verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>s Netz von vielen MillionenKäufen und Verkäufen, das Tag für Tag die vielen hun<strong>de</strong>rttausend Produktionsprozesse mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rverknüpft. Und <strong>de</strong>r Erfolg aller Bemühungen hängt davon ab, dass diese Waren nichtnur als <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>er Kette produziert, son<strong>de</strong>rn immer auch als En<strong>de</strong> e<strong>in</strong>er Kette von Produktionsprozessenverkauft und konsumiert wer<strong>de</strong>n und aus <strong>de</strong>n Lagern und Geschäften verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n,um Platz für neue Waren zu machen.Wir haben alles beie<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, um diesen offenbar komplexen Prozess, <strong>de</strong>n M. <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s nennt, genauer zu untersuchen. Dabei haben wir es mal wie<strong>de</strong>r mit e<strong>in</strong>emWechsel <strong>de</strong>r Perspektive zu tun: Erstens gehen wir näher an <strong>de</strong>n Prozess heran, ohne uns von<strong>de</strong>r Vielfalt verwirren zu lassen. Wir wissen, dass je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne Prozess von Kauf, Produktionund Verkauf für sich ablaufen muß. Se<strong>in</strong>e Elemente s<strong>in</strong>d uns bekannt. Jetzt kommt es darauf an,diesen Prozess genauer als Abfolge bestimmter notwendiger Phasen zu betrachten.Im Kapitel über <strong>de</strong>n Mehrwert haben wir die Mehrwertproduktion als <strong>de</strong>n Oberschiedsrichterkennengelernt, <strong>de</strong>r über Erfolg o<strong>de</strong>r Mißerfolg kapitalistischer Entwicklung entschei<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r erfolgreicheEntwicklungen befeuert und fehlgeschlagene Entwicklungen auf <strong>de</strong>n wahren Mehrwertwegzurückholt. Im Kapitel über die Akkumulation haben wir das typisch kapitalistische Verfahrenkennengelernt, diesen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz angetriebenen Prozess durch Wachstum <strong>in</strong>Gang zu halten. Jetzt wollen wir die Vernetzung <strong>de</strong>r Prozesse <strong>in</strong> unsere Überlegungen e<strong>in</strong>beziehen.Beziehungen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d ja nicht alle<strong>in</strong> über die Konkurrenz gegeben; das istkomplizierter. Gleichzeitig bestehen zwischen ihnen zahllose Abhängigkeiten: Man bekämpftsich, aber man ist auch aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r angewiesen. Die Produktion <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en ist Voraussetzung <strong>de</strong>rProduktion <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren. Wächst <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e, müssen viele an<strong>de</strong>re mitwachsen. Geht <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en<strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>n aus, ist das auch <strong>de</strong>r Verlust vieler mit ihm vernetzter <strong>Kapital</strong>e, aber <strong>de</strong>r Zugew<strong>in</strong>nan<strong>de</strong>rer. Wir wollen besser verstehen, warum M. trotz dieses Wirrwarrs wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>r, mißgünstiger,<strong>in</strong> vieler H<strong>in</strong>sicht sogar fe<strong>in</strong>dlicher Privat<strong>in</strong>teressen vom gesellschaftlichen Charakter<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion spricht.182


Die Vernetzung ist ke<strong>in</strong> statisches Flechtwerk. Von unserem doch eher geruhsamen W-G-W undG-W-G' müssen wir uns verabschie<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> Flechtwerk mit Namen "Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s"zeigt alle beteiligten <strong>Kapital</strong>e <strong>in</strong> ständiger Bewegung. Für diese Bewegung spielt die Zeite<strong>in</strong>e große Rolle. Wir greifen unsere frühere Feststellung auf, dass nämlich <strong>in</strong> dieser Bewegung,die durch längere o<strong>de</strong>r kürzere Umschlagszeiten <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s erzeugt wird, wesentliche Reserven<strong>de</strong>r Verwertung liegen. Wir wollen herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, warum <strong>Kapital</strong> nicht bloß Verwertung, son<strong>de</strong>rnsich ausweiten<strong>de</strong>, möglichst schnelle Verwertung <strong>in</strong> möglichst kurzen Zyklen zum Ziel habenmuß und wie diese Ökonomie <strong>de</strong>r Zeit auf die Konkurrenz <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e zurückwirkt.Wir wollen <strong>de</strong>shalb unsere <strong>Spurensuche</strong> <strong>in</strong> Sachen Kredit fortsetzen. Mit <strong>de</strong>m G-W-G'-W'-G''-W''-G''' Schema <strong>de</strong>r Akkumulation s<strong>in</strong>d wir <strong>de</strong>m Verwertungszwang auf die Spur gekommen,<strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s kapitalistischen Wachstums ist. Mit <strong>de</strong>m Schema <strong>de</strong>r Akkumulation wird dieForm dieses Prozesses als Kreislauf bereits ange<strong>de</strong>utet. Jetzt wird die Kreislaufbewegung selbstGegenstand <strong>de</strong>r Untersuchung und wir wollen herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wie sich an verschie<strong>de</strong>nen Stellendieses Kreislaufs <strong>de</strong>r Kredit als festes Systemelement etabliert und zunehmen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluß auf dieGestaltung <strong>de</strong>s Prozesses gew<strong>in</strong>nt - nicht zufällig, son<strong>de</strong>rn notwendigerweise.Auch wird es Zeit, stärker als bisher e<strong>in</strong>e weitere Leitfrage unserer <strong>Studienreise</strong> <strong>in</strong>s "<strong>Kapital</strong>"aufzugreifen, die Frage nach <strong>de</strong>n Ursachen <strong>de</strong>r Wirtschaftskrisen nämlich. Die Frage ist nicht: Anwelchen Stellen <strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses lauern Gefahren? Denn die lauern für e<strong>in</strong>en <strong>de</strong>rartkomplexen Prozess, mit <strong>de</strong>m wir es hier zu tun haben, an allen Ecken und En<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r wie M.sagt: "Die Kompliziertheit <strong>de</strong>s Prozesses selbst bietet ebensoviel Anlässe zu anormalem Verlauf."372 Wir suchen nach <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Problemen, die auch dann Krisen hervorbr<strong>in</strong>gen, wennalle an<strong>de</strong>ren Abläufe <strong>in</strong> gera<strong>de</strong>zu i<strong>de</strong>aler Weise funktionieren, wie unwahrsche<strong>in</strong>lich das auchse<strong>in</strong> mag. Wir suchen also nach <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Wi<strong>de</strong>rsprüchen, gegen die sozusagen ke<strong>in</strong> Krautgewachsen ist.Kreislauf <strong>de</strong>s GeldkapitalsM. untersucht <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s aus drei Perspektiven, nämlich als Kreislauf 373<strong>de</strong>s Geldkapitals, als Kreislauf <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s und als Kreislauf <strong>de</strong>s Warenkapitals. Wirbefassen uns hier ausführlich nur mit <strong>de</strong>m Kreislauf <strong>de</strong>s Geldkapitals, von <strong>de</strong>m M. sagt, er sei"die e<strong>in</strong>seitigste darum schlagendste und charakteristischste Ersche<strong>in</strong>ungsform <strong>de</strong>s Kreislaufs<strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>ssen Ziel und treiben<strong>de</strong>s Motiv: Verwertung <strong>de</strong>s Werts, Geldmachenund Akkumulation." 374372MEW 24, S.491373<strong>Das</strong> Bild vom Kreislauf übernehmen wir von M. selbst. Wieweit auch dieses Bild, wie so oft bei M., auf Erkenntnisse <strong>de</strong>r Naturwissenschaftanspielt, etwa auf die mediz<strong>in</strong>ische Beschreibung <strong>de</strong>s Blutkreislaufs, wissen wir nicht. Wenn es sich alle<strong>in</strong> um die geometrische Figur<strong>de</strong>s Kreises han<strong>de</strong>lt, wäre jedoch <strong>de</strong>r Vergleich mit e<strong>in</strong>er Spirale womöglich passen<strong>de</strong>r, weil die Kreisbewegung selbst dank <strong>de</strong>r Akkumulationan "Höhe" gew<strong>in</strong>nt. Daran ist immer zu <strong>de</strong>nken, wenn wir auch nicht immer ausdrücklich darauf h<strong>in</strong>weisen. Doch ob Kreislaufo<strong>de</strong>r Spirale: In je<strong>de</strong>m Fall ist es nur e<strong>in</strong> Bild zur Ver<strong>de</strong>utlichung.374MEW 24, S.65. Über se<strong>in</strong>e Analyse <strong>de</strong>r Kreisläufe aus <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Perspektiven sagt M.: "So stellt sich <strong>de</strong>r ganze Unterschied alse<strong>in</strong> bloß formaler dar, o<strong>de</strong>r auch als e<strong>in</strong> bloß subjektiver, nur für <strong>de</strong>n Betrachter bestehen<strong>de</strong>r Unterschied." (MEW 24, S.105)Aber wenn es auch nur e<strong>in</strong> formaler Unterschied ist, so ist doch die Analyse dieser "bloß formalen" Unterschie<strong>de</strong> ke<strong>in</strong> Zeitvertreib. Wirwissen <strong>in</strong>zwischen, wie zentral <strong>in</strong> M.s Metho<strong>de</strong> die Analyse <strong>de</strong>r Formen ist: <strong>Das</strong>s etwas geschieht, ist wichtig festzustellen. Aber viel <strong>in</strong>teressanterist ihm die Frage, <strong>in</strong> welcher Form es geschieht und wovon diese Formen abhängen. Dem Wechsel <strong>de</strong>r Form kann er nur durch<strong>de</strong>n Wechsel <strong>de</strong>r Perspektive auf die Spur kommen. Nur dadurch wird klar, dass Geld und Waren und Masch<strong>in</strong>en ke<strong>in</strong>e Faktoren o<strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong>,son<strong>de</strong>rn immer dasselbe sich bewegen<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong> ist. Über <strong>de</strong>n Formwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>sselben <strong>Kapital</strong>s kommt er se<strong>in</strong>er Bewegung auf dieSpur.183


Den Kreislauf <strong>de</strong>s Geldkapitals kennen wir schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Grundform G-W-G'. <strong>Das</strong> reichte aus, solangewir uns auf die Frage konzentrierten, wie überhaupt unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Wertgesetzese<strong>in</strong> Strich ans G' kommen kann. Dabei g<strong>in</strong>g es um die sozialen Voraussetzungen und um dieFormen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, die e<strong>in</strong>e kapitalistische Mehrwertproduktion als eigene Produktionsweisehervorbr<strong>in</strong>gen konnten. Alles <strong>in</strong> allem war es das große Thema, das M. im <strong>1.</strong> Bandvom "<strong>Kapital</strong>" abhan<strong>de</strong>lt. 375Jetzt gehen wir e<strong>in</strong>ige Schritte weiter. Wie funktioniert die Verwertung vieler zusammenhängen<strong>de</strong>rund ständig sich wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong>r Prozesse? Hierbei ist es ja mit Produktion von Mehrwertalle<strong>in</strong> nicht getan. Für M. ist <strong>de</strong>r damit verbun<strong>de</strong>ne regelmäßige Formwan<strong>de</strong>l 376 <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>swährend se<strong>in</strong>es Kreislaufs, vom Geldkapital zum produktiven <strong>Kapital</strong> zum Warenkapital undwie<strong>de</strong>r zum Geldkapital, <strong>de</strong>r Schlüssel zum Verständnis <strong>de</strong>s komplexen Prozesses und se<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>gebautenRisiken.<strong>Das</strong> Grundschema für <strong>de</strong>n Kreislauf umfaßt drei Stadien, die M. als G-W ... P... W'-G' codiert.Im ersten Stadium G-W ersche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist auf <strong>de</strong>m Waren- und Arbeitsmarkt und kauft diefür die Produktion notwendigen Waren. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffe und alle übrigenunbelebten Elemente <strong>de</strong>r Produktion, die wir als Produktionsmittel bezeichnen. Dafür ist außer<strong>de</strong>me<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>reichen<strong>de</strong> Menge an Arbeitskraft erfor<strong>de</strong>rlich, mit <strong>de</strong>nen diese Produktionsmittelbelebt wer<strong>de</strong>n sollen. Deshalb hat <strong>de</strong>r Kauf hier zwei Richtungen: G-A symbolisiert <strong>de</strong>n Kauf <strong>de</strong>rArbeitskraft, G-Pm <strong>de</strong>n Kauf <strong>de</strong>r Produktionsmittel. <strong>Das</strong> erste Stadium <strong>de</strong>s Kreislaufs sorgt <strong>in</strong> M.sSprache für die Umwandlung <strong>de</strong>s Geldkapitals <strong>in</strong> produktives <strong>Kapital</strong>, das überhaupt nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>rLage ist, Mehrwert zu produzieren. Doch kl<strong>in</strong>gt das viel e<strong>in</strong>facher, als es ist.Nichts von <strong>de</strong>m, was im Kreislauf <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s geschieht, ist e<strong>in</strong> Selbstläufer. Dabei ist das Zielunseres <strong>Kapital</strong>isten, Produktionsmittel und Arbeitskraft <strong>in</strong> <strong>de</strong>n richtigen Proportionen se<strong>in</strong>er geplantenAnwendung zu kaufen, noch das ger<strong>in</strong>gste Problem. Der von uns so leichthändig symbolisierteKauf von Produktionsmitteln ist an Voraussetzungen gebun<strong>de</strong>n: Erstens muß es für diebenötigten Waren überhaupt e<strong>in</strong>en geeigneten Markt geben. Schlicht gesagt: Es muß dafür e<strong>in</strong>enVerkäufer geben. Und dieser Markt muß verläßlich se<strong>in</strong>, um die Kont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>s Prozesses,also die periodische Zufuhr von Masch<strong>in</strong>en und die regelmäßige Zufuhr von Rohstoffen zu sichern.Dafür ist je<strong>de</strong>smal e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>de</strong>stmenge an Geld erfor<strong>de</strong>rlich. 377375Der erste Band trägt ja nicht ohne Grund <strong>de</strong>n Untertitel "Der Produktionsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s". <strong>Das</strong> ist wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e von M.s beliebtendoppels<strong>in</strong>nigen Formulierungen. Doppels<strong>in</strong>nig, weil es im <strong>1.</strong> Band sowohl darum geht zu zeigen, wie <strong>de</strong>r Produktionsprozess unter <strong>Kapital</strong>regiegestaltet wird, als auch zu zeigen, wie das <strong>Kapital</strong> selbst als soziales Verhältnis produziert wird.376M. schreibt: "Der Kreislaufsprozeß <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s geht vor sich <strong>in</strong> drei Stadien, welche, nach <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>s ersten Ban<strong>de</strong>s, folgen<strong>de</strong>Reihe bil<strong>de</strong>n:Erstes Stadium: Der <strong>Kapital</strong>ist ersche<strong>in</strong>t auf <strong>de</strong>m Warenmarkt und Arbeitsmarkt als Käufer; se<strong>in</strong> Geld wird <strong>in</strong> Ware umgesetzt o<strong>de</strong>rmacht <strong>de</strong>n Zirkulationsakt G – W durch.Zweites Stadium: Produktive Konsumtion <strong>de</strong>r gekauften Waren durch <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten. Er wirkt als kapitalistischer Warenproduzent;se<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> macht <strong>de</strong>n Produktionsprozeß durch. <strong>Das</strong> Resultat ist: Ware von mehr Wert als <strong>de</strong>m ihrer Produktionselemente.Drittes Stadium: Der <strong>Kapital</strong>ist kehrt zum Markt zurück als Verkäufer; se<strong>in</strong>e Ware wird <strong>in</strong> Geld umgesetzt o<strong>de</strong>r macht <strong>de</strong>n ZirkulationsaktW – G durch." (MEW 24, S.31)Den jeweiligen Formwan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s (Geldkapital, produktives <strong>Kapital</strong>, Warenkapital) nennt M als gebil<strong>de</strong>ter Mann die "Metamorphosen<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s". Metamorphose ist e<strong>in</strong> Fremdwort für Verwandlung o<strong>de</strong>r hier besser für Formwandlung.377Wir wissen bereits, dass <strong>in</strong> diesem ersten Stadium <strong>de</strong>s Kreislaufs <strong>de</strong>r Kredit e<strong>in</strong>e große Rolle spielt. Der Bankier o<strong>de</strong>r Investor schießtGeld e<strong>in</strong>, mit <strong>de</strong>m unser <strong>Kapital</strong>ist alles kaufen kann, was für se<strong>in</strong>e Produktion wichtig ist. Dafür erhält <strong>de</strong>r Krediteur zu festgelegten Zeitense<strong>in</strong>e Z<strong>in</strong>sen o<strong>de</strong>r Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Renditen. <strong>Das</strong> än<strong>de</strong>rt nichts am Kreislauf <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, es führt nur zu e<strong>in</strong>er noch weitergehen<strong>de</strong>nVernetzung <strong>de</strong>r Verwertungsprozesse. Denn das Geld, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Bankier arbeitet, stammt ja ebenfalls aus <strong>de</strong>n Kreisläufen an<strong>de</strong>rer <strong>Kapital</strong>e,entwe<strong>de</strong>r als Privatvermögen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten o<strong>de</strong>r als angesammelter Gew<strong>in</strong>n. Der wird nicht immerfort re<strong>in</strong>vestiert, son<strong>de</strong>rn bil<strong>de</strong>tRücklagen für künftige Investitionen.184


Unsere bisherige Annahme, dass es sich dabei um das Geld han<strong>de</strong>lt, das im vorigen Kreislauf alsUmsatz und Mehrwert erzielt wur<strong>de</strong>, taugt nicht mehr. Der Prozess schmiert sich eben nichtselbst. Vielleicht s<strong>in</strong>d die Waren <strong>de</strong>s vorigen Kreislaufs noch gar nicht verkauft? O<strong>de</strong>r es wur<strong>de</strong>nnoch nicht genügend Mittel akkumuliert, um <strong>de</strong>n neuen Kreislauf <strong>in</strong> gewünschter Größenordnungzu beg<strong>in</strong>nen o<strong>de</strong>r fortzusetzen? Sobald wir <strong>de</strong>n Prozess <strong>de</strong>r Verwertung als Kreislauf mo<strong>de</strong>llieren,wird nicht nur die Zeit e<strong>in</strong> wichtiger Faktor für die Verwertung; auch das Geld kommtimmer wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong>s Spiel, um <strong>de</strong>n Prozess zu schmieren und <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>in</strong> Gang zu halten. Wirkommen darauf zurück.Erst wenn Produktionsmittel und Rohstoffe bereitstehen, kann das erste Stadium durch <strong>de</strong>nKauf <strong>de</strong>r Arbeitskraft wirklich abgeschlossen wer<strong>de</strong>n. Produktionsmittel und Arbeitskraft gehörenuntrennbar zusammen, aber <strong>de</strong>r Kauf <strong>de</strong>r Arbeitskräfte macht erst S<strong>in</strong>n, wenn die stofflichenElemente <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses schon vorhan<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. 378 Und die Verfügbarkeit <strong>de</strong>r Arbeitskräfte?Wir haben im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation erfahren, wie es zurHerausbildung <strong>de</strong>r Arbeiterklasse gekommen ist. Und wir haben gesehen, wie sich mit <strong>de</strong>r Verwertung<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s immer auch diese grundlegen<strong>de</strong>n Klassenverhältnisse <strong>de</strong>r Produktionsweisereproduzieren.Gewiß, <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten ist das gleichgültig, solange sich ihm e<strong>in</strong> gut gefüllter Arbeitsmarktanbietet; dafür sorgt die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee, kle<strong>in</strong>ere Störungen e<strong>in</strong>geschlossen.379 Doch um Arbeitskräfte <strong>in</strong> Lohnarbeit zu nehmen, müssen ebenfalls die Lebensmittel fürdie Arbeitskräfte auf Märkten bereitstehen, ob es sich um Wohnungen, Kleidung o<strong>de</strong>r Nahrungsmittelhan<strong>de</strong>lt. 380Es gibt weitere Voraussetzungen: Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffe müssen <strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>r Produktionebenso erreichen wie die Arbeitskräfte. E<strong>in</strong> dafür h<strong>in</strong>reichen<strong>de</strong>s Transportwesen ist nötig. 381 FürSolche Rücklagen packt man aber nicht <strong>in</strong> Truhen wie gesammelte Schätze, um sich an ihrem Anblick zu erfreuen, son<strong>de</strong>rn verwen<strong>de</strong>t siefür Investments, die Rendite br<strong>in</strong>gen. So arbeitet das Geld, das als Mehrwert aus <strong>de</strong>m Produktionsprozess X stammt, über <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>sKredits als Investition im Produktionsprozess Y. Wenn für X Investitionen erfor<strong>de</strong>rlich wer<strong>de</strong>n, macht <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist entwe<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e Investmentswie<strong>de</strong>r zu Geld o<strong>de</strong>r nimmt neues <strong>Kapital</strong> auf, wenn das billiger ist. Wir haben diesen Zusammenhang bereits im Kapitel über <strong>de</strong>nAkkumulationsprozess als e<strong>in</strong>en wichtigen Weg kennengelernt, auf <strong>de</strong>m das F<strong>in</strong>anzkapital schrittweise zu e<strong>in</strong>em notwendigen Element <strong>de</strong>rReproduktion wird. Wir wer<strong>de</strong>n darüber schon bald noch mehr aus an<strong>de</strong>rer Perspektive erfahren.378"Die Produktionsmittel, <strong>de</strong>r gegenständliche <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s, müssen also <strong>de</strong>m Arbeiter schon als solche, als <strong>Kapital</strong>gegenüberstehn, bevor <strong>de</strong>r Akt G – A e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong> gesellschaftlicher Akt wer<strong>de</strong>n kann." (MEW 24, S.38)379Wir haben bereits gehört, wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Frühphase <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus diese Verfügbarkeit <strong>de</strong>r Arbeitskräfte erst durch Arbeitshäuser, Strafengegen Vagabundage und an<strong>de</strong>re Gewaltmaßnahmen gesichert wer<strong>de</strong>n mußte. E<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Gang gesetzt, reproduzieren sich die sozialenVerhältnisse aber mit großer Zuverlässigkeit; wir erleben das <strong>in</strong> Deutschland seit 150 Jahren.Auch nach dreißigjähriger Lohnarbeit kann sich niemand als Automobilhersteller o<strong>de</strong>r Ba<strong>de</strong>wannenfabrikant selbständig machen und sichaus <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>verhältnis auf die an<strong>de</strong>re Seite schlagen. Daran än<strong>de</strong>rn auch die Notfall-Ich-AGs, die Sche<strong>in</strong>selbständigkeiten, die selbstgeführtenFriseurlä<strong>de</strong>n, Wollstübchen, Biolä<strong>de</strong>n... nichts. Die gesicherte Reproduktion <strong>de</strong>r Klassenverhältnisse schließt zeitweilige Probleme<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Versorgung mit Arbeitskraft nicht aus, etwa <strong>in</strong> <strong>de</strong>n extensiven Akkumulationsphasen o<strong>de</strong>r nach technologischen Umbrüchen.380Wir merken: Sobald wir über <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s sprechen, sprechen wir nicht mehr über e<strong>in</strong>en re<strong>in</strong> schematischen, <strong>in</strong>se<strong>in</strong>e Grundstrukturen zerlegten <strong>Kapital</strong>ismus. M. betont das auf se<strong>in</strong>e lässige Weise:"Es versteht sich daher von selbst, daß die Formel für <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s Geldkapitals: G – W... P... W' – G' selbstverständliche Form <strong>de</strong>s<strong>Kapital</strong>kreislaufs nur auf Grundlage schon entwickelter kapitalistischer Produktion ist, weil sie das Vorhan<strong>de</strong>nse<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lohnarbeiterklasseauf gesellschaftlicher Stufe voraussetzt. Die kapitalistische Produktion, wie wir gesehn, produziert nicht nur Ware und Mehrwert; sie reproduziert,und <strong>in</strong> stets erweitertem Umfang, die Klasse <strong>de</strong>r Lohnarbeiter und verwan<strong>de</strong>lt die ungeheure Majorität <strong>de</strong>r unmittelbaren Produzenten<strong>in</strong> Lohnarbeiter." (MEW 24, S.39)Ob sich das wirklich "von selbst versteht", sei dah<strong>in</strong>gestellt. Aber tatsächlich sprechen wird jetzt über <strong>de</strong>n wirklichen <strong>Kapital</strong>ismus, <strong>de</strong>rsich von se<strong>in</strong>er Vorgeschichte gelöst und als funktionieren<strong>de</strong>s Wirtschaftssystem, als herrschen<strong>de</strong> Produktionsweise etabliert hat. Unserestrukturelle Analyse ist damit genausowenig been<strong>de</strong>t wie die historische Analyse. Es wird nur komplexer.381Wesentliches Element ist die Umformung <strong>de</strong>r alten Städte zu <strong>in</strong>dustriellen Großstädten. M. charakterisierte diesen Prozess <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enVorarbeiten zum "<strong>Kapital</strong>" so: "Eigen ist <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> nichts als die Vere<strong>in</strong>igung <strong>de</strong>r Massen von Hän<strong>de</strong>n und Instrumenten, die es vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>t.Es agglomeriert sie unter se<strong>in</strong>er Botmäßigkeit. <strong>Das</strong> ist se<strong>in</strong> wirkliches Anhäufen; das Anhäufen von Arbeitern auf Punkten nebst ihrenInstrumenten." (MEW 42, S.415)185


<strong>de</strong>n Transportunternehmer, <strong>de</strong>r die Produktionsmittel und Arbeitskräfte anliefert, ist das dieproduktive Anwendung se<strong>in</strong>es eigenen <strong>Kapital</strong>s, also das mittlere Stadium se<strong>in</strong>es Kreislaufs. Für<strong>de</strong>n Unternehmer, <strong>de</strong>m Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffe angeliefert wer<strong>de</strong>n, s<strong>in</strong>d das e<strong>in</strong>erseits ärgerlicheKosten, an<strong>de</strong>rerseits Bed<strong>in</strong>gungen se<strong>in</strong>es eigenen Erfolgs.Die von uns bereits erwähnten Abhängigkeiten <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>nschon unübersehbar, wenn wir nur das erste Stadium <strong>de</strong>s Kreislaufs betrachten. Damit sichGeldkapital <strong>in</strong> produktives, Mehrwert schaffen<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>ln kann, ist <strong>de</strong>r erfolgreicheAbschluß vieler an<strong>de</strong>rer paralleler Produktionsprozesse bereits Bed<strong>in</strong>gung. Je<strong>de</strong> Ausweitung <strong>de</strong>se<strong>in</strong>en Produktionsprozesses hat die Ausweitung an<strong>de</strong>rer Produktionsprozesse zur Voraussetzungund zur Folge: Wer se<strong>in</strong>e Produktion erweitern will, braucht mehr Masch<strong>in</strong>en, mehr Rohstoffeund mehr Arbeitskräfte. Die wie<strong>de</strong>rum brauchen Wohnungen, Kleidung, Nahrungsmittel undTransport. Alles muß passen und paßt sich auch <strong>in</strong> kürzeren o<strong>de</strong>r längeren Zeiträumen an. <strong>Das</strong>erfolgt nicht durch Absprache, son<strong>de</strong>rn über die Aktionen am Markt. Dort wird <strong>de</strong>m Produzentenbestimmter Waren über die Preisverän<strong>de</strong>rungen e<strong>in</strong>e steigen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Nachfragesignalisiert. Dort merkt er, ob Lieferverträge ausgeweitet wer<strong>de</strong>n müssen und ob sich die Ausweitung<strong>de</strong>r eigenen Produktion lohnen könnte. Wegen dieser Verwobenheit und wechselseitigenAbhängigkeiten <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Kreisläufe spricht M. vom gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>rkapitalistischen Produktion. 382Sehen wir uns das zweite Stadium P näher an; <strong>in</strong> ihm f<strong>in</strong><strong>de</strong>t die Produktion statt, o<strong>de</strong>r, wie M. esauch nennt, die produktive Konsumtion <strong>de</strong>r im ersten Stadium gekauften Waren. <strong>Das</strong> Stadium<strong>de</strong>r Produktion unterbricht die Zirkulation. Der <strong>Kapital</strong>wert ist zeitweilig aus <strong>de</strong>r Geldform <strong>in</strong> dieNaturalform 383 <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s und damit <strong>in</strong> die Produktionssphäre übergegangen. DerOutput dieses Stadiums s<strong>in</strong>d Waren, die <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsprozess e<strong>in</strong>gegangenenWarenwerte und <strong>de</strong>n Mehrwert umfassen. Wir haben das als Wertbildungsprozess schonkennengelernt.Jetzt er<strong>in</strong>nern wir uns wie<strong>de</strong>r an die <strong>de</strong>nkwürdige Anomalie <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise:Produktion und Waren-Output s<strong>in</strong>d zwar Grundlage <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n vor- und nachgelagertenWas wir als Akkumulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s kennenlernten, ist auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite Anhäufung von Menschenmassen. Was so unsche<strong>in</strong>barmit unserm Verwertungsschema begann, zeigt jetzt volle Wirkung auf Städte und Siedlunsstrukturen, auf unsere Umwelt, aufdie Natur. Zu M.s Zeit ist dieser Prozess längst im Gange.Bereits 1863 wird die erste U-Bahn-Strecke <strong>in</strong> London eröffnet, <strong>de</strong>r rasch weitere folgen. Schon die seit 1830 <strong>in</strong> Massen e<strong>in</strong>gesetztenPfer<strong>de</strong>omnibusse hatten <strong>de</strong>r kont<strong>in</strong>uierlichen Versorgung <strong>de</strong>r Produktionsstätten mit Arbeitskräften e<strong>in</strong>e erste technische Grundlage gegeben.Jetzt kommt es mit <strong>de</strong>m neuen Transportmittel, <strong>de</strong>r "Tube", schnell zur Entstehung großer Arbeiterviertel am Stadtrand. <strong>Das</strong> alles mit<strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en Ziel: Stetige Verfügbarkeit von Arbeitskräften und möglichst reibungslose Zirkulation <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Waren. Was <strong>in</strong> London passiert,passiert <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>erem Maßstab <strong>in</strong> allen <strong>in</strong>dustriellen Zentren <strong>de</strong>r sich ausbreiten<strong>de</strong>n kapitalistischen Welt.382<strong>Das</strong> alles entwickelt sich nicht absichtsvoll, etwa durch übergreifen<strong>de</strong> Absprache und Planung, son<strong>de</strong>rn verwirklicht sich über die Konkurrenz<strong>de</strong>r Marktteilnehmer. Um es noch e<strong>in</strong>mal zu sagen: Konkurrenz ist hier nicht nur <strong>de</strong>r Wettbewerb zwischen Produzenten gleicherBranche. Es ist für <strong>de</strong>n Unternehmer immer auch Konkurrenz um die Kaufkraft und damit Konkurrenz mit vielen <strong>Kapital</strong>en um <strong>de</strong>n Anteilam gesellschaftlichen Mehrwert.Ist die kapitalistische Produktionsweise also nur getarntes Chaos? Wer e<strong>in</strong>mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konzernzentralezu arbeiten, weiß, wie akribisch man dort alle Vorhaben plant. Im Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Akteure steckt immer e<strong>in</strong>e Menge an Planung und Absprachen<strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Unternehmens und mit an<strong>de</strong>ren Unternehmen: Statt immer wie<strong>de</strong>r Kohle zu kaufen, wird e<strong>in</strong> Unternehmen mit berechenbaremKohlebedarf Lieferverträge mit an<strong>de</strong>ren Unternehmen aushan<strong>de</strong>ln, die sowohl <strong>de</strong>m Käufer wie auch <strong>de</strong>m Verkäufer Vorteilebr<strong>in</strong>gen. Wer se<strong>in</strong>en Masch<strong>in</strong>enpark erneuert, kauft <strong>de</strong>n nicht auf <strong>de</strong>m Wochenmarkt, son<strong>de</strong>rn läßt sich alles paßgenau zu festen Preisenherstellen.Aber solche Maßnahmen verfolgen nicht das Ziel, <strong>de</strong>n Gesamtprozess zu planen, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>n eigenen Weg durch <strong>de</strong>n Dschungel <strong>de</strong>rKonkurrenz etwas sicherer und berechenbarer zu machen. Unabhängig davon lauern genug Gefahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Netzwerk dicht verwobener,aber für sich selbständiger Prozesse, <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> Preisschwankung, je<strong>de</strong> Z<strong>in</strong>sverän<strong>de</strong>rung, je<strong>de</strong>s Abflauen von Nachfragen an irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>erStelle <strong>de</strong>s Netzes, sogar an weit entfernten Stellen, höchste Gefahren bescheren kann. Unbekannterweise...383"Durch die Verwandlung von Geldkapital <strong>in</strong> produktives <strong>Kapital</strong> hat <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>wert e<strong>in</strong>e Naturalform erhalten, wor<strong>in</strong> er nicht fortzirkulierenkann, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> die Konsumtion, nämlich <strong>in</strong> die produktive Konsumtion, e<strong>in</strong>gehn muß." (MEW 24, S.40)186


Stadien; auch das erste Stadium wäre ja nicht vorstellbar ohne zuvor produzierte Masch<strong>in</strong>en undRohstoffe. Deshalb geht M. wie se<strong>in</strong>e Vorgänger und wie wir als M.s Spurenfolger selbstverständlichvon <strong>de</strong>r Produktion als <strong>de</strong>m Fundament aller Prozesse aus. 384 Dennoch ist die Produktionnicht Ziel <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>kreislaufs, son<strong>de</strong>rn lediglich Mittel zum eigentlichen Zweck, <strong>de</strong>n wirVerwertung nennen. Es gibt auch an<strong>de</strong>re Namen dafür: Der Unternehmer spricht vom Gew<strong>in</strong>n,<strong>de</strong>r Aktionär von <strong>de</strong>r Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Investor von se<strong>in</strong>er Rendite. Ohne <strong>de</strong>m wird die kapitalistischeProduktion sofort been<strong>de</strong>t. Ob dieser eigentliche Zweck <strong>de</strong>r Veranstaltung aber erreichtwird, erweist sich erst im dritten Stadium. 385Was erst Geldkapital und dann produktives <strong>Kapital</strong> war, tritt uns im dritten Stadium W'-G' alsWarenkapital gegenüber. Damit zeigt sich <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist als Verkäufer auf <strong>de</strong>m Markt. Jetzt ersterfährt er, ob es sich gelohnt hat, ob alle Kosten ersetzt und e<strong>in</strong> Mehrwert realisiert, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Sprache<strong>de</strong>s Unternehmers: ob e<strong>in</strong> Unternehmergew<strong>in</strong>n erzielt wird. Erst jetzt wird sich klären, ob ersich mit se<strong>in</strong>en Waren <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz behauptet hat, ob er vielleicht sogar besser abschnei<strong>de</strong>tals an<strong>de</strong>re und e<strong>in</strong>en Extraprofit gew<strong>in</strong>nt. O<strong>de</strong>r aber ob er h<strong>in</strong>terher läuft, weniger Gew<strong>in</strong>nals an<strong>de</strong>re erzielt o<strong>de</strong>r sogar draufzahlt; ob er für die nächsten Kreisläufe dr<strong>in</strong>gend Korrekturenvornehmen muß, um nicht ganz aus <strong>de</strong>m Rennen auszuschei<strong>de</strong>n.384Als "Primat <strong>de</strong>r Produktion" hat sich dieser Grundsatz <strong>in</strong> <strong>de</strong>r marxistischen Literatur zu dogmatischer Qualität verdichtet. Was am En<strong>de</strong>dazu führte, dass <strong>in</strong> <strong>de</strong>n sozialistischen Län<strong>de</strong>rn (<strong>de</strong>ren Führungskräfte angeblich marxistisch gebil<strong>de</strong>t waren) diese Erkenntnis zwar immerwie<strong>de</strong>r verkün<strong>de</strong>t, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Praxis jedoch ebensooft ignoriert wur<strong>de</strong>.Dogma h<strong>in</strong> o<strong>de</strong>r her: Selbstverständlich steht auch für uns die Produktion als Fundament aller sozialen Prozesse außer Zweifel, und diemeisten wür<strong>de</strong>n diesem Grundsatz, so allgeme<strong>in</strong> formuliert, wohl auch sofort zustimmen. Trotz<strong>de</strong>m kommt es immer wie<strong>de</strong>r zu erstaunlichenVerirrungen, von <strong>de</strong>nen die Diskussion über die aktuelle Wirtschaftskrise nur das seit langem auffälligste Beispiel ist.Sogar viele kapitalismus-kritische, marxistisch <strong>in</strong>spirierte Analysen dieser Krise nahmen sie als F<strong>in</strong>anzkrise mit Auswirkungen auf die "Realwirtschaft".Ganz so, als ob das auf <strong>de</strong>n F<strong>in</strong>anzmärkten zirkulieren<strong>de</strong> und nach Verwertung stöbern<strong>de</strong> Geld von F<strong>in</strong>anzmarktfuzzies irgendwoagrarisch geerntet o<strong>de</strong>r ungeschlechtlich vermehrt und dann mißbraucht wor<strong>de</strong>n sei; als ob diese Überakkumulation (o<strong>de</strong>r Verwertungskrise)nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionssphäre wurzelt; als ob die Geschichte dieser Krise wirklich <strong>de</strong>n Subprime-Hypotheken entsprungenwäre. Genauso könnte man sagen, die Ursache e<strong>in</strong>es Vulkanausbruchs sei die dünne Erdschicht an dieser Stelle. Die oft zu hören<strong>de</strong> Thesevon <strong>de</strong>r "relativen Verselbständigung <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzmärkte" (<strong>de</strong>r wir durchaus zustimmen) hilft nicht weiter, wenn man nicht gleichzeitig <strong>de</strong>nsystemischen Zusammenhang von Produktion und F<strong>in</strong>anzmarkt für <strong>de</strong>n heutigen <strong>Kapital</strong>ismus beachtet; wenn man nicht die Funktion dieserrelativen Selbständigkeit und ihre Grenzen benennt. Dazu mehr im dritten <strong>Teil</strong> unserer <strong>Spurensuche</strong>, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m wir versuchen, M.s Erkenntnisseanzuwen<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> wird e<strong>in</strong>e Art Elchtest, bei <strong>de</strong>m es auch darum geht zu prüfen, ob uns M.s spezielle Sicht auch für die aktuelleWeltwirtschaftskrise zu tieferen E<strong>in</strong>sichten verhilft.385Wie auch immer wir <strong>de</strong>n Prozess <strong>de</strong>r Verwertung codieren: Am Anfang steht das G und am En<strong>de</strong> das G'. Was dazwischen liegt ist notwendig,aber <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten irgendwie auch ärgerlich. M. dazu:"Eben weil die Geldgestalt <strong>de</strong>s Werts se<strong>in</strong>e selbständige, handgreifliche Ersche<strong>in</strong>ungsform ist, drückt die Zirkulationsform G... G', <strong>de</strong>renAusgangspunkt und Schlußpunkt wirkliches Geld, das Geldmachen, das treiben<strong>de</strong> Motiv <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion, am handgreiflichstenaus. Der Produktionsprozeß ersche<strong>in</strong>t nur als unvermeidliches Mittelglied, als notwendiges Übel zum Behuf <strong>de</strong>s Geldmachens."Engels fügt h<strong>in</strong>zu: "Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise wer<strong>de</strong>n daher periodisch von e<strong>in</strong>em Schw<strong>in</strong><strong>de</strong>l ergriffen, wor<strong>in</strong> sie ohneVermittlung <strong>de</strong>s Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen." (MEW 24, S.62)<strong>E<strong>in</strong>e</strong>n dieser periodischen Schw<strong>in</strong><strong>de</strong>l erleben wir <strong>de</strong>rzeit mit <strong>de</strong>r jüngsten Weltwirtschaftskrise hautnah. Die Kunst, "Rendite zu generieren",<strong>de</strong>nen ke<strong>in</strong>erlei materielle Produktion zugrun<strong>de</strong> liegt, wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Jongleuren <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzmarkts auf unsere Kosten mal wie<strong>de</strong>rausprobiert.Wer immer noch nicht glauben möchte, dass im Mehrwertmachen <strong>de</strong>r eigentliche Zweck <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise liegt, magsich e<strong>in</strong> x-beliebiges Unternehmen ansehen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m auch nur für kürzere Zeit <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>n ausbleibt. Und Gew<strong>in</strong>n, so wer<strong>de</strong>n wir noch sehen,heißt nicht irgen<strong>de</strong>twas oberhalb von Verlust, son<strong>de</strong>rn m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens so viel, wie man auch an<strong>de</strong>rnorts e<strong>in</strong>fährt. Deshalb wer<strong>de</strong>n durchausrentable Unternehmen, die aber <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen e<strong>in</strong>er zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st durchschnittlichen Rendite nicht entsprechen, auf die Abschußlistegesetzt.Uns geht es nicht darum, <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus schlecht zu machen. Dafür sorgt <strong>de</strong>r zunehmend selbst. Wo es um die Analyse <strong>de</strong>r Funktionen<strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s für die Produktion geht, äußert sich M. (wie an vielen an<strong>de</strong>ren Stellen auch) sogar ausgesprochen lobend überdie Karriere <strong>de</strong>r Produktionsweise. Er schreibt:"Je<strong>de</strong>r Betrieb <strong>de</strong>r Warenproduktion wird zugleich Betrieb <strong>de</strong>r Ausbeutung <strong>de</strong>r Arbeitskraft; aber erst die kapitalistische Warenproduktionwird zu e<strong>in</strong>er epochemachen<strong>de</strong>n Ausbeutungsweise, die <strong>in</strong> ihrer geschichtlichen Fortentwicklung durch die Organisation <strong>de</strong>s Arbeitsprozessesund die riesenhafte Ausbildung <strong>de</strong>r Technik die ganze ökonomische Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft umwälzt und alle früheren Epochenunvergleichbar übergipfelt." (MEW 24, S.42) Richtig, nur hat je<strong>de</strong>s D<strong>in</strong>g eben se<strong>in</strong>e Zeit...187


<strong>Das</strong> dritte Stadium <strong>de</strong>s Kreislaufs entspricht eigentlich <strong>de</strong>m ersten Stadium. Nur s<strong>in</strong>d jetzt dieRollen an<strong>de</strong>rs besetzt. Der <strong>Kapital</strong>ist, <strong>de</strong>r im ersten Stadium als Käufer auftrat, tritt hier als Verkäuferauf. Wenn unser <strong>Kapital</strong>ist Produktionsmittel irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Art zu verkaufen hat, ist dieserVerkauf für se<strong>in</strong>en Käufer nur <strong>de</strong>ssen E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> das erste Stadium se<strong>in</strong>es Kreislaufs; mit <strong>de</strong>mGeldkapital <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren <strong>Kapital</strong>isten realisiert unser Verkäufer-<strong>Kapital</strong>ist <strong>de</strong>n Wert se<strong>in</strong>es Warenkapitals.Produziert er h<strong>in</strong>gegen Waren für <strong>de</strong>n <strong>in</strong>dividuellen Konsum, treten ihm praktischalle Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft als Kun<strong>de</strong>n gegenüber. Dann ist es <strong>de</strong>ren Kaufkraft, ob als Lohno<strong>de</strong>r als Gew<strong>in</strong>nanteil erworben, die ihm die Realisierung se<strong>in</strong>er Warenwerte <strong>in</strong> Geld ermöglichto<strong>de</strong>r nicht.<strong>Das</strong> dritte Stadium basiert auf <strong>de</strong>nselben Voraussetzungen, die wir schon für das erste Stadiumdiskutiert haben, nur wie<strong>de</strong>rum mit umgekehrten Rollen. War für das Funktionieren <strong>de</strong>s erstenStadiums das stabile Angebot e<strong>in</strong>es Marktes für Produktionsmittel und Arbeitskräfte wichtig, soist im dritten Stadium die Existenz e<strong>in</strong>er stabilen Nachfrage nötig. Auch daran wird wie<strong>de</strong>r dieVernetzung <strong>de</strong>r Kreisläufe sichtbar, die sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Stadien <strong>de</strong>r Zirkulation jeweils durche<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re, erst am Markt auftreten<strong>de</strong> Gegenpartei <strong>in</strong> ihren wechseln<strong>de</strong>n Rollen als Käufer undVerkäufer komplettieren müssen.So wie im ersten Stadium fallen auch im dritten Stadium Zirkulationskosten an. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nichtnur Lagerhaltung und <strong>de</strong>r Transport zum Markt (wir sprechen noch darüber), son<strong>de</strong>rn auch dieNotwendigkeit, e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Mehrwerts mit <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>lskapital zu teilen, das <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Regel <strong>in</strong>bei<strong>de</strong>n Zirkulationsstadien mitwirkt und <strong>de</strong>n Tausch <strong>de</strong>r Waren vermittelt. Der erfolgreiche Abschluß<strong>de</strong>s dritten Stadiums ist vom Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s Kreislaufs immer zeitlich entfernt. Je größer <strong>de</strong>rAbstand, um so schwieriger und um so risikoreicher ist es, e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Produktion, alsoe<strong>in</strong>en beständigen und flüssigen Ablauf <strong>de</strong>r Stadien zu verwirklichen. 386Je<strong>de</strong> Unterbrechung <strong>de</strong>s Kreislaufs gefähr<strong>de</strong>t die weitere Existenz <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>s. Je<strong>de</strong>Unterbrechung vieler mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r vernetzter Kreisläufe kann <strong>de</strong>r Anfang e<strong>in</strong>er Krise se<strong>in</strong>, diedann viele <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong>e, ganze Branchen o<strong>de</strong>r Staaten o<strong>de</strong>r sogar die Weltwirtschaft erfasst.387Verschie<strong>de</strong>ne Sorten <strong>Kapital</strong>?Wir begegnen <strong>in</strong> M.s Analyse <strong>de</strong>m uns schon vertrauten Geldkapital, das mit <strong>de</strong>m Kauf von Waren<strong>de</strong>n Kreislauf eröffnet. Wir sehen das produktive Kapitel, das die Produktion <strong>in</strong> Gang setzt.Und wir sehen im dritten Stadium das Warenkapital, <strong>de</strong>ssen Verkauf für die Realisierung vonWert und Mehrwert, also für die Rückverwandlung <strong>in</strong> Geldkapital sorgt. E<strong>in</strong>ige Anmerkungen zudiesen verschie<strong>de</strong>nen "<strong>Kapital</strong>sorten" s<strong>in</strong>d angebracht, damit niemand auf <strong>de</strong>n Holzweg gerät.386Spätestens jetzt wird klar, warum <strong>de</strong>r Unternehmer bestrebt ist, diesen nach <strong>de</strong>r Produktion stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation soschnell wie möglich abzuschließen. Die Menge <strong>de</strong>r verkauften Waren (Umsatz) soll gesteigert, aber das <strong>Kapital</strong> nur so kurz wie möglich <strong>in</strong><strong>de</strong>r toten Form <strong>de</strong>s Warenkapitals existieren, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r es we<strong>de</strong>r neue Produktion f<strong>in</strong>anzieren noch an<strong>de</strong>rweitig profitabel verwertet wer<strong>de</strong>nkann. Deshalb die große Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Market<strong>in</strong>gs im Unternehmen, <strong>de</strong>r ständige Versuch, Produktion und Verkauf durch Auftragsproduktionzu verknüpfen, die Vertriebswege zu optimieren, die Produktpalette variabel je<strong>de</strong>r Nachfrage anzupassen usw. So wie wir vomgesellschaftlichen Standpunkt aus vom Primat <strong>de</strong>r Produktion sprechen, sprechen Betriebswirte, die ja <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>s agieren<strong>de</strong>n<strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>nehmen, vom Primat <strong>de</strong>s Absatzes. Und wer sich <strong>in</strong> Produktionsfirmen auskennt, ist mit <strong>de</strong>m mächtigen E<strong>in</strong>fluß <strong>de</strong>s Market<strong>in</strong>g-Managements bestens vertraut, <strong>de</strong>m unzählige Ingeniere und Produktionsleiter vorzeitig ergraute Haare verdanken.387"Der Kreislauf <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s geht nur normal vonstatten, solange se<strong>in</strong>e verschiednen Phasen ohne Stockung <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r übergehn. Stocktdas <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r ersten Phase G-W, so erstarrt das Geldkapital zum Schatz; wenn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionsphase, so liegen die Produktionsmittelfunktionslos auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite, während die Arbeitskraft auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn unbeschäftigt bleibt; wenn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r letzten Phase W'-G', soversperren unverkäuflich aufgehäufte Waren <strong>de</strong>n Zirkulationsfluß." (MEW 24, S.56)188


Ausdrücklich weist M. darauf h<strong>in</strong>, dass es sich eben nicht um verschie<strong>de</strong>ne Sorten von <strong>Kapital</strong>,son<strong>de</strong>rn um verschie<strong>de</strong>ne Funktionsformen <strong>de</strong>sselben <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s im zusammenhängen<strong>de</strong>nKreislauf han<strong>de</strong>lt. Weil es wichtig ist, das trennscharf zu halten, wollen wir M.s Positiondurch e<strong>in</strong> längeres Zitat dokumentieren:"Die bei<strong>de</strong>n Formen, die <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>wert <strong>in</strong>nerhalb se<strong>in</strong>er Zirkulationsstadien annimmt, s<strong>in</strong>d dievon Geldkapital und Warenkapital; se<strong>in</strong>e <strong>de</strong>m Produktionsstadium angehörige Form ist die vonproduktivem <strong>Kapital</strong>. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>, welches im Verlauf se<strong>in</strong>es Gesamtkreislaufs diese Formen annimmtund wie<strong>de</strong>r abstreift und <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r die ihr entsprechen<strong>de</strong> Funktion vollzieht, ist <strong>in</strong>dustrielles<strong>Kapital</strong> – <strong>in</strong>dustriell hier <strong>in</strong> <strong>de</strong>m S<strong>in</strong>n, daß es je<strong>de</strong>n kapitalistisch betriebnen Produktionszweigumfaßt.Geldkapital, Warenkapital, produktives <strong>Kapital</strong> bezeichnen hier also nicht selbständige <strong>Kapital</strong>sorten,<strong>de</strong>ren Funktionen <strong>de</strong>n Inhalt gleichfalls selbständiger und vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r getrennter Geschäftszweigebil<strong>de</strong>n. Sie bezeichnen hier nur besondre Funktionsformen <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s,das sie alle drei nache<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r annimmt." 388Die Bezeichnung produktives <strong>Kapital</strong> für das <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Naturalform agieren<strong>de</strong><strong>Kapital</strong> führt bisweilen zu Mißverständnissen. Um die zu vermei<strong>de</strong>n, müssen wir uns nur daraner<strong>in</strong>nern, was M. <strong>in</strong> diesem Zusammenhang unter produktiv versteht. <strong>Das</strong> ist eben nicht die Fähigkeit,möglichst viele Produkte zu erzeugen, son<strong>de</strong>rn die Fähigkeit, Mehrwert zu schaffen.Und weil das nicht im ersten und nicht im dritten Stadium geschieht, die ja nur Austausch vonWerten s<strong>in</strong>d, son<strong>de</strong>rn dort passiert, wo Lohnarbeit und Produktionsmittel im Arbeitsprozeß verbun<strong>de</strong>nwer<strong>de</strong>n, nimmt das <strong>Kapital</strong> auch nur im mittleren Stadium die Funktionsform <strong>de</strong>s produktiven<strong>Kapital</strong>s an.Also s<strong>in</strong>d die an<strong>de</strong>ren Stadien unproduktive Funktionsformen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s? Ja, aber nur, weil sieke<strong>in</strong>en Mehrwert produzieren. Für die Verwertung s<strong>in</strong>d sie genauso unverzichtbar. M.s Trennung<strong>de</strong>r drei Stadien dient <strong>de</strong>r besseren Analyse. Nicht e<strong>in</strong>es <strong>de</strong>r Stadien ist ohne die an<strong>de</strong>renzu haben. Wo M. vom "Geldkapital" und vom "Warenkapital" spricht, s<strong>in</strong>d es notwendige Stadienje<strong>de</strong>s Verwertungsprozesses. Wir betrachten hier die Funktionsformen, die das <strong>Kapital</strong> zuse<strong>in</strong>er Verwertung mit Notwendigkeit durchläuft, sowohl als <strong>in</strong>dividuelles wie als gesellschaftlichesGesamtkapital.Es wäre <strong>de</strong>shalb auch falsch, das Geldkapital im ersten Stadium als "F<strong>in</strong>anzkapital" und das <strong>Kapital</strong>im letzten Stadium als "Han<strong>de</strong>lskapital" zu betrachten. Bisweilen liest man so etwas un<strong>de</strong>rfährt dann auch noch, unter Berufung auf Marx, etwas über die parasitären Funktionen vonF<strong>in</strong>anz- und Han<strong>de</strong>lskapital, da ja nur das produzieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong> "produktives <strong>Kapital</strong>" sei undso fort. Auf diese Weise hofft man offenbar, <strong>de</strong>m F<strong>in</strong>anz- und Han<strong>de</strong>lskapital moralisch beizukommenund das "produktive <strong>Kapital</strong>" irgendwie als Opfer von "Wucher" und "Prellerei" darzustellen,aus <strong>de</strong>ren Umklammerung man es möglichst bald befreien müsse. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>e grobeFehl<strong>de</strong>utung, sofern man sich auf Marx beruft, und <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall e<strong>in</strong>e nicht tragfähige Theorie.389388MEW 24, S.56. Im ersten und im dritten Stadium geht es um Zirkulation, um Austausch. Geld und Waren wechseln nur die Hän<strong>de</strong> unddamit ihre Wertform: Von Geld <strong>in</strong> Ware und von Ware <strong>in</strong> Geld. Aber die Grundlage dafür wird <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion gelegt, die bei<strong>de</strong> Zirkulationsstadienmite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r vermittelt.389Wir wollen das hier nicht vertiefen: Aber die Gegenüberstellung von "produktivem <strong>Kapital</strong>", das mit "richtiger Arbeit" verbun<strong>de</strong>n ist,und <strong>de</strong>n parasitären F<strong>in</strong>anzkapitalisten und Händlern, hat e<strong>in</strong>e lange Tradition, die tief <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Vorgeschichte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus wurzelt.Auch die Nazis g<strong>in</strong>gen mit <strong>de</strong>r Gegenüberstellung von "schaffen<strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>" und "raffen<strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>" schon vor 1933 <strong>in</strong> Deutschlan<strong>de</strong>rfolgreich auf antisemitischen Stimmenfang.189


M.s Formulierung ist völlig e<strong>in</strong><strong>de</strong>utig. Die drei Stadien <strong>de</strong>s Kreislaufs s<strong>in</strong>d "Funktionsformen <strong>de</strong>s<strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s, das sie alle drei nache<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r annimmt." Wird damit etwa gesagt, dassnur <strong>in</strong>dustrielle Produktion produktiv sei? F<strong>in</strong><strong>de</strong>t nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Industrie die <strong>Kapital</strong>verwertung statt?Etwas völlig an<strong>de</strong>res ist geme<strong>in</strong>t. Er<strong>in</strong>nern wir uns an M.s Aussage. Dort heißt es zum <strong>in</strong>dustriellen<strong>Kapital</strong>: "...<strong>in</strong>dustriell hier <strong>in</strong> <strong>de</strong>m S<strong>in</strong>n, daß es je<strong>de</strong>n kapitalistisch betriebnen Produktionszweigumfaßt.""Industrielles <strong>Kapital</strong>" me<strong>in</strong>t je<strong>de</strong> auf Lohnarbeit basieren<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion. Esist <strong>in</strong> M.s Worten "<strong>Das</strong>e<strong>in</strong>sweise <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, wor<strong>in</strong> nicht nur Aneignung von Mehrwert, resp.Mehrprodukt, son<strong>de</strong>rn zugleich <strong>de</strong>ssen Schöpfung Funktion <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist." 390 Mit dieser Bestimmungzielt M. <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf die Abgrenzung zum Grundbesitz, <strong>de</strong>ssen kapitalistischeNutzung se<strong>in</strong>em Eigentümer dank <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>nmono<strong>pol</strong>s zwar e<strong>in</strong>e Grundrente (Pacht, Miete) alsAnteil vom Mehrwert sichert, <strong>de</strong>r dafür aber ke<strong>in</strong>erlei eigenständige Verwertung betreiben muß.Die Bezeichnung "<strong>in</strong>dustrielles <strong>Kapital</strong>" grenzt auch <strong>de</strong>n re<strong>in</strong>en Geldkapitalisten und <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lskapitalistenab, die wichtige Dienste für <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s leisten. Diese Dienste produzierenjedoch nicht selbst Mehrwert, schaffen aber die Voraussetzungen, damit das <strong>in</strong>dustrielle<strong>Kapital</strong> se<strong>in</strong>e Mehrwertproduktivität erhalten und steigern kann.M. betrachtet Han<strong>de</strong>lskapital und F<strong>in</strong>anzkapital als spezialisierte Geschäftszweige, die <strong>in</strong>nerhalb<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung "verselbständigte Existenzweisen" angenommen haben. Sieerbr<strong>in</strong>gen Dienste, die untrennbar <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d.Aber sie existieren nicht unabhängig davon (wenn ihre Akteure das auch bisweilen glauben),son<strong>de</strong>rn "bewegen sich nur noch auf se<strong>in</strong>er Grundlage, leben und sterben, stehen und fallendaher mit dieser ihrer Grundlage".Und diese Grundlage ist es, die M., wie wir schon hörten, als <strong>in</strong>dustrielles, nämlich Mehrwertproduzieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> bezeichnet. Han<strong>de</strong>lskapital und F<strong>in</strong>anzkapital s<strong>in</strong>d als arbeitsteiligeSon<strong>de</strong>rungen, als Spezialisten für beson<strong>de</strong>re Dienste an <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion, <strong>de</strong>shalb auchke<strong>in</strong>e "Parasiten" 391 am produktiven <strong>Kapital</strong>, son<strong>de</strong>rn unverzichtbare Agenten se<strong>in</strong>es <strong>in</strong>dividuel-In <strong>de</strong>r Weltwirtschaftskrise 2008 lebte das alte Muster auf, wenn auch ohne antisemitische Verschärfung. Plötzlich war es ganz alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>eKrise habgieriger Banker und F<strong>in</strong>anzleute, die sich von <strong>de</strong>n Realitäten abgekoppelt hatten. Ke<strong>in</strong>e Re<strong>de</strong> davon, dass auch Banker und sogarBörsenspekulanten nur Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>sselben Verwertungssystems s<strong>in</strong>d, das uns M. mit <strong>de</strong>m Kreislaufschema vor Augen führt. Ke<strong>in</strong>e Re<strong>de</strong>davon, dass die Industriekonzerne selbst Hauptakteure <strong>de</strong>s sogenannten "F<strong>in</strong>anzmarkts" s<strong>in</strong>d, <strong>de</strong>n sie ganz für ihre Bedürfnisse nutzen.<strong>Das</strong> Geld, das da immer wie<strong>de</strong>r neue Spekulationsblasen bil<strong>de</strong>t, ist ja nicht das Geld <strong>de</strong>r Banker, son<strong>de</strong>rn stammt aus <strong>de</strong>n Unternehmensgew<strong>in</strong>nenund Privatvermögen, ist abgeschöpfter Mehrwert, entstammt <strong>de</strong>r Mehrwertproduktion, die erst <strong>Kapital</strong> zu <strong>in</strong>dustriellem <strong>Kapital</strong>macht. Dessen ganzer Lebenszweck besteht dar<strong>in</strong>, alle Arten von Investoren glücklicher, sprich: reicher zu machen.390"<strong>Das</strong> <strong>in</strong>dustrielle <strong>Kapital</strong> ist die e<strong>in</strong>zige <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>sweise <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, wor<strong>in</strong> nicht nur Aneignung von Mehrwert, resp. Mehrprodukt, son<strong>de</strong>rnzugleich <strong>de</strong>ssen Schöpfung Funktion <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist. Es bed<strong>in</strong>gt daher <strong>de</strong>n kapitalistischen Charakter <strong>de</strong>r Produktion; se<strong>in</strong> <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>schließt das <strong>de</strong>s Klassengegensatzes von <strong>Kapital</strong>isten und Lohnarbeitern e<strong>in</strong>. Im Maß wie es sich <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion bemächtigt,wer<strong>de</strong>n Technik und gesellschaftliche Organisation <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses umgewälzt, und damit <strong>de</strong>r ökonomisch-geschichtlicheTypus <strong>de</strong>r Gesellschaft. Die an<strong>de</strong>rn Arten von <strong>Kapital</strong>, die vor ihm <strong>in</strong>mitten vergangner o<strong>de</strong>r untergehen<strong>de</strong>r gesellschaftlicher Produktionszustän<strong>de</strong>erschienen, wer<strong>de</strong>n ihm nicht nur untergeordnet und im Mechanismus ihrer Funktionen ihm entsprechend verän<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rnbewegen sich nur noch auf se<strong>in</strong>er Grundlage, leben und sterben, stehen und fallen daher mit dieser ihrer Grundlage. Geldkapital und Warenkapital,soweit sie mit ihren Funktionen als Träger eigner Geschäftszweige neben <strong>de</strong>m <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong> auftreten, s<strong>in</strong>d nur nochdurch die gesellschaftliche <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit verselbständigte und e<strong>in</strong>seitig ausgebil<strong>de</strong>te Existenzweisen <strong>de</strong>r verschiednen Funktionsformen,die das <strong>in</strong>dustrielle <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre bald annimmt, bald abstreift." (MEW 24, S.61)391Banken nehmen es von <strong>de</strong>n Lebendigen. Und zweifellos entwickeln und praktizieren F<strong>in</strong>anz<strong>in</strong>stitute o<strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>lskonzerne o<strong>de</strong>r Hedgefondso<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Investoren bereitwillig die Lebensphilosophie e<strong>in</strong>es erfolgreichen Bandwurms, sofern die Konkurrenzverhältnisse daszulassen. Genug ist eben nie genug. Nur ist das ke<strong>in</strong>e Eigentümlichkeit <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzer und Händler. <strong>Das</strong> Verhalten <strong>de</strong>r Industriekonzerne, dieschließlich zu <strong>de</strong>n größten Akteuren <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzmärkte zählen, steht <strong>de</strong>n Klassenkumpanen <strong>in</strong> nichts nach. Von nichts kommt auch hiernichts.In Bezug auf die Mehrwertproduktion erfüllen alle Beteiligten ihre Aufgaben, und <strong>de</strong>r Versuch, <strong>de</strong>n eigenen Anteil am Mehrwert gegen<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn zu erhöhen (ob Daumenschrauben per Kredit o<strong>de</strong>r per Auftragsbuch: <strong>Das</strong> gehört untrennbar zum System <strong>de</strong>r Konkurrenz. Dagibt es ke<strong>in</strong>e Trennung <strong>in</strong> "ehrlichen produzieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus" und "unehrlichen, spekulieren<strong>de</strong>n Kas<strong>in</strong>okapitalismus". <strong>Das</strong> ist das-190


len wie gesellschaftlichen Kreislaufs. Freilich ist <strong>de</strong>r Lebenszweck dieses Kreislaufs <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>erStadien das Wohl <strong>de</strong>r Mitarbeiter o<strong>de</strong>r gar <strong>de</strong>r Gesellschaft, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mehrwert und se<strong>in</strong>eAneignung."...Verschl<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Metamorphosen..."M.s Analyse <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>kreislaufs, die <strong>de</strong>r Spur <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s folgt, läßt sich durch die Darstellung<strong>de</strong>s Kreislaufs vom Standpunkt <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s und <strong>de</strong>s Warenkapitals ergänzen. DieZirkulationsstadien und das produktive Stadium s<strong>in</strong>d untrennbar mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n. Aberdie drei Schemata für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>kreislauf richten unsere Aufmerksamkeit auf unterschiedlicheAspekte. Auch das ist wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> Beispiel für M.s Metho<strong>de</strong>, die Analyse durch Wechsel <strong>de</strong>r Perspektivevoranzutreiben.<strong>Das</strong> von uns bereits behan<strong>de</strong>lte Kreislaufschema G - W ... P ... W' - G' fokussiert die Verwertung,die Mehrwertproduktion, als treiben<strong>de</strong>s Motiv. Ohne Verwertung schrumpft das Schemazur S<strong>in</strong>nlosigkeit e<strong>in</strong>es G - G Tausches.<strong>Das</strong> Kreislaufschema P ... W' - G' - W' < A/Pm ... P' nimmt das produktive <strong>Kapital</strong> zum Ausgangs-und Endpunkt. Hier wer<strong>de</strong>n die beson<strong>de</strong>ren Probleme <strong>de</strong>r Rückführung <strong>de</strong>s Geldkapitalsund <strong>de</strong>s Mehrwerts <strong>in</strong> <strong>de</strong>n produktiven Prozess fokussiert. 392 Wir kennen das schon aus <strong>de</strong>mKapitel zur Akkumulation, und die Frage nach <strong>de</strong>r erweiterten Reproduktion wird von M. wie<strong>de</strong>raufgegriffen: Die stofflichen und technischen Anfor<strong>de</strong>rungen an Wie<strong>de</strong>rholung und Ausweitung,aber auch an Wie<strong>de</strong>rholung und Anpassung von Produktionsprozessen an neue Bed<strong>in</strong>gungens<strong>in</strong>d hoch. Ausweitung <strong>de</strong>r Produktion erfor<strong>de</strong>rt proportionale Entwicklung <strong>in</strong> vielenKreisläufen gleichzeitig sowie die Abstimmung auf die Kaufkraft <strong>in</strong> B<strong>in</strong>nen- und Außenmärkten.Die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Überproduktion <strong>in</strong> Bezug auf die Nachfrage verbun<strong>de</strong>ner <strong>Kapital</strong>e wie <strong>in</strong>Bezug auf die Kaufkraft und damit verbun<strong>de</strong>ner Preisrückgänge treten zutage - Krisenpotentialpur. 393Mit <strong>de</strong>m Kreislaufschema W' - G' - W ... P ... W'' 394 wird die Abhängigkeit <strong>de</strong>s erfolgreichenKreislaufs von <strong>de</strong>r Konsumtion, also vom produktiven o<strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen Konsum <strong>de</strong>r Waren untersucht.Für <strong>de</strong>n Produzenten von Konsumgütern hängt die Konsumtion von <strong>de</strong>r Kaufkraft <strong>de</strong>rselbe Personal, das ist dasselbe Geld, das s<strong>in</strong>d dieselben Interessen. Es s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verwobene, vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abhängige und mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rkonkurrieren<strong>de</strong> Verwertungsprozesse, die sich ergänzen<strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong>n bedienen.392"In <strong>de</strong>r Wirklichkeit muß unter normalen Verhältnissen immer e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Mehrwerts als Revenue (= E<strong>in</strong>künfte; E<strong>in</strong>nahmen) verausgabtund e<strong>in</strong> andrer <strong>Teil</strong> kapitalisiert wer<strong>de</strong>n, wobei es ganz gleichgültig, ob <strong>in</strong>nerhalb bestimmter Perio<strong>de</strong>n produzierter Mehrwert bald ganzverzehrt, bald ganz kapitalisiert wird. Im Durchschnitt <strong>de</strong>r Bewegung – und die allgeme<strong>in</strong>e Formel kann nur diesen darstellen – f<strong>in</strong><strong>de</strong>t bei<strong>de</strong>sstatt. Um die Formel nicht zu komplizieren, ist es <strong>in</strong><strong>de</strong>s besser anzunehmen, daß <strong>de</strong>r ganze Mehrwert akkumuliert wird. Die Formel P...W' – G' – W' ‹ A/Pm ... P' drückt aus: produktives <strong>Kapital</strong>, das auf größrer Stufenleiter und mit größrem Wert reproduziert wird, und alsangewachsnes produktives <strong>Kapital</strong> se<strong>in</strong>en zweiten Kreislauf beg<strong>in</strong>nt, o<strong>de</strong>r, was dasselbe, se<strong>in</strong>en ersten Kreislauf erneuert. Sobald dieserzweite Kreislauf beg<strong>in</strong>nt, haben wir wie<strong>de</strong>r P als Ausgangspunkt; bloß ist P e<strong>in</strong> größres produktives <strong>Kapital</strong> als das erste P war. (...)In P... P' drückt P' aus, nicht daß Mehrwert produziert, son<strong>de</strong>rn daß <strong>de</strong>r produzierte Mehrwert kapitalisiert, also <strong>Kapital</strong> akkumuliert wor<strong>de</strong>nist, und daher P', gegenüber P, aus <strong>de</strong>m ursprünglichen <strong>Kapital</strong>wert plus <strong>de</strong>m Wert von durch <strong>de</strong>ssen Bewegung akkumuliertem <strong>Kapital</strong>besteht." (MEW 24, S.84 und 85)393Ebenso wird die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Unterproduktion sichtbar, wenn etwa die Lieferbarkeit von Rohstoffen o<strong>de</strong>r Produktionsmitteln h<strong>in</strong>ter<strong>de</strong>r Nachfrage zurückbleibt. <strong>Das</strong> ist fast regelmäßig bei neuen Konsumwaren <strong>de</strong>r Fall, die auf schnell wachsen<strong>de</strong> Nachfrage bei hohenPreisen stoßen; <strong>de</strong>shalb s<strong>in</strong>d technische Innovationen so häufig mit spekulativen Blasen verbun<strong>de</strong>n, weil die zeitweilig überdurchschnittliche<strong>Kapital</strong>verwertung <strong>in</strong> diesen Bereichen übermäßig viel <strong>Kapital</strong> anlockt. Aber auch nach längeren Rezessionen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Produktionskapazitätenreduziert wur<strong>de</strong>n, können mit beg<strong>in</strong>nen<strong>de</strong>r Konjunktur steigen<strong>de</strong> Nachfragen wegen <strong>de</strong>r zurückgefahrenen Produktion zuEngpässen und zeitweilig steigen<strong>de</strong>n Preisen führen.394Wir bevorzugen hier M.s implizite Schreibweise <strong>de</strong>r Formel, die von Akkumulation und Ausweitung <strong>de</strong>r Produktion ausgeht, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st<strong>in</strong> Bezug auf das Gesamtkapital: "F<strong>in</strong><strong>de</strong>t Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter statt, so ist das Schluß-W' größer als das Ausgangs-W'und soll <strong>de</strong>shalb hier mit W'' bezeichnet wer<strong>de</strong>n." (MEW 24, S.91) So steht es auch <strong>in</strong> unserem Schema.191


Gesellschaft ab; für <strong>de</strong>n Produzenten von Investitionsgütern vom Verwertungserfolg <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<strong>Kapital</strong>isten. 395 In gewisser Weise ist W'' zu je<strong>de</strong>m Zeitpunkt nicht nur <strong>de</strong>r Warenausstoß e<strong>in</strong>es<strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>s, son<strong>de</strong>rn das Gesamtprodukt e<strong>in</strong>er Gesellschaft. Die Konsumtionskraft dieserGesellschaft entschei<strong>de</strong>t immer neu über <strong>de</strong>n Verwertungserfolg <strong>de</strong>s Gesamtkapitals wie <strong>de</strong>r<strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e. Es wird dar<strong>in</strong> aber auch die Abhängigkeit <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e sichtbar,ihre wechselseitigen "Verschl<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Metamorphosen". 396 O<strong>de</strong>r wie wir es jetzt nennenwollen: Der gesellschaftliche Charakter <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion.E<strong>in</strong>heit von Produktion und ZirkulationJe nach <strong>de</strong>m, welches Stadium <strong>de</strong>s Kreislaufprozesses wir fokussieren, ergeben sich unterschiedlicheFormen <strong>de</strong>s Kreislaufs, die unterschiedliche Zusammenhänge betonen. Vom Geldkapitalaus gesehen steht <strong>de</strong>r Verwertungszwang über allem. Vom produktiven <strong>Kapital</strong> aus gesehen,tritt die stoffliche Abhängigkeit zu an<strong>de</strong>ren <strong>Kapital</strong>en nach vorn. Deren Produktion muß sich mit<strong>de</strong>r eigenen Produktion ergänzen; ohne <strong>de</strong>ren Entwicklung ist die eigene Akkumulation nichtmöglich. Vom Warenkapital aus gesehen steht die Konsumtion als Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellenwie <strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>kreislaufs im Vor<strong>de</strong>rgrund. Gleichzeitig hat hier die Floskel, dasalles mit allem zusammenhängt, e<strong>in</strong>e wirkliche Berechtigung. M. formuliert das so:"Fassen wir alle drei Formen zusammen, so ersche<strong>in</strong>en alle Voraussetzungen <strong>de</strong>s Prozesses alsse<strong>in</strong> Resultat, als von ihm selbst produzierte Voraussetzung. Je<strong>de</strong>s Moment ersche<strong>in</strong>t als Ausgangspunkt,Durchgangspunkt und Punkt <strong>de</strong>r Rückkehr. Der Gesamtprozeß stellt sich dar alsE<strong>in</strong>heit von Produktionsprozeß und Zirkulationsprozeß; <strong>de</strong>r Produktionsprozeß wird Vermittler<strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses und umgekehrt. Allen drei Kreisläufen ist geme<strong>in</strong>sam: Verwertung <strong>de</strong>sWerts als bestimmen<strong>de</strong>r Zweck, als treiben<strong>de</strong>s Motiv." 397<strong>Das</strong> Schema, das M.s struktureller Analyse <strong>de</strong>s Kreislaufprozesses als Ausgangspunkt diente, istausgereizt; wir lassen es jetzt h<strong>in</strong>ter uns.Was wir als Stadien e<strong>in</strong>es Kreislaufs gedanklich getrennt haben, existiert stets gleichzeitig, abernicht nur nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn auch <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Es gibt ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen isolierten Kreislaufmit e<strong>in</strong><strong>de</strong>utig abgrenzbarem Anfangs- und Endpunkt. Der Endpunkt <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en ist <strong>de</strong>rAnfangspungt <strong>de</strong>s nächsten Prozesses <strong>de</strong>r selbst wie<strong>de</strong>r nur Durchgangspunkt e<strong>in</strong>es an<strong>de</strong>ren395Wir wissen, dass für <strong>de</strong>n Verkaufserfolg auch die Produkte selbst <strong>in</strong> Ordnung se<strong>in</strong> müssen. Aber Bakelit-Radios o<strong>de</strong>r dampfgetriebeneDrehbänke spielen für M. und uns an dieser Stelle genausowenig e<strong>in</strong>e Rolle wie an<strong>de</strong>re Ursachen von Absatzproblemen und Preisschwankungen:"Für W', als funktionelle Form im Kreislauf dieses e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>s, woraus das produktive <strong>Kapital</strong> ersetzt wer<strong>de</strong>n muß, ist es natürlichentschei<strong>de</strong>nd, ob und wieweit Preis und Wert beim Verkauf vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abweichen, aber damit haben wir hier bei Betrachtung <strong>de</strong>r bloßenFormunterschie<strong>de</strong> nichts zu schaffen." (MEW 24, S.95)M. selbst br<strong>in</strong>gt uns aber auf dieses Thema zurück, wenn wir später über "Wertrevolutionen" als Krisenursache sprechen. Wir ignorierenauf diesem Stand <strong>de</strong>r Überlegungen ebenfalls, dass Kaufkraft sich natürlich auf <strong>de</strong>n B<strong>in</strong>nen- wie auf <strong>de</strong>n Außenmarkt beziehen muß, gera<strong>de</strong><strong>in</strong> Blick auf die Investitionsgüter<strong>in</strong>dustrie.396"In Figur W'... W' ersche<strong>in</strong>t die Bewegung <strong>de</strong>s Warenkapitals, d.h. <strong>de</strong>s kapitalistisch produzierten Gesamtprodukts, sowohl als Voraussetzung<strong>de</strong>s selbständigen Kreislaufs <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>s, wie ihrerseits durch <strong>de</strong>nselben bed<strong>in</strong>gt. Wird diese Figur daher <strong>in</strong> ihrerEigentümlichkeit aufgefaßt, so genügt es nicht mehr, sich dabei zu beruhigen, daß die Metamorphosen W' – G' und G – W e<strong>in</strong>erseitsfunktionell bestimmte Abschnitte <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Metamorphose <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s s<strong>in</strong>d, andrerseits Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Warenzirkulation. Es wirdnotwendig, die Verschl<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Metamorphosen e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>s mit <strong>de</strong>nen andrer <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e und mit <strong>de</strong>m für<strong>de</strong>n <strong>in</strong>dividuellen Konsum bestimmten <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Gesamtprodukts klarzulegen. Bei Analyse <strong>de</strong>s Kreislaufs <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>slegen wir daher vorzugsweise die bei<strong>de</strong>n ersten Formen zugrun<strong>de</strong>." (MEW 24, S.102)Die " Figur W' ... W' " wird von uns <strong>in</strong> M.s alternativer Schreibweise als W' ... W'' präsentiert, da die erfolgreiche Verwertung von unsfreundlicherweise unterstellt wird.397MEW 24, S.104192


Prozesses ist. <strong>Das</strong> gilt nicht nur für das gesellschaftliche <strong>Kapital</strong> als Gesamtheit <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellenProzesse.Zwang zur Kont<strong>in</strong>uitätAuch das <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong> bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich je<strong>de</strong>rzeit <strong>in</strong> allen drei Stadien <strong>de</strong>s Kreislaufs gleichzeitig.Während produziert wird, wird auch verkauft und gekauft. Dabei überschnei<strong>de</strong>n sich dieFormwandlungen <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en <strong>Kapital</strong>s mit <strong>de</strong>nen aller an<strong>de</strong>ren <strong>Kapital</strong>e, die über die Zirkulationim ersten o<strong>de</strong>r im dritten Stadium vernetzt s<strong>in</strong>d. Und natürlich bed<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r erfolgreiche Kreislauf<strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en <strong>Kapital</strong>s auch <strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren. Alle Prozesse hängen mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r zusammenund unterliegen geme<strong>in</strong>sam nicht nur <strong>de</strong>m Zwang zur Verwertung unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>rKonkurrenz, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>m Zwang zur Kont<strong>in</strong>uität unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen wechselseitigerAbhängigkeiten. 398Der Zwang zur Kont<strong>in</strong>uität ist für das Gesamtkapital unmittelbar e<strong>in</strong>leuchtend. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Gesellschaftkann gewiß e<strong>in</strong>e längere Zeit auf rosarote Luftballons und 172 Fernsehprogramme verzichten,nicht aber auf die beständige Produktion von Lebensmitteln, Heizung, Kleidung, Energie und sofort. Und das erfor<strong>de</strong>rt mehr als die isolierte Produktion <strong>in</strong> isolierten Sektoren.Es gibt ke<strong>in</strong>e selbständige Landwirtschaft. <strong>Das</strong> dort verwen<strong>de</strong>te Gerät, die Energie, das Saatgut,die Transport- und Lagerleistungen und vieles mehr müssen vorhan<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong>e produktiveLandwirtschaft zu betreiben. Es gibt ke<strong>in</strong>e selbständige Textil<strong>in</strong>dustrie: Die Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffemüssen zuvor produziert wor<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>. 399 Darauf zielt M.s Festellung:"Nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>heit <strong>de</strong>r drei Kreisläufe ist die Kont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>s Gesamtprozesses verwirklicht statt<strong>de</strong>r oben geschil<strong>de</strong>rten Unterbrechung. <strong>Das</strong> gesellschaftliche Gesamtkapital besitzt stets dieseKont<strong>in</strong>uität und besitzt se<strong>in</strong> Prozeß stets die E<strong>in</strong>heit <strong>de</strong>r drei Kreisläufe." Aber es gibt für das <strong>in</strong>dividuelle<strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht durchaus e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung: "Für <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong>e wird398M. löst sich von <strong>de</strong>r schematischen Betrachtung: "So haben wir gesehn, daß nicht nur je<strong>de</strong>r besondre Kreislauf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn (implizite)voraussetzt, son<strong>de</strong>rn auch, daß die Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>s Kreislaufs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Form die Beschreibung <strong>de</strong>s Kreislaufs <strong>in</strong> <strong>de</strong>n andren Formen e<strong>in</strong>begreift.So stellt sich <strong>de</strong>r ganze Unterschied als e<strong>in</strong> bloß formaler dar, o<strong>de</strong>r auch als e<strong>in</strong> bloß subjektiver, nur für <strong>de</strong>n Betrachter bestehen<strong>de</strong>rUnterschied." Er fährt dann fort:"In Wirklichkeit aber bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich je<strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuelle <strong>in</strong>dustrielle <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> allen dreien zugleich. Die drei Kreisläufe, die Reproduktionsformen<strong>de</strong>r drei Gestalten <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, vollziehn sich kont<strong>in</strong>uierlich nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. E<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>werts z.B., <strong>de</strong>r jetzt als Warenkapitalfungiert, verwan<strong>de</strong>lt sich <strong>in</strong> Geldkapital, aber gleichzeitig tritt e<strong>in</strong> andrer <strong>Teil</strong> aus <strong>de</strong>m Produktionsprozeß <strong>in</strong> die Zirkulation als neues Warenkapital.So wird die Kreisform W'... W' beständig beschrieben; ebenso die bei<strong>de</strong>n andren Formen. Die Reproduktion <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong>je<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>er Formen und je<strong>de</strong>m se<strong>in</strong>er Stadien ist ebenso kont<strong>in</strong>uierlich, wie die Metamorphose dieser Formen und <strong>de</strong>r sukzessive Verlaufdurch die drei Stadien. Hier ist also <strong>de</strong>r gesamte Kreislauf wirkliche E<strong>in</strong>heit se<strong>in</strong>er drei Formen." (MEW 24, S.105)Wenig später beschreibt M. diese Gleichzeitigkeit <strong>de</strong>r Stadien als Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r Kont<strong>in</strong>uität:"Kont<strong>in</strong>uität ist aber das charakteristische Merkmal <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion und durch ihre technische Grundlage bed<strong>in</strong>gt, wennauch nicht immer unbed<strong>in</strong>gt erreichbar. Sehn wir also, wie die Sache <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wirklichkeit zugeht. Während z.B. die 10000 Pfund Garn alsWarenkapital auf <strong>de</strong>n Markt treten und ihre Verwandlung <strong>in</strong> Geld (sei dies nun Zahlungsmittel, Kaufmittel o<strong>de</strong>r gar nur Rechengeld)vollziehn, tritt neue Baumwolle, Kohle etc. im Produktionsprozeß an ihre Stelle, hat also schon aus Geldform und Warenform sich wie<strong>de</strong>r<strong>in</strong> die Form <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s rückverwan<strong>de</strong>lt und beg<strong>in</strong>nt ihre Funktion als solches; während zur selben Zeit, wo die ersten 10000Pfund Garn <strong>in</strong> Geld umgesetzt wer<strong>de</strong>n, frühere 10000 Pfund Garn schon das zweite Stadium ihrer Zirkulation beschreiben und sich ausGeld <strong>in</strong> die Elemente <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s rückverwan<strong>de</strong>ln. Alle <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s machen <strong>de</strong>n Kreislaufsprozeß <strong>de</strong>r Reihe nach durch,bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich gleichzeitig <strong>in</strong> verschiednen Stadien <strong>de</strong>sselben. So bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich das <strong>in</strong>dustrielle <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Kont<strong>in</strong>uität se<strong>in</strong>es Kreislaufsgleichzeitig <strong>in</strong> allen se<strong>in</strong>en Stadien und <strong>de</strong>n ihnen entsprechen<strong>de</strong>n verschiednen Funktionsformen." (MEW 24, S.106f)399Sage jetzt ke<strong>in</strong>er: Die importieren wir aus Vietnam. Um solche für <strong>de</strong>n Fortbestand e<strong>in</strong>er Gesellschaft wichtigen Produkte auf <strong>de</strong>m Außenmarktzu erwerben, müssen Produkte vorhan<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>, die auf <strong>de</strong>n Außenmärkten nachgefragt wer<strong>de</strong>n. Die Abhängigkeiten wer<strong>de</strong>ndadurch komplexer statt sich aufzulösen.193


die Kont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>r Reproduktion stellenweise mehr o<strong>de</strong>r m<strong>in</strong><strong>de</strong>r unterbrochen." 400 <strong>Das</strong> sehenwir uns näher an.Kapitel 13: Ökonomie <strong>de</strong>r UmschlagszeitWir lernen, warum kapitalistische Ökonomie immer auch Ökonomie <strong>de</strong>r Zeit ist. Wirsehen uns genauer an, wie die Zeit direkt auf die Verwertung e<strong>in</strong>wirkt, und erkennen<strong>de</strong>n engen Zusammenhang von Umschlagszeit und Verwertungserfolg.Wir beschäftigen uns mit <strong>de</strong>n Verwertungsreserven <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion, vor allem aberauch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation und mit ihren "toten Kosten", und machen uns Gedankenüber die Transport<strong>in</strong>dustrie.Die Zeit im Nacken - Mehrwert im BlickJe<strong>de</strong>m ist die Zeit als wichtiger Faktor <strong>de</strong>r Ökonomie irgendwie bekannt: Je länger e<strong>in</strong> Kreditdauert, <strong>de</strong>sto mehr Z<strong>in</strong>sen fallen an. In regelmäßigen Abstän<strong>de</strong>n muss die Leitung e<strong>in</strong>er Aktiengesellschafte<strong>in</strong>en Geschäftsbericht vorlegen, um Aktionären und Investoren e<strong>in</strong> Bild <strong>de</strong>s Unternehmenszu vermitteln. Es gibt Term<strong>in</strong>geschäfte, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r richtige Zeitpunkt darüber entschei<strong>de</strong>t,ob e<strong>in</strong>e Spekulation glückt o<strong>de</strong>r nicht. Und wer se<strong>in</strong>e Rechnung für Wasser o<strong>de</strong>r Strom<strong>in</strong> bestimmter Frist nicht zahlt, sitzt plötzlich im Dunkeln o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Trockenen. Man könntediese Liste fortsetzen. Untrennbar s<strong>in</strong>d Zeit und zeitlicher Ablauf von Ereignissen mit Gew<strong>in</strong>nund Verlust, mit ökonomischem Erfolg o<strong>de</strong>r mit Mißerfolg verbun<strong>de</strong>n. 401Auf die beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Zeit für die Mehrwertproduktion wur<strong>de</strong>n wir zum ersten Malaufmerksam, als es um die Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit g<strong>in</strong>g, um das, was M. die "dichtere Ausfüllung<strong>de</strong>r Poren <strong>de</strong>r Arbeitszeit" nannte.400MEW 24, S.108. Mit <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>weis auf die "oben geschil<strong>de</strong>rten Unterbrechungen" me<strong>in</strong>t M. die verschie<strong>de</strong>nen Formwechsel, die wir fürdie strukturelle Analyse als getrennte Stadien e<strong>in</strong>es Kreislaufs betrachtet haben. Noch e<strong>in</strong>mal: Diese Trennung <strong>de</strong>r Stadien ist ke<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung;sie existiert wirklich. Aber wegen <strong>de</strong>r Gleichzeitigkeit aller Stadien selbst für e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles <strong>Kapital</strong> wird daraus e<strong>in</strong> stetiger Fluß, <strong>in</strong><strong>de</strong>m zu je<strong>de</strong>m Zeitpunkt alle Stadien gleichzeitig existieren. Wirklich s<strong>in</strong>d die Stadien. Falsch h<strong>in</strong>gegen wäre es, sich <strong>de</strong>n Zirkulationsprozessauch nur e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>s als bloße Abfolge <strong>de</strong>r Stadien vorzustellen, wie es unser Schema präsentiert.<strong>Das</strong> Schema hier wie überhaupt alle von M. verwen<strong>de</strong>ten Schemata haben für sich genommen ke<strong>in</strong>erlei Beweiskraft; es s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e mathematischenBeweise. Und es s<strong>in</strong>d auch ke<strong>in</strong>e Abbildungen <strong>de</strong>r Vorgänge. Es ist nicht das Schema, son<strong>de</strong>rn unsere Analyse, mit <strong>de</strong>r wir dieWirrniss <strong>de</strong>r realen Verhältnisse aufschließen und die <strong>in</strong>nere Struktur offenlegen. Mit <strong>de</strong>m Schema skizzieren wir unser Vorgehen nur. DieFrage ist daher niemals, ob das verwen<strong>de</strong>te Schema richtig ist, son<strong>de</strong>rn ob die zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Überlegungen richtig s<strong>in</strong>d.401Überhaupt hat die kapitalistische Produktionsweise unser Leben vollständig <strong>de</strong>m Regime <strong>de</strong>r Zeit untergeordnet. Nicht nur Arbeitszeitund Arbeitstempo, auch Fernsehprogramm und Fahrpläne, Stun<strong>de</strong>npläne und Urlausbpläne und vielfältige B<strong>in</strong>dungen an tausen<strong>de</strong>, unheimlichwichtig sche<strong>in</strong>en<strong>de</strong> Term<strong>in</strong>e regeln unser Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise, die bei unseren Ur-Ur-Urgroßeltern vor 150 Jahren blankes Entsetzenhervorrufen wür<strong>de</strong>.Der natürliche Tag- und Nachtwechsel wird durch unsere Arbeitszeiten überlagert. Will e<strong>in</strong>e Großstadt als beson<strong>de</strong>rs mo<strong>de</strong>rn und offengelten, weisen ihre Image-Planer darauf h<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong> ihr Tag wie Nacht das Leben tost. Filofaxe und personal organizer und Sem<strong>in</strong>are zurverbesserten Zeitnutzung versprechen uns gegen Geld e<strong>in</strong> besser organisiertes (!) Leben*, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sogar die Freizeit (?) und die Erholung(?) verb<strong>in</strong>dlich geplant wer<strong>de</strong>n.Auch hier w<strong>in</strong>kt die Politische Ökonomie mit <strong>de</strong>m Zaunpfahl. Denn e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r von uns anfangs erwähnten verständigen Abstraktionen ist dieArbeit, die M. als Lebensveräußerung zur Befriedigung <strong>de</strong>r Lebensbedürfnisse bezeichnet. In Anwendung: Wir leben nicht, um besser zuarbeiten, son<strong>de</strong>rn wir arbeiten, um besser zu leben. Je<strong>de</strong>r kann prüfen, ob diese Prioritäten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben und im Leben unserer Gesellschafteigentlich noch stimmen.*"besser organisiert" heißt hier lei<strong>de</strong>r nicht, dass man sich besser organisiert, um für e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Lebensweise, möglicherweise sogar füre<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Produktionsweise aktiv e<strong>in</strong>zutreten.194


Warum hat das Zeitregime, gemessen <strong>in</strong> Stun<strong>de</strong>n und M<strong>in</strong>uten, für uns heute so übergroßeBe<strong>de</strong>utung? Wir haben bereits gesehen, wie mit <strong>de</strong>m Übergang zur Lohnarbeit für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>istendie Kontrolle über die Arbeitszeit zu e<strong>in</strong>em vitalen Mehrwert<strong>in</strong>teresse gewor<strong>de</strong>n ist. Aberdas ist nicht <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zige Punkt, warum allen <strong>Kapital</strong>isten die Zeit buchstäblich im Nacken sitztund von dort e<strong>in</strong> straffes Regime über die Gesellschaft <strong>in</strong>sgesamt errichtet.M. hat diesen Zusammenhang von kapitalistischer Produktionsweise und Zeit von verschie<strong>de</strong>nenPositionen aus beleuchtet. In je<strong>de</strong>m Fall geht es um die Frage, welchen E<strong>in</strong>fluß <strong>de</strong>r zeitlicheAblauf <strong>in</strong> <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen Stadien unseres Kreislaufmo<strong>de</strong>lls auf die Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>snimmt. Die Perspektiven s<strong>in</strong>d klar: Es geht nicht mehr um die Mo<strong>de</strong>llierung <strong>de</strong>r Stadien für <strong>de</strong>nKreislaufprozess. Es geht um die Umschlagszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und damit um die Frage, wie sichdie zeitliche Gestaltung <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>heit dieser Stadien auf die Produktion von Mehrwert auswirkt.<strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r grundlegen<strong>de</strong> Zusammenhang: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> bloße Verkürzung <strong>de</strong>r Umschlagszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sunter sonst gleichen Bed<strong>in</strong>gungen, ob <strong>in</strong>dividuell o<strong>de</strong>r gesellschaftlich betrachtet, verän<strong>de</strong>rtnicht <strong>de</strong>n Mehrwert <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Umschlagsperio<strong>de</strong>. Aber die <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahre bewegteWertmasse nimmt zu, wenn sich die Zahl <strong>de</strong>r Umschlagsperio<strong>de</strong>n pro Jahr erhöht, unddaher auch die Mehrwertmasse. Was die Verkürzung <strong>de</strong>r Umschlagszeit <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall bewirkt,selbst bei sonst gleichbleiben<strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen, ist die Jahresrate <strong>de</strong>s Mehrwerts, also die Masse<strong>de</strong>s produzierten Mehrwerts pro Zeite<strong>in</strong>heit.Wir erweitern unsere Analysen zum absoluten und relativen Mehrwert, <strong>in</strong><strong>de</strong>m wir <strong>de</strong>n Prozess<strong>de</strong>r Verwertung nicht mehr nur von außen nach se<strong>in</strong>em Anfangs- und En<strong>de</strong>rgebnis, son<strong>de</strong>rn von<strong>in</strong>nen untersuchen, ihn als sich ständig wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong>n Prozess betrachten. Wir fragen nach<strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong>nerhalb von Produktion und Zirkulation, die für beschleunigte und damit fürhöhere Verwertung sorgen: Welchen E<strong>in</strong>fluß nimmt die Dauer <strong>de</strong>s Produktionsprozesses? WelcheRolle spielen die stofflichen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses? Wie wirken die zum Kreislaufuntrennbar gehören<strong>de</strong>n Stadien <strong>de</strong>r Zirkulation auf die Verwertung e<strong>in</strong>? Welche Auswirkungenhaben die e<strong>in</strong>zelnen Bestandteile <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, die wir als se<strong>in</strong>e organische Zusammensetzungbereits kennenlernten, auf die Dauer <strong>de</strong>s Verwertungsprozesses?Produktionszeit und FunktionszeitDer von M. beschriebene Kreislauf <strong>de</strong>s Geldkapitals läßt sich als Umschlagzeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s bezeichnen.<strong>Das</strong> ist die Zeitdauer, die das <strong>in</strong>vestierte Geld braucht, um als Geld samt Mehrwert zu-402Mit Stechuhren am Betriebse<strong>in</strong>gang und zahlreichen an<strong>de</strong>ren Vorkehrungen errichtet die kapitalistische Produktionsweise e<strong>in</strong> straffesZeitregime über die Gesellschaft. Nach nur wenigen Jahrzehnten ist <strong>de</strong>r gesamte Gesellschaftsablauf bis <strong>in</strong> die sogenannte Freizeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>"ver-zeitigt". Im Katalog e<strong>in</strong>er Ausstellung zur Zeitmessung mit <strong>de</strong>m sprechen<strong>de</strong>n Titel "Zeit ist Geld" heißt es:"Die Arbeitsteilung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Fabrik erfor<strong>de</strong>rte nun e<strong>in</strong>heitliche Arbeitszeiten und unterwarf die Menschen <strong>de</strong>m Rhythmus <strong>de</strong>r teuren Masch<strong>in</strong>en.Nachdrücklich for<strong>de</strong>rten Fabrikanten pünktlichen Arbeitsbeg<strong>in</strong>n, striktes E<strong>in</strong>halten von Pausen und regelmäßige Schichten. Der Wert<strong>de</strong>r Arbeit bemaß sich jetzt nach <strong>de</strong>r geleisteten Arbeitszeit: Zeit wur<strong>de</strong> Geld. Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Kontrolluhr war geboren!"Doch bevor da irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e I<strong>de</strong>e geboren wer<strong>de</strong>n konnte, brauchte es e<strong>in</strong>e Menge an sozialen und ökonomischen Strukturen, an Dressurund Macht über mehr als vier Generationen.403Mit <strong>de</strong>m patentierten Radialapparat <strong>de</strong>r Dey Time Register Company <strong>in</strong> USA beg<strong>in</strong>nt 1894 die Ära <strong>de</strong>r automatisierten Zeiterfassung.Mit e<strong>in</strong>em zweifarbigen Band wur<strong>de</strong>n die Fehlzeiten bereits rot auf <strong>de</strong>m Kontrollstreifen ausgedruckt.Bei <strong>de</strong>r schnellen Verbreitung <strong>de</strong>r neuen Technik g<strong>in</strong>g es natürlich nicht nur um die bessere Kontrolle <strong>de</strong>r Arbeitszeit, son<strong>de</strong>rn vor allem umdie Entlastung und E<strong>in</strong>sparung <strong>de</strong>s damit bisher beschäftigten Kontrollpersonals. Wir er<strong>in</strong>nern uns: Relativer Mehrwert!195


ückzufließen. Diese Umschlagszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s besteht aus <strong>de</strong>r eigentlichen Produktionszeitund <strong>de</strong>r Umlaufszeit. 404 Sehen wir uns zunächst die Produktionszeit genauer an.In <strong>de</strong>r Produktionszeit fungiert das <strong>Kapital</strong> als produktives <strong>Kapital</strong>; <strong>in</strong> dieser Zeit f<strong>in</strong><strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeitsprozessund die Wertbildung statt. Aber das ist immer nur e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Produktionszeit, <strong>de</strong>nM. die Funktionszeit nennt. Nur <strong>in</strong> diesem kle<strong>in</strong>eren <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Produktionszeit fungiert das <strong>in</strong> Produktionsmittelnund Arbeitskräften angelegte <strong>Kapital</strong> als "Arbeitse<strong>in</strong>sauger" und damit wertundmehrwertbil<strong>de</strong>nd.Warum ist die Funktionszeit kürzer als die Produktionszeit? Und wo genau liegen die Auswirkungenauf die Verwertung? Sehen wir uns an, woraus sich die Produktionszeit <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>gesetztenProduktionsmittel, also das Stadium ihrer produktiven (= Mehrwert schaffen<strong>de</strong>n) Nutzung, zusammensetzt.<strong>Das</strong> ist <strong>in</strong> M.s Worten"<strong>1.</strong> die Zeit, während <strong>de</strong>ren sie als Produktionsmittel fungieren, also im Produktionsprozessedienen, 2. die Pausen, während <strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r Produktionsprozeß, also auch die Funktion <strong>de</strong>r ihme<strong>in</strong>verleibten Produktionsmittel unterbrochen ist, 3. die Zeit, während <strong>de</strong>ren sie zwar als Bed<strong>in</strong>gungen<strong>de</strong>s Prozesses bereitliegen, also schon produktives <strong>Kapital</strong> darstellen, aber noch nicht <strong>in</strong><strong>de</strong>n Produktionsprozeß e<strong>in</strong>gegangen s<strong>in</strong>d." 405Der erste Punkt ist klar: Wenn die Masch<strong>in</strong>en laufen, erfüllen sie ihren eigentlichen Zweck. DieMasch<strong>in</strong>enlaufzeit zu optimieren, sie möglichst viel Arbeit e<strong>in</strong>saugen zu lassen, heben wir als vitalesInteresse <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten hervor. Aber von diesem I<strong>de</strong>al e<strong>in</strong>er ununterbrochen tätigen Verwertungsmasch<strong>in</strong>erieist die wirkliche Produktionszeit, je nach Branche und <strong>pol</strong>itischen Bed<strong>in</strong>gungen,e<strong>in</strong> größeres o<strong>de</strong>r noch größeres Stück entfernt. Was auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite nur be<strong>de</strong>utet:Es liegen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Abweichung <strong>de</strong>r Funktionszeit von <strong>de</strong>r Produktionszeit beachtliche Reserven<strong>de</strong>r Verwertung.Sehen wir uns an, welche Pausen im Produktionsprozess M. eben ansprach. Im kle<strong>in</strong>eren s<strong>in</strong>ddas Pausen wie Masch<strong>in</strong>en<strong>de</strong>fekte, die durch verbesserte Wartung wie durch bessere Masch<strong>in</strong>enund an<strong>de</strong>re Maßnahmen m<strong>in</strong>imiert wer<strong>de</strong>n. Aber auch Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Arbeitsprozessesspielen e<strong>in</strong>e Rolle. Wenn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zwischenstufe das Produkt ruht, weil Reifezeiten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Le-404"Die Bewegung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s durch die Produktionssphäre und die zwei Phasen <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre vollzieht sich, wie man gesehn,<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zeitlichen Reihenfolge. Die Dauer se<strong>in</strong>es Aufenthalts <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionssphäre bil<strong>de</strong>t se<strong>in</strong>e Produktionszeit, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphärese<strong>in</strong>e Zirkulations- o<strong>de</strong>r Umlaufszeit. Die Gesamtzeit, wor<strong>in</strong> es se<strong>in</strong>en Kreislauf beschreibt, ist daher gleich <strong>de</strong>r Summe von Produktionszeitund Umlaufszeit. (MEW 24, S.124)405MEW 24, S.124f. So wie wir M.s Analyse vortragen, übergehen wir e<strong>in</strong>ige dar<strong>in</strong> enthaltene Unschärfen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wortwahl. Denn malschreibt er von <strong>de</strong>r Produktionsperio<strong>de</strong>, mal von <strong>de</strong>r Produk- tionszeit, mal von <strong>de</strong>r Arbeitsperio<strong>de</strong> und dann sogar, s<strong>in</strong>ngleich, von <strong>de</strong>rArbeitszeit.Die Ursachen für die wackeln<strong>de</strong>n Wörter (die Begriffe dah<strong>in</strong>ter bleiben dieselben) wer<strong>de</strong>n verständlich, wenn wir M.s Analyse zu Arbeitsperio<strong>de</strong>und Produktionszeit, die wir <strong>in</strong> diesem Kapitel behan<strong>de</strong>ln, auf se<strong>in</strong>e eigene Produktion anwen<strong>de</strong>n. Schon erkennen wir die Ungenauigkeiten<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Manuskript als Folge <strong>de</strong>r oft durch an<strong>de</strong>re Arbeiten, Krankheit und <strong>pol</strong>itische Verpflichtungen unterbrochenen Arbeitsperio<strong>de</strong>n.Und natürlich sehen wir das als Folge <strong>de</strong>r noch viel längeren Produktionsperio<strong>de</strong> für das gesamte Werk, die es <strong>de</strong>m Autorerschwerte, die e<strong>in</strong>mal getroffene Wortwahl auch Jahre später noch e<strong>in</strong>zuhalten. (Mal ganz abgesehen von se<strong>in</strong>er Abneigung gegen je<strong>de</strong>Form von aka<strong>de</strong>mischen Def<strong>in</strong>itionsapparaten.)Engels je<strong>de</strong>nfalls hat diese Abweichungen nicht korrigiert, was se<strong>in</strong>e Diszipl<strong>in</strong> als Herausgeber, vielleicht auch se<strong>in</strong>en bisweilen etwas zugroßen Respekt vor M.s Vorarbeiten zum 2. Band belegt.406Wer auf unterhaltsame Weise etwas über <strong>de</strong>n Angriff <strong>de</strong>s kapitalistischen Zeitregimes auf die Lebensverhältnisse erfahren will, solltesich <strong>de</strong>n Film "<strong>Das</strong> Schützenfest" von Jacques Tati aus <strong>de</strong>m Jahre 1947 gönnen.Hier versucht <strong>de</strong>r Briefträger Francois sich selbst als Masch<strong>in</strong>e zu verbessern und <strong>de</strong>m amerikanischen Vorbild zu folgen: Er steigert dieEffizienz se<strong>in</strong>er Arbeit, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m er am fahren<strong>de</strong>n LKW die Briefe frankiert und sortiert und das Arbeitstempo so sehr steigert, dass er sogardie Fahrer <strong>de</strong>r Tour <strong>de</strong> France h<strong>in</strong>ter sich läßt.Man kann sich <strong>de</strong>n Film im Internet bei Google <strong>in</strong> mieser Qualität und <strong>in</strong> französischer Sprache ansehen. Natürlich gibt es <strong>de</strong>n Film auchauf DVD.196


ensmittel<strong>in</strong>dustrie o<strong>de</strong>r Wachstumszeiten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Agrar<strong>in</strong>dustrie erfor<strong>de</strong>rlich s<strong>in</strong>d o<strong>de</strong>r das Produktnach Lackierung trocknen o<strong>de</strong>r nach Heißbehandlung auskühlen muß, entstehen natürlicheo<strong>de</strong>r arbeitstechnische Pausen. Auch Rüstzeiten für Masch<strong>in</strong>en gehören hierher. SolcheUnterbrechnungen müssen überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. 407Die Mittel s<strong>in</strong>d vielfältig. <strong>Das</strong> wichtigste: Ausbau <strong>de</strong>r Kapazitäten, um während <strong>de</strong>r Reife- o<strong>de</strong>rTrocknungs- o<strong>de</strong>r Abkühlungszeit von Produkten mit an<strong>de</strong>ren Zwischenprodukten fortzufahren,die bereits die Fertigungsstufe durchlaufen haben. Auch die Verkürzung <strong>de</strong>r "natürlichen" Pausenim Arbeitsprozess durch chemische o<strong>de</strong>r technische o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Mittel wäre zu nennen. 408Natürlich gehört die sattsam bekannte Fließfertigung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Fabriken ebenfalls hierher. Sogar dieStandardisierung, also die Verwendung <strong>de</strong>rselben <strong>Teil</strong>e <strong>in</strong> vielen Produkten, trägt ebenso zurVerstetigung <strong>de</strong>r Produktionsprozesse wie zur M<strong>in</strong>imierung von Lager- und Masch<strong>in</strong>enkostenbei.Alle diese für die Verwertung so wichtigen Maßnahmen zur Verstetigung <strong>de</strong>s Produktionsprozesseswaren immer mit neuem <strong>Kapital</strong>aufwand und wachsen<strong>de</strong>n Betriebsgrößen verbun<strong>de</strong>n.Der von uns bereits beschriebene objektive Zwang zur Verwertung und Akkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sf<strong>in</strong><strong>de</strong>t hier e<strong>in</strong> weites Betätigungsfeld. Und was wir Verwertungszwang nennen, ersche<strong>in</strong>taus Unternehmersicht als e<strong>in</strong> Zwang, <strong>de</strong>r sche<strong>in</strong>bar aus <strong>de</strong>r Produktionstechnik selbst erwächst.Größere Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Verwertungsprozess haben die langen Unterbrechungen, diedurch <strong>de</strong>n biologischen Rhythmus und kulturelle Gewohnheiten entstehen. Masch<strong>in</strong>en könnenständig laufen. Und je länger sie laufen, <strong>de</strong>sto schneller verwerten sie sich. Hier f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>nAusgangspunkt für alle Versuche, durch Nachtarbeit und Schichtsysteme und Sonntagsarbeit dieProduktionszeit auszu<strong>de</strong>hnen.Vor allem <strong>in</strong> Bereichen hoher organischer Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s entwickelt <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>iste<strong>in</strong> vitales Interesse, die hohen Investitionen umgehend und möglichst kont<strong>in</strong>uierlich "arbeitssaugend"zu nutzen. Freilich gibt es auch technische Vorgaben. Oft ist es schon die Dauer<strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, etwa <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Stahlgew<strong>in</strong>nung, die e<strong>in</strong>e Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Arbeitszeit erzw<strong>in</strong>gt.Schön für <strong>de</strong>n Unternehmer, wenn diese Vorgabe <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses auch e<strong>in</strong>en beschleunigtenUmlauf se<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s hervorbr<strong>in</strong>gt. 409Der dritte von M.s genannten Punkten ist <strong>in</strong> vielen Branchen von großer Be<strong>de</strong>utung und hatüber die ganze Geschichte <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise h<strong>in</strong>weg immer wie<strong>de</strong>r zu großenVerän<strong>de</strong>rungen geführt. Hier geht es um die Zulieferung und Lagerhaltung. Was <strong>de</strong>r Unter-407Manufaktur- und Fabriksystem entwickelten sich mit <strong>de</strong>m Versuch, allen Unterbrechungen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses e<strong>in</strong> En<strong>de</strong> zu bereiten,die für die handwerkliche Produktion noch typisch waren und nicht zuletzt ihren romantischen Charme ausmachen. Mit <strong>de</strong>r Regie <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>süber die Produktion s<strong>in</strong>d solche Pausen nur Verluste. Die Verstetigung <strong>de</strong>r Produktion und die Entwicklung <strong>de</strong>r jeweils optimalen Betriebsgröße,<strong>in</strong> <strong>de</strong>r alle Stufen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses verzögerungsfrei ablaufen, wird zur Aufgabe dafür speziell ausgebil<strong>de</strong>ter Spezialisten,die <strong>de</strong>r work flow efficiency auf die Sprünge helfen sollen.408Auch <strong>de</strong>n natürlichen Pausen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionszeit von Lebensmitteln hat man längst <strong>de</strong>n Kampf angesagt. Beschleunigte Reifung <strong>de</strong>rProdukte <strong>in</strong> Reifungskammern mit künstlicher Atmosphäre und Bestrahlung, Zugabe von Aromastoffen statt aufwändiger Räucherung,gentechnisch erzeugte Schnellhefen für die beschleunigte Gärung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bierherstellung, durch Futtermittelzu gaben o<strong>de</strong>r genetische Än<strong>de</strong>rungenschneller wachsen<strong>de</strong> Masttiere... Die mo<strong>de</strong>rne Lebensmittelchemie und Biotechnik hält e<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>drucken<strong>de</strong>s bis erschrecken<strong>de</strong>sArsenal an Mitteln bereit, von <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong> großer <strong>Teil</strong> ganz <strong>de</strong>r Verkürzung natürlicher Produktionsprozesse dient.Durch Gewächshäuser macht man sich unabhängig von Witterung und Jahreszeiten. Wo es durch Lagerhaltung nicht erreicht wird, nutzenAgrokonzerne die unterschiedlichen Klimazonen und Jahreszeiten auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, um e<strong>in</strong>en stetigen Zustrom <strong>de</strong>rselben agrarischen Rohstoffezu sichern. Wir sehen schon an wenigen Beispielen, wie die e<strong>in</strong>fache Frage nach <strong>de</strong>r Angleichung von Produktions- und Funktionszeitdie h<strong>in</strong>tergründigen Motive <strong>de</strong>s kapitalistischen Unternehmens für Innovationen und ihre Ausrichtung offenlegt.409Er kann es gut gebrauchen. Denn gera<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Bereichen hoher organischer Zusammensatzung f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir auch e<strong>in</strong>en hohen Anteil ankapital<strong>in</strong>tensiven Anlagen mit langer Nutzungsdauer, die an sich schon genügend Risiken be<strong>in</strong>halten. Zu Anwendung und Risiken diesesfixen <strong>Kapital</strong>s für <strong>de</strong>n Verwertungsprozess befragen wir M. später.197


nehmer an Rohstoffen kauft und auf Lager hält, um je<strong>de</strong>rzeit die Kont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>r Produktion zusichern, ist brach liegen<strong>de</strong>s, "latentes <strong>Kapital</strong>", wie M. das nennt, <strong>de</strong>ssen Verwertung erst <strong>in</strong> <strong>de</strong>rZukunft stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Die Verm<strong>in</strong><strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s latenten <strong>Kapital</strong>s durch passgenaue Anlieferung undAbbau <strong>de</strong>r Lagerbestän<strong>de</strong> hat seit <strong>de</strong>n 1970er Jahren die Produktionsabläufe und die Transport<strong>in</strong>dustrieumgestaltet. Aber solche Überlegungen spielten auch zu M.s Zeit e<strong>in</strong>e entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>Rolle bei <strong>de</strong>r Fortentwicklung <strong>de</strong>r Eisenbahn- und Kanalnetze, hatten starken E<strong>in</strong>fluß auf dieStandortwahl und die Entwicklung <strong>de</strong>r optimalen Betriebsgrößen für <strong>de</strong>n jeweiligen Entwicklungsstand.Halten wir die bisherigen Ergebnisse zum kapitalistischen Funktionszeit-Dilemma mit M.s Wortenfest:"Welches immer <strong>de</strong>r Grund <strong>de</strong>s Überschusses <strong>de</strong>r Produktionszeit über die Arbeitszeit – sei es,daß Produktionsmittel nur latentes produktives <strong>Kapital</strong> bil<strong>de</strong>n, also sich noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vorstufezum wirklichen Produktionsprozeß bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r daß <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Produktionsprozessesdurch <strong>de</strong>ssen Pausen ihre eigne Funktion unterbrochen wird, o<strong>de</strong>r daß endlich <strong>de</strong>r Produktionsprozeßselbst Unterbrechungen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses bed<strong>in</strong>gt –, <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em dieser Fälle fungierendie Produktionsmittel als Arbeitse<strong>in</strong>sauger. Saugen sie ke<strong>in</strong>e Arbeit e<strong>in</strong>, so auch ke<strong>in</strong>e Mehrarbeit."410<strong>Das</strong> Interesse <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten hat die Verlängerung <strong>de</strong>r Funktionszeit für das produktive <strong>Kapital</strong>zum Ziel. Da aber die Abweichung von Produktionszeit und Funktionszeit nicht zuletzt <strong>de</strong>n technischenund sozialen Merkmalen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses entspr<strong>in</strong>gt, die sich fortwährend verän<strong>de</strong>rn,ist die Reduzierung <strong>de</strong>r nicht produktiven Zeit e<strong>in</strong>e ständig neu zu lösen<strong>de</strong> Aufgabe. AlleH<strong>in</strong><strong>de</strong>rnisse, die e<strong>in</strong>er fortdauern<strong>de</strong>n Anwendung <strong>de</strong>r Produktionsmittel im Wege stehen, s<strong>in</strong>dH<strong>in</strong><strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Verwertung. Die Beseitigung solcher H<strong>in</strong><strong>de</strong>rnisse kommt <strong>de</strong>r Erschließung neuerVerwertungsquellen gleich.Arbeitsperio<strong>de</strong> und ProduktionszeitEs liegt auf <strong>de</strong>r Hand, dass die Art <strong>de</strong>r Produktion und die Art <strong>de</strong>r Produkte starken E<strong>in</strong>fluß auf<strong>de</strong>n Wertrückfluß nehmen. Die Erstellung alltäglich gebrauchter Backwaren mit alltäglichemVerkauf ist etwas an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r Bau von Kraftwerken o<strong>de</strong>r Häusern o<strong>de</strong>r Automobilen. DieseUnterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen erfaßt M. als Unterschie<strong>de</strong> zwischen Arbeitsperio<strong>de</strong>und Produktionszeit. 411 Was nur besagt: Die kont<strong>in</strong>uierliche Verausgabung von <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong>410"Welches immer <strong>de</strong>r Grund <strong>de</strong>s Überschusses <strong>de</strong>r Produktionszeit über die Arbeitszeit – sei es, daß Produktionsmittel nur latentes produktives<strong>Kapital</strong> bil<strong>de</strong>n, also sich noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vorstufe zum wirklichen Produktionsprozeß bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r daß <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Produktionsprozessesdurch <strong>de</strong>ssen Pausen ihre eigne Funktion unterbrochen wird, o<strong>de</strong>r daß endlich <strong>de</strong>r Produktionsprozeß selbst Unterbrechungen<strong>de</strong>s Arbeitsprozesses bed<strong>in</strong>gt –, <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em dieser Fälle fungieren die Produktionsmittel als Arbeitse<strong>in</strong>sauger. Saugen sie ke<strong>in</strong>e Arbeit e<strong>in</strong>,so auch ke<strong>in</strong>e Mehrarbeit. Es f<strong>in</strong><strong>de</strong>t daher ke<strong>in</strong>e Verwertung <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s statt, solange es sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>m <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>er Produktionszeitbef<strong>in</strong><strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r überschüssig über die Arbeitszeit ist, so unzertrennlich auch die Vollführung <strong>de</strong>s Verwertungsprozesses von diesen se<strong>in</strong>enPausen se<strong>in</strong> mag. Es ist klar, daß je mehr Produktionszeit und Arbeitszeit sich <strong>de</strong>cken, um so größer die Produktivität und Verwertung e<strong>in</strong>esgegebnen produktiven <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong> gegebnem Zeitraum. Daher die Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion, <strong>de</strong>n Überschuß <strong>de</strong>r Produktionszeitüber die Arbeitszeit möglichst zu verkürzen. Obgleich aber die Produktionszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s von se<strong>in</strong>er Arbeitszeit abweichenmag, so umschließt sie stets dieselbe, und ist <strong>de</strong>r Überschuß selbst Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s Produktionsprozesses. Die Produktionszeit ist also stetsdie Zeit, während <strong>de</strong>ren das <strong>Kapital</strong> Gebrauchswerte produziert und sich selbst verwertet, daher als produktives <strong>Kapital</strong> fungiert, obgleichsie Zeit e<strong>in</strong>schließt, wor<strong>in</strong> es entwe<strong>de</strong>r latent ist o<strong>de</strong>r auch produziert, ohne sich zu verwerten." (MEW 24, S.126f)411Als Arbeitsperio<strong>de</strong> bezeichnen wir mit M. "die Zahl zusammenhängen<strong>de</strong>r Arbeitstage, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Geschäftszweig erheischtist, um e<strong>in</strong> fertiges Produkt zu liefern. <strong>Das</strong> Produkt je<strong>de</strong>s Arbeitstags ist hier nur e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong>produkt, welches Tag für Tag weiter ausgeführtwird und erst am Schluß <strong>de</strong>r längern o<strong>de</strong>r kürzern Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Arbeitszeit se<strong>in</strong>e fertige Gestalt erhält, e<strong>in</strong> fertiger Gebrauchswert ist."(MEW 24, 233)198


Geldform ist Voraussetzung e<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>uierlichen Arbeitsprozesses. Aber bei längerer Produktionsperio<strong>de</strong>steht <strong>de</strong>m ke<strong>in</strong> ebenso kont<strong>in</strong>uierlicher Rückfluß <strong>de</strong>s Werts gegenüber, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>rRegel immer erst vollständig nach Abschluß <strong>de</strong>r Produktionszeit erfolgt.Mit längerer Produktionszeit für e<strong>in</strong>e Ware nehmen die Aufwendungen für das produzieren<strong>de</strong><strong>Kapital</strong> zu, <strong>de</strong>n Arbeitsprozess kont<strong>in</strong>uierlich zu f<strong>in</strong>anzieren. Zwischenzahlungen etwa beimHausbau o<strong>de</strong>r Übernahme <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzierung von Kraftwerken durch private o<strong>de</strong>r staatliche Bankenentschärfen das Problem für <strong>de</strong>n Produzenten, schaffen aber auch neue Zirkulationskostenund e<strong>in</strong>e Umverteilung <strong>de</strong>s Mehrwerts vom Produzenten zum Kreditgeber. 412 Je länger die Produktionsperio<strong>de</strong>für e<strong>in</strong>e Ware ist, <strong>de</strong>sto größer wird die Rolle <strong>de</strong>s Kredits, <strong>de</strong>sto anfälliger wirddas Geschäft. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Verkürzung <strong>de</strong>r Produktionsperio<strong>de</strong> verbessert <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen.Was uns im Mehrwertkapitel noch als allgeme<strong>in</strong>es Motiv zur Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivitätbegegnete, wurzelt auch <strong>in</strong> diesen stofflichen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, die im Konfliktmit e<strong>in</strong>er schnellen Verwertung stehen. Da ist Beton, <strong>de</strong>r schneller b<strong>in</strong><strong>de</strong>t, da s<strong>in</strong>d Konstruktionen,für die weniger Baumaterial bewegt wer<strong>de</strong>n müssen, da ist die Verwendung von standardisierten<strong>Teil</strong>en zur Verkürzung <strong>de</strong>r Bauzeit eben nicht nur e<strong>in</strong>e technische Leistung f<strong>in</strong>diger Ingenieure.Es ist durch die Verkürzung <strong>de</strong>r Produktionszeit immer auch e<strong>in</strong>e Verbesserung <strong>de</strong>r Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen.Und solche technischen Neuerungen f<strong>in</strong><strong>de</strong>n ihren Sponsor auch nur,soweit sie diesem Zweck dienen.Dennoch bleiben die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> allen Branchen mit längerer Produktionszeitkritisch. Von hier gehen wichtige Antriebe zur Entwicklung passen<strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzierungs<strong>in</strong>strumenteaus. Die reichen von <strong>de</strong>r klassischen Aktiengesellschaft mit ihrem Recht zur <strong>Kapital</strong>erhöhungdurch Ausgabe neuer Aktien über die Rolle <strong>de</strong>r ebenso klassischen Hausbank mit ihrer verbürgtenKreditl<strong>in</strong>ie bis zu <strong>de</strong>n heute so beliebten Instrumenten <strong>de</strong>r Unternehmensanleihen, staatlichenBürgschaften o<strong>de</strong>r Private Equity Funds als F<strong>in</strong>anzierungsfeuerwehr.Es entsteht sche<strong>in</strong>bar neben <strong>de</strong>r Produktion e<strong>in</strong> ganz eigenes Aktionsfeld <strong>de</strong>r Unternehmen, dassich mit <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzierung <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong>n Produktion und <strong>de</strong>r Ref<strong>in</strong>anzierung 413 <strong>de</strong>r dafür benö-Die Produktionszeit (die M. an dieser Stelle Produktionsperio<strong>de</strong> nennt) ist <strong>de</strong>r Zeitraum, <strong>de</strong>n e<strong>in</strong> Produkt braucht, um gebrauchsfertig zuwer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> umfaßt die eigentliche Arbeitsperio<strong>de</strong> und vom jeweiligen Arbeitsprozess abhängige Phasen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen ke<strong>in</strong>e Arbeit zugesetztwird (Trocknung, Reifung, chemischen Umwandlung, Auskühlung usw.). Wir s<strong>in</strong>d diesem Unterschied bereits begegnet, nämlich <strong>in</strong> <strong>de</strong>rEntstehung <strong>de</strong>s bäuerlichen Handwerks. Grundlage dafür war ja die starke Abweichung zwischen eigentlicher Arbeitsperio<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r Produktionszeit<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Landwirtschaft. Der <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Produktionszeit, <strong>de</strong>r über die landwirtschaftliche Arbeitszeit h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g, wur<strong>de</strong> durch bäuerlichesKle<strong>in</strong>gewerbe ausgefüllt.E<strong>in</strong> anschauliches Beispiel liefert uns die Holzwirtschaft. Da das Wachstum <strong>de</strong>r Wäl<strong>de</strong>r (= Produktionszeit) kaum mehr beschleunigt wer<strong>de</strong>nkann, kam es schon zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu Engpässen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Versorgung <strong>de</strong>r meistens noch kle<strong>in</strong>gewerblichen Möbelhersteller.<strong>Das</strong> än<strong>de</strong>rte sich erst mit <strong>de</strong>m Übergang vom knapper wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Naturholz zum technischen Holz, <strong>de</strong>m Stabsperrholz, auch Tischlerplattegenannt, und vor allem zu <strong>de</strong>n seit etwa 1930 üblichen Spanplatten. <strong>Das</strong> technische Holz erlaubte e<strong>in</strong>e fast komplette Nutzung<strong>de</strong>r Bäume und dank entsprechen<strong>de</strong>r Produktion die kont<strong>in</strong>uierliche Versorgung mit diesem Rohstoff. Komplizierte Phasen <strong>de</strong>r Holztrocknung,Holzauswahl und Vorbehandlung und hohe Lagerkosten fielen weg. Schön für die Tischler, aber: Dadurch wur<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>r Weg zur<strong>in</strong>dustriellen Massenfertigung von preiswerten Möbeln geöffnet und gleichzeitig das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s kle<strong>in</strong>gewerblichen Möbelherstellers e<strong>in</strong>geläutet.412Gera<strong>de</strong> bei Kraftwerken o<strong>de</strong>r Immobilien, die ja wegen ihrer hohen <strong>Kapital</strong>fixierung selbst sehr lange Verwertungsperio<strong>de</strong>n haben, iste<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>anzierung von Erstellung und Betrieb durch <strong>de</strong>n laufen<strong>de</strong>n Wertrückfluß praktisch ausgeschlossen. Ohne Kredit geht hier nichts.Ke<strong>in</strong> Wun<strong>de</strong>r, dass Infrastruktur- und Immobilienf<strong>in</strong>anzierung immer ganz oben stehen, wenn über die Ursachen von F<strong>in</strong>anzkrisen die Re<strong>de</strong>ist.413Als Ref<strong>in</strong>anzierung wird <strong>in</strong> <strong>de</strong>n kapitalistischen Unternehmen beschönigend <strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong> Schul<strong>de</strong>ndienst durch Aufnahme neuer Schul<strong>de</strong>nbezeichnet. Da alle Unternehmen für <strong>de</strong>n Betrieb und die Sicherung <strong>de</strong>r Konkurrenzposition regelmäßig Kredite aufnehmen, müssendafür auch regelmäßig Z<strong>in</strong>sen geleistet wer<strong>de</strong>n und Rückzahlungen zu festgelegten Term<strong>in</strong>en erfolgen. Der gesamte Geldfluß ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emF<strong>in</strong>anzplan nie<strong>de</strong>rgelegt, <strong>de</strong>r die ständige Liquidität <strong>de</strong>s Unternehmens, also <strong>de</strong>n Zugriff auf ausreichen<strong>de</strong> flüssige Geldmittel sichern soll.Die stete Anpassung <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzplans an Geschäftsgang und äußere Bed<strong>in</strong>gungen wie Kreditkosten, Währungsbewegungen o<strong>de</strong>r Inflationgehört zu <strong>de</strong>n zentralen Aufgaben <strong>de</strong>s Managements.199


tigten Kredite befaßt. Die Akteure auf diesem Feld gew<strong>in</strong>nen zunehmen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluß. Wir wer<strong>de</strong>nihnen noch oft genug begegnen. Die aus langer Produktionszeit wie aus langer Umschlagszeitresultieren<strong>de</strong>n Verwertungsprobleme bil<strong>de</strong>n aber auch <strong>de</strong>n Untergrund für die zunehmen<strong>de</strong>nAktivitäten <strong>de</strong>s Staats und staatlicher E<strong>in</strong>richtungen auf ökonomischem Gebiet.Als wir über allgeme<strong>in</strong>e Merkmale <strong>de</strong>r Warenproduktion sprachen, erkannten wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>r zeitlichenTrennung von Produktion und Verkauf bereits <strong>de</strong>n Kredit als ihre <strong>in</strong>nere Bed<strong>in</strong>gung. Jetzthaben wir, aus an<strong>de</strong>rer Richtung kommend, wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Punkt erreicht, an <strong>de</strong>m sich diese <strong>in</strong>nereBed<strong>in</strong>gung zu e<strong>in</strong>em selbständigen Geschäftszweig verselbständigen muß. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> kont<strong>in</strong>uierlicheProduktion bei langer Produktionsperio<strong>de</strong> ist ohne H<strong>in</strong>zunahme von Kredit, <strong>in</strong> welcher Formauch immer, praktisch un<strong>de</strong>nkbar. 414 Die Produktion selbst und ihre F<strong>in</strong>anzierung lösen sich teilweisevone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r und schaffen neben <strong>de</strong>r Produktion e<strong>in</strong> damit untrennbar verknüpftes System<strong>de</strong>r Geldverwertung, das M. das Kreditsystem nennt, und das heute etwas verharmlosend als F<strong>in</strong>anzmarktbezeichnet wird. 415Umlaufszeit und ZirkulationsagentenAls Umlaufszeit bezeichnet M. die Stadien <strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen das <strong>Kapital</strong> nur <strong>in</strong>Warenform existiert. Im oben verwen<strong>de</strong>ten Mo<strong>de</strong>ll s<strong>in</strong>d das die Stadien vor und nach <strong>de</strong>r Verwertungim Produktionsprozess. Es müssen ja zunächst die für die Produktion benötigten Warengekauft wer<strong>de</strong>n. Ihre möglichst rasche Überführung <strong>in</strong> die Produktion und ihre Verwertung istdas Ziel. Diese Phase, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich das <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> Warenform bewegt, ohne sich zu verwerten, ist<strong>in</strong> gewissem Umfang unvermeidlich. Kont<strong>in</strong>uierlicher Zufluß und Lagerhaltung bil<strong>de</strong>n die Grundlagefür e<strong>in</strong>en stetigen Produktionsprozess und die regelmäßige Um- und Neugestaltung <strong>de</strong>sBanken und an<strong>de</strong>re Kreditgeber bezeichnen als Ref<strong>in</strong>anzierung im engeren S<strong>in</strong>ne alle Verfahren, mit <strong>de</strong>nen sie gewährte Kredite ausFremdmitteln, also nicht aus <strong>de</strong>m Eigenkapital f<strong>in</strong>anzieren. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>es <strong>de</strong>r zentralen Themen <strong>de</strong>r gegenwärtigen Wirtschaftskrise auskapitalistischer Sicht, <strong>de</strong>nn gera<strong>de</strong> die gescheiterte Ref<strong>in</strong>anzierung <strong>de</strong>r Kredite über Kreditverbriefung hat die Krise so sehr verschärft.414Mit Blick auf <strong>de</strong>n Londoner Hausbau im großen Stil kommt M. zu <strong>de</strong>r Verallgeme<strong>in</strong>erung:"Die Ausführung von Werken von be<strong>de</strong>utend langer Arbeitsperio<strong>de</strong> und großer Stufenleiter fällt erst vollständig <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionanheim, wenn die Konzentration <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s bereits sehr be<strong>de</strong>utend ist, andrerseits die Entwicklung <strong>de</strong>s Kreditsystems <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>istendas bequeme Auskunftsmittel bietet, frem<strong>de</strong>s statt se<strong>in</strong> eignes <strong>Kapital</strong> vorzuschießen und daher auch zu riskieren." (MEW 24,S.237)Natürlich ist je<strong>de</strong> Branche mit langer Produktionsperio<strong>de</strong> wie Immobilienprojekte, Staudämme, Stahlwerke, Eisenbahnl<strong>in</strong>ien, Schiffsbauusw. nicht nur wegen <strong>de</strong>r verzögerten Verwertung und <strong>de</strong>r Abhängikeit vom Kredit <strong>in</strong> risikoreicher Lage; sie wer<strong>de</strong>n auch durch Kriseneher und dann auch härter getroffen. Trifft die Schuhfabrik <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Krise auf ger<strong>in</strong>ge Nachfrage, bleiben die bis dah<strong>in</strong> täglich produziertenSchuhe als Warenwerte erhalten. Durch Verkauf <strong>de</strong>r Lagerbestän<strong>de</strong>, notfalls unter Preis, kann man sich sogar gewisse Zeit retten.Wird <strong>de</strong>r Bau e<strong>in</strong>s E<strong>in</strong>kaufszentrums, e<strong>in</strong>es Staudamms o<strong>de</strong>r Kraftwerks krisenbed<strong>in</strong>gt unterbrochen o<strong>de</strong>r verlangsamt, kann das die Pleitezur Folge haben. Es wer<strong>de</strong>n zusätzliche Kreditkosten sogar dann nötig, wenn man sich gegen die bekannte Gefährdung solcher langfristigenProjekte zuvor durch staatliche Bürgschaften o<strong>de</strong>r bei e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>r großen Versicherungen abge<strong>de</strong>ckt hatte. Denn auch solche Versicherungen,so hilfreich sie für das betreiben<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong> s<strong>in</strong>d, bleiben <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r uns später noch beschäftigen<strong>de</strong>n toten Zirkulationskosten, dieentwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Betreiber o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Auftraggeber o<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong> zu tragen haben.Angemerkt: Der Absturz <strong>de</strong>r HyporealEstate Bank <strong>in</strong> Deutschland 2008 resultierte aus <strong>de</strong>n F<strong>in</strong>anzierungsproblemen für Großprojekte, mit<strong>de</strong>nen die Hyporeal-Tochter Depfa-Bank als Folge <strong>de</strong>r Krise plötzlich überlastet war und <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>sturz e<strong>in</strong>er regelrechten F<strong>in</strong>anzierungskaska<strong>de</strong>auslöste.415Diese Bezeichnung ist, ganz im S<strong>in</strong>ne ihrer Erf<strong>in</strong><strong>de</strong>r, heute recht nichtssagend. Früher war man näher dran. Noch lange Zeit seit <strong>de</strong>m16. Jahrhun<strong>de</strong>rt be<strong>de</strong>utete das Verb f<strong>in</strong>anzen nichts an<strong>de</strong>res als wuchern und betrügen. Bei Luther f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r hübsche Knittelvers:"Denn <strong>de</strong>r Papst hat uns mit F<strong>in</strong>anz / <strong>de</strong>m Teufel gebun<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Schwanz". In dieser <strong>de</strong>m Kredit so wenig zugeneigten Umgebung warauch die Bezeichnung e<strong>in</strong>ens Menschen als F<strong>in</strong>anzer gleichbe<strong>de</strong>utend mit Betrüger. Erst im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, mit <strong>de</strong>r Entstehung e<strong>in</strong>es allgegenwärtigenkapitalistischen Kreditsystems, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzbegriff gründlich gewaschen und kommt uns seit<strong>de</strong>m ganz unschuldigdaher.Aber auch M.s Begriff Kreditsystem wird wohl <strong>de</strong>r wirklichen Dynamik und gewachsenen Be<strong>de</strong>utung nicht mehr gerecht. Wir bevorzugendaher die Bezeichnung Geldverwertungsmarkt, die zwar umständlich ist, aber recht genau sagt, worum es dabei geht. Nämlich um dieVerwertung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s, das nicht auf irgendwelchen F<strong>in</strong>anzmärkten entsteht, son<strong>de</strong>rn aus allen Poren <strong>de</strong>s kapitalistischen Produktionsprozessestropft. Wir wer<strong>de</strong>n schon im nächsten Kapitel darauf zurückkommen.200


Produktionsprozesses selbst. Aber die M<strong>in</strong>imierung <strong>de</strong>s Umfangs be<strong>de</strong>utet <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Fall verbesserteVerwertung.Noch entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r ist das Stadium, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die produzierten Waren verkauft wer<strong>de</strong>n. Wirer<strong>in</strong>nern uns: M. nannte das auf unterer Ebene se<strong>in</strong>er Analyse <strong>de</strong>n "salto mortale" <strong>de</strong>r Ware,ihren alltäglichen To<strong>de</strong>ssprung, <strong>de</strong>r über Erfolg o<strong>de</strong>r Mißerfolg <strong>de</strong>r ganzen Veranstaltung entschei<strong>de</strong>t.Erst wenn die Ware verkauft und <strong>de</strong>r Rückfluss von Wert und Mehrwert <strong>in</strong> Geldformerfolgt, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Verwertungsprozess se<strong>in</strong>en erfolgreichen Abschluß und Neuanfang. Die Verfahren,diesen Aufenthalt <strong>de</strong>r Ware <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation zu kürzen, s<strong>in</strong>d unzählbar. Sie variierenvon Branche zu Branche, unterliegen im Großmasch<strong>in</strong>enbau, <strong>de</strong>r auf Bestellung produziert, an<strong>de</strong>renBed<strong>in</strong>gungen als <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lebensmittel<strong>in</strong>dustrie, die mit <strong>de</strong>n Problemen begrenzter Haltbarkeitzu tun hat. In <strong>de</strong>r Textil- und Möbel<strong>in</strong>dustrie mit ihren Mo<strong>de</strong>zyklen geht es an<strong>de</strong>rs zu als imKohle- o<strong>de</strong>r Erzbergbau.Je<strong>de</strong>r Produzent wird bestrebt se<strong>in</strong>, möglichst schnell die e<strong>in</strong>gekauften Waren produktiv zu nutzenund <strong>de</strong>n Wert se<strong>in</strong>er produzierten Waren möglichst schnell <strong>in</strong> Geld zurückzuerhalten. Daraufist se<strong>in</strong> gesamtes Unternehmen ausgerichtet. Deshalb s<strong>in</strong>d E<strong>in</strong>kauf und Absatz, das Here<strong>in</strong>holenvon Aufträgen und <strong>de</strong>ren schnelle Abwicklung bis zur endgültigen Bezahlung von so großerBe<strong>de</strong>utung; die Formel <strong>de</strong>r Begriebswirte vom "Primat <strong>de</strong>s Absatzes" ist uns schon begegnet.<strong>Das</strong> ist M.s "salto mortale" von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aus gesehen, aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Produzenten,<strong>de</strong>ssen Zukunft sich mit <strong>de</strong>m Verkauf o<strong>de</strong>r Nichtverkauf se<strong>in</strong>er Waren immer neu entschei<strong>de</strong>t.Die Dauer <strong>de</strong>r Umlaufzeit ist tatsächlich für <strong>de</strong>n Verwertungserfolg entschei<strong>de</strong>nd. Je länger dieUmlaufzeit, <strong>de</strong>sto mehr fließt vom Mehrwert <strong>in</strong> die toten Kosten <strong>de</strong>r Zirkulation. Diesen Zusammenhangspürt je<strong>de</strong>r Unternehmer. E<strong>in</strong>kauf und Market<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d aus se<strong>in</strong>er Sicht die zentralenFaktoren, die <strong>de</strong>n Unternehmenserfolg bestimmen. Mit <strong>de</strong>r bekannten Konsequenz: Wie<strong>de</strong>r ersche<strong>in</strong>enaus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Akteure die Erfolge im Kaufen und Verkaufen als Quelle <strong>de</strong>s Gew<strong>in</strong>ns.Da ist zunächst gar nicht zu wi<strong>de</strong>rsprechen. Die unterschiedlichen Unternehmenserfolge<strong>in</strong> gleichen Branchen haben sehr oft ihren Ursprung im erfolgreichen bis erpresserischen E<strong>in</strong>kauf.Und wenn es E<strong>in</strong>kauf und Verkauf, Beschaffung und Market<strong>in</strong>g, Werbung und Händlernetzs<strong>in</strong>d, die me<strong>in</strong>en Erfolg <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz bestimmen: S<strong>in</strong>d es dann nicht auch diese Maßnahmen,die Quelle me<strong>in</strong>es Gew<strong>in</strong>ns s<strong>in</strong>d? 417Wir haben das bereits diskutiert. Auch hier f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation und ihrer <strong>in</strong>dividuellenBewältigung ke<strong>in</strong>e Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts, wohl aber e<strong>in</strong>en weiteren Mechanismus, <strong>de</strong>r die Verteilung<strong>de</strong>s gesellschaftlichen Mehrwerts auf die konkurrieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>e regelt.416Aufmacher <strong>de</strong>r WAZ am 1<strong>1.</strong>10.2008 zur Weltwirtschaftskrise, die damals noch als kurzfristige Verwerfung galt.Wur<strong>de</strong> das Bildmotiv mit <strong>de</strong>n Trapezartisten durch M.s Bemerkung über <strong>de</strong>n alltäglichen Salto Mortale <strong>de</strong>r Ware <strong>in</strong>spiriert? Gibt es <strong>in</strong> <strong>de</strong>rWAZ Redaktion subversive Strömungen? O<strong>de</strong>r will man uns die Neue Soziale Marktwirtschaft, die von <strong>de</strong>r WAZ-Gruppe europaweit alsneoliberales Nonplusultra propagiert wird, als zirzensische Hochrisikoveranstaltung nahebr<strong>in</strong>gen? So viele offene Fragen...417"Die Umlaufszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s beschränkt also überhaupt se<strong>in</strong>e Produktionszeit und daher se<strong>in</strong>en Verwertungsprozeß. Und zwar beschränktsie <strong>de</strong>nselben im Verhältnis zu ihrer Dauer. Diese kann aber sehr verschie<strong>de</strong>n zu- o<strong>de</strong>r abnehmen, und daher <strong>in</strong> sehrverschiednem Grad die Produktionszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s beschränken. Was aber die <strong>pol</strong>itische Ökonomie sieht, ist das, was ersche<strong>in</strong>t, nämlichdie Wirkung <strong>de</strong>r Umlaufszeit auf <strong>de</strong>n Verwertungsprozeß <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s überhaupt. Sie faßt diese negative Wirkung als positive auf, weilihre Folgen positiv s<strong>in</strong>d. Sie haftet um so mehr an diesem Sche<strong>in</strong> fest, als er <strong>de</strong>n Beweis zu liefern sche<strong>in</strong>t, daß das <strong>Kapital</strong> e<strong>in</strong>e, von se<strong>in</strong>emProduktionsprozeß und daher von <strong>de</strong>r Exploitation <strong>de</strong>r Arbeit unabhängige mystische Quelle <strong>de</strong>r Selbstverwertung besitzt, die ihm aus<strong>de</strong>r Zirkulationssphäre zufließt." (MEW 24, S.128)201


Wir kennen M.s Position bereits: <strong>Das</strong> Han<strong>de</strong>lskapital wird durch Arbeitsteilung zum Spezialistenfür die Zirkulationszeit. Da wir selbst unsere Käufe <strong>in</strong> Lä<strong>de</strong>n abwickeln, <strong>de</strong>nken wir bei Han<strong>de</strong>lskapitalbevorzugt an Lidl o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Media-Markt. Die gehören dazu. Aber im H<strong>in</strong>tergrundpassiert das Interessante: Da wirkt <strong>de</strong>r Rohstoff- und Masch<strong>in</strong>enhan<strong>de</strong>l, da agieren die umfassen<strong>de</strong>nVertriebsnetze <strong>de</strong>r Unternehmen mit zahlreichen Distribution Managern (vormals Vertretero<strong>de</strong>r Handlungsreisen<strong>de</strong>) und Vertragshändlern. Da organisieren Börsen und Messen dieKontakte zwischen Käufern und Verkäufern, da gibt es Kommissionshändler und Han<strong>de</strong>lsnie<strong>de</strong>rlassungen,Importeure und Exporteure aller Arten, da wirken Han<strong>de</strong>lsbanken und Han<strong>de</strong>lsversicherungenund Han<strong>de</strong>lskammern und vieles mehr. M. spricht allgeme<strong>in</strong> von "Zirkulationsagenten",die bei entwickelter Produktion ebenso notwendig seien wie die Produktionsagenten. 419Natürlich müssen alle Zirkulationsagenten aus <strong>de</strong>r Mehrwertmasse bezahlt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen Quelledie Produktion ist. Auch wenn alle Zirkulateure felsenfest überzeugt s<strong>in</strong>d, ihren Erfolg alle<strong>in</strong><strong>de</strong>m eigenen Talent als Käufer und Verkäufer zu verdanken. Hier gilt dasselbe wie für <strong>de</strong>n Produzenten:Es gibt erfolgreiche und weniger erfolgreiche Zirkulationsagenten. Aber dass es sieüberhaupt gibt, verdanken sie <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Produzenten nützlichen Arbeitsteilung, <strong>de</strong>r allenHändlern e<strong>in</strong>en entsprechen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>kaufspreis gewährt, <strong>de</strong>r nichts an<strong>de</strong>res ist als e<strong>in</strong> Preis unterhalb<strong>de</strong>s Verkaufpreises am Warenmarkt.Der Vorteil <strong>de</strong>s Produzenten: Er beschleunigt durch die Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>m Zirkulationsagenten<strong>de</strong>n Rückfluß <strong>de</strong>s Werts und damit die Produktion neuen Mehrwerts. Und er entledigtsich e<strong>in</strong>es großen <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>r toten Zirkulationskosten, überläßt die Senkung dieser Kosten dafürsich anbieten<strong>de</strong>n Spezialisten. Die haben dafür viel bessere Möglichkeiten, da sie nicht nur Zirkulationsagentfür e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Produzenten s<strong>in</strong>d, son<strong>de</strong>rn diese Funktion im großen Stil fürviele Produzenten ausüben.Der Vorteil für <strong>de</strong>n Zirkulationsagenten ist se<strong>in</strong>e ökonomische Existenz. Ohne die Produktionhätte er wahrlich nichts zu verkaufen. Und diese zugewiesene Position bietet ihm alle Möglichkeiten,als geschickter o<strong>de</strong>r gerissener o<strong>de</strong>r gewissenloser Händler an<strong>de</strong>ren gegenüber Vorteilezu erzielen, sei es über die Optimierung <strong>de</strong>r Transportwege, die Beschäftigung billiger Arbeits-418Automobilkonzerne unterhalten e<strong>in</strong> großes Vertriebsnetz, das gleichzeitig mit <strong>de</strong>n Werkstattdiensten verknüpft ist. <strong>Das</strong> ist je<strong>de</strong>m bekannt,<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> Auto fährt und zur Erhaltung <strong>de</strong>s Gebrauchswerts regelmäßig die Werkstatt ansteuert und ärmer verläßt. Aber auch allean<strong>de</strong>ren Produzenten, die auf Akkumulation aus s<strong>in</strong>d, müssen über e<strong>in</strong> entsprechen<strong>de</strong>s Vertriebsnetz verfügen. In <strong>de</strong>n Branchen ist dasunterschiedlich geregelt: Mal überwiegen Vertriebsnetze <strong>in</strong> eigener Regie auf eigene Rechnung, mal ist man auf Vertragspartner angewieseno<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>te e<strong>in</strong> gemischtes Mo<strong>de</strong>ll. Mal dient dieses Netz alle<strong>in</strong> <strong>de</strong>m Verkauf, mal wer<strong>de</strong>n Reparaturdienste damit verbun<strong>de</strong>n.Um mal e<strong>in</strong> weniger offensichtliches Beispiel zu nehmen: Die Salatbauern <strong>de</strong>r Provence im Sü<strong>de</strong>n Frankreichs ("Bauer" ist hier e<strong>in</strong> beschönigen<strong>de</strong>rBegriff für die <strong>in</strong>dustrielle Agrikultur) hängen an e<strong>in</strong>em ausgeklügelten Vertriebssystem, das ihnen Absatzmärkte <strong>in</strong> ganz Europaeröffnet. Nur so können sie ihre Großproduktion vermarkten. So wird allerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong>e stetige Steigerung <strong>de</strong>r Produktivität zur Bed<strong>in</strong>gungihrer Existenz. Von <strong>de</strong>r notwendigen Haltbarmachung <strong>de</strong>r Produkte und <strong>de</strong>m erzeugten Verkehr und <strong>de</strong>r mör<strong>de</strong>rischen Agrarkonkurrenzmal ganz abgesehen.Der Zirkulation <strong>de</strong>r Waren dient heute e<strong>in</strong> gigantisches, weltumspannen<strong>de</strong>s Netz, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Regierungen und an<strong>de</strong>re staatliche Stellen, dieWelthan<strong>de</strong>lsorganisation WTO, <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>r UNO und spezialisierte Unternehmen, Han<strong>de</strong>lskammern und Verbän<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e ebenso wichtige Rollespielen wie die Produzenten selbst. Dieses weltumspannen<strong>de</strong> Netz ist durch das Internet noch dichter und auch beweglicher gewor<strong>de</strong>n.419"Die Zirkulation ist ebenso notwendig bei <strong>de</strong>r Warenproduktion wie die Produktion selbst, also die Zirkulationsagenten ebenso nötigwie die Produktionsagenten. Der Reproduktionsprozeß schließt bei<strong>de</strong> Funktionen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>, also auch die Notwendigkeit <strong>de</strong>r Vertretungdieser Funktionen, sei es durch <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten selbst, sei es durch Lohnarbeiter, Agenten <strong>de</strong>sselben. Dies ist aber ebensowenig e<strong>in</strong>Grund, die Zirkulationsagenten mit <strong>de</strong>n Produktionsagenten zu verwechseln, als es e<strong>in</strong> Grund ist, die Funktionen von Warenkapital undGeldkapital mit <strong>de</strong>nen von produktivem <strong>Kapital</strong> zu verwechseln. Die Zirkulationsagenten müssen bezahlt wer<strong>de</strong>n durch die Produktionsagenten.Wenn aber <strong>Kapital</strong>isten, die untere<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r kaufen und verkaufen, durch diesen Akt we<strong>de</strong>r Produkte noch Wert schaffen, so än<strong>de</strong>rtsich das nicht, wenn <strong>de</strong>r Umfang ihres Geschäfts sie befähigt und nötigt, diese Funktion auf andre abzuwälzen. In manchen Geschäftenwer<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>käufer und Verkäufer durch Tantieme am Profit bezahlt. Die Phrase, daß sie durch die Konsumenten bezahlt wer<strong>de</strong>n, hilftnichts. Die Konsumenten können nur zahlen, soweit sie sich selbst als Agenten <strong>de</strong>r Produktion e<strong>in</strong> Äquivalent <strong>in</strong> Waren produzieren o<strong>de</strong>rsich solches von <strong>de</strong>n Produktionsagenten aneignen, sei es auf Rechtstitel h<strong>in</strong> (als <strong>de</strong>ren Associés usw.), sei es durch persönliche Dienste."(MEW 24, S.129)202


kräfte, die Erschließung von neuen Produzenten, die günstigere E<strong>in</strong>kaufspreise bieten und sofort. Daraus schließen wir sofort, dass die Zirkulationsagenten ke<strong>in</strong>e passive Rolle spielen, son<strong>de</strong>rnwegen ihrer Schlüsselposition an <strong>de</strong>r Schnittstelle von <strong>de</strong>r Ware zum Mehrwert auf dieProduktionsagenten stark zurückwirken. Sie nehmen E<strong>in</strong>fluß auf das Produktsortiment (schließlichwissen sie, welche Waren gehen), sie diktieren bisweilen die E<strong>in</strong>kaufspreise (wenn sie wissen,dass <strong>de</strong>r Produktionsagent von ihnen abhängig ist) und steigen bei entsprechen<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>stärkesogar selbst <strong>in</strong> die Produktion e<strong>in</strong>.ZirkulationskostenKommen wir noch e<strong>in</strong>mal auf die Zirkulationskosten zurück, von <strong>de</strong>nen wir ja bereits sagten,dass sie e<strong>in</strong>en Abzug vom Mehrwert darstellen. Wor<strong>in</strong> bestehen diese Kosten, die ke<strong>in</strong>en Wertbil<strong>de</strong>n? Was verursacht diese faux frais, diese falschen Kosten, wie M. sie nennt?Zunächst s<strong>in</strong>d die Aufwendungen zu nennen, die durch Kauf und Verkauf <strong>de</strong>r Waren entstehen.Verträge wer<strong>de</strong>n erstellt, Kontrollen durchgeführt. Alle Vorgänge müssen buchhalterisch erfaßtwer<strong>de</strong>n. M. kommentiert sarkastisch: "Diese Arbeit, vergrößert durch die bei<strong>de</strong>rseitigen böswilligenAbsichten, schafft so wenig Wert, wie die Arbeit, die bei e<strong>in</strong>em gerichtlichen Prozeß stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t,die Wertgröße <strong>de</strong>s streitigen Objekts vermehrt." 420 <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Aufwendungen für die Lagerhaltungfertiger, aber noch nicht verkaufter Waren. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Aufwendungen für Warenmuster<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verkaufsstellen, Schulung <strong>de</strong>r Mitarbeiter im Außendienst, Pflege <strong>de</strong>s Händlernetzes.Rückstellungen für Garantie und mögliche Produkthaftungen und so fort.Die eigentlichen Fallstricke und toten Kosten <strong>de</strong>r Zirkulation bestehen also daraus: Waren, dienach <strong>de</strong>r Produktion im Lager liegen, die womöglich vor sich h<strong>in</strong> gammeln o<strong>de</strong>r rosten o<strong>de</strong>r <strong>in</strong>wenigen Wochen aus <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong> s<strong>in</strong>d o<strong>de</strong>r für die sich die Preise plötzlich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Keller bewegen;bezahlte Masch<strong>in</strong>en, <strong>de</strong>ren Inbetriebnahme sich verzögert o<strong>de</strong>r die sich bereits kurz nach <strong>de</strong>mKauf als veraltet herausstellen; Ausgaben für Werbung und Marktpräsenz, für E<strong>in</strong>kaufs- undMarket<strong>in</strong>gabteilung, für Warenflußkontrolle und Buchführung... 421Zusammenfassend ist es das Verharren <strong>de</strong>r Waren im Warenzustand, <strong>de</strong>m die toten Kosten <strong>de</strong>rZirkualation entspr<strong>in</strong>gen. Es s<strong>in</strong>d die Ausgaben an Geld und Arbeitskraft, die nötig s<strong>in</strong>d, um gekaufteWaren <strong>in</strong> produktives <strong>Kapital</strong> und produzierte Waren <strong>in</strong> rückfließen<strong>de</strong>n Wert zu wan<strong>de</strong>ln.Es geht nicht darum, ob diese Kosten unvermeidlich s<strong>in</strong>d. Natürlich ist die rechtliche Absicherungvon Käufen und Verkäufen, s<strong>in</strong>d Buchhaltung und Rechnungsführung, Kosten für die Beschaffungvon <strong>Kapital</strong> und viele an<strong>de</strong>re Ausgaben notwendig. Aber es s<strong>in</strong>d tote Kosten, weil ihnenke<strong>in</strong> Wertzuwachs gegenübersteht. Sie müssen getätigt wer<strong>de</strong>n, aber sie br<strong>in</strong>gen nichts e<strong>in</strong>.Je<strong>de</strong> Reduzierung dieser Kosten fließt direkt <strong>de</strong>r Mehrwertmasse zu, ohne dass es an irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>erStelle irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>es Produktionsprozesses zu Än<strong>de</strong>rungen o<strong>de</strong>r gar Störungen käme.Bezogen auf die Gesellschaft wer<strong>de</strong>n diese Kosten <strong>de</strong>r Zirkulation durch Abzug vom gesellschaftlichenMehrwert f<strong>in</strong>anziert. Für das Unternehmen s<strong>in</strong>d es Elemente <strong>de</strong>r Kostenrechnung.Insofern müssen wir unsere Feststellung, es han<strong>de</strong>le sich um Kosten, die nichts e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, fürdie Perspektive <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen Unternehmens relativieren. Aus solcher Sicht können sich die Ausgabenetwa für Werbung o<strong>de</strong>r Controll<strong>in</strong>g o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e aggressive Rechtsabteilung durchaus be-420MEW 24, S.132421M. erwähnt auch noch geson<strong>de</strong>rt die gesellschaftlichen Kosten für die Erhaltung <strong>de</strong>s Währungssystems. Zu M.s Zeit war <strong>de</strong>r Verlust anGold und Silber durch Verschleiß <strong>de</strong>r Münzen beachtlich. Aber auch die Unterhaltung e<strong>in</strong>er fälschungssicheren Papierwährung gibt es nichtzum Nulltarif. Die <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e belastet das freilich nur <strong>in</strong>direkt über die Steuerzahlungen.203


zahlt machen, so dass <strong>de</strong>m Management die toten Kosten sogar als tolle Investitionen ersche<strong>in</strong>en.Aber sie machen sich eben nicht durch Schaffung von Wert, son<strong>de</strong>rn durch Verbesserung<strong>de</strong>r Position am Markt zu Lasten an<strong>de</strong>rer <strong>Kapital</strong>e bezahlt. Aus gesellschaftlicher Perspektive istes für die Wertschöpfung rausgeworfenes Geld.M.s Schlußfolgerung: "<strong>Das</strong> allgeme<strong>in</strong>e Gesetz ist, daß alle Zirkulationskosten, die nur aus <strong>de</strong>rFormverwandlung <strong>de</strong>r Ware entspr<strong>in</strong>gen, dieser letztren ke<strong>in</strong>en Wert h<strong>in</strong>zusetzen", und fährtfort: "<strong>Das</strong> <strong>in</strong> diesen Kosten ausgelegte <strong>Kapital</strong> (e<strong>in</strong>geschlossen die von ihm kommandierte Arbeit)gehört zu <strong>de</strong>n faux frais (= falsche Kosten) <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion. Der Ersatz <strong>de</strong>rselbenmuß aus <strong>de</strong>m Mehrprodukt geschehn und bil<strong>de</strong>t, die ganze <strong>Kapital</strong>istenklasse betrachtet,e<strong>in</strong>en Abzug vom Mehrwert o<strong>de</strong>r Mehrprodukt 422 , ganz wie für e<strong>in</strong>en Arbeiter die Zeit, die erzum E<strong>in</strong>kauf se<strong>in</strong>er Lebensmittel braucht, verlorne Zeit ist." 423M. s e<strong>in</strong>schränken<strong>de</strong> Feststellung am En<strong>de</strong>s se<strong>in</strong>es Zitats: "Die Transportkosten spielen aber e<strong>in</strong>ezu wichtige Rolle, um sie hier nicht noch kurz zu betrachten", nehmen wir als Ratschlag im folgen<strong>de</strong>nKapitel auf.Transport<strong>in</strong>dustrie und TransportkostenWaren müssen aus <strong>de</strong>r Produktion zum Konsumenten gebracht wer<strong>de</strong>n, ob das Lebensmittel fürdie Käufer im Aldi-Markt o<strong>de</strong>r Achsen für e<strong>in</strong>e Automobilfabrik o<strong>de</strong>r Erz und Koks für <strong>de</strong>nHochofen s<strong>in</strong>d. 424 Diese Bewegung <strong>de</strong>r Waren über die Grenzen von Zirkulation und Produktion422Mehrprodukt begegnete uns schon. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>e Begriff für die produktive Leistung e<strong>in</strong>er Gesellschaft über die unmittelbarenLebensbedürfnisse h<strong>in</strong>aus. <strong>Das</strong> ist die Überschußproduktion e<strong>in</strong>er Gesellschaft, von <strong>de</strong>r Soldaten und Priester und Politiker und Künstlerusw. ernährt wer<strong>de</strong>n, die selbst ja nicht an <strong>de</strong>r Produktion beteiligt s<strong>in</strong>d.Mehrwert ist nichts an<strong>de</strong>res als durch die <strong>Kapital</strong>istenklasse bei herrschen<strong>de</strong>r kapitalistischer Produktionsweise angeeignetes Mehrprodukt.Mit <strong>de</strong>r Unterscheidung er<strong>in</strong>nert M. uns daran, dass nicht das gesamte Mehrprodukt <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft kapitalistisch hervorgebrachtund auch nicht vollständig durch die <strong>Kapital</strong>istenklasse angeeignet wird. M. <strong>de</strong>nkt hier vermutlich an die feudalen Überresteund an die zu se<strong>in</strong>er Zeit noch größeren Bereiche <strong>de</strong>s selbständigen Kle<strong>in</strong>gewerbes.423M. schreibt das als E<strong>in</strong>leitung se<strong>in</strong>es Abschnitts über die Transportkosten: "Es ist nicht nötig, hier auf alle Details <strong>de</strong>r Zirkulationskostene<strong>in</strong>zugehn, wie z.B. Verpackung, Sortierung etc. <strong>Das</strong> allgeme<strong>in</strong>e Gesetz ist, daß alle Zirkulationskosten, die nur aus <strong>de</strong>r Formverwandlung<strong>de</strong>r Ware entspr<strong>in</strong>gen, dieser letztren ke<strong>in</strong>en Wert h<strong>in</strong>zusetzen. Es s<strong>in</strong>d bloß Kosten zur Realisierung <strong>de</strong>s Werts o<strong>de</strong>r zu se<strong>in</strong>er Übersetzungaus e<strong>in</strong>er Form <strong>in</strong> die andre. <strong>Das</strong> <strong>in</strong> diesen Kosten ausgelegte <strong>Kapital</strong> (e<strong>in</strong>geschlossen die von ihm kommandierte Arbeit) gehört zu <strong>de</strong>nfaux frais <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion. Der Ersatz <strong>de</strong>rselben muß aus <strong>de</strong>m Mehrprodukt geschehn und bil<strong>de</strong>t, die ganze <strong>Kapital</strong>istenklassebetrachtet, e<strong>in</strong>en Abzug vom Mehrwert o<strong>de</strong>r Mehrprodukt, ganz wie für e<strong>in</strong>en Arbeiter die Zeit, die er zum E<strong>in</strong>kauf se<strong>in</strong>er Lebensmittelbraucht, verlorne Zeit ist." (MEW 24, S.150)Die "Formverwandlung" me<strong>in</strong>t hier natürlich <strong>de</strong>n Wechsel von Geld <strong>in</strong> produktives <strong>Kapital</strong> bzw. von produzierten Waren <strong>in</strong> Geld. Die vonM. als "faux frais" bezeicheten Kosten s<strong>in</strong>d Ausgaben, die nichts e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, und wer<strong>de</strong>n bisweilen auch als tote Kosten bezeichnet. Mankönnte schlicht auch von Verlusten sprechen, die zwar unvermeidlich im ganzen s<strong>in</strong>d, die man aber gerne stets auf das M<strong>in</strong>imum reduzierenwill.M.s H<strong>in</strong>weise auf die durch E<strong>in</strong>kauf <strong>de</strong>r Waren verlorene Zeit ist <strong>in</strong>teressant. Er kannte eben nur die Stores se<strong>in</strong>er Zeit, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wohnvierteln<strong>de</strong>r Arbeiter lagen und heute längst verschwun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Aber schon damals wur<strong>de</strong> e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r "toten Kosten" an <strong>de</strong>n Käuferübertragen, <strong>de</strong>r ja mit eigenem Aufwand sich die Waren holen muß. Damit <strong>de</strong>r heute mit Fahrtkosten und Zeit verbun<strong>de</strong>ne Besuch <strong>de</strong>rimmer weiter entfernten Shopp<strong>in</strong>g-Malls nicht nur gezwungenermaßen, son<strong>de</strong>rn gerne unternommen wird, hat man die toten Kosten <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en Erlebniskauf verwan<strong>de</strong>lt und sogar als eigene E<strong>in</strong>nahmequelle ent<strong>de</strong>ckt. Freilich wer<strong>de</strong>n die rührigen Zirkulationsagenten dadurchimmer noch nicht zu Wertschöpfern, son<strong>de</strong>rn verschärfen nur die Konkurrenz zwischen sich. Zuwachs <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en ist Verlust <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren.Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite versuchen konventionelle Versandhäuser und mo<strong>de</strong>rne Internet-Versen<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n bequemen, unaufwändigen Zugangzu <strong>de</strong>n Waren für sich als wichtigen Vorteil zu nutzen. Alles <strong>in</strong> allem e<strong>in</strong> gigantischer Aufwand für e<strong>in</strong> an sich doch e<strong>in</strong>faches Problem.424Man mag darüber streiten, ob <strong>de</strong>r Transport von e<strong>in</strong>gepacktem Seelachs o<strong>de</strong>r von Frischmilch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Aldizentrale zu <strong>de</strong>n unproduktivenKosten <strong>de</strong>r Zirkulation gehört o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e Verlängerung <strong>de</strong>s Produktionsprozesses ist. Für <strong>de</strong>n Unternehmer, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Transport durchführt,ist es je<strong>de</strong>nfalls produktive Verwertung se<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s, auch wenn <strong>de</strong>r Unternehmer Aldi o<strong>de</strong>r Lidl heißt.Es geht hier überhaupt nicht darum, <strong>de</strong>n vielen Millionen alltäglichen Handlungen, die unser Wirtschaftsleben ausmachen, im e<strong>in</strong>zelnene<strong>in</strong> Etikett wie "produktiv" o<strong>de</strong>r "faux frais" aufzukleben. Gewiss kann man die bei Rewe reifen<strong>de</strong>n Bananen e<strong>in</strong>em verlängerten Produktionsprozessebenso zuordnen wie die Montage e<strong>in</strong>er Spülmasch<strong>in</strong>e im Haushalt Müller durch e<strong>in</strong>en Beauftragten <strong>de</strong>s Mediamarktes. Dochwas br<strong>in</strong>gen uns solche Mikro<strong>de</strong>tails für die Analyse <strong>de</strong>r Produktionsweise? Mit unserer Feststellung, dass <strong>de</strong>r Zirkulation ke<strong>in</strong> Mehrwertentspr<strong>in</strong>gen kann, hat das nichts zu tun. Die wirkliche Zirkulation ist vielgestaltig und besteht nicht nur aus Regalen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die Waren204


h<strong>in</strong>aus ist ebenso erfor<strong>de</strong>rlich wie die Bewegung e<strong>in</strong>es Produkts während <strong>de</strong>s Produktionsprozessesauf <strong>de</strong>r Walzstraße o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Montageband. Und wenn die Konkurrenzbed<strong>in</strong>gungene<strong>in</strong>en bestimmten Anteil an Transportkosten als im Durchschnitt erfor<strong>de</strong>rlich feststellen, wer<strong>de</strong>ndiese Kosten <strong>in</strong> die Preisbildung gewiß e<strong>in</strong>gehen. Aber fällt <strong>de</strong>r Transport <strong>de</strong>r Waren unter die"faux frais" (= falschen Kosten) <strong>de</strong>r Zirkulation, o<strong>de</strong>r fügen sie <strong>de</strong>n Waren neuen Wert h<strong>in</strong>zu?M. rechnet entschie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Transport zu <strong>de</strong>n produktiven, also Mehrwert produzieren<strong>de</strong>n Aktivitäten.Se<strong>in</strong>e Argumentation: Die Transport<strong>in</strong>dustrie ist Voraussetzung für <strong>de</strong>n gesellschaftlichenReproduktionsprozess. Da ohne sie <strong>de</strong>r Produktionsprozess we<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>geleitet, durchgeführtnoch durch Konsumtion <strong>de</strong>r Waren abgeschlossen wer<strong>de</strong>n kann, geht die auf <strong>de</strong>n Transportverwen<strong>de</strong>te gesellschaftliche Arbeit <strong>in</strong> die Wertbildung e<strong>in</strong>. <strong>Das</strong> gilt für <strong>de</strong>n gesamten Warentransport,also auch für <strong>de</strong>n Transport von Arbeitskräften. 425Der Transport von Waren und Arbeitskräften absorbiert gesellschaftlich notwendige Arbeit:Entwe<strong>de</strong>r als produktive Konsumtion; dann geht <strong>de</strong>r durch im Transportakt aufgewen<strong>de</strong>te Wert<strong>in</strong> die Wertbildung <strong>de</strong>r transportierten Produkte e<strong>in</strong>. O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Tranportakt wird <strong>in</strong>dividuell konsumiert;dann geht <strong>de</strong>r aufgewen<strong>de</strong>te Wert sofort <strong>in</strong> die Konsumtion e<strong>in</strong>. 426Die Transport<strong>in</strong>dustrie ersche<strong>in</strong>t zwar als Ursache <strong>de</strong>r Zirkulationskosten. 427 Aber es ist nicht nurdie Verwertung <strong>de</strong>r Ware selbst, die ihren Transport erfor<strong>de</strong>rlich macht. Es s<strong>in</strong>d aus <strong>de</strong>r geselldaraufwarten, zu Geld zu wer<strong>de</strong>n. Und sie ist vielfältig mit <strong>de</strong>n Produktionsprozessen verbun<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> war schließlich e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r wichtigenFeststellungen <strong>de</strong>r vorangehen<strong>de</strong>n Kapitel und ist Ausdruck <strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n Arbeitsteilung, die auch <strong>Teil</strong>prozesse abspaltet und zu spezialisiertenDienstleistungen verselbständigt, die we<strong>de</strong>r ganz <strong>de</strong>r Produktion noch ganz <strong>de</strong>r Zirkulation zugehören.425"Wenn die Transport<strong>in</strong>dustrie daher auf Grundlage <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion als Ursache von Zirkulationskosten ersche<strong>in</strong>t, soän<strong>de</strong>rt diese besondre Ersche<strong>in</strong>ungsform nichts an <strong>de</strong>r Sache.Produktmassen vermehren sich nicht durch ihren Transport. Auch die durch ihn etwa bewirkte Verän<strong>de</strong>rung ihrer natürlichen Eigenschaftenist mit gewissen Ausnahmen ke<strong>in</strong> beabsichtigter Nutzeffekt, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> unvermeidliches Übel. Aber <strong>de</strong>r Gebrauchswert von D<strong>in</strong>genverwirklicht sich nur <strong>in</strong> ihrer Konsumtion, und ihre Konsumtion mag ihre Ortsverän<strong>de</strong>rung nötig machen, also <strong>de</strong>n zusätzlichen Produktionsprozeß<strong>de</strong>r Transport<strong>in</strong>dustrie. <strong>Das</strong> <strong>in</strong> dieser angelegte produktive <strong>Kapital</strong> setzt also <strong>de</strong>n transportierten Produkten Wert zu, teils durchWertübertragung von <strong>de</strong>n Transportmitteln, teils durch Wertzusatz vermittelst <strong>de</strong>r Transportarbeit. Dieser letztre Wertzusatz zerfällt, wiebei aller kapitalistischen Produktion, <strong>in</strong> Ersatz von Arbeitslohn und <strong>in</strong> Mehrwert." (MEW 24, S.151)Mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Ware beim Transport ist e<strong>in</strong>e mögliche Qualitätsm<strong>in</strong><strong>de</strong>rung geme<strong>in</strong>t. Als beabsichtigten Nutzeffekt sehen wiretwa e<strong>in</strong>en Obsttransport, bei <strong>de</strong>m die Transportzeit auch als Reifezeit genutzt wird. <strong>Das</strong> wäre genauso e<strong>in</strong>e Verkürzung <strong>de</strong>r Produktionszeitdurch E<strong>in</strong>beziehung <strong>de</strong>s Transports wie je<strong>de</strong> Verkürzung von Transportzeiten die Produktionszeit verkürzt und die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungenverbessert.426"Was aber die Transport<strong>in</strong>dustrie verkauft, ist die Ortsverän<strong>de</strong>rung selbst. Der hervorgebrachte Nutzeffekt ist untrennbar verbun<strong>de</strong>n mit<strong>de</strong>m Transportprozeß, d.h. <strong>de</strong>m Produktionsprozeß <strong>de</strong>r Transport<strong>in</strong>dustrie. Menschen und Ware reisen mit <strong>de</strong>m Transportmittel, und se<strong>in</strong>Reisen, se<strong>in</strong>e örtliche Bewegung, ist eben <strong>de</strong>r durch es bewirkte Produktionsprozeß. Der Nutzeffekt ist nur konsumierbar während <strong>de</strong>sProduktionsprozesses; er existiert nicht als e<strong>in</strong> von diesem Prozeß verschiednes Gebrauchsd<strong>in</strong>g, das erst nach se<strong>in</strong>er Produktion als Han<strong>de</strong>lsartikelfungiert, als Ware zirkuliert. Der Tauschwert dieses Nutzeffekts ist aber bestimmt, wie <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Ware, durch <strong>de</strong>n Wert<strong>de</strong>r <strong>in</strong> ihm verbrauchten Produktionselemente (Arbeitskraft und Produktionsmittel) plus <strong>de</strong>m Mehrwert, <strong>de</strong>n die Mehrarbeit <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>rTransport<strong>in</strong>dustrie beschäftigten Arbeiter geschaffen hat. Auch <strong>in</strong> Beziehung auf se<strong>in</strong>e Konsumtion verhält sich dieser Nutzeffekt ganz wieandre Waren. Wird er <strong>in</strong>dividuell konsumiert, so verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t se<strong>in</strong> Wert mit <strong>de</strong>r Konsumtion; wird er produktiv konsumiert, so daß erselbst e<strong>in</strong> Produktionsstadium <strong>de</strong>r im Transport bef<strong>in</strong>dlichen Ware, so wird se<strong>in</strong> Wert als Zuschußwert auf die Ware selbst übertragen."(MEW 24, S.60f)Die Transport<strong>in</strong>dustrie unterschei<strong>de</strong>t sich also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Punkt von an<strong>de</strong>ren Prozessen: Der Produktionsprozess selbst, die Durchführung <strong>de</strong>sTransports ist hier die Ware. So gesehen kann die Tranport<strong>in</strong>dustrie auch als Verwertungsmo<strong>de</strong>ll für alle Dienstleisungen gelten, die wiee<strong>in</strong>e Ware verkauft wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ren Kauf gleichbe<strong>de</strong>utend mit ihrer Konsumtion ist.427Oft wird Transport von Waren und Zirkulation <strong>in</strong> Gedanken gleichgestellt. <strong>Das</strong> ist nicht korrekt. Zirkulation ist nicht an die Bewegungim Raum gebun<strong>de</strong>n. Zwar ist offensichtlich, dass sich die Waren beständig bewegen; wir sprechen nicht ohne Grund von Warenströmen.Aber wenn e<strong>in</strong>e Immobilie verkauft wird, bewegt sich nicht das Haus o<strong>de</strong>r Grundstück. Der Eigentumstitel wird übertragen und nur e<strong>in</strong>eKontobewegung f<strong>in</strong><strong>de</strong>t statt. <strong>Das</strong> gilt für sehr viele Käufe und Verkäufe, nicht nur für <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l mit Immobilien, son<strong>de</strong>rn auch für <strong>de</strong>numfangreichen Han<strong>de</strong>l mit Geld und Eigentumstiteln. Die Zahl dieser Käufe und Verkäufe kann beson<strong>de</strong>rs <strong>in</strong> spekulativen Phasen enormanschwellen, ohne dass auch nur e<strong>in</strong> Meter Transport stattgefun<strong>de</strong>n hätte.Es kann sogar se<strong>in</strong>, dass durch Millionen von Zirkulationsakten zwar die Preise explodieren, aber ke<strong>in</strong> Hauch von Wertschöpfung stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t.Ganz entgegen <strong>de</strong>r Eigenpropaganda <strong>de</strong>r Akteure, die sich als Veranstalter solcher Preisfeuerwerke, ob Immobilien- o<strong>de</strong>r Energiepreiseo<strong>de</strong>r Aktienkurse, gerne als "Generierer von Werten" feiern. Was mit Sicherheit <strong>Teil</strong> dieser Feuerwerke ist? Die Bewegung <strong>de</strong>r Vermögenswertevon da nach hier - ohne je<strong>de</strong>n Transportakt.205


schaftlichen Organisation <strong>de</strong>r Arbeit heraus entstehen<strong>de</strong> Aufwän<strong>de</strong>, ohne die e<strong>in</strong>e Konsumtion<strong>de</strong>r Waren, ob produktiv o<strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuell, nicht möglich ist. Natürlich wer<strong>de</strong>n nicht beliebigeTransporte per Preisbildung honoriert. Auch hier wirkt die Konkurrenz und das Wertgesetz. 428Wir sehen e<strong>in</strong>e weitere Folge <strong>de</strong>r Arbeitsteilung: Die Zirkulationsstadien und das Produktionsstadiumunseres Mo<strong>de</strong>lls lassen sich nicht e<strong>in</strong>fach "<strong>de</strong>r Industrie" und "<strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l" zuordnen.Wir haben das schon von an<strong>de</strong>rer Seite betrachtet, als es um das Warenkapital und das Geldkapitalg<strong>in</strong>g, <strong>de</strong>nen ja auch nicht "Han<strong>de</strong>lskapital" und "F<strong>in</strong>anzkapital" entsprechen. Vielmehr verlängertsich die Produktionsphase wegen <strong>de</strong>r notwendigen Transportprozesse <strong>in</strong> die Zirkulationsphaseh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> strikte Trennung zwischen bei<strong>de</strong>n, wie wir sie von unserem Zirkulationsschemavor e<strong>in</strong>igen Kapiteln noch unterstellten, um die Sache überhaupt be<strong>de</strong>nken zu können,ist im wirklichen gesellschaftlichen Prozess gar nicht möglich und wäre stofflich ja auch nichtvorstellbar. 429Der Produzent ist immer auch als Zirkulationsagent tätig, wenn er se<strong>in</strong>e Zulieferungen organisiert,Masch<strong>in</strong>en kauft, Aufträge here<strong>in</strong>holt. Und <strong>de</strong>r Fachmann für die Zirkulation <strong>de</strong>r Warenwird auch an <strong>de</strong>n produktiven Prozessen beteiligt, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er für <strong>de</strong>n Transport <strong>de</strong>r Waren zumBestimmungsort sorgt, Kühlketten organisiert, für die Installation von Produkten sorgt, kurz: DieWaren endgültig verkaufsfertig macht, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er ihren Gebrauchswert beim Käufer sicherstellt.Lektüre: Jürgen Kuczynski: Asche S.314Der notorisch unernste Beitrag von Kuczynski hat hoffentlich allen etwas Erholung verschafft,<strong>de</strong>nen vor lauter Zirkulation <strong>de</strong>r Schnauf auszugehen drohte. Aber wir schw<strong>in</strong>gen <strong>de</strong>n Beitragauch als methaphorischen Zaunpfahl gegen die beliebten Versuche, <strong>in</strong> konkretistischen Debattendie wichtigen Fragen <strong>de</strong>r Gegenwart zu klären:Leistet die Frau an <strong>de</strong>r Supermarktkasse <strong>de</strong>nn ke<strong>in</strong>e produktive Arbeit? S<strong>in</strong>d etwa die vielenzehntausend Verkäufer<strong>in</strong>nen und Verkäufer re<strong>in</strong>e Mehrwertvertilger? Warum soll e<strong>in</strong> LKW-Fahrer mit se<strong>in</strong>er Umweltvernichtungsmasch<strong>in</strong>e, <strong>de</strong>r Rohstahl von Duisburg nach Bochum transportiert,wertvollere Arbeit leisten als e<strong>in</strong> Aldi-Regalsortierer? und so weiter.<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d eigentlich langweilige Fragen, die mehr <strong>in</strong> das Gebiet <strong>de</strong>r Psychohygiene fallen. Vomheutigen Stand aus gesehen, s<strong>in</strong>d das alles notwendige Tätigkeiten, ohne die e<strong>in</strong>e Zirkulation<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s nicht stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n könnte. Die Frage aber: "Wo entsteht <strong>de</strong>r Mehrwert?", die unsschon so lange begleitet, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t nicht <strong>de</strong>shalb e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Antwort, weil diese Tätigkeiten notwendigs<strong>in</strong>d. 430 Mit <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Mehrwerts stellen wir ke<strong>in</strong>e Rangord-428Wenn wir <strong>de</strong>n Transport als Wertschöpfer bezeichnen, macht das nicht automatisch je<strong>de</strong>n Warentransport zu e<strong>in</strong>em notwendigenTransport. Was da womöglich durch Europa transportiert wird, um Subventionen <strong>de</strong>r EU zu ergattern o<strong>de</strong>r Preisgefälle zwischen <strong>de</strong>n nationalenMärkten auszunutzen, steht auf e<strong>in</strong>em an<strong>de</strong>ren Blatt. <strong>Das</strong> ist das weite Feld <strong>de</strong>r Kostenrechner und für M.s Beurteilung <strong>de</strong>r Transport<strong>in</strong>dustrieals notwendigem Wertbildner <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung ohne Belang.429Die als Produktionszweig verselbständigte Transport<strong>in</strong>dustrie agiert exakt an diesen Übergängen von Zirkulation und Produktion. Daraufmach uns auch M. aufmerksam:"<strong>Das</strong> Zirkulieren, d.h. tatsächliche Umlaufen <strong>de</strong>r Waren im Raum löst sich auf <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Transport <strong>de</strong>r Ware. Die Transport<strong>in</strong>dustrie bil<strong>de</strong>te<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>en selbständigen Produktionszweig, und daher e<strong>in</strong>e besondre Anlagesphäre <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s. Andrerseits unterschei<strong>de</strong>tsie sich dadurch, daß sie als Fortdauer e<strong>in</strong>es Produktionsprozesses <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses und für <strong>de</strong>n Zirkulationsprozeßersche<strong>in</strong>t." (MEW 24, S.153)430Bald wer<strong>de</strong>n wir Geschäfte ohne Kassenpersonal, vielleicht sogar ganz ohne Personal haben. <strong>Das</strong> wird <strong>de</strong>n Mehrwert we<strong>de</strong>r m<strong>in</strong><strong>de</strong>rnnoch erhöhen, son<strong>de</strong>rn nur neu verteilen. Den Mehrwert bee<strong>in</strong>flußt es nur dann, wenn die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation frei gesetzten Arbeitskräfte <strong>in</strong>an<strong>de</strong>re produzieren<strong>de</strong> Bereiche wechseln. Der Han<strong>de</strong>lskapitalist folgt nur se<strong>in</strong>em Liebl<strong>in</strong>gsspiel mit Namen Kostensenkung. Von <strong>de</strong>m ihmzufallen<strong>de</strong>n Anteil am Mehrwert bleibt auf diese Weise mehr für ihn übrig (hofft er zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st). Aber auf die Wertbildung nimmt alles, wassich auf <strong>de</strong>n bloßen Tausch <strong>de</strong>r Waren gegen Geld bezieht, ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß.206


nungen von "produktiven" und "unproduktiven" Menschen auf. Hier wer<strong>de</strong>n ke<strong>in</strong>e Or<strong>de</strong>n- undEhrenzeichen verteilt auf <strong>de</strong>nen steht "Verdient um <strong>Kapital</strong> und Mehrwert" o<strong>de</strong>r "Erzeuger toterKosten". Wir wen<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>fach unsere früher schon gewonnene Erkenntnis an, dass Wertzuwachsnicht durch <strong>de</strong>n Tausch von Waren und auch nicht durch Verkauf o<strong>de</strong>r Kauf von Warenentstehen kann. Die heutigen Han<strong>de</strong>lskapitalisten agieren mit tausen<strong>de</strong>n von Verkaufsstellenund e<strong>in</strong>em riesigen logistischen Apparat. Mehrwert schaffen sie <strong>de</strong>nnoch nicht. Es s<strong>in</strong>d Versuche,sich gegenseitig die Kaufkraft abzusaugen und sich e<strong>in</strong>en möglichst großen Batzen vomMehrwert anzueignen.Kapitel 14: E<strong>in</strong>gebaute VerwertungsproblemeWie<strong>de</strong>r begegnen wir <strong>de</strong>m fixen <strong>Kapital</strong> und sehen, welche Probleme sich aus hoher<strong>Kapital</strong>fixierung für die Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ergeben. Wir erfahren etwas überdie Stockungen <strong>de</strong>r Zirkulation und wie sie durch Schmierstoffe und Lösungsmittel <strong>in</strong>Gang gehalten wird.Wir erfahren genauer, was Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktion für M. be<strong>de</strong>utete undbegegnen erneut <strong>de</strong>m Kreditsystem als unverzichtbarem Begleiter <strong>de</strong>r Zirkulation.Fixes <strong>Kapital</strong> mit TückenAls fixes <strong>Kapital</strong> bezeichnet M. alle Produktionsmittel, also Masch<strong>in</strong>en, Anlagen und Baulichkeiten,die über e<strong>in</strong>e längere Dauer h<strong>in</strong>weg im Produktionsprozess <strong>in</strong> ihrer Gebrauchsform fixierts<strong>in</strong>d. <strong>Das</strong> fixe <strong>Kapital</strong> bleibt über viele Produktionszyklen h<strong>in</strong>weg stofflich erhalten und überträgtse<strong>in</strong>en Wert im Verhältnis zu se<strong>in</strong>er produktiven Lebensdauer auf die produzierten Waren. 431 WirWeil das so ist, können wir uns ohne Probleme e<strong>in</strong>en Warenverkauf völlig ohne Personal vorstellen. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> solche vollautomatisierte Zirkulation<strong>de</strong>r Waren wür<strong>de</strong> die Aufteilung <strong>de</strong>s Mehrwerts zwischen produzieren<strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> und Han<strong>de</strong>lskapital vermutlich stark verän<strong>de</strong>rn; dieMehrwertproduktion aber bliebe davon unberührt. Wem die Vorstellung zu schwierig ist, stellt sich eben e<strong>in</strong>e Zirkulation vor, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sich<strong>de</strong>r Konsument die Waren holt und alle Leistungen vollbr<strong>in</strong>gt, die bisher und auf absehbare Zeit die Zirkulationsagenten und ihre Arbeitskräftevollbr<strong>in</strong>gen. (<strong>E<strong>in</strong>e</strong> gewisse Ten<strong>de</strong>nz dazu gibt es ja schon.) <strong>Das</strong> macht e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationsagenten und je<strong>de</strong> Menge ihrer Arbeitskräfteüberflüssig, bricht aber <strong>de</strong>m Mehrwert ke<strong>in</strong>en Zacken aus <strong>de</strong>r Krone.Stellen wir uns dagegen e<strong>in</strong>e vollautomatisierte Produktion vor; nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> allen Unternehmen. So <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r EnterpriseReplikatoren: "<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Tasse Earl Grey. Heiß!" Schwupp schon ist die Tasse da ganz ohne Kasse. In e<strong>in</strong>er solchen Schlaraffenökonomie wärenalle Grundlagen für Wert und Mehrwert dah<strong>in</strong>. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> kapitalistische Produktionsweise wäre gar nicht möglich.<strong>Das</strong> Gedankenspiel läßt sich auch an<strong>de</strong>rs herum spielen. Gesetzt, bei gleichbleiben<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität wechselt e<strong>in</strong> Drittel <strong>de</strong>r gesellschaftlichenArbeit <strong>in</strong> die Zirkulation und bewegt dort ganz doll die Waren von e<strong>in</strong>em Regalbrett auf das an<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r packt die Warentäglich von e<strong>in</strong>em Beutel <strong>in</strong> <strong>de</strong>n nächsten. Welchen E<strong>in</strong>fluß hätte das wohl auf die Wertbildung? Es käme e<strong>in</strong>em Zusammenbruch gleich...Nicht wegen <strong>de</strong>r s<strong>in</strong>nlosen Arbeit. Man könnte ja auch Parkplätze fegen o<strong>de</strong>r Kun<strong>de</strong>n beim E<strong>in</strong>kauf persönlich betreuen o<strong>de</strong>r Fremdsprachenlernen o<strong>de</strong>r sich gegenseitig die Haare schnei<strong>de</strong>n. Der Zusammenbruch erfolgt durch <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>r Wertproduktion, weil diegesellschaftliche Arbeit, wenn sie sich <strong>in</strong> die Zirkulation verlagert, dort eben nicht mehr wertbil<strong>de</strong>nd tätig ist.Wür<strong>de</strong> die gesamte gesellschaftliche Arbeit <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre e<strong>in</strong>gesetzt, gäbe es nichts mehr zum Zirkulieren. Klar. Aber angenommen,die Arbeitsproduktivität steigt um die Hälfte, so dass aus <strong>de</strong>m produzieren<strong>de</strong>n Bereich die Hälfte <strong>de</strong>r Arbeitskräfte <strong>in</strong> die Zirkulationwechseln kann? Dann wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>nnoch ke<strong>in</strong> zusätzlicher Wert entstehen. Die neuen Arbeitskräfte <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation müßten wie immerschon aus <strong>de</strong>m Mehrwert f<strong>in</strong>anziert wer<strong>de</strong>n. Deshalb kommt es trotz wachsen<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität ke<strong>in</strong>eswegs zu e<strong>in</strong>er Zunahme <strong>de</strong>rArbeitskräfte <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation; im Gegenteil.Aber trotz wachsen<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität kommt es eben auch nicht zu e<strong>in</strong>er Zunahme <strong>de</strong>s Personals <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Altenpflege, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r mediz<strong>in</strong>ischenVersorgung o<strong>de</strong>r im Bildungsbereich... weil auch diese Arbeitskräfte natürlich aus <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Mehrwert bezahlt wer<strong>de</strong>nmüßten, von <strong>de</strong>m aber die <strong>Kapital</strong>isten nur ungern etwas abgeben. Deshalb treten sie ja seit 20 Jahren so erfolgreich für die Senkung <strong>de</strong>rUnternehmenssteuern e<strong>in</strong> und empfehlen für die sozialen Aufgaben private Lösungsmo<strong>de</strong>lle: Familienpflege o<strong>de</strong>r private Pflegeheime,billige Grundversorgung und private Kl<strong>in</strong>iken, Massenbildung und private Universitäten.431Zur Er<strong>in</strong>nerung: Dem fixierten <strong>Kapital</strong>teil steht das zirkulieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong> gegenüber. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d alle Elemente <strong>de</strong>s Produktionsprozesses,die nicht nur wertmäßig (wie je<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>), son<strong>de</strong>rn auch stofflich zirkulieren. Diese Elemente gehen entwe<strong>de</strong>r wie zugelieferte Halbfabrikatedirekt <strong>in</strong> das Produkt e<strong>in</strong> o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>r Produktion als Rohstoffe o<strong>de</strong>r Energie sofort verbraucht. Auch die Arbeitskraftgehört zum zirkulieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st was die Art <strong>de</strong>r Wertzirkulation betrifft:207


haben das fixe <strong>Kapital</strong> und die Beson<strong>de</strong>rheiten se<strong>in</strong>er Verwertung bereits im Kapitel über dieWertbildung kennengelernt. Jetzt untersuchen wir, wie sich die beson<strong>de</strong>re Verwertung <strong>de</strong>s fixen<strong>Kapital</strong>s auf <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess auswirkt.Mit wachsen<strong>de</strong>m Anteil an fixem <strong>Kapital</strong> verlängert sich die Umschlagszeit <strong>de</strong>s gesellschaftlichenGesamtkapitals wie <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>s. 432 Als Dauer <strong>de</strong>r Umschlagszeit haben wir bisherdie Summe von Produktionszeit plus Umlaufszeit zugrun<strong>de</strong>gelegt. Daran än<strong>de</strong>rt sich nichts. Esbleibt auch dabei: In <strong>de</strong>r Verkürzung von Produktionszeit und Umlaufszeit liegen enorme Reserven<strong>de</strong>r Verwertung, die immer wie<strong>de</strong>r neu erschlossen wer<strong>de</strong>n müssen. Aber genau daraus resultiertunter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen von Konkurrenz und Verwertungszwang e<strong>in</strong> steter Ziel-Mittel-Konflikt.Was ist das Ziel? Mehr <strong>in</strong> kürzerer Zeit produzieren. Die Waren schneller <strong>in</strong> Geldrückfluß verwan<strong>de</strong>ln.Also über die Beschleunigung von Produktion und Warenumschlag zu e<strong>in</strong>er beschleunigtenVerwertung und zur Bewegung größerer Wertmassen zu gelangen.<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Mittel: Verlängerung <strong>de</strong>r produktiven Nutzungszeit, die wir als Produktionszeit kennen,für das fixe <strong>Kapital</strong>, Verstetigung <strong>de</strong>r Produktion und Optimierung <strong>de</strong>r Produktionskapazitäten,Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität, Verbesserung von Transport und Warenzirkulation usw.Konsequenz: Praktisch alle Maßnahmen, die ergriffen wer<strong>de</strong>n, um Verwertungsreserven durchBeschleunigung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>umschlags zu erzielen, tragen wie<strong>de</strong>r zur wachsen<strong>de</strong>n organischenZusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, vor allem zu höherer <strong>Kapital</strong>fixierung bei. 433 Wir erhalten dank<strong>de</strong>r unnachgiebigen Konkurrenz e<strong>in</strong>en hübschen Zirkel: Je höher <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s imVerwertungsprozess, <strong>de</strong>sto größer die Anfor<strong>de</strong>rungen an die zeitliche Gestaltung <strong>de</strong>r Prozesseund <strong>de</strong>r Zwang, die dar<strong>in</strong> liegen<strong>de</strong>n Verwertungsreserven immer neu zu erschließen - auch um<strong>de</strong>n Preis weiter wachsen<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>fixierung."Wie verschie<strong>de</strong>n die Arbeitskraft sich also auch sonst, mit Bezug auf die Wertbildung, zu <strong>de</strong>n ke<strong>in</strong> fixes <strong>Kapital</strong> bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Bestandteilen<strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s verhält, diese Art <strong>de</strong>s Umschlags ihres Werts hat sie mit ihnen geme<strong>in</strong> im Gegensatz zum fixen <strong>Kapital</strong>. Diese Bestandteile<strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s – die <strong>in</strong> Arbeitskraft und <strong>in</strong> nicht fixes <strong>Kapital</strong> bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Produktionsmitteln ausgelegten Wertteile <strong>de</strong>sselben– stehn durch diesen ihren geme<strong>in</strong>schaftlichen Charakter <strong>de</strong>s Umschlags <strong>de</strong>m fixen <strong>Kapital</strong> als zirkulieren<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r flüssiges <strong>Kapital</strong>gegenüber." (MEW 24, S.165)432Dieser Punkt ist bei M. mehr<strong>de</strong>utig. Wenn wir als Umschlagszeit die vollständige Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s me<strong>in</strong>en, <strong>de</strong>n Prozess somitvom Standpunkt <strong>de</strong>r Geldzirkulation betrachten, stimmt unsere Feststellung. Denn erst mit vollständiger Übertragung <strong>de</strong>s fixierten <strong>Kapital</strong>wertsauf die Produkte und <strong>de</strong>ren Verkauf ist <strong>de</strong>r Rückfluß <strong>de</strong>s Werts <strong>in</strong> Geldform abgeschlossen. Vom Standpunkt <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>sist <strong>de</strong>r Umschlag mit Ersetzung <strong>de</strong>r produzierten Waren abgeschlossen, wobei über <strong>de</strong>n Zeitraum se<strong>in</strong>er produktiven Nutzung e<strong>in</strong><strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong> Naturalform, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re als akkumulierter Geldfond existiert. Wir bleiben bei unserer ersten Festlegung, da dieProbleme mit <strong>de</strong>m fixen <strong>Kapital</strong> nicht aus <strong>de</strong>r Warenzirkulation, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r Rückverwandlung <strong>de</strong>r fixierten Werte <strong>in</strong> Geld resultieren.Im übrigen müssen wir uns er<strong>in</strong>nern, dass die Umschlagszeit und ihre Phasen nur analytische Trennungen s<strong>in</strong>d, mit <strong>de</strong>nen wir die Zusammenhängezwischen <strong>de</strong>n Elementen <strong>de</strong>s Prozesses herausarbeiten. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Startschuß zum Beg<strong>in</strong>n und e<strong>in</strong>e Zeitnahme beim Überqueren <strong>de</strong>rZiell<strong>in</strong>ie gibt es hier nicht, da ja immer alle <strong>Teil</strong>prozesse auch für je<strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong> gleichzeitig, neben- und <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r ablaufen.Dennoch weiß je<strong>de</strong>r Unternehmer (hoffentlich) dank se<strong>in</strong>er Kostenrechnung genau, wo er anzusetzen hat, um die Umschlagszeit zu verkürzen,auch wenn ihm diese Kategorie vielleicht fremd ist. Se<strong>in</strong> betriebswirtschaftliches Controll<strong>in</strong>g wird ihm (wenn es gut ist) zu je<strong>de</strong>mZeitpunkt sagen, ob se<strong>in</strong>e Maßnahmen greifen o<strong>de</strong>r nicht, auch wenn die Controller von Verwertung <strong>in</strong> M.s S<strong>in</strong>n vermutlich noch nie etwasgehört haben.433Wir er<strong>in</strong>nern uns: Organische Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s nennt M. das Verhältnis von konstantem Kapitel (c) zum variablen <strong>Kapital</strong>(v). Dieses c/v ist die Kennziffer <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>verwertung, die das Verhältnis von "totem" zu "lebendigem" <strong>Kapital</strong>, die Verwertungskrafto<strong>de</strong>r Verwertungsproduktivität <strong>de</strong>r lebendigen Arbeit angibt.Auch die vertiefte Arbeitsteilung mit <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l, also die Verkürzung <strong>de</strong>r Umlaufszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong> Warenform, ist nicht ohne Wachstum<strong>de</strong>s konstanten <strong>Kapital</strong>s zu haben. Denn beschleunigter Umlauf stellt Anfor<strong>de</strong>rungen an Normierung, Verpackung, Portionierung undan alle Merkmale <strong>de</strong>s Produkts, die se<strong>in</strong>em Käufer e<strong>in</strong>en schnellen Gebrauchswert sichern.208


Mal wie<strong>de</strong>r Gully<strong>de</strong>ckelDenken wir ruhig mal wie<strong>de</strong>r an unseren e<strong>in</strong>satzfreudigen Gully<strong>de</strong>ckel-Produzenten. Der <strong>in</strong>vestiert<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zweite Produktionsl<strong>in</strong>ie, um bisherige Stockungen im Arbeitsprozess auszugleichenund die Funktionszeit <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s zu erhöhen. Er nennt das an<strong>de</strong>rs. Nach Außenspricht er über Steigerung <strong>de</strong>r Effizienz o<strong>de</strong>r von e<strong>in</strong>er Zukunfts<strong>in</strong>vestition zur Sicherung <strong>de</strong>r Arbeitsplätze.Im <strong>in</strong>neren Kreis wird er davon sprechen, dass <strong>de</strong>r Schwung fehlt und zu viele Arbeiterzu oft Däumchen drehen statt fortdauernd zu arbeiten. Se<strong>in</strong>e beauftragten Spezialisten<strong>de</strong>nglischen von breaks im Workflow, die entwe<strong>de</strong>r gebridged wer<strong>de</strong>n können o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> totalesRe<strong>de</strong>sign erfor<strong>de</strong>rn.Der direkte Effekt: Die Produktionskapazitäten steigen und damit die Fähigkeit zum "E<strong>in</strong>saugenlebendiger Arbeit", wie M. das anschaulich nennt. Es s<strong>in</strong>d zwar auch Neue<strong>in</strong>stellungen erfor<strong>de</strong>rlich,aber vor allem steigt die Arbeitsproduktivität, weil Pausen und Stockungen im Produktionsablaufentfallen und die Arbeitskräfte nun ständig auf bei<strong>de</strong>n Produktionsl<strong>in</strong>ien beschäftigt wer<strong>de</strong>n.Wir haben das als Intensivierung <strong>de</strong>r Arbeit schon kennengelernt. Der <strong>in</strong>direkte Effekt:Durch die Erweiterung <strong>de</strong>r Produktion kann <strong>de</strong>r Bedarf an Roheisen und an<strong>de</strong>ren Stoffen günstigerge<strong>de</strong>ckt, können Tansport- und Lagerkapazitäten besser genutzt und diese Kosten relativzur Gesamtproduktion gesenkt wer<strong>de</strong>n.Die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen verbessern sich für unseren Gully-Produzenten <strong>de</strong>utlich, weil ergegenüber <strong>de</strong>r Konkurrenz wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Kostenvorteil erzielt hat und bei <strong>de</strong>r Preisgestaltungmehr Spielraum bekommt. Durch parallele Produktionsl<strong>in</strong>ien hat er die Umschlagszeit halbiertund die Verwertung se<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s nach Wert- und Mehrwertmenge pro Zeite<strong>in</strong>heit verdoppelt.Durch Preisvorteile gegenüber <strong>de</strong>r Konkurrenz kann er längerfristige Lieferverträge abschließen,die nicht nur se<strong>in</strong>e Produktionskapazitäten für e<strong>in</strong>ige Zeit auslasten, son<strong>de</strong>rn vor allem auch <strong>de</strong>nGeldrückfluß für die verkauften Waren beschleunigen. Alles <strong>in</strong> allem e<strong>in</strong>e durchweg gelungeneRestrukturierung se<strong>in</strong>es Unternehmens.Sicher, die Investitionen haben die Fixierung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s erhöht. Der vollständige wertmäßigeRückfluß, bezogen auf die Gesamtheit se<strong>in</strong>er Investitionen, liegt daher erst <strong>in</strong> weiterer Zukunft.Dessen ist er sich bewuß. In <strong>de</strong>r Regel genügt e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> die Kreditverträge, um ihn daran zuer<strong>in</strong>nern. Deshalb versucht er zusätzlich, durch E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es 2-Schicht-Systems die berechneteUmschlagszeit nochmals auf die Hälfte zu verkürzen.Der gegenüber <strong>de</strong>r Konkurrenz erzielte Extramehrwert und e<strong>in</strong>e absehbar stabile Nachfrage garantieren<strong>de</strong>n wertmäßigen Rückfluß <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s. Aus <strong>de</strong>n laufen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>nahmen, die jaje<strong>de</strong> Menge Mehrwert enthalten, wer<strong>de</strong>n nicht nur die laufen<strong>de</strong>n Ausgaben (samt Kreditkosten)bestritten. Es bleibt e<strong>in</strong>e stattliche Summe übrig, von <strong>de</strong>r e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> als Geldkapital zurückgelegtwird, um die Anlagen zu warten und nach Verschleiß zu erneuern o<strong>de</strong>r auf Wendungen <strong>de</strong>s Geschäftsgefaßt zu se<strong>in</strong>.So weit so gut. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Aussichten. Aber die kapitalistische Konkurrenz schläft bekanntlichnicht. Wir wissen warum. <strong>Das</strong> Vorpreschen <strong>de</strong>s Konkurrenten, se<strong>in</strong>e plötzlich besseren Preise beigleichzeitig höherem Gew<strong>in</strong>n raubt ihr <strong>de</strong>n Schlaf. Sie wird aktiv, mobilisiert Geldkapital undübernimmt ihrerseits die Verbesserungen; vielleicht sogar noch um e<strong>in</strong>en Tick besser. Schnellerals erwartet schw<strong>in</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Konkurrenzvorteil für unseren Gully-<strong>Kapital</strong>isten. Allerd<strong>in</strong>gs erreichtdurch die Initiative se<strong>in</strong>er Konkurrenten auch die Gullyproduktion neue Rekor<strong>de</strong>. Die Preise bröckeln.Nach steilem Anstieg schwankt <strong>de</strong>r Absatz und geht sogar zurück, weil <strong>de</strong>r Bedarf an Gully<strong>de</strong>ckelnnicht im selben Maße wie die Produktion zunimmt.209


Unser Gully<strong>de</strong>ckel-Mann beg<strong>in</strong>nt wie se<strong>in</strong>e Konkurrenten <strong>de</strong>n Druck zu spüren, <strong>de</strong>r jetzt vomstark angewachsenen fixen <strong>Kapital</strong> ausgeht: "Verwerte mich o<strong>de</strong>r ich hänge dir wie e<strong>in</strong> Klotz amBe<strong>in</strong>!" ruft es ihnen allen zu. Die Angelegenheit wird um so dr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>r, da ja die Investitionennicht mit eigenen Mitteln, son<strong>de</strong>rn per Kredit erfolgten, was ab e<strong>in</strong>er bestimmten Größenordnungsowieso die Regel ist. Aber auch ohne die Probleme <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzierung ist je<strong>de</strong> Erhöhung<strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s zweischneidig. Was verbesserte Verwertung zum Ziel hatte, wird zum verstärktenVerwertungszwang unter womöglich e<strong>in</strong>geengten Bed<strong>in</strong>gungen.Schmierstoff und LösungsmittelGehen wir <strong>in</strong> Gedanken noch e<strong>in</strong>mal zu unserer Analyse <strong>de</strong>s Akkumulationsprozesses zurück.<strong>Das</strong> Wachstum <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en <strong>Kapital</strong>s hängt davon ab, dass die verbun<strong>de</strong>nen <strong>Kapital</strong>e, die als Zulieferero<strong>de</strong>r Abnehmer fungieren, <strong>in</strong> ähnlicher Weise wachsen. Die Betrachtung <strong>de</strong>sselben Prozessesals Kreislaufprozess erweitert unsere Perspektive und hebt se<strong>in</strong>en durch und durch gesellschaftlichenCharakter hervor.Alle Kreislaufprozesse <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e s<strong>in</strong>d zu e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Prozess verwoben.Die Verwertung <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en <strong>Kapital</strong>s hängt von <strong>de</strong>r erfolgreichen Verwertung vieler an<strong>de</strong>rer<strong>Kapital</strong>e ebenso ab, wie sich die Verwertung e<strong>in</strong>zelner <strong>Kapital</strong>e durch die Vernichtung an<strong>de</strong>rer<strong>Kapital</strong>e verbessern kann. Denn die gesellschaftliche Form, also die vielfache Vernetzung vonProduktions- und Verwertungsprozessen, hebt we<strong>de</strong>r Konkurrenz noch Verwertungszwang auf.Vielmehr verstärkt sie diesen doppelten Zwang, wie wir sahen, durch wachsen<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>fixierung,die selbst e<strong>in</strong> Produkt von Konkurrenz und Verwertungszwang ist. 434Wir haben im vorigen Kapitel unseren Gully-Mann recht freizügig agieren lassen. Wir wissenaber <strong>in</strong>zwischen, dass alle Maßnahmen <strong>in</strong>dividueller <strong>Kapital</strong>e, ob zur Verkürzung <strong>de</strong>r Produktionszeito<strong>de</strong>r zur Ausweitung <strong>de</strong>r Funktionszeit o<strong>de</strong>r zur Steigerung <strong>de</strong>r Produktivität o<strong>de</strong>r zurErweiterung <strong>de</strong>r Kapazitäten... an Voraussetzungen gebun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Die Maßnahmen müssen <strong>in</strong><strong>de</strong>n verbun<strong>de</strong>nen Produktionsprozessen nicht unbed<strong>in</strong>gt auf Gegenliebe, aber doch auf dasnotwendige Angebot <strong>de</strong>r dafür erfor<strong>de</strong>rlichen Masch<strong>in</strong>en, Rohstoffe, Transportkapazitäten usw.treffen. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> beständige Anpassung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e an Konkurrenz und Verwertungszwangerfor<strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>e ebenso beständige Anpassung <strong>de</strong>s Gesamtkapitals (also <strong>de</strong>r vielenan<strong>de</strong>ren verbun<strong>de</strong>nen <strong>Kapital</strong>e) an die sich ständig verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Proportionen.Da wir es mit e<strong>in</strong>er Vielzahl <strong>in</strong>dividueller <strong>Kapital</strong>e zu tun haben, die ihren eigenen Verwertungs<strong>in</strong>teressenfolgen, erfolgt je<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rung, die von <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>en für <strong>de</strong>n eigenenVerwertungsprozess ergriffen wird, im Vertrauen auf e<strong>in</strong>e entsprechen<strong>de</strong> Anpassung <strong>in</strong> allenvernetzten Prozessen. Diese Anpassung muß zügig erfolgen und darf die Kont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>s Gesamtprozessesnicht <strong>in</strong>s Stocken br<strong>in</strong>gen. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Garantie dafür gibt es nicht. <strong>Das</strong> ist das berühmteund gern zitierte unternehmerische Risiko, das im Ereignisfall vor allem die Arbeitskräfte zu spürenbekommen.434Je mehr <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> stofflichen Elementen <strong>de</strong>s Produktionsprozesses fixiert ist, um so mehr tritt <strong>de</strong>r Konflikt zwischen Produktionszeit undFunktionszeit hervor. Es überrascht nicht, wenn <strong>in</strong> solchen Bereichen wie Bergbau, Transport<strong>in</strong>dustrie, Errichtung von Großprojekten wieTunnels o<strong>de</strong>r Staudämmen o<strong>de</strong>r Hochhäusern <strong>de</strong>r Drang zur Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Funktionszeit beson<strong>de</strong>rs spürbar wird. Rund-um-die-Uhr-Arbeit ist <strong>in</strong> solchen Projekten die Regel.Dabei <strong>de</strong>cken sich die Interessen <strong>de</strong>s Produzenten, <strong>de</strong>r das Bauwerk erstellt, mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Auftraggebers, für <strong>de</strong>n die schnelle Fertigstellungebenfalls Verlängerung <strong>de</strong>r Funktionszeit ist. Es ist bei Großprojekten daher nicht nur üblich, verzögerte Fertigstellung zu bestrafen,son<strong>de</strong>rn auch vorfristige Fertigstellung zu belohnen.210


Als Schmierstoff dieses ständig laufen<strong>de</strong>n Anpassungsprozesses, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m das fixe <strong>Kapital</strong> e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>reRolle spielt, fungiert <strong>de</strong>r Kredit. Aber wenn aus <strong>de</strong>r "Verschl<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>r Metamorphosen",von <strong>de</strong>nen uns M. so blumig sprach, e<strong>in</strong> "verhed<strong>de</strong>rter Knoten" wird (um mal mit M.sBlumigkeit zu konkurrieren), wenn die notwendig wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Anpassung im System mißl<strong>in</strong>gt unddie Kont<strong>in</strong>uität <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Prozesses <strong>in</strong>s Stocken gerät, braucht man nicht nurSchmierstoff, son<strong>de</strong>rn auch e<strong>in</strong> Lösungsmittel.Als e<strong>in</strong> solches Lösungsmittel fungiert die Krise. Durch Stillstand o<strong>de</strong>r sogar Rückgang <strong>de</strong>r Akkumulationund durch die Vernichtung <strong>de</strong>s auf <strong>de</strong>r Strecke gebliebenen <strong>Kapital</strong>s wird <strong>de</strong>r Knotengelöst, um <strong>de</strong>n Prozess durch Aufbau neuer Vernetzungen wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen. Um<strong>de</strong>n Schmierstoff Kredit und das Lösungsmittel Krise geht es auf <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Seiten.Geldschatz, Bleigewicht und die 'Papierchens'Als wir M.s Unterscheidung von Arbeitsperio<strong>de</strong> und Produktionszeit nachvollzogen, wur<strong>de</strong> klar,warum <strong>de</strong>r Kredit zum unverzichtbaren Mittel für die forlaufen<strong>de</strong> F<strong>in</strong>anzierung <strong>de</strong>s Produktionsprozesseswird. Aber <strong>de</strong>r Kredit kommt auf vielen Wegen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Damit für das <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong> das Nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>er Stadien überhaupt kont<strong>in</strong>uierlichfunktioniert, muß nicht nur die Verzögerung zwischen Arbeitsperio<strong>de</strong> und Produktionszeit,son<strong>de</strong>rn auch die Verzögerung zwischen Produktion und Zirkulation durch <strong>Kapital</strong>vorschußüberbrückt wer<strong>de</strong>n. Damit für das Gesamtkapital e<strong>in</strong> Wachstum möglich ist, das bei e<strong>in</strong>zelnen<strong>Kapital</strong>en e<strong>in</strong>zelner Sektoren beg<strong>in</strong>nt und durch die verbun<strong>de</strong>nen <strong>Kapital</strong>e nachvollzogen wer<strong>de</strong>nmuß, ist ebenfalls frei verfügbares Geldkapital notwendig. <strong>Das</strong>selbe gilt für Störungen <strong>de</strong>sProzesses beliebiger Art, die Reaktionen <strong>de</strong>r betroffenen <strong>Kapital</strong>e und dafür kurzfristigmobilisierbare Geldmittel erfor<strong>de</strong>rn.Kurz: Dem gestörten Wertfluß wird sozusagen per Kredit auf die Sprünge geholfen, um nichtschon wie<strong>de</strong>r vom Schmierstoff zu sprechen. Und Störungen dieses komplizierten Prozesses s<strong>in</strong>dfür M. unvermeidlich. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nicht nur die zyklischen Krisen, die uns noch beschäftigen wer<strong>de</strong>n,son<strong>de</strong>rn ebenso äußere Störungen, die von Naturkatastrophen o<strong>de</strong>r Kriegsereignissen ausgehen.Solche Störungen resultieren vielleicht aus <strong>de</strong>m Versiegen alter o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Aufschlußneuer Rohstoffvorkommen o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fach aus fehlgeschlagenen Spekulationen auf Rohstoffvorkommen,Eisenbahnen o<strong>de</strong>r Kanalbauten und ähnliches.<strong>Das</strong> können Störungen se<strong>in</strong>, die von <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung neuer Werkstoffe o<strong>de</strong>r von neuen technischenErf<strong>in</strong>dungen ausgehen und vieles an<strong>de</strong>re. M. nennt diese Störungen "Wertrevolutionen",weil sie auf direkte Weise e<strong>in</strong>e Neuverteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit auf die vernetztenVerwertungsprozesse erfor<strong>de</strong>rn. <strong>Das</strong> betrifft die Neuverteilung von Arbeitskräften, also die unsschon aus <strong>de</strong>r Diskussion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts bekannte fortdauern<strong>de</strong> Freisetzung und B<strong>in</strong>dungvon Arbeitskraft. <strong>Das</strong> betrifft aber vor allem auch die Erneuerung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s.Die Bewältigung solcher Störungen kann nur funktionieren, wenn zu je<strong>de</strong>m Zeitpunkt für diebeteiligten <strong>Kapital</strong>e e<strong>in</strong>e genügen<strong>de</strong> Menge an Geldkapital verfügbar ist. Zu sagen, das <strong>Kapital</strong>stellen eben die Banken zur Verfügung, qualifiziert zur <strong>Teil</strong>nahme an Talkshows. Es klärt abernicht die Frage, wie die Banken an das frei verfügbare Geldkapital gekommen s<strong>in</strong>d. Genau darumgeht es jetzt. Wir wollen herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, woher das Geld für das Kreditsystem stammt und211


welche Rolle die <strong>Kapital</strong>fixierung im doppelten S<strong>in</strong>ne dabei spielt: E<strong>in</strong>mal als Quelle von frei verfügbaremGeld, zum an<strong>de</strong>rn als Quelle für die Nachfrage nach Kredit. 435<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Quelle <strong>de</strong>s frei verfügbaren Gel<strong>de</strong>s haben wir bereits im Akkumulationsprozess gefun<strong>de</strong>n.Wir er<strong>in</strong>nern uns. Dort war es <strong>de</strong>r zurückfließen<strong>de</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Mehrwerts, <strong>de</strong>r nicht sofort re<strong>in</strong>vestiertwird, son<strong>de</strong>rn Rücklagen bil<strong>de</strong>t. Und es war natürlich <strong>de</strong>r <strong>in</strong> das Privatvermögen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenfließen<strong>de</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Mehrwerts, <strong>de</strong>r die <strong>in</strong>dividuellen Konsumtionsbedürfnisse übersteigt un<strong>de</strong>benfalls das Kreditsystem speist.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> zweite Quelle f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ökonomie <strong>de</strong>r Umschlagszeit. Deren Verkürzung, ob durchVerkürzung <strong>de</strong>r Produktionszeit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Zirkulationszeit, ist nicht nur wichtige Verwertungsreserve.Die Verkürzung <strong>de</strong>r Umschlagszeit m<strong>in</strong><strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n benötigten <strong>Kapital</strong>vorschuß und setztzeitweilig disponibles Geldkapital im Verwertungsprozess <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>s frei. 436 DieselbeWirkung haben s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Preise für Masch<strong>in</strong>en und Rohstoffe, s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Löhne, s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong>Unternehmenssteuern o<strong>de</strong>r reduzierte Sozialleistungen <strong>de</strong>r Unternehmen.Jetzt f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verwertung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>e weitere Quelle. Es ist das regelmäßigsich ansammeln<strong>de</strong> Geld, das aus <strong>de</strong>r Verwertung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s fortlaufend "nie<strong>de</strong>rtropft".437 <strong>Das</strong> fixe <strong>Kapital</strong> wird <strong>in</strong> großen Wertmengen erworben; im Umfang se<strong>in</strong>er produktivenNutzung fließt <strong>de</strong>r Wert über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum als Geld zurück und stellt, bis zur Erneuerung<strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s, ebenfalls disponibles Geldkapital dar. 438435Zweifellos stammen die Gel<strong>de</strong>r, die heute auf <strong>de</strong>m F<strong>in</strong>anzmarkt verwertet (o<strong>de</strong>r verbrannt) wer<strong>de</strong>n, aus vielen Quellen. <strong>Das</strong> reicht von<strong>de</strong>n Spargroschen auf <strong>de</strong>r Sparkasse über Bausparverträge, Versicherungsmo<strong>de</strong>lle, die Kassen <strong>de</strong>r Sozialversicherungen bis h<strong>in</strong> zu <strong>de</strong>nHedgefunds und an<strong>de</strong>ren Investmentvehikeln. Dazu gehören <strong>in</strong>stitutionelle Anleger wie die großen Staats- und Pensionsfonds und natürlichdie Banken <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Art. Aber hier befassen wir uns nicht mit <strong>de</strong>n Geschäftsmo<strong>de</strong>llen und Marktstrukturen, son<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>neigentlichen Quellen <strong>de</strong>s Kreditsystems. Was die zum <strong>Teil</strong> bizarren Strukturen <strong>de</strong>s heutigen F<strong>in</strong>anzmarktes kaum noch erkennen lassen:<strong>Das</strong> ihm zuströmen<strong>de</strong> Geldkapital entspr<strong>in</strong>gt alle<strong>in</strong> <strong>de</strong>m Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s*. Und dieser Zustrom erfolgt nichtzufällig, son<strong>de</strong>rn notwendigerweise, ist von Anfang an <strong>in</strong>nere Bed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses, sobald dieser se<strong>in</strong>e entwickelte Formerreicht hat. <strong>Das</strong>s sich mit Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise auch die Form <strong>de</strong>s Kreditsystems wan<strong>de</strong>lt, wird e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>resThema se<strong>in</strong>.*Zur Er<strong>in</strong>nerung: <strong>Das</strong> <strong>in</strong>dustrielle <strong>Kapital</strong> bezeichnet bei M. die Gesamtheit aller kapitalistisch betriebnen Produktionszweige.436Deshalb kann man ebenfalls die Verkürzung <strong>de</strong>r Umschlagszeit <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s als Quelle <strong>de</strong>s Kreditystems betrachten, da vorübergehendGeldmittel freigesetzt wer<strong>de</strong>n, die durch Ausweitung <strong>de</strong>r Produktion produktiv genutzt o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Geldverwertungsmarkt geworfenwer<strong>de</strong>n."<strong>Das</strong> so durch <strong>de</strong>n bloßen Mechanismus <strong>de</strong>r Umschlagsbewegung freigesetzte Geldkapital (neben <strong>de</strong>m durch <strong>de</strong>n sukzessiven Rückfluß<strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s und <strong>de</strong>m <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Arbeitsprozeß für variables <strong>Kapital</strong> nötigem Geldkapital) muß e<strong>in</strong>e be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle spielen, sobaldsich das Kreditsystem entwickelt, und muß zugleich e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r Grundlagen <strong>de</strong>sselben bil<strong>de</strong>n." (MEW 24, S.284)<strong>Das</strong> gilt genauso für die Verkürzung <strong>de</strong>r <strong>Teil</strong>prozesse. Die Verkürzung <strong>de</strong>r Zirkulationszeit reduziert für das <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong> <strong>de</strong>n notwendigen<strong>Kapital</strong>vorschuss. M. dazu:"Da dies nicht nur e<strong>in</strong>en <strong>Kapital</strong>isten betrifft, son<strong>de</strong>rn viele und zu verschiednen Perio<strong>de</strong>n <strong>in</strong> verschiednen Geschäftszweigen sich ereignet,so ersche<strong>in</strong>t hiermit mehr disponibles Geldkapital auf <strong>de</strong>m Markt. Dauert dieser Zustand länger, so wird die Produktion erweitert wer<strong>de</strong>n,wo dies zulässig; <strong>Kapital</strong>isten, die mit geborgtem <strong>Kapital</strong> arbeiten, wer<strong>de</strong>n weniger Nachfrage auf <strong>de</strong>m Geldmarkt ausüben, was diesenebensosehr erleichtert wie vermehrtes Angebot; o<strong>de</strong>r endlich die Summen, die für <strong>de</strong>n Mechanismus überschüssig gewor<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>f<strong>in</strong>itiv auf <strong>de</strong>n Geldmarkt h<strong>in</strong>ausgeworfen." (MEW 24, S.284f)437"<strong>Das</strong> Produkt verwan<strong>de</strong>lt sich durch se<strong>in</strong>e Zirkulation aus Ware <strong>in</strong> Geld; also auch <strong>de</strong>r vom Produkt zirkulierte Wertteil <strong>de</strong>s Arbeitsmittels,und zwar tropft se<strong>in</strong> Wert aus <strong>de</strong>m Zirkulationsprozeß als Geld nie<strong>de</strong>r, <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben Proportion, wor<strong>in</strong> dies Arbeitsmittel aufhört,Wertträger im Produktionsprozeß zu se<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong> Wert erhält also jetzt Doppelexistenz. E<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>sselben bleibt an se<strong>in</strong>e, <strong>de</strong>m Produktionsprozeßangehörige Gebrauchs- o<strong>de</strong>r Naturalform gebun<strong>de</strong>n, e<strong>in</strong> andrer <strong>Teil</strong> löst sich von ihr ab als Geld. Im Verlauf se<strong>in</strong>er Funktion nimmt<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Naturalform existieren<strong>de</strong> Wertteil <strong>de</strong>s Arbeitsmittels beständig ab, während se<strong>in</strong> <strong>in</strong> Geldform umgesetzter Wertteil beständigzunimmt, bis es schließlich ausgelebt hat und se<strong>in</strong> Gesamtwert, von se<strong>in</strong>er Leiche getrennt, <strong>in</strong> Geld verwan<strong>de</strong>lt ist." (MEW 24,S.163f)438Natürlich wird immer auch e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s zurückfließen<strong>de</strong>n fixen <strong>Kapital</strong>werts sofort wie<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>t: Zum Ankauf von Rohstoffen, zurBezahlung <strong>de</strong>r Arbeitskräfte, zur Verbesserung <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>erie. Nicht alles geht unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> die Schatzbildung e<strong>in</strong>, son<strong>de</strong>rn ist <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>sGeldflusses im Unternehmen. Darauf macht uns M. ausdrücklich aufmerksam:"Dieser so <strong>in</strong> Geld verwan<strong>de</strong>lte <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>werts kann dazu dienen, das Geschäft zu erweitern o<strong>de</strong>r Verbesserungen an <strong>de</strong>n Masch<strong>in</strong>enanzubr<strong>in</strong>gen, welche <strong>de</strong>ren Wirksamkeit vermehren. In kürzren o<strong>de</strong>r längren Abschnitten f<strong>in</strong><strong>de</strong>t so Reproduktion statt, und zwar –vom Standpunkt <strong>de</strong>r Gesellschaft betrachtet – Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter; extensiv, wenn das Produktionsfeld ausge<strong>de</strong>hnt;<strong>in</strong>tensiv, wenn das Produktionsmittel wirksamer gemacht. Diese Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter entspr<strong>in</strong>gt nicht aus Akkumula-212


M. behan<strong>de</strong>lt das, se<strong>in</strong>em Plan für das "<strong>Kapital</strong>" folgend, auch hier wie an an<strong>de</strong>ren Stellen wil<strong>de</strong>ntschlossen als re<strong>in</strong>e Schatzbildung "ohne alle Rücksicht auf das erst später zu entwickeln<strong>de</strong>Kreditsystem". 439 Er tut so, als wer<strong>de</strong> lediglich das aus <strong>de</strong>r Verwertung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s zurückfließen<strong>de</strong>Geld "<strong>in</strong> <strong>de</strong>nselben Kasten geworfen". Doch wir wissen längst, dass die Ansammlungvon Geldkapital nicht e<strong>in</strong>fach im Kasten liegen bleibt.Aus welcher <strong>de</strong>r genannten Quellen das Geld auch immer stammt: Im Schatzkästle<strong>in</strong> ist es nurvirtuelles Geldkapital, "absolut unproduktiv, läuft <strong>de</strong>m Produktionsprozeß <strong>in</strong> dieser Form parallel,liegt aber außerhalb <strong>de</strong>sselben. Es ist e<strong>in</strong> Bleigewicht (<strong>de</strong>ad weight) <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion.Die Sucht, diesen als virtuelles Geldkapital sich aufschatzen<strong>de</strong>n Mehrwert sowohl zumProfit wie zur Revenue (= E<strong>in</strong>künfte; E<strong>in</strong>nahmen) brauchbar zu machen, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t im Kreditsystemund <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 'Papierchens' das Ziel ihres Strebens. <strong>Das</strong> Geldkapital erhält dadurch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>rnForm <strong>de</strong>n enormsten E<strong>in</strong>fluß auf <strong>de</strong>n Verlauf und die gewaltige Entwicklung <strong>de</strong>s kapitalistischenProduktionssystems." 440Was M. "die Sucht sowohl zum Profit wie zur Revenue (= E<strong>in</strong>künfte; E<strong>in</strong>nahmen)" nennt, nennenwir Verwertungszwang. Er macht aus <strong>de</strong>m Bleigewicht <strong>de</strong>r Produktion das kapitalistischeKreditsystem. M. weiß das genausogut wie wir und kommt nicht umh<strong>in</strong>, das auch im 2. Bandschon <strong>de</strong>utlich zu sagen, auch wenn uns die Kategorie <strong>de</strong>s z<strong>in</strong>stragen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s offiziell nochgar nicht vorgestellt wur<strong>de</strong>. Was sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verwertungsprozessen <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>e zu je<strong>de</strong>mZeitpunkt als Geldkapital ansammelt, ist Ausgangspunkt und Lebensgrundlage <strong>de</strong>s Kreditsystems:"Es ist e<strong>in</strong>e beständig wechseln<strong>de</strong> Verteilung <strong>de</strong>s <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft existieren<strong>de</strong>n Schatzes, <strong>de</strong>rabwechselnd als Zirkulationsmittel fungiert, und dann wie<strong>de</strong>r als Schatz aus <strong>de</strong>r Masse <strong>de</strong>s zirkulieren<strong>de</strong>nGel<strong>de</strong>s abgeschie<strong>de</strong>n wird. Mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Kreditwesens, welche <strong>de</strong>r Entwicklung<strong>de</strong>r großen Industrie und <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion notwendig parallel geht, fungiertdies Geld nicht als Schatz, son<strong>de</strong>rn als <strong>Kapital</strong>, aber <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand nicht se<strong>in</strong>es Eigentümers,son<strong>de</strong>rn andrer <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>nen es zur Verfügung gestellt ist." 441Die Nutzung <strong>de</strong>s sich ansammeln<strong>de</strong>n Geldkapitals "<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>rn Form", von <strong>de</strong>r M. obenspricht, verwan<strong>de</strong>lt das Bleigewicht <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion <strong>in</strong> das Kreditsystem: Daraustion – Verwandlung von Mehrwert <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> –, son<strong>de</strong>rn aus Rückverwandlung <strong>de</strong>s Werts, welcher sich abgezweigt, <strong>in</strong> Geldform losgelösthat vom Körper <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s, <strong>in</strong> neues, entwe<strong>de</strong>r zuschüssiges o<strong>de</strong>r doch wirksameres, fixes <strong>Kapital</strong> <strong>de</strong>rselben Art. Es hängt natürlichteils von <strong>de</strong>r spezifischen Natur <strong>de</strong>s Geschäftsbetriebs ab, wieweit und <strong>in</strong> welchen Dimensionen er solches allmählichen Zuschusses fähigist, also auch <strong>in</strong> welchen Dimensionen e<strong>in</strong> Reservefonds gesammelt se<strong>in</strong> muß, um <strong>in</strong> dieser Weise rückangelegt wer<strong>de</strong>n zu können, und <strong>in</strong>welchen Zeiträumen dies geschehn kann." (MEW 24, S.172)439MEW 24, S.182. Es gibt noch e<strong>in</strong>e Menge an<strong>de</strong>rer Bemerkungen dieser Art, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen M. zwar nicht umh<strong>in</strong> kann, die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>sKredits hervorzuheben, aber <strong>de</strong>n Zeitpunkt für verfrüht hält, <strong>de</strong>n Kredit bereits <strong>in</strong> die Analyse e<strong>in</strong>zubeziehen. Damit folgt er se<strong>in</strong>em Aufbauplanfür das "<strong>Kapital</strong>"; er will se<strong>in</strong>e Leser im 2. Band damit noch nicht belasten. Aber unübersehbar ist se<strong>in</strong> Schwanken zwischen <strong>de</strong>me<strong>in</strong>mal gefaßten Plan <strong>de</strong>r Stoffdarbietung und <strong>de</strong>n Tücken <strong>de</strong>s Stoffs selbst, <strong>de</strong>m hier schon das Kreditsystem aus allen Nähten lugt.M. beschreibt im Kapitel über <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s die parallele Ansammlung von Geld als <strong>de</strong>ssen notwendiges Element.Wie<strong>de</strong>r ist es für ihn nicht <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Verwertung, son<strong>de</strong>rn "Schatzbildung", e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r Verwertung entzogene "Geldsumme, die nur anwächst,weil ohne ihr Zutun vorhan<strong>de</strong>nes Geld <strong>in</strong> <strong>de</strong>nselben Kasten geworfen wird." (MEW 24, S.88) Aber M. weiß genau, das viel mehr dah<strong>in</strong>tersteckt:"Wir nehmen hier die Geldanhäufung <strong>in</strong> ihrer ursprünglichen realen Form, als wirklichen Geldschatz. Sie kann auch existieren <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Formvon bloßen Guthaben, Schuldfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>r W' verkauft hat. Was die andren Formen betrifft, wo dies latente Geldkapital<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zwischenzeit selbst <strong>in</strong> Gestalt von Geld hecken<strong>de</strong>m Geld existiert, z.B. als z<strong>in</strong>stragen<strong>de</strong>s Depositum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bank, <strong>in</strong> Wechselno<strong>de</strong>r Wertpapieren irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Art, so gehören sie nicht hierher. Der <strong>in</strong> Geld realisierte Mehrwert verrichtet dann besondre <strong>Kapital</strong>funktionenaußerhalb <strong>de</strong>s Kreislaufs <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>m er entsprungen; Funktionen, die erstens mit jenem Kreislauf als solchemnichts zu tun haben, zweitens aber von <strong>de</strong>n Funktionen <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s unterschiedne <strong>Kapital</strong>funktionen unterstellen, die hiernoch nicht entwickelt s<strong>in</strong>d." (MEW 24, S.88f)440MEW 24, S.494441MEW 24, S.182213


wird Kredit, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r tatsächlichen Schatzbildung im eigenen Verwertungsprozess unabhängigmacht. Daraus wer<strong>de</strong>n Investments, Geldanlagen, die von M. erwähnten Papierchens, mit<strong>de</strong>nen man <strong>de</strong>n eigenen Schatz aus <strong>de</strong>m Kasten befreit und gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend anlegt. 442 Weil <strong>de</strong>rVerwertungszwang für alle gilt, wird aus <strong>de</strong>m Geldkapital, das aus <strong>de</strong>m Zirkulationsprozess <strong>de</strong>rvielen <strong>Kapital</strong>e beständig ausgeschie<strong>de</strong>n wird, die allgeme<strong>in</strong>e Quelle, die je<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> bei Bedarfund per Kredit mit Geldkapital versorgt.<strong>Kapital</strong>fixierung und KreditSobald wir die <strong>Kapital</strong>fixierung <strong>in</strong> unsere Analyse e<strong>in</strong>beziehen, lösen wir uns von <strong>de</strong>r Vorstellunge<strong>in</strong>er mehr o<strong>de</strong>r weniger gleichförmigen Zirkulation <strong>de</strong>s Geldkapitals, die unserer Analyse bishernoch zugrun<strong>de</strong> lag. Verwertung und Akkumulation s<strong>in</strong>d bei gegebener <strong>Kapital</strong>fixierung nichtmehr als paralleler und stetiger Prozess vorstellbar. Diskont<strong>in</strong>uierliche Bewegungen s<strong>in</strong>d untrennbardamit verbun<strong>de</strong>n und sie entspr<strong>in</strong>gen <strong>de</strong>m fixen <strong>Kapital</strong>.<strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Unternehmen stofflich fixiert ist, wird nicht auf e<strong>in</strong>en Schlag erworben,son<strong>de</strong>rn wächst im Zuge <strong>de</strong>r Akkumulation. Es muß auch nicht auf e<strong>in</strong>en Schlag vollständigersetzt wer<strong>de</strong>n. Im begrenzten Umfang wer<strong>de</strong>n die Produktionsmittel durch Wartung und Reparaturwertmäßig beständig erneuert. 443 Auch hat das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Unternehmen angelegte fixe <strong>Kapital</strong>ke<strong>in</strong>eswegs immer dieselbe Umschlagsdauer, so dass sich im Unternehmen unterschiedlicheInvestitionszyklen mit jeweils eigenem F<strong>in</strong>anzierungsbedarf herausbil<strong>de</strong>n. 444442Die Verwertung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Zirkulationsprozess vorübergehend entzogenen Geldmittel über <strong>de</strong>n F<strong>in</strong>anzmarkt kann für das produzieren<strong>de</strong>Unternehmen sogar e<strong>in</strong>e alternative Mehrwertquelle wer<strong>de</strong>n - mit allen Risiken. Schon M. konnte beobachten, "daß Industrielle und Kaufleutedas für <strong>de</strong>n Betrieb ihres Geschäfts nötige Geldkapital <strong>in</strong> Eisenbahnspekulationen etc. werfen und durch Anleihen auf <strong>de</strong>m Geldmarktersetzen." (MEW 24, S.317)E<strong>in</strong> aktuelles Beispiel für diese schon M. bekannte Praxis lieferte <strong>de</strong>r General Motors Konzern, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1990ern <strong>in</strong> kurzer Zeit über zahlreicheAnleihen se<strong>in</strong>e Kreditschul<strong>de</strong>n auf über 200 Mrd.Dollar erhöhte. Mit <strong>de</strong>m größeren <strong>Teil</strong> dieses Gel<strong>de</strong>s versuchte <strong>de</strong>r Konzern, auf<strong>de</strong>m F<strong>in</strong>anzmarkt hohe Renditen zu erzielen. Die erwartete positive Differenz zwischen F<strong>in</strong>anzmarktrendite und Anleihez<strong>in</strong>sen sollte dieGew<strong>in</strong>nlage <strong>de</strong>s Konzerns <strong>pol</strong>ieren und Gel<strong>de</strong>r für die Restrukturierung freisetzen. <strong>Das</strong> g<strong>in</strong>g solange gut, wie die erhofften Renditen amF<strong>in</strong>anzmarkt flossen. Mit <strong>de</strong>m Platzen <strong>de</strong>r Dotcom-Blase 2001 machte man bereits erhebliche Verluste, vor allem <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Pensionsfonds.Um die aufzufüllen, versuchte man dasselbe Spiel mit <strong>de</strong>r Immobilien- und Wertpapierhausse ab 2003 noch e<strong>in</strong>mal. Die Wirtschaftskriseab 2007 vernichtete e<strong>in</strong>en großen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s <strong>in</strong>vestierten <strong>Kapital</strong>s und zertrümmerte <strong>de</strong>n Buchwert <strong>de</strong>r zur Absicherung von Krediten verwen<strong>de</strong>tenInvestments. Die Anleiheschul<strong>de</strong>n blieben. Die Kredite zur Ref<strong>in</strong>anzierung dieser Schul<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n teurer. In kürzester Zeit warenalle liqui<strong>de</strong>n Mittel verbraucht. Zusammen mit <strong>de</strong>r gleichzeitig sich bahnbrechen<strong>de</strong>n Überproduktionskrise <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Autobranche führtedas e<strong>in</strong>en <strong>de</strong>r größten Konzerne <strong>de</strong>r Welt, <strong>de</strong>r über enormes Produktionspotential verfügt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Bankrott, <strong>de</strong>r nur durch erhebliche staatlicheMittel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Neugründung <strong>de</strong>s Konzerns umgewan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n konnte (Stand: Juli 2009).443Die stückweise Ersetzung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s ist übrigens selbst e<strong>in</strong>e eigenständige Quelle von Extramehrwert. Gel<strong>in</strong>gt es, die produktiveLebensdauer <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s im eigenen Unternehmen über <strong>de</strong>n üblichen Durchschnitt zu verlängern, erhöht sich, bei gleichbleiben<strong>de</strong>rKonkurrenz, <strong>de</strong>r Unternehmensgew<strong>in</strong>n. Je<strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>satz über das kalkulierte En<strong>de</strong> h<strong>in</strong>aus bereichert <strong>de</strong>n Fabrikanten. Je<strong>de</strong>r nochmalsauf Fahrt geschicke Seelenverkäufer bereichert die Ree<strong>de</strong>rei. Je<strong>de</strong>r Verzicht auf Klimatisierung o<strong>de</strong>r Staubfilterung o<strong>de</strong>r Lärmdämmung<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Textilfabriken, aus <strong>de</strong>nen wir unsere preiswerte Kleidung beziehen, ru<strong>in</strong>iert die Gesundheit <strong>de</strong>r Beschäftigten, senkt die Produktionspreise,erhöht <strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r Fabrikbetreiber und Händler und senkt unsere Lebenshaltungskosten. Je<strong>de</strong> Masch<strong>in</strong>e, die über ihreAbschreibungsfrist h<strong>in</strong>aus produktiv genutzt wird, steigert <strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>n und verbessert die Möglichkeiten zur Gestaltung <strong>de</strong>r Bilanz.E<strong>in</strong> historisches Beispiel: Viele Passagiere <strong>de</strong>r Preußischen Eisenbahnen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts erlebten die "Ökonomie <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s"am eigenen Leibe durch immer häufigere Unfälle. <strong>Das</strong> rief am En<strong>de</strong> sogar e<strong>in</strong>e Regierungskommission auf <strong>de</strong>n Plan, die als "Ursache<strong>de</strong>r Unfälle und Verspätungen die äußerste Ausnutzung <strong>de</strong>s Materials" benannte, wie es <strong>in</strong> ihrem Bericht heißt, und damit <strong>de</strong>n letztenAnstoß zur Verstaatlichung <strong>de</strong>r Eisenbahnen gab. Über ähnliche Ersche<strong>in</strong>ungen berichten die Medien <strong>de</strong>rzeit (Juli 2009): Sowohl bei <strong>de</strong>rBerl<strong>in</strong>er S-Bahn wie bei <strong>de</strong>n Güterbetrieben <strong>de</strong>r Deutschen Bahn wur<strong>de</strong>n offenbar schwerwiegen<strong>de</strong> technische Mängel am Gerät durchÜberalterung und verzögerte Instandsetzung festgestellt. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nicht nur Schlampereien <strong>de</strong>r Verantwortlichen, son<strong>de</strong>rn historisch tausendfachbelegte typische Folgen e<strong>in</strong>er Ökonomisierung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s unter Verwertungszwang, allen Sicherheitsvorschriften zumTrotz.444M. nutzt das Beispiel <strong>de</strong>r Eisenbahn, für <strong>de</strong>ren Betrieb die Nutzungdauer von Schwellen, Schienen, Waggons und Lokomotiven sehrunterschiedlich ausfallen. Heute hat je<strong>de</strong>s größere Unternehmen e<strong>in</strong>en Überblick über Anlagen und Masch<strong>in</strong>en, ihre kalkulierte Abschreibungund die daraus sich ergeben<strong>de</strong>n Zeitpunkte für neue Investitionen und <strong>de</strong>ren F<strong>in</strong>anzierungsbedarf <strong>in</strong> aktuellen Neuanschaffungspreisen.214


<strong>Das</strong> alles än<strong>de</strong>rt aber nichts an <strong>de</strong>n zyklischen Beson<strong>de</strong>rheiten, die das fixe <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> die Verwertungh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt, und an <strong>de</strong>r Notwendigkeit, <strong>in</strong> periodischen Abstän<strong>de</strong>n größere Geldmittel fürProduktionsmittel zu <strong>in</strong>vestieren, um auch nur <strong>de</strong>n aktuellen Stand zu erhalten. 445 Man kauftke<strong>in</strong>en halben Hochofen o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> halbes Schiff und man baut ke<strong>in</strong>e halbe Montagefabrik. Undwenn man an e<strong>in</strong>em En<strong>de</strong> se<strong>in</strong>es Produktionsprozesses mit <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rnisierung <strong>de</strong>r Produktionsmittelbeg<strong>in</strong>nt, muß man eher früher als später auch <strong>de</strong>n Rest <strong>in</strong> die Mo<strong>de</strong>rnisierung e<strong>in</strong>beziehen,um <strong>de</strong>n vollen Nutzen daraus zu ziehen.Die <strong>Kapital</strong>fixierung br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Diskont<strong>in</strong>uität im Geldfluß hervor, die mit <strong>de</strong>r gefor<strong>de</strong>rten Kont<strong>in</strong>uität<strong>de</strong>s Produktionsprozesses auf <strong>in</strong>dividueller wie gesellschaftlicher Ebene im Konfliktsteht. 446 Sehen wir uns die auffälligen Konfliktpunkte näher an.Erstens: Die wachsen<strong>de</strong> Rolle <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s sorgt dafür, dass e<strong>in</strong>e Erweiterung <strong>de</strong>r Produktionnurmehr <strong>in</strong> bestimmten Quanten möglich ist und ebenfalls vorheriges Ansammeln von Geldals "latentes <strong>Kapital</strong>" erfor<strong>de</strong>rt. 447 Die Geldakkumulation begleitet <strong>de</strong>n Verwertungsprozess <strong>de</strong>sfixen <strong>Kapital</strong>s und ist Voraussetzung se<strong>in</strong>er Erneuerung o<strong>de</strong>r Erweiterung. Damit ist aber auchdie Erweiterung <strong>de</strong>s Gesamtkapitals abhängig von <strong>de</strong>r Erweiterung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s mit höchster<strong>Kapital</strong>fixierung, die wir dort f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wo die Produktionsmittel produziert wer<strong>de</strong>n.Zweitens: Je werthaltiger das fixe <strong>Kapital</strong>, <strong>de</strong>sto langfristiger se<strong>in</strong>e Verwertung. Mit <strong>de</strong>r Langfristigkeitwächst das Risiko für moralischen Verschleiß. Neue, leistungsfähigere, vielleicht auch nurpreiswertere Masch<strong>in</strong>en kommen auf <strong>de</strong>n Markt und wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Konkurrenz aufgenommen.Für <strong>de</strong>n eigenen Produktionsprozess, <strong>de</strong>r jetzt mit veralteten und früher teurer e<strong>in</strong>gekauftenMasch<strong>in</strong>en arbeitet, verän<strong>de</strong>rn sich die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen. Solange die neuen Ma-445"Obgleich, wie wir gesehn, e<strong>in</strong> größrer <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s zum Ersatz <strong>de</strong>s Verschleißes <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s zurückfließen<strong>de</strong>n Gel<strong>de</strong>s jährlich, o<strong>de</strong>rselbst <strong>in</strong> kürzern Zeiträumen, wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Naturalform rückverwan<strong>de</strong>lt wird, ist <strong>de</strong>nnoch für je<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten e<strong>in</strong> Amortisationsfondsnötig für <strong>de</strong>n <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>r nur nach Verlaut von Jahren auf e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Reproduktionsterm<strong>in</strong> tritt und dannganz zu ersetzen ist. E<strong>in</strong> be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Bestandteil <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s schließt durch se<strong>in</strong>e Beschaffenheit die stückweise Reproduktion aus.Außer<strong>de</strong>m, wo die Reproduktion stückweis <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Weise geschieht, daß <strong>in</strong> kürzern Intervallen <strong>de</strong>m entwerteten Bestand neuer zugefügtwird, ist je nach <strong>de</strong>m spezifischen Charakter <strong>de</strong>s Produktionszweigs e<strong>in</strong>e vorherige Geldakkumulation von größrem o<strong>de</strong>r ger<strong>in</strong>grem Umfangnötig, bevor dieser Ersatz stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n kann. Nicht je<strong>de</strong> beliebige Geldsumme reicht dazu h<strong>in</strong>, es wird e<strong>in</strong>e Geldsumme von bestimmtemUmfang dazu erheischt." (MEW 24, S.181f)446Nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geburtstun<strong>de</strong>, also vor <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Leben als produktives <strong>Kapital</strong>, zirkuliert das fixe <strong>Kapital</strong> vollständig, als Ware,nämlich wenn es gekauft wird. Masch<strong>in</strong>en, Werkhallen, Hochöfen, Schiffe... sie wer<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Regel vollständig bezahlt, wenn sie dieHän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Produzenten verlassen und <strong>de</strong>m Käufer für die produktive Nutzung übergeben wer<strong>de</strong>n. Ob diese Bezahlung selbst wie<strong>de</strong>r alsKredit um viele Ecken wie beim Leas<strong>in</strong>g o<strong>de</strong>r durch vollständigen Geldtransfer erfolgt, macht für die Verwertung ke<strong>in</strong>en Unterschied. Esschafft nur e<strong>in</strong>e Menge neuer Verwicklungen, wenn es zu Störungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verwertung kommt.Die aus <strong>de</strong>r stofflichen Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s erwachsen<strong>de</strong>n Probleme hat sowohl <strong>de</strong>r Produzent <strong>de</strong>r Arbeitsmittel als auch ihrKonsument zu bewältigen: Für <strong>de</strong>n Produzenten <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s ergeben sich die Probleme aus <strong>de</strong>r großen Differenz von Arbeitsperio<strong>de</strong>und Produktionszeit, die durch hohen <strong>Kapital</strong>vorschuss überbrückt wer<strong>de</strong>n muß. Der Käufer <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s hat die Probleme <strong>de</strong>r langfristigenVerwertung und <strong>de</strong>r zyklischen F<strong>in</strong>anzierung und natürlich die Risiken <strong>de</strong>s moralischen Verschleißes (= Veralterung durch technischenFortschritt) zu tragen.Wer die kapital<strong>in</strong>tensiven Anlagen für an<strong>de</strong>re Produktionsprozesse selbst bei hoher <strong>Kapital</strong>fixierung produziert, hat doppeltes Problem.Daher s<strong>in</strong>d die Unternehmen <strong>de</strong>r Investitionsgüter<strong>in</strong>dustrie nicht nur von strategischer Be<strong>de</strong>utung, son<strong>de</strong>rn bil<strong>de</strong>n auch die beson<strong>de</strong>renProblemzonen je<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Reproduktion. Deshalb wird uns dieser Bereich als wichtige Abteilung 1 <strong>in</strong> M.s Reproduktionsschemanoch beschäftigen.447"Da die Proportionen, wor<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionsprozeß erweiterbar, nicht willkürlich, son<strong>de</strong>rn technisch vorgeschrieben s<strong>in</strong>d, so kann <strong>de</strong>rrealisierte Mehrwert, obgleich zur <strong>Kapital</strong>isierung bestimmt, oft erst durch die Wie<strong>de</strong>rholung verschiedner Kreisläufe zu <strong>de</strong>m Umfang heranwachsen(muß also bis dah<strong>in</strong> aufgehäuft wer<strong>de</strong>n), wor<strong>in</strong> er wirklich als zuschüssiges <strong>Kapital</strong> fungieren o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s prozessieren<strong>de</strong>n<strong>Kapital</strong>werts e<strong>in</strong>gehn kann. Der Mehrwert erstarrt also zum Schatz und bil<strong>de</strong>t <strong>in</strong> dieser Form latentes Geldkapital. Latent, weiles, solange es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldform verharrt, nicht als <strong>Kapital</strong> wirken kann." (MEW 24, S.83)Nehmen wir e<strong>in</strong>e Textilfabrik. E<strong>in</strong> paar weitere Arbeitsplätze irgendwo <strong>in</strong> die Halle zu quetschen, mag mit überschaubarem <strong>Kapital</strong>aufwandmöglich se<strong>in</strong>. Wenn aber e<strong>in</strong> langfristiger Vertrag mit e<strong>in</strong>er Han<strong>de</strong>lskette <strong>de</strong>n Ausbau <strong>de</strong>r Kapazitäten um 30% erfor<strong>de</strong>rt, wird e<strong>in</strong>eneue Halle samt Arbeitsplätzen und Technik erfor<strong>de</strong>rlich. <strong>Das</strong> ist aus <strong>de</strong>m laufen<strong>de</strong>n Wertrückfluß nicht zu f<strong>in</strong>anzieren; da greift man aufKredit zurück. In <strong>de</strong>n Branchen mit hoher <strong>Kapital</strong>fixierung stellen sich die F<strong>in</strong>anzierungsprobleme bei Ausbau o<strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rnisierung nochviel drängen<strong>de</strong>r.215


sch<strong>in</strong>en nur preiswerter s<strong>in</strong>d, wird <strong>de</strong>r Wertverlust durch die niedrigeren Kosten beim späterenErsatz <strong>de</strong>r Arbeitsmittel gem<strong>in</strong><strong>de</strong>rt. Wenn <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r neuen Arbeitsmittel jedoch außer<strong>de</strong>mzu Produktivitätssteigerungen führt, was die Regel ist, kommt es zur Verschärfung <strong>de</strong>r Konkurrenz.Um Schritt zu halten, wer<strong>de</strong>n neue Investitionen erfor<strong>de</strong>rlich.Drittens: Mit längerer Verwertung wächst das Risiko äußerer Störungen, die ähnlich wie <strong>de</strong>r moralischeVerschleiß <strong>de</strong>r Arbeitsmittel die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen verän<strong>de</strong>rn, ja sogar regelrechtumwälzen können. M. bezeichnet solche äußeren Störungen <strong>de</strong>shalb auch als Wertrevolutionen.Wir wer<strong>de</strong>n uns diese beson<strong>de</strong>re Art von Revolution weiter unten von M. noch erläutern lassen.Was auch immer die Ursachen für verän<strong>de</strong>rte Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d: Wenn es dabei zue<strong>in</strong>er Stockung <strong>de</strong>r Verwertung kommt, ist e<strong>in</strong> entsprechend schneller Zufluß von Geldkapitalerfor<strong>de</strong>rlich, um das Problem zu lösen. 448Viertens: Mit wachsen<strong>de</strong>m Anteil an fixem <strong>Kapital</strong> wächst das <strong>Kapital</strong>m<strong>in</strong>imum, das überhauptaufgebracht wer<strong>de</strong>n muß, um <strong>de</strong>n Produktionsprozess <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen. Masch<strong>in</strong>en, Werkhallen,Eisenbahnen, Hochöfen... erfor<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>de</strong>stgröße <strong>de</strong>r Investition, die bei zunehmen<strong>de</strong>rKonzentration <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und wachsen<strong>de</strong>r Technisierung <strong>de</strong>r Produktion noch weiteransteigt. Es wird immer teurer, <strong>Kapital</strong>ist zu wer<strong>de</strong>n.Fünftens: Die Zirkulation <strong>de</strong>s Geldkapitals schwankt beson<strong>de</strong>rs <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Produktionsprozessen, <strong>in</strong><strong>de</strong>nen die Produktionsmittel hergestellt wer<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>rselbe Bereich, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m bei hoher <strong>Kapital</strong>fixierungauch Arbeitsperio<strong>de</strong> und Produktionsperio<strong>de</strong> beson<strong>de</strong>rs stark vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abweichen.Außer<strong>de</strong>m kommt e<strong>in</strong>e schwanken<strong>de</strong> Nachfrage h<strong>in</strong>zu, da ja fixes <strong>Kapital</strong> nicht wie Energieo<strong>de</strong>r Rohstoffe kont<strong>in</strong>uierlich nachgefragt, son<strong>de</strong>rn nur <strong>in</strong> größeren Abstän<strong>de</strong>n ersetzt wird.Die kont<strong>in</strong>uierliche Produktion <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s und damit überhaupt se<strong>in</strong>e periodische Ersetzungund Erweiterung <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Produktionsprozessen wäre ohne das je<strong>de</strong>rzeit vorhan<strong>de</strong>nedisponible Kreditkapital unmöglich.Fassen wir zusammen: Die hohe <strong>Kapital</strong>fixierung br<strong>in</strong>gt diskont<strong>in</strong>uierliche Elemente <strong>in</strong> die Zirkulation<strong>de</strong>s Geldkapitals, die e<strong>in</strong>e ständige Verfügbarkeit von Kredit erfor<strong>de</strong>rt. Wegen <strong>de</strong>r langfristigenVerwertung wächst das Risiko von externen Störungen, <strong>de</strong>ren Bewältigung ebenfalls leichtmobilisierbaren Zufluß von Geldkapital notwendig macht.Wie schon <strong>de</strong>r Akkumulationsprozess führt uns auch die Verwertung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s auf direktemWeg zur Herausbildung e<strong>in</strong>es speziellen Geldverwertungsmarkts, <strong>de</strong>r als Kreditgeber zunächstDienstleistungen für die Unternehmen erbr<strong>in</strong>gt und die regelmäßige Umgestaltung <strong>de</strong>rProduktionsprozesse trotz ihrer hohen <strong>Kapital</strong>fixierung erst <strong>in</strong> <strong>de</strong>r uns bekannten Geschw<strong>in</strong>digkeitermöglicht. Doch es ist ke<strong>in</strong>e harmlose Dienstleistung. Sie verwan<strong>de</strong>lt "die Funktion <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen<strong>Kapital</strong>isten mehr und mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Mono<strong>pol</strong> großer Geldkapitalisten, vere<strong>in</strong>zelter o<strong>de</strong>rassoziierter". 449 Tatsächlich s<strong>in</strong>d es sehr bald die Akteure <strong>de</strong>s Kreditsystems, die <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise ihren unverkennbaren Stempel aufdrücken.448Wie auch immer die Lösung aussieht: Anschaffung neuer Arbeitsmittel, Umstellung o<strong>de</strong>r Verkle<strong>in</strong>erung <strong>de</strong>r Produktion, Abstoßen vonProblembereichen mit Konzentration auf das Kerngeschäft, Fusion mit an<strong>de</strong>ren Unternehmen <strong>in</strong> ähnlicher Lage, Unternehmen verkaufen,Zugeständnisse <strong>de</strong>r Mitarbeiter erpressen, durch Auflösung von Reserven die mehrwertmäßige Trockenzeit überstehen usw.usf. Die Möglichkeitens<strong>in</strong>d zahlreich und die meisten davon erfor<strong>de</strong>rn die Aufnahme von Kreditmitteln. Natürlich müssen die beson<strong>de</strong>rs betroffenen<strong>Kapital</strong>e auch schlicht das Handtuch werfen und Konkurs anmel<strong>de</strong>n.449Über die Zirkulation <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s heißt es bei M.: "Um die Formel <strong>de</strong>s Kreislaufs re<strong>in</strong> zu betrachten, genügt es nicht zu unterstellen,daß die Waren zu ihrem Wert verkauft wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn daß dies unter sonst gleichbleiben<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n geschieht. Nehmenwir z.B. die Form P... P, abgesehn von allen technischen Revolutionen <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Produktionsprozesses, die das produktive <strong>Kapital</strong> e<strong>in</strong>esbestimmten <strong>Kapital</strong>isten entwerten können; abgesehn ebenfalls von allem Rückschlag e<strong>in</strong>es Wechsels <strong>de</strong>r Wertelemente <strong>de</strong>s produktiven<strong>Kapital</strong>s auf <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s vorhandnen Warenkapitals, <strong>de</strong>r gesteigert o<strong>de</strong>r gesenkt wer<strong>de</strong>n kann, wenn Vorrat davon vorhan<strong>de</strong>n. W',216


Schon die Analyse <strong>de</strong>s Akkumulationsprozesses verführte uns dazu, <strong>de</strong>n Zusammenhang vonAkkumulation und Kreditsystem auf anekdotische Weise darzustellen. Sobald wir aber die beson<strong>de</strong>reRolle <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s im Verwertungsprozess berücksichtigen, lugt das Kreditsystemsozusagen an allen Ecken und Kanten hervor. Deshalb und weil wir unsere <strong>Spurensuche</strong> <strong>in</strong>mittene<strong>in</strong>er sogenannten F<strong>in</strong>anzkrise weltweiten Ausmaßes betreiben, haben wir M.s Aufbauplanfür das "<strong>Kapital</strong>" mißachtet, <strong>de</strong>r dieses Thema erst für <strong>de</strong>n 3. Band vorsieht. 450Wir wollten schon an dieser Stelle zeigen, warum das kapitalistische Kreditsystem sich nicht vonaußen wie e<strong>in</strong> Dieb e<strong>in</strong>schleicht, son<strong>de</strong>rn von <strong>in</strong>nen aus <strong>de</strong>r Zirkulation heraus als Mitglied <strong>de</strong>rFamilie <strong>in</strong> die kapitalistische Entwicklung e<strong>in</strong>greift und e<strong>in</strong>greifen mußte. Weil aber M. zumThema Kreditsystem noch mehr zu sagen hat, kommen wir darauf im zweiten <strong>Teil</strong> und <strong>in</strong> <strong>de</strong>nSchlußfolgerungen zu unserer <strong>Spurensuche</strong> zurück. Dort befassen wir uns sogar mit M.s Erklärung<strong>de</strong>r gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise. Die hat er zwar nicht erlebt, aber mit se<strong>in</strong>er Analyse<strong>de</strong>s Kreditsystems hat er Grundlagen gelegt, auf <strong>de</strong>nen auch e<strong>in</strong>e ergiebige Analyse aktuellerProbleme möglich ist.Vergesellschaftung und Gully<strong>de</strong>ckelAls wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Zirkulationsprozess <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>stiegen, formulierten wir e<strong>in</strong>e To-do-Liste fürdas Thema. E<strong>in</strong> Punkt dieser Liste betraf <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktion. Wie kommt M. zu dieser Charakterisierung, wo es sich doch um Warenproduktionprivater, vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängiger Produzenten han<strong>de</strong>lt? Privat und gesellschaftlich - wie passtdas zusammen? Warum spricht er von <strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n Arbeitsteilung als von e<strong>in</strong>er Vergesellschaftung?451 Wir haben diese Fragen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n vorangehen<strong>de</strong>n Kapiteln schon beantwortet, abermehr im allgeme<strong>in</strong>en Gang <strong>de</strong>r Untersuchung, ohne uns auf die To-do-Liste ausdrücklich zu beziehen.Mit <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n anekdotischen Ausflug wollen wir die Fragen endgültig abhaken.Bemühen wir noch e<strong>in</strong>mal unseren Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikanten für e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res Exempel. Wir lassenihn wie<strong>de</strong>r Pionierarbeit tun, die ihm e<strong>in</strong>en großen Batzen an zusätzlichem Gew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>genund se<strong>in</strong>e Konkurrenz das Fürchten lehren soll: Auf neuestem technischen Stand verdoppelt erdie 10000 Pfund Garn, seien zu ihrem Wert von 500 Pfd. St. verkauft; 8440 Pfund = 422 Pfd. St. ersetzen <strong>de</strong>n <strong>in</strong> W' enthaltnen <strong>Kapital</strong>wert.Ist aber <strong>de</strong>r Wert von Baumwolle, Kohle etc. gestiegen (da wir hier von bloßen Preisschwankungen absehn), so reichen vielleichtdiese 422 Pfd. St. nicht h<strong>in</strong>, um die Elemente <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s ganz zu ersetzen; es ist zuschüssiges Geldkapital nötig. Geldkapitalwird gebun<strong>de</strong>n. Umgekehrt, wenn jene Preise gefallen; Geldkapital wird freigesetzt. Ganz normal verläuft <strong>de</strong>r Prozeß nur, wenn die Wertverhältnissekonstant bleiben; er verläuft faktisch, solange sich Störungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>s Kreislaufs ausgleichen; je größer dieStörungen, um so größres Geldkapital muß <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustrielle <strong>Kapital</strong>ist besitzen, um die Ausgleichung abwarten zu können; und da im Fortgang<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion sich die Stufenleiter je<strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen Produktionsprozesses, und mit ihm die M<strong>in</strong>imalgröße <strong>de</strong>s vorzuschießen<strong>de</strong>n<strong>Kapital</strong>s erweitert, so kommt jener Umstand zu <strong>de</strong>n andren, die die Funktion <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>isten mehr und mehr<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Mono<strong>pol</strong> großer Geldkapitalisten, vere<strong>in</strong>zelter o<strong>de</strong>r assoziierter, verwan<strong>de</strong>ln." (MEW 24, S.110f)M. macht auf se<strong>in</strong>e Weise klar, warum er das Kreditsystem erst später behan<strong>de</strong>ln will. Er bleibt se<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ie treu, die Prozesse zunächst <strong>in</strong>re<strong>in</strong>er Form, ohne die H<strong>in</strong>zunahme weitere E<strong>in</strong>flüsse zu analysieren. Allerd<strong>in</strong>gs gel<strong>in</strong>gt es ihm nicht recht. Immer wie<strong>de</strong>r drängt ihn dieBegründung, warum erst die re<strong>in</strong>e Form zu analysieren und von unvermeidlichen Störungen abzusehen habe, genau zur Diskussion dieserunvermeidlichen Störungen. Wir nutzen das, um schon mal Proviant für spätere Debatten zu bunkern.450Ganz unabhängig von <strong>de</strong>r gegenwärtigen Wirtschaftskrise ist vielleicht diese Verdrängung <strong>de</strong>r Kreditfrage <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 3. Band <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zigeMangel im "<strong>Kapital</strong>"-Aufbau.451Vergesellschaftung me<strong>in</strong>t hier nicht die Überführung von Großunternehmen und Banken <strong>in</strong> gesellschaftliches Eigentum. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>ealte, heute lei<strong>de</strong>r von vielen vergessene For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung, die ebenfalls als Vergesellschaftung bezeichnet wird. Diese For<strong>de</strong>rungzielte gera<strong>de</strong> auf die Lösung <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs ab, <strong>de</strong>r sich aus <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>r Produktion bei gleichzeitigerAusrichtung an <strong>de</strong>n bornierten Privat<strong>in</strong>teressen ergibt, die sich wie<strong>de</strong>rum durch ihr privates Eigentum am <strong>Kapital</strong> rechtfertigen.Wir verwen<strong>de</strong>n hier Vergesellschaftung (= gesellschaftlicher Charakter <strong>de</strong>r Produktion) <strong>in</strong> M.s Be<strong>de</strong>utung: Durch tiefe Arbeitsteilung mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rverbun<strong>de</strong>ne Produktionsprozesse. Da diese Produktionsprozesse durch privates <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> privatem Interesse betrieben wer<strong>de</strong>n,entsteht e<strong>in</strong> Konflikt, <strong>de</strong>r standardmäßig <strong>in</strong> <strong>de</strong>r marxistischen Literatur als "Grundwi<strong>de</strong>rspruch zwischen <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Charakter<strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>r privaten Aneignung" bezeichnet wird.217


se<strong>in</strong>e Produktionskapazitäten! Sicher, das fixiert e<strong>in</strong>e Menge se<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s und belastet mit erheblichenZ<strong>in</strong>sleistungen für <strong>de</strong>n aufgenommenen Kredit. Ständige Verwertung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>swird dadurch zu e<strong>in</strong>em unbed<strong>in</strong>gten Muß! <strong>E<strong>in</strong>e</strong> ausreichen<strong>de</strong> Nachfrage an Gully<strong>de</strong>ckelnsche<strong>in</strong>t jedoch gesichert zu se<strong>in</strong>, <strong>de</strong>nn die Städte expandieren und ent<strong>de</strong>cken die Kanalisation.Und für die Verdopplung <strong>de</strong>r Zulieferungen liegen Geld und Zusagen se<strong>in</strong>er Lieferanten vor. Wassollte schief gehen?Von unserem Fabrikanten unbemerkt wer<strong>de</strong>n an an<strong>de</strong>rer Stelle weiter entfernt ebenfalls Kapazitätenausgebaut; nehmen wir an, weil die Nachfrage nach Straßenbahnschienen wächst o<strong>de</strong>raus irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>em an<strong>de</strong>ren Grund. Wenn unser Fabrikant davon wüßte, wür<strong>de</strong> es ihn nicht <strong>in</strong>teressieren,weil das auf <strong>de</strong>n ersten Blick mit se<strong>in</strong>en Gully<strong>de</strong>ckeln nichts zu tun hat. Trotz<strong>de</strong>m bekommter es zu spüren. Denn obwohl weit entfernt, steigert das eben doch die Nachfrage nachRoheisen 452 und Koks und Transportkapazitäten beträchtlich. <strong>Das</strong> verän<strong>de</strong>rt <strong>in</strong> kurzer Zeit diePreise und führt sogar zu plötzlichen Lieferengpässen trotz aller vorher getroffenen Zusagen.Niemand weiß, ob und wann die Produktion von Roheisen und Kohle <strong>de</strong>r gewachsenen Nachfragefolgen kann. Es s<strong>in</strong>d Bereiche mit hoher <strong>Kapital</strong>fixierung und e<strong>in</strong>e Ausweitung braucht Zeitund entsprechen<strong>de</strong> Kapazitäten <strong>de</strong>r Anlagenbauer! <strong>Das</strong>selbe gilt für die Ausweitung <strong>de</strong>r Transportkapazitäten.Plötzlich gerät alles, was <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Jahren zuvor stabil war und worauf die Planungunseres <strong>Kapital</strong>isten beruhte, <strong>in</strong> Bewegung. Verflixte Vernetzung.Mittendr<strong>in</strong> unser Gully-Mann, <strong>de</strong>r hart kämpfen muß, um se<strong>in</strong>e neuen Produktionskapazitätenhalbwegs auszulasten, und <strong>de</strong>r nun zu <strong>de</strong>utlich höheren Preisen produziert als geplant. Er kannse<strong>in</strong>e Anlagen nicht ruhen lassen; Wertrückfluß muß stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n und Z<strong>in</strong>sen müssen bezahltwer<strong>de</strong>n, auch wenn die ursprüngliche Kalkulation bloß noch Makulatur ist. Er hofft, dass es <strong>de</strong>rKonkurrenz ähnlich geht, und er versucht natürlich, die gestiegenen Preise an die Gully<strong>de</strong>ckel-Käufer weiterzureichen. Doch <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Punkt wird ihm bald klar, dass die gestiegenen Preise dieNachfrage s<strong>in</strong>ken lassen, nicht so sehr wegen <strong>de</strong>r gestiegenen Preise, son<strong>de</strong>rn weil sich <strong>in</strong>sgesamt<strong>de</strong>r Bau <strong>de</strong>r Kanalisation nicht mehr im erwarteten Tempo vollziehen läßt. So wird die Auslastung<strong>de</strong>r Gully-Kapazitäten immer schwieriger.Wir wollen unser Gully<strong>de</strong>ckel-Beispiel nicht überstrapazieren. Es soll nur zeigen, dass Investitionennicht immer nach vorn br<strong>in</strong>gen. Im Beispiel reibt sich unser Fabrikant schon die Hän<strong>de</strong>. Re<strong>in</strong>rechnerisch kann er die Konkurrenz erledigen. Aber da er <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>er vernetzten, ihm selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enZusammenhängen unbekannten vergesellschafteten Produktion ist, hat er es mit nichtvorhersehbaren Wirkungen zu tun. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> Vielzahl solcher Störungen ist möglich. In unserm Beispiels<strong>in</strong>d es die gestiegenen Preise für die Zulieferungen und die auftreten<strong>de</strong>n Lieferengpässe,die se<strong>in</strong>e Pläne scheitern lassen. Der geplante Aufstieg unseres Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikanten zumHerrscher auf <strong>de</strong>m Gully<strong>de</strong>ckelmarkt muß zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st verschoben wer<strong>de</strong>n.Aber wir können unserem Beispiel auch e<strong>in</strong>e ironisch-tragische Wendung geben. Denn verglichenmit unserem Fabrikanten, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Folgen se<strong>in</strong>er Groß<strong>in</strong>vestition belastet ist, steht se<strong>in</strong>etechnisch (noch) rückschrittliche Konkurrenz <strong>in</strong> dieser Situation sogar besser da als <strong>de</strong>r MöchtegernGully-K<strong>in</strong>g. Ihre Anlagen s<strong>in</strong>d alt, aber dafür schon vollständig bezahlt. Der Druck hoherKreditz<strong>in</strong>sen fehlt und das erlaubt flexibles Han<strong>de</strong>ln. Vielleicht gel<strong>in</strong>gt es <strong>de</strong>r rückständigen Kon-452Wir geben unseren anekdotischen Gully<strong>de</strong>ckel-Ausflügen bewußt diesen leicht skurrilen Touch. Schließlich han<strong>de</strong>lt es sich nicht umNacherzählung wirklicher Ereignisse, son<strong>de</strong>rn um Veranschaulichung unserer strukturellen Analyse. Hier sche<strong>in</strong>t es aber angebracht daraufzu verweisen, dass tatsächlich lange Zeit Eisenschienen im Bau früher, durch Pfer<strong>de</strong> bewegter Straßenbahnen verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n. Sogar imenglischen Eisenbahnbau g<strong>in</strong>g man erst En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 1860er Jahre schrittweise zu Stahlschienen über, die zwar teurer, dafür aber auch haltbarerwaren. Auch solche Details f<strong>in</strong><strong>de</strong>t man übrigens im "<strong>Kapital</strong>" (MEW 24, S.170).218


kurrenz sogar, <strong>de</strong>m Absatz unseres Durchstarters, <strong>de</strong>ssen Spielraum so eng gewor<strong>de</strong>n ist, durchkurzfristige Dump<strong>in</strong>gpreise e<strong>in</strong>en Schlag zu versetzen und ihn damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Liquiditätskrise undletztlich <strong>in</strong> die Insolvenz zu manövrieren. That's (capitalistic) life!Es wäre nicht das erste Mal <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wirtschaftsgeschichte, dass es e<strong>in</strong>en Pionier mitten im Angriffkalt erwischt, weil am ganz an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Systems etwas Unvorhergesehenes passiert unddie rückständige Konkurrenz sich <strong>de</strong>n technischen Fortschritt e<strong>in</strong>es abgestürzten Überfliegerspreiswert e<strong>in</strong>verleibt. 453Der anekdotische Ausflug sollte uns die vernetzten Produktions- und Verwertungsprozesse veranschaulichen.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Än<strong>de</strong>rung an beliebiger Stelle führt zu Än<strong>de</strong>rungen an an<strong>de</strong>ren Stellen, <strong>de</strong>renZusammenhang ke<strong>in</strong>eswegs offensichtlich se<strong>in</strong> muß. Wir könnten das Beispiel an<strong>de</strong>rs gestalten:Gesetzt, mehrere Gully<strong>de</strong>ckel-Unternehmer haben zur gleichen Zeit im großen Stil per Kredit <strong>in</strong>vestiertund wer<strong>de</strong>n jetzt gleichermaßen durch die Unmöglichkeit getroffen, diese Kapazitätenauszulasten, sei es wegen fehlen<strong>de</strong>r Zulieferungen o<strong>de</strong>r wegen <strong>de</strong>r entstan<strong>de</strong>nen Überproduktion.Die Kredite platzen, die Unternehmen stellen ihre Tätigkeit e<strong>in</strong>. Mitarbeiter wer<strong>de</strong>n entlassenund die Zulieferer <strong>de</strong>r Pleitegänger bleiben auf ihren Waren sitzen, schränken ebenfalls die Produktione<strong>in</strong> und entlassen Mitarbeiter. Die Kreditgeber verlieren ihr Geld; sie schränken die Kreditvergabee<strong>in</strong> o<strong>de</strong>r verschärfen die Bed<strong>in</strong>gungen. So kommt e<strong>in</strong>es zum an<strong>de</strong>ren und wir nennendas Ergebnis e<strong>in</strong>e Krise. Die Krise <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Automobil<strong>in</strong>dustrie 2008/2009 ist e<strong>in</strong> schönes Beispieldafür, wenn auch die wirklichen Zusammenhänge dort, verglichen mit unserem Beispiel,noch sehr viel vernetzter s<strong>in</strong>d.<strong>Das</strong> hohe Maß <strong>de</strong>r Arbeitsteilung und Vernetzung, die tatsächlichen Abhängigkeiten <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen<strong>Kapital</strong>e <strong>in</strong> Produktion und Verwertung vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, kurz: Die hohe Vergesellschaftungo<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gesellschaftliche Charakter <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion tritt beson<strong>de</strong>rs dann <strong>in</strong>sLicht, wenn sche<strong>in</strong>bar kle<strong>in</strong>e Störungen sich zu wirklichen Krisen auswachsen und sich die Akteureverwun<strong>de</strong>rt die Augen reiben.453M. kannte diesen Zusammenhang zu se<strong>in</strong>er Zeit ebenso gut wie viele <strong>de</strong>r erst gestreichelten, dann gestrauchelten Hightech-Unternehmen unserer Zeit, die das am eigenen Leib erfahren mußten. Technische Pioniertaten scheitern nämlich sehr oft, wie M. schreibt,an <strong>de</strong>n "viel größern Kosten, womit überhaupt e<strong>in</strong> auf neuen Erf<strong>in</strong>dungen beruhen<strong>de</strong>s Etablissement betrieben wird, verglichen mit <strong>de</strong>nspätern, auf se<strong>in</strong>en Ru<strong>in</strong>en, ex suis ossibus (= wörtlich: aus se<strong>in</strong>en Knochen) aufsteigen<strong>de</strong>n Etablissements. Dies geht so weit, daß dieersten Unternehmer meist Bankrott machen und erst die spätern, <strong>in</strong> <strong>de</strong>ren Hand Gebäu<strong>de</strong>, Masch<strong>in</strong>erie etc. wohlfeiler kommen, florieren.Es ist daher meist die wertloseste und miserabelste Sorte von Geldkapitalisten, die aus allen neuen Entwicklungen <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Arbeit<strong>de</strong>s menschlichen Geistes und ihrer gesellschaftlichen Anwendung durch komb<strong>in</strong>ierte Arbeit <strong>de</strong>n größten Profit zieht." (MEW 25, S.114)<strong>Das</strong> beschreibt ziemlich genau <strong>de</strong>n Mechanismus sogenannten "Grün<strong>de</strong>rkapitals" o<strong>de</strong>r "Risikokapitals", bei <strong>de</strong>m das ganze Risiko <strong>de</strong>rGeldkapitalisten dar<strong>in</strong> besteht, e<strong>in</strong> bißchen Geld hier und da zu verlieren, sofern nicht sogar <strong>de</strong>r Steuervorteil auch diese Verluste ausgleicht.Aber die Chance ist groß, dabei e<strong>in</strong>en Treffer zu lan<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m man sich <strong>de</strong>n Erf<strong>in</strong>dungsreichtum <strong>de</strong>r Erf<strong>in</strong><strong>de</strong>r preiswert aneignen,<strong>de</strong>n Wohltäter spielen und e<strong>in</strong> Vielfaches verdienen kann. O<strong>de</strong>r es s<strong>in</strong>d Private Equity Funds, die sich als <strong>Kapital</strong>geber <strong>de</strong>n Firmenandienen, die nicht trotz, son<strong>de</strong>rn wegen ihrer Innovationen regelmäßig <strong>in</strong> F<strong>in</strong>anzierungsnöte geraten. So ist es auch hier wie<strong>de</strong>r die "miserabelsteSorte von Geldkapitalisten", die sich technischen Fortschritt preiswert aneignet und für sich ausschlachtet.454Frühzeitige Dressur auf "Investor": Die paar Krümel geben dir das Gefühl, am ständigen Festmahl <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten teilzunehmen.Die Beilage <strong>de</strong>r WAZ Mediengrupp, Auflage 1 Mio. Exemplare, trägt die Handschrift <strong>de</strong>r Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und wur<strong>de</strong>gewiß <strong>in</strong> voller Absicht im März 2009 <strong>in</strong>mitten <strong>de</strong>r Krise <strong>in</strong> die Haushalte geworfen. Der Untertitel "Chancen jetzt nutzen" verharmlostnicht nur die Schwere und die Folgen <strong>de</strong>r Krise, son<strong>de</strong>rn will die Opfer als Spargroschenbesitzer auch noch <strong>in</strong>s Beiboot <strong>de</strong>r Krisengew<strong>in</strong>nlerholen und zu Mittätern machen.Da wird empfohlen, <strong>de</strong>m Enkel e<strong>in</strong> Tagesgeldkonto "als gutes Übungsfeld" e<strong>in</strong>zurichten. Wegen <strong>de</strong>r wechseln<strong>de</strong>n Z<strong>in</strong>sen "heißt es fürIhren Enkel: Augen auf, um <strong>de</strong>n Zeitpunkt nicht zu verpassen, das Investment auf e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res Geld<strong>in</strong>stitut umzuschichten." Wird mandurch Opas Rentenabzwack zum Investor? Propaganda im Graubereich <strong>de</strong>s Absur<strong>de</strong>n.219


Kapitel 15: H<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die KriseWir wen<strong>de</strong>n uns erstmals <strong>de</strong>n kapitalistischen Krisen zu, die kurioserweise Folgen <strong>de</strong>sÜberflusses und daher eigentlich überflüssige Krisen s<strong>in</strong>d. Doch im Zusammenspielvon <strong>Kapital</strong>fixierung und Wertrevolutionen br<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r Überfluß immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nzeitweiligen Mangel hervor.Die Verflechtung <strong>de</strong>r Verwertungsprozesse muß sich gleichzeitig als stoffliche Verflechtung<strong>de</strong>r Arbeitsprozesse bewähren. So geraten Verwertung und Produktion <strong>in</strong>steten Konflikt und erzeugen <strong>de</strong>struktive Rückkopplungen für das Gesamtkapital, diewir als ökonomische Krisen erleben.Verkörperter Wi<strong>de</strong>rspruchAls sich 2008 schon die zweite kapitalistische Krise im neuen Jahrtausend über die Welt ausbreiteteund als <strong>de</strong>utlich wur<strong>de</strong>, dass es diesmal tiefer gehen und länger dauern wür<strong>de</strong> als <strong>in</strong> <strong>de</strong>rsogenannten DotCom-Krise, mit <strong>de</strong>r das neue Jahrtausend begrüßt wur<strong>de</strong>, entfaltete die Wirtschaftspressedichterisches Talent. Da war plötzlich wie im alten Testament <strong>de</strong>r Bibel von <strong>de</strong>nsieben mageren und <strong>de</strong>n sieben fetten Jahren die Re<strong>de</strong>. Damit will man die Abfolge von Kriseund Konjunktur zu e<strong>in</strong>er Art Konstante <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens machen, die seit Anbeg<strong>in</strong>n<strong>de</strong>r Zeiten gültig sei. Dabei knüpft man raff<strong>in</strong>iert an die folkloristischen Überzeugungen an: GuteZeiten, schlechte Zeiten; auf Regen folgt Sonne; wie gewonnen so zerronnen und so weiter.Aber zur Beschreibung kapitalistischer Krisen ist die Metapher von <strong>de</strong>n fetten und mageren Jahrenwirklich schlecht gewählt. Gewiß, seit <strong>de</strong>n biblischen Zeiten bis zur Geburtsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismuswaren die mageren Jahre wirklich mager. Sie entstan<strong>de</strong>n durch wirklichen Mangel nachMißernten, nach Kriegen o<strong>de</strong>r Epi<strong>de</strong>mien. 455 Mit <strong>de</strong>m Machtantritt <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweiseän<strong>de</strong>rt sich das. Der Reichtum <strong>de</strong>r Gesellschaft wächst. Im wachsen<strong>de</strong>n Reichtum f<strong>in</strong><strong>de</strong>ndie Krisen ihren eigenen Rhythmus und zeigen sich - als Krisen aus Überfluß! In <strong>de</strong>r kapitalistischenKrise f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir unser zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r <strong>Spurensuche</strong> schon verwen<strong>de</strong>tes Bild wie<strong>de</strong>r: Diegefüllten Warenlager auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite, die Menschen ohne Geld auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite. 456455Es hat auch schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zeit vor <strong>de</strong>m Fabrikkapitalismus <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Übergangsperio<strong>de</strong> zur heute herrschen<strong>de</strong>n Produktionsweise Krisenbeson<strong>de</strong>rer Art gegeben, die nicht auf Mißernten o<strong>de</strong>r Epi<strong>de</strong>mien o<strong>de</strong>r Kriegsfolgen zurückg<strong>in</strong>gen. Die große Tulpenspekulation von 1637haben wir bereits erwähnt. Diese Krisen entsprangen aber nicht <strong>de</strong>n Bewegungen <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s, das <strong>in</strong> dieser Phase, vor <strong>de</strong>mFabrikkapitalismus, noch gar ke<strong>in</strong>e Wirkung entfalten konnte. Es war Bewegung von Geld, das hauptsächlich aus <strong>de</strong>m Landbesitz und<strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l, nur zu ger<strong>in</strong>gem Anteil aus <strong>de</strong>m Kle<strong>in</strong>gewerbe stammte und sich <strong>in</strong> diversen Projekten zu vermehren suchte. <strong>Das</strong> reichte von<strong>de</strong>r eher skurrilen Tulpenspekulation über die Südsee-Spekulation Anfang <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>in</strong> England bis h<strong>in</strong> zu diversen Kanalbauprojekten.<strong>Das</strong> alles waren aber ke<strong>in</strong>e Krisen <strong>in</strong> unserem S<strong>in</strong>ne. <strong>Das</strong> waren e<strong>in</strong>zelne Spekulationen, die durch äußere Ereignisse stimuliert wur<strong>de</strong>n.Der Südseeschw<strong>in</strong><strong>de</strong>l war e<strong>in</strong> Instrument, um durch <strong>de</strong>n massenweisen Verkauf von Aktien auf später zu grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Südseegeschäfte <strong>de</strong>nenglischen Staat mit Geld für <strong>de</strong>n Krieg gegen Frankreich zu versorgen. (Etwas ähnliches hatte man <strong>in</strong> Frankreich zuvor schon aufgezogen,was später als Mississippi-Schw<strong>in</strong><strong>de</strong>l <strong>in</strong> die Geschichte <strong>de</strong>r Spekulation e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g.)Ab 1825 übernimmt die Verwertung <strong>de</strong>s produktiven <strong>Kapital</strong>s die Regie auch über die Krisen, die danach ihrem eigenen Zyklus folgen undihre eigenen begleiten<strong>de</strong>n Spekulationsblasen hervorbr<strong>in</strong>gen.456Von <strong>de</strong>r zweiten Weltwirtschaftskrise 1929 s<strong>in</strong>d uns e<strong>in</strong>e Reihe kultureller Metaphern überliefert wor<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Bil<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>n meistenMenschen vor Augen treten, wenn von Wirtschaftskrisen gesprochen wird, auch wenn sie über die Ereignisse selbst wenig wissen. Werhätte nicht schon von <strong>de</strong>n verzweifelten Bankiers und F<strong>in</strong>anziers gehört, die sich aus <strong>de</strong>n Wolkenkratzern <strong>de</strong>r Wallstreet <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Tod stürzten?(Ihre Zahl ist unbekannt, und wenn es überhaupt welche gegeben hat, ist ihre Zahl ger<strong>in</strong>g.) Wer wüßte nichts vom "Schwarzen Freitag",<strong>de</strong>r am 24.10.1929, an e<strong>in</strong>em Donnerstag, <strong>in</strong> New York zu panikartigen Szenen vor <strong>de</strong>n geschlossenen Banktoren führte. (Sehr, sehrviel mehr Kle<strong>in</strong>anleger als Bankiers haben Totalverlust erlitten und viele von ihnen haben tatsächlich aus Verzweiflung Selbstmord begangen.)Wohl kaum die Furcht vor Massenselbstmord <strong>in</strong> Bankerkreisen, aber <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong> Zusammenbruch <strong>de</strong>s Kreditsystems und die Furchtvor Bürgerpanik <strong>in</strong>spirierten offenbar <strong>de</strong>n Bankenrettungsplan <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung und die Sicherungszusage für alle Spare<strong>in</strong>lagen En<strong>de</strong>2008. Die Furcht vor panikartigen Szenen war nicht grundlos: Wie im August 2009 die Europäische Zentralbank mitteilte, habe im Euro-220


Weil sich dar<strong>in</strong> Überfluß und Mangel vere<strong>in</strong>en, betrachteten M. und E. diese neuartigen Krisen<strong>de</strong>r neuen Produktionsweise schon im "Kommunistischen Manifest" von 1848 als sichtbarsteVerkörperung ihrer <strong>in</strong>neren Wi<strong>de</strong>rsprüche.Lektüre: Karl Marx / Friedrich Engels: S.326Seit <strong>de</strong>r ersten zyklischen Überproduktionskrise <strong>in</strong> England 1825 s<strong>in</strong>d Krisen die getreuen Wegbegleiter<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise. 457 Sie treffen mit <strong>de</strong>rselben Vorhersehbarkeit e<strong>in</strong>wie Züge <strong>de</strong>r Deutschen Bahn. Man weiß genau, dass sie kommen, aber nicht genau wann. Bei<strong>de</strong>r Deutschen Bahn wissen wir vorher nicht, ob es sich nur um e<strong>in</strong>e kurze Verspätung han<strong>de</strong>lto<strong>de</strong>r ob auch alle Anschlüssen verloren gehen o<strong>de</strong>r gar <strong>de</strong>r ganze Fahrplan purzelt. Für diekommen<strong>de</strong> Krise ahnen wir Ausmaß und Tiefe nicht: E<strong>in</strong> kurzer Schock? <strong>E<strong>in</strong>e</strong> kle<strong>in</strong>e Delle? O<strong>de</strong>rPleitenwelle mit steilem Anstieg <strong>de</strong>r Massenarbeitslosigkeit und mehrjähriger Rezession?Im "Kommunistischen Manifest" wird <strong>de</strong>r offensichtliche Wi<strong>de</strong>rs<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r kapitalistischen Krisebeschrieben. Jetzt sehen wir uns an, welche weiteren Erkenntnisse M. 20 Jahre nach <strong>de</strong>m "Manifest"gewonnen hat. Jetzt geht es darum, die Entstehung <strong>de</strong>r Krisen aus <strong>de</strong>r Struktur <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise zu erklären.Wir glauben genau wie M. von vornhere<strong>in</strong> nicht daran, dass Krisen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Dummheit o<strong>de</strong>r Habgier<strong>de</strong>r Akteure ihre Ursachen haben. Dummheit und Habgier und das ganze psychologischeProfil <strong>de</strong>r Akteure spielen hier dieselbe Rolle wie <strong>in</strong> allen an<strong>de</strong>ren von uns schon behan<strong>de</strong>ltenFragen. Es entschei<strong>de</strong>t mit, wenn sich Verlierer und Gew<strong>in</strong>ner von e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r schei<strong>de</strong>n; und das istbeson<strong>de</strong>rs <strong>in</strong> Krisenzeiten <strong>de</strong>r Fall. 458Raum nach <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>r Investmentbank Lehman Brothers am 15.9.2008 die Nachfrage nach Bargeld schlagartig um 15%zugenommen. Ohne die gut gefüllten Bankautomaten hätte es leicht zu Warteschlangen an <strong>de</strong>n Kassenschaltern, zu Bargeldmangel unddamit zu ähnlichen Szenen wie 1929 <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA kommen können.Zum an<strong>de</strong>ren überliefert uns die Krise von 1929 die Bil<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Suppenküchen für die Arbeitslosen auf offener Straße im reichen NewYork und von <strong>de</strong>r Vernichtung wertvoller Lebensmittel bei gleichzeitigem Nahrungsmangel. <strong>Das</strong> Bild <strong>de</strong>r Krisenopfer <strong>in</strong> <strong>de</strong>nWochenschaun, die für e<strong>in</strong>en Hungerlohn Weizen <strong>in</strong>s Feuer schaufeln mußten, um <strong>de</strong>r Börse <strong>de</strong>n Weizenpreis zu halten, g<strong>in</strong>gen um dieWelt.Diese Zeugnisse <strong>de</strong>s systemischen Irrs<strong>in</strong>ns <strong>in</strong>spirierten die "Balla<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Säckeschmeißern", e<strong>in</strong> von Hanns Eisler vertontes Lied, dasAnfang <strong>de</strong>r 1930er Jahre <strong>in</strong> Deutschland populär war.457Im Vorwort zur französischen Ausgabe <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" betont M. diesen Punkt. Er schreibt: "Aber erst von <strong>de</strong>r Zeit an, als die mechanischeIndustrie so tiefe Wurzeln geschlagen hatte, daß sie auf die ganze nationale Produktion e<strong>in</strong>en überwiegen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>fluß ausübte; alsdurch sie <strong>de</strong>r Außenhan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>m B<strong>in</strong>nenhan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>n Rang abzulaufen begann; als sich <strong>de</strong>r Weltmarkt sukzessive ausge<strong>de</strong>hnter Gebiete <strong>in</strong><strong>de</strong>r neuen Welt, <strong>in</strong> Asien und <strong>in</strong> Australien bemächtigte; als schließlich die <strong>in</strong>dustriellen Nationen, die auf die Arena traten, zahlreich genuggewor<strong>de</strong>n waren – erst von dieser Zeit an datierten jene sich stets wie<strong>de</strong>rerzeugen<strong>de</strong>n Zyklen, <strong>de</strong>ren aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong> PhasenJahre umfassen und die immer h<strong>in</strong>auslaufen auf e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Krise, die En<strong>de</strong> e<strong>in</strong>es Zyklus und Ausgangspunkt e<strong>in</strong>es neuen ist. Bis jetztist die periodische Dauer solcher Zyklen zehn o<strong>de</strong>r elf Jahre, aber es gibt ke<strong>in</strong>erlei Grund, diese Zahl als konstant zu betrachten. Im Gegenteil,aus <strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion, wie wir sie eben entwickelt haben, muß man schließen, daß sie variabel ist und daßdie Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zyklen sich stufenweise verkürzen wird." (MEW 23, S.662 Anmerkung)458Banker und Investoren s<strong>in</strong>d immer habgierig. Sie wollen immer soviel wie eben möglich. Deswegen s<strong>in</strong>d sie ja Banker und Investorengewor<strong>de</strong>n und vor allem geblieben. Habgier herrscht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konjunktur wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Rezession. Sie herrscht vor, während und nach je<strong>de</strong>rKrise. Nur bil<strong>de</strong>n sich bisweilen Situationen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die Habgier beson<strong>de</strong>rs rast. Aber auch das ist dann ke<strong>in</strong>e Sache, die sich mit <strong>de</strong>mmoralischen Zeigef<strong>in</strong>ger lösen ließe. Vielmehr ist zu fragen, wodurch immer wie<strong>de</strong>r Situationen hervorgebracht wer<strong>de</strong>n, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die Habgierbeson<strong>de</strong>rs gut ge<strong>de</strong>iht.<strong>Das</strong> ist unser übliches Standardprogramm: Vom Verhalten ausgehend richten wir mit M. unseren Blick auf die Verhältnisse, die das Verhaltenerst ermöglichen. <strong>Das</strong> Verhalten <strong>de</strong>r Akteure wird <strong>de</strong>shalb nicht unwichtig. Ohne <strong>de</strong>m gäbe es nichts, worüber wir hier schreiben könnten.Aber die Akteure erf<strong>in</strong><strong>de</strong>n ihr Verhalten schließlich nicht. Sie folgen <strong>de</strong>n Vorgaben und Erwartungen e<strong>in</strong>es fest <strong>in</strong>stallierten ökonomischenund darauf sich aufbauen<strong>de</strong>n sozialen Systems. Tun sie das nicht, erfüllen sie nicht die Erwartungen z.B. nach m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens gleicherRendite wie <strong>de</strong>r Konkurrent, hören sie auf, Akteure im System zu se<strong>in</strong>.Was bei unbekümmerter Betrachtung als Ursache e<strong>in</strong>er Krise ersche<strong>in</strong>en mag, die Maßlosigkeit, das Gew<strong>in</strong>nstreben, die Habgier, die Risikosuchtusw., steht selbst <strong>in</strong> Abhängigkeit von <strong>de</strong>n Verhältnissen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen gehan<strong>de</strong>lt wird.221


Gibt es überhaupt so etwas wie e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Ursprung <strong>de</strong>r Krisen? Schließlich kommenKrisen nicht durch Klonung irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er kapitalistischen Musterkrise zur Welt, son<strong>de</strong>rn entstehenimmer neu zu verschie<strong>de</strong>nen Zeiten an verschie<strong>de</strong>nen Orten auf ihre eigene Weise. Je<strong>de</strong> hat unverwechselbareMerkmale und ihre eigene Geschichte. Schon die Krisen <strong>de</strong>s englischen Freihan<strong>de</strong>lskapitalismuszu M.s Zeit unterschie<strong>de</strong>n sich vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich nach Entstehung, Tiefe undWirkung. M. selbst spricht von Han<strong>de</strong>ls- und Kreditkrisen, von Baumwollkrisen und e<strong>in</strong>er Krise<strong>de</strong>s Schiffbaus o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>er Eisenbahnkrise. Wir hören heute von Spekulationsblasen und Strukturkrisen.Es wer<strong>de</strong>n Rezessionen öffentlich verkün<strong>de</strong>t, wenn das Brutto<strong>in</strong>landsprodukt 459 dreiQuartale h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>kt. Und wir re<strong>de</strong>n von Weltwirtschaftskrisen, wenn solche Rezessionen<strong>in</strong> vielen Län<strong>de</strong>rn gleichzeitig auftreten.Je<strong>de</strong> Krise läßt sich im E<strong>in</strong>zelnen untersuchen. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 hat Bibliothekenneuer Bücher hervorgebracht. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise hat <strong>in</strong> kurzer Zeit (sobaldman sich offiziell auf ihre Existenz gee<strong>in</strong>igt hatte) e<strong>in</strong>e ganz eigene Überproduktion auf <strong>de</strong>mBuchmarkt stimuliert. So <strong>in</strong>teressant es wäre, dabei mitzumischen: Beim gegenwärtigen Standunserer <strong>Spurensuche</strong> müssen wir beschei<strong>de</strong>ner se<strong>in</strong>. In <strong>de</strong>n nächsten Kapiteln geht es erstmaldarum, M.s H<strong>in</strong>weise auf <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r Krisen zusammenzustellen und zu prüfen.Dem ist e<strong>in</strong>e schlechte und e<strong>in</strong>e gute Nachricht voran zu schicken. Die schlechte: M. hat im"<strong>Kapital</strong>" ke<strong>in</strong> eigenes Kapitel h<strong>in</strong>terlassen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m er so etwas wie e<strong>in</strong>e Krisentheorie formulierthätte. Die gute Nachricht: Möglicherweise schien ihm das ähnlich überflüssig zu se<strong>in</strong> wie e<strong>in</strong> eigenesKapitel zur Werttheorie. Wir haben bereits M.s Rüffel an se<strong>in</strong>e Kritiker <strong>in</strong> dieser Frage gehört.Inhalt: Warum e<strong>in</strong> eigenes Kapitel zur Werttheorie? <strong>Das</strong> ganze "<strong>Kapital</strong>" han<strong>de</strong>lt doch davon.Ganz ähnlich verhält es sich wohl <strong>in</strong> Sachen Krise. An allen Ecken und En<strong>de</strong>n schaut siehervor und M. h<strong>in</strong>terläßt uns gera<strong>de</strong> auch im 2. Band e<strong>in</strong>e Menge an Ergebnissen zu diesemThema, die wir für spätere Verwendung zusammenfassen.Wertrevolution, <strong>Kapital</strong>fixierung und SpekulationAls wir das Schema für die Kreislaufbewegung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s diskutierten, s<strong>in</strong>d wir M. gefolgt undhaben dafür normale Verwertung unter gleichbleiben<strong>de</strong>n technologischen und Preisbed<strong>in</strong>gungenunterstellt. 460 Diese Annahme war vernünftig, um erst e<strong>in</strong>mal die grundlegen<strong>de</strong>n Zusammenhängezu klären. Jetzt müssen wir allerd<strong>in</strong>gs frühere Ergebnisse e<strong>in</strong>beziehen, <strong>in</strong>sbeson<strong>de</strong>redie zentrale Rolle <strong>de</strong>r Konkurrenz und <strong>de</strong>s Verwertungszwangs, die sich aus unseren Erkenntnissenzu Mehrwert und Akkumulation ergeben. Gleichbleiben<strong>de</strong> Bed<strong>in</strong>gungen, so etwas wie e<strong>in</strong>enormale Verwertung, können wir dann vergessen. Tatsächlich än<strong>de</strong>rn sich die Verwertungsbe-Und er<strong>in</strong>nern wir uns auch daran: Selbst wenn alle Akteure kurz vor <strong>de</strong>r Seligsprechung stün<strong>de</strong>n, wür<strong>de</strong> es <strong>de</strong>nnoch Verwertungszwangund Konkurrenz geben – o<strong>de</strong>r es müßte zuvor (gruseliger Gedanke) doch über Alternativen gesprochen und vor allem: gehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n,um e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res ökonomisches System zu <strong>in</strong>stallieren.459<strong>Das</strong> Brutto<strong>in</strong>landsprodukt, auch BIP genannt, erfaßt alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wirtschafts- und Zeitraum produzierten Waren sowie alle erbrachtenDienstleistungen, bere<strong>in</strong>igt um die Vorleistungen (das s<strong>in</strong>d die produktiv konsumierten Zulieferungen und Dienstleistungen zwischen <strong>de</strong>nUnternehmen) und um die Importe. <strong>Das</strong> BIP gilt als Maß für die Wirtschaftsstärke e<strong>in</strong>es Staates o<strong>de</strong>r Wirtschaftsraums und wird <strong>in</strong>Deutschland regelmäßig vom Statistischen Bun<strong>de</strong>samt als <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erhoben und veröffentlicht. E<strong>in</strong>Abs<strong>in</strong>ken <strong>de</strong>s BIP m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens <strong>in</strong> drei aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Quartalen wird als Rezession bezeichnet.460Die Annahme gleichbleiben<strong>de</strong>r Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen für <strong>de</strong>n Kreislaufprozess formuliert M. so: "Da wir es hier zunächst mit <strong>de</strong>rbloßen Bewegungsform zu tun haben, wer<strong>de</strong>n die Revolutionen nicht berücksichtigt, die <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>wert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kreislaufsprozeß erlei<strong>de</strong>nkann; aber es ist klar, daß trotz aller Wertrevolutionen die kapitalistische Produktion nur solange existiert und fortexistieren kann, als<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>wert verwertet wird, d.h. als verselbständigter Wert se<strong>in</strong>en Kreislaufsprozeß beschreibt, solange also die Wertrevolutionen <strong>in</strong>irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Art überwältigt und ausgeglichen wer<strong>de</strong>n." (MEW 24, S.109)222


d<strong>in</strong>gungen beständig und periodische Krisen, Stockungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s mitunterschiedlicher Reichweite, s<strong>in</strong>d die Folge; unser Gully-Mann könnte e<strong>in</strong> Lied davon s<strong>in</strong>gen.M. bezeichnet solche plötzlichen Verän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen als Wertrevolutionen461 ; das ist die Krise von ihrem Ursprung her gesehen. An<strong>de</strong>rs gesagt: Alle ökonomischenKrisen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise wurzeln <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Umwälzung <strong>de</strong>r Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen.Wenn wir uns fragen, was die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen so anfällig macht, müssenwir zuerst auf das fixe <strong>Kapital</strong> zurückkommen, <strong>de</strong>ssen Wachstum e<strong>in</strong>e ebenso vorantreiben<strong>de</strong>wie wi<strong>de</strong>rsprüchliche Rolle spielt.Mit <strong>de</strong>m fixen <strong>Kapital</strong> haben wir e<strong>in</strong> Verzögerungs- und Risikoelement im Verwertungsprozess.Es ist die Form <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, die <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al je<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>m Geldkapital, am entferntestenist. Es kann sich nicht e<strong>in</strong>fach zu Geld verflüssigen und an an<strong>de</strong>rer Stelle mit neuer Verwertungbeg<strong>in</strong>nen. Mag man bei stocken<strong>de</strong>m Absatz die Produktion zurückfahren und Beschäftigte entlassen.Auch die Zulieferung <strong>de</strong>s zirkulieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s kann man stoppen. Man kann vorübergehenddas gesamte Unternehmen <strong>in</strong> Betriebsferien schicken o<strong>de</strong>r sogar e<strong>in</strong>motten. 462 <strong>Das</strong> fixierte<strong>Kapital</strong> drängt weiter auf Verwertung. Die Gefahr wächst, <strong>de</strong>n fixierten Wert ganz o<strong>de</strong>rteilweise zu verlieren, wenn man se<strong>in</strong>e Verwertungszeit weiter <strong>in</strong> die Zukunft verschiebenmuß. 463Je<strong>de</strong>r "anormale Verlauf", je<strong>de</strong> Störung <strong>de</strong>s verwobenen Netzes, gleich an welcher Stelle, trifftdas <strong>Kapital</strong> mit hoher Fixierung daher härter. Je höher die <strong>Kapital</strong>fixierung, <strong>de</strong>sto größer das Krisenpotential.<strong>Das</strong> halten wir schon mal fest und fragen weiter: Was s<strong>in</strong>d das für Störungen, diezu Wertrevolutionen führen und die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen umwälzen können?M. rückt vor allem Wertrevolutionen durch technologische Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. Grundlage dieser Wertrevolutionen ist die "beständige Umwälzung <strong>de</strong>rProduktionsmittel, die ebenfalls mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise beständigzunimmt". 464 <strong>Das</strong> ist dieselbe Kraft, die auch die Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts an-461"Erlei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r gesellschaftliche <strong>Kapital</strong>wert e<strong>in</strong>e Wertrevolution, so kann es vorkommen, daß se<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles <strong>Kapital</strong> ihr erliegt unduntergeht, weil es die Bed<strong>in</strong>gungen dieser Wertbewegung nicht erfüllen kann. Je akuter und häufiger die Wertrevolutionen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>stomehr macht sich die automatische, mit <strong>de</strong>r Gewalt e<strong>in</strong>es elementaren Naturprozesses wirken<strong>de</strong> Bewegung <strong>de</strong>s verselbständigten Wertsgeltend gegenüber <strong>de</strong>r Voraussicht und Berechnung <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>sto mehr wird <strong>de</strong>r Lauf <strong>de</strong>r normalen Produktion untertan<strong>de</strong>r anormalen Spekulation, <strong>de</strong>sto größer wird die Gefahr für die Existenz <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>zelkapitale." (MEW 24, S.109) Was es mit <strong>de</strong>r"anormalen Spekulation" auf sich hat, wird sich schon bald aufklären.462Hier sehen wir schon, wie alle Rettungsaktionen, die das <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong> für sich selbst im Falle stocken<strong>de</strong>r Verwertung ergreift,sich sofort als Verwertungskrise an<strong>de</strong>rer <strong>Kapital</strong>e fortsetzen. Da s<strong>in</strong>d zum Beispiel die Entlassungen, mit <strong>de</strong>r die Nachfrage nach Konsumgüterns<strong>in</strong>kt und die Produzenten dieser Waren trifft. Da s<strong>in</strong>d die stornierten Zulieferungen, mit <strong>de</strong>nen die Krise auf die vernetzten <strong>Kapital</strong>eübertragen wird. Und wenn die betroffenen <strong>Kapital</strong>e auch noch hohe Kreditverpflichtungen tragen, die nicht mehr erfüllt wer<strong>de</strong>n können,wird sich die Krise zusätzlich über das Kreditsystem fortpflanzen. So wird aus <strong>de</strong>r Krise weniger <strong>Kapital</strong>e unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>ne<strong>in</strong>e Krise sehr vieler <strong>Kapital</strong>e von gesellschaftlichem Ausmaß.<strong>Kapital</strong>istische Vergesellschaftung ist Erfolgsstory und Lei<strong>de</strong>nsgeschichte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em. Auch wenn die privaten <strong>Kapital</strong>e objektiv mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rvergesellschaftet s<strong>in</strong>d, so bleiben es doch separate private Interessen, die mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r konkurrieren. Mit <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Gesellschaft,etwa an kont<strong>in</strong>uierlicher, krisenfreier Reproduktion, stehen diese Interessen ständig auf <strong>de</strong>m Kriegsfuß - ob die privaten <strong>Kapital</strong>e das wolleno<strong>de</strong>r nicht.463Die Gefahr bestün<strong>de</strong> sogar dann, wenn das fixierte <strong>Kapital</strong> nicht kreditf<strong>in</strong>anziert wäre. Dafür sorgt <strong>de</strong>r moralische Verschleiß <strong>de</strong>r Anlagen,ihre Entwertung durch technische Weiterentwicklung. Je schneller diese Entwicklung voranschreitet, <strong>de</strong>sto größer die Gefahr, dass dieeigenen Anlagen veralten und h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r neuen Anlagen zurückbleiben.Mit <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Kredits wer<strong>de</strong>n solche Entwertungen verstärkt und es entsteht dadurch e<strong>in</strong> weiterer Kanal, über <strong>de</strong>n sich die Verwertungsproblemee<strong>in</strong>zelner <strong>Kapital</strong>e auf an<strong>de</strong>re übertragen und als Störfaktor im Kreditsystem sogar die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Gesamtkapitalsverän<strong>de</strong>rn können.464MEW 24, S.185. Wir s<strong>in</strong>d dieser Triebkraft erstmals begegnet, als wir <strong>de</strong>n Prozess von außen als Produktion relativen Mehrwerts untersuchten.Von <strong>de</strong>m sagte M., er "revolutioniert durch und durch die technischen Prozesse <strong>de</strong>r Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen."(MEW 23, S.532f) Jetzt sehen wir uns an, was die Triebkraft, das ist Konkurrenz und Verwertungszwang, im <strong>in</strong>neren <strong>de</strong>s Zirkulationsprozessesanrichtet.223


treibt. Dort betrachteten wir sie jedoch von außen; nur ihre Wirkung auf die Produktion <strong>de</strong>s relativenMehrwerts <strong>in</strong>teressierte uns. Jetzt begegnet sie uns als Element <strong>de</strong>s Zirkulationsprozessesund als Ursache <strong>de</strong>r Wertrevolutionen <strong>in</strong> zwiespältiger Weise: Sie vernichtet <strong>Kapital</strong> durch moralischenVerschleiß o<strong>de</strong>r als Ausgangspunkt von Zentralisationsprozessen. Und sie ermöglicht un<strong>de</strong>rzw<strong>in</strong>gt die Neuanlage von <strong>Kapital</strong>, um <strong>de</strong>n verän<strong>de</strong>rten Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen zu folgen.Die können <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rnisierung vorhan<strong>de</strong>ner Produktionskapazitäten bestehen. Es kann sichaber auch um ganz neue Produkte mit neuen Märkten han<strong>de</strong>ln, mit <strong>de</strong>nen sich neue Mehrwertquellenerschließen. 465M. hebt auch die Wertrevolutionen durch Preisverän<strong>de</strong>rungen hervor. 466 Da e<strong>in</strong> bestimmter <strong>Teil</strong><strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s stets <strong>in</strong> Form noch nicht verkaufter Waren existiert, wirken hier s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Preise als<strong>Kapital</strong>entwertung; steigen<strong>de</strong> Preise wirken als Wertgew<strong>in</strong>n. Für die noch zu kaufen<strong>de</strong>n Warengilt <strong>de</strong>r umgekehrte Fall. Solche Preisverän<strong>de</strong>rungen während <strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses s<strong>in</strong>d465Denken wir an <strong>de</strong>n Gully<strong>de</strong>ckel-Mann, <strong>de</strong>r durch technische Innovationen die Produktivität se<strong>in</strong>er Arbeiter steigerte. Folge: <strong>Das</strong> fixe<strong>Kapital</strong> se<strong>in</strong>er Konkurrenz wird entwertet. Denn die Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Verwertung wer<strong>de</strong>n jetzt durch die fortgeschrittenste Technik markiert.Die Preiskalkulation <strong>de</strong>r Konkurrenz wird Makulatur. Ihr bleibt nichts an<strong>de</strong>res übrig, als die eigenen Gew<strong>in</strong>ne zu senken, um weitermitzuhalten, o<strong>de</strong>r selbst e<strong>in</strong>e beschleunigte Ersetzung <strong>de</strong>r eigenen Arbeitmittel vorzunehmen, noch bevor ihre Verwertung abgeschlossenist. In solchen Situationen ruft nicht nur <strong>de</strong>r retten<strong>de</strong> Kredit, da w<strong>in</strong>kt für manche auch die Pleite!Denken wir an <strong>de</strong>n Wechsel von <strong>de</strong>r Schallplatte zur CD <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1980ern, die alten Branchen das En<strong>de</strong> brachte und dafür neue Quellenerschloß. Auch an vielen an<strong>de</strong>ren Stellen, etwa <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Drucktechnik o<strong>de</strong>r Fotografie, hat die Digitalisierung gravieren<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rungen,<strong>Kapital</strong>entwertung und Umschichtung von <strong>Kapital</strong> und gesellschaftlicher Arbeit gebracht - mit allen <strong>in</strong> solchen Übergängen üblichen Spekulationsblasenund Überproduktionskrisen.Sollte es zu e<strong>in</strong>em massenweisen Wechsel vom Verbrennungsmotor zum Elektromotor kommen, wird es zu beachtlicher <strong>Kapital</strong>vernichtungund zu riesigen Umschichtungen von <strong>Kapital</strong> und gesellschaftlicher Arbeit kommen. dagegen wer<strong>de</strong>n die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigen Überproduktionskrise<strong>de</strong>r Automobil<strong>in</strong>dustrie sich abzeichnen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>vernichtungen und neuen Allianzen verblassen. Die alten Mehrwertquellenwer<strong>de</strong>n versiegen, neue müssen erschlossen wer<strong>de</strong>n. Was man jahrzehntelang nur propagandistisch vorgespielt hat, nämlich dieSchaffung umweltverträglicher Mobilität, muß dann womöglich unter ökonomischem und <strong>pol</strong>itischem Druck <strong>in</strong> kurzer Zeit bewältigt wer<strong>de</strong>n.Da je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r neu sich bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Konkurrenten an die neuen Mehrwertquellen will, s<strong>in</strong>d Produktionskapazitäten weit über die tatsächlicheNachfrage h<strong>in</strong>aus ebenso unvermeidbar wie e<strong>in</strong>e danach erneut folgen<strong>de</strong> Überproduktionskrise mit tiefem Absturz. Die Massenarbeitslosigkeitwird nach kurzer Aufschwungphase als Folge <strong>de</strong>r großen Investitionen mit zunächst extensiver Akkumulation abnehmen,dann aber sehr bald wie<strong>de</strong>r durch Rückkehr zur <strong>in</strong>tensiven Akkumulation ansteigen und auf höherem Stand verbleiben. Im dritten <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r<strong>Spurensuche</strong> haben wir Gelegenheit, solchen und an<strong>de</strong>ren Anwendungen von M.s Theorie zu folgen.466<strong>Das</strong> ist nur e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Perspektive. Denn auch <strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Preise etwa für Rohstoffe o<strong>de</strong>r Zulieferungen liegen ja die Verän<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>r Arbeitsproduktivitäten an an<strong>de</strong>rer Stelle zugrun<strong>de</strong>. Bei Preisbewegungen kommen aber auch außerökonomische E<strong>in</strong>flüssezum Zuge: Dazu gehören die Errichtung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Abbau von Zollschranken. <strong>Das</strong> können Kriege o<strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itische Machtwechsel se<strong>in</strong>, die zumVerlust von Märkten und Rohstoffquellen o<strong>de</strong>r umgekehrt, zur Eroberung neuer Märkte und Rohstoffquellen führen. Bei <strong>de</strong>n Rohstoffpreisenspielen zusätzlich die spekulativen Preisbewegungen e<strong>in</strong>e große Rolle, wobei sich <strong>de</strong>r Zufluß <strong>de</strong>s spekulieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>s wie<strong>de</strong>r aus<strong>de</strong>n Labilitäten <strong>in</strong> an<strong>de</strong>ren Verwertungsfel<strong>de</strong>rn speist.Der Krieg zwischen Ägypten und Israel 1973 und die als <strong>pol</strong>itische Waffe verwen<strong>de</strong>te Drosselung <strong>de</strong>r Erdölför<strong>de</strong>rung trug über die steileÖlpreiserhöhung zur verschärften Wirtschaftskrise <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Industriestaaten bei, die bereits <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Rezessionsphase steckten. Durch <strong>de</strong>n Ölpreisanstiegwur<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e tiefe Wertrevolution mit vielfältigen Folgen ausgelöst.Die Offshore-För<strong>de</strong>rung wur<strong>de</strong> plötzlich profitabel und mobilisierte e<strong>in</strong>e Menge <strong>Kapital</strong> für die Erschließung neuer Ölfel<strong>de</strong>r. Dabei wur<strong>de</strong>auf e<strong>in</strong>en gleichbleibend hohen Ölpreis spekuliert, <strong>de</strong>r sich schon bald vom Nahost-Konflikt löste und durch die Ressourcen<strong>de</strong>batte Anfang<strong>de</strong>r 70er getrieben wur<strong>de</strong>. Seit<strong>de</strong>m nimmt die Bewegung <strong>de</strong>s Ölpreises starken E<strong>in</strong>fluß auf <strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>r zyklischen Krisen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Industriestaatenund löste Gegenbewegungen aus. Dazu gehören die Versuche ab <strong>de</strong>n 1970er Jahren, alternative Energiequellen nicht nur technologisch,son<strong>de</strong>rn auch für die <strong>Kapital</strong>verwertung zu erschließen. Wir bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n uns mitten dr<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem Prozess.Auch hier zeigen sich die Absurditäten <strong>de</strong>r Produktionsweise. Die Entwicklung alternativer Energiequellen geht voran o<strong>de</strong>r stockt, je nach<strong>de</strong>m, ob sie nach Preis und Profit mit an<strong>de</strong>ren Energiequellen konkurrieren können. <strong>Das</strong>s <strong>de</strong>r Preis für Öl und Erdgas und Kohle auch <strong>de</strong>nPreis von Kriegen, Umweltvernichtung und Klimawan<strong>de</strong>l enthält, ist zwar <strong>pol</strong>itisches Thema, nicht aber <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r ökonomischen Selbststeuerung.Da diese so gewichtigen, langfristigen und sogar existenzbedrohen<strong>de</strong>n "Kosten" nicht als Geldgrößen <strong>in</strong> die privaten Verwertungsprozessee<strong>in</strong>gehen, bleiben sie dort unberücksichtigt.So bef<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r systemtreu han<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>n CO2-Ausstoß senken und die Folgen <strong>de</strong>s Klimawan<strong>de</strong>ls reduzieren will, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er merkwürdigenSituation. Er muß sich hohe Öl- und Erdgas- und Kohlepreise wünschen und dann noch die Atomlobby im Schach halten, wasimmer schwieriger wird. Existenzfragen wer<strong>de</strong>n zu Wunschfragen.Schlimmer noch: Aus gut geme<strong>in</strong>ten Grün<strong>de</strong>n müht er sich womöglich mit zwecklosen Versuchen ab, über Ethikfonds und ähnliche Vehikelaus Umweltschutz und Menschenrechten kapitale Werte zu machen, um ihnen <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Verwertungsprozesse so etwas wie beson<strong>de</strong>renRespekt zu verschaffen. Und das <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Produktionsweise, für <strong>de</strong>ren Akteure die nächste Bilanzpressekonferenz <strong>de</strong>r wichtigsteTerm<strong>in</strong> ist - und nicht etwa e<strong>in</strong> drohen<strong>de</strong>r Weltuntergang.224


schon zu M.s Zeit e<strong>in</strong> eigenes Feld <strong>de</strong>r Spekulation gewor<strong>de</strong>n und s<strong>in</strong>d es heute mehr <strong>de</strong>nn je.Was für <strong>de</strong>n englischen <strong>Kapital</strong>ismus zu M.s Zeit <strong>de</strong>r Baumwollpreis war, ist für <strong>de</strong>n heutigen<strong>Kapital</strong>ismus <strong>de</strong>r Ölpreis. Se<strong>in</strong>e Bewegung ist nicht nur Gegenstand e<strong>in</strong>er weltumspannen<strong>de</strong>nSpekulation, son<strong>de</strong>rn Auslöser breiter Wertrevolutionen. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rs<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er nur konkurrenz-und wertgesteuerten Ökonomie, die erst hohe Ölpreise braucht, um sich <strong>de</strong>r Entwicklungvon Alternativen auch nur zuzuwen<strong>de</strong>n. 467Mit je<strong>de</strong>r Wertrevolution wird <strong>in</strong> <strong>de</strong>n betroffenen Branchen fixes <strong>Kapital</strong> und das vor <strong>de</strong>r Umwälzungproduzierte und noch nicht verkaufte Warenkapital entwertet. Gleichzeitig muß neuesfixes <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong>vestiert wer<strong>de</strong>n. Die Folgen dieses Wechselspiels von Entwertung und Neuanlages<strong>in</strong>d uns schon begegnet. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d vor allem Zentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und Mobilisierung vonGeldmitteln per Kredit, Umverteilung von <strong>Kapital</strong> und gesellschaftlicher Arbeit. Die Neuanlagevon fixem <strong>Kapital</strong> vertraut <strong>in</strong> die neuen Verwertungsmöglichkeiten. 468 O<strong>de</strong>r wie M. das an an<strong>de</strong>rerStelle schon formulierte: Es "wird <strong>de</strong>r Lauf <strong>de</strong>r normalen Produktion untertan <strong>de</strong>r anormalenSpekulation." 469467M. hat das im Band 1 <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" für die weitreichen<strong>de</strong>n technischen Neuerungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r englischen Baumwoll<strong>in</strong>dustrie untersucht,die erst während <strong>de</strong>s amerikanischen Bürgerkriegs und <strong>de</strong>r dadurch ausgelösten Krise umgesetzt wur<strong>de</strong>n (s. MEW 23, S.456ff). Wertrevolutionenspielten für die Durchsetzung von Technologien immer schon e<strong>in</strong>e große Rolle.Schon früher war es die Dampfkraft, die erst Jahrzehnte nach ihrer Erf<strong>in</strong>dung zum E<strong>in</strong>satz kam. Solange es billige Arbeitskräfte <strong>in</strong> ausreichen<strong>de</strong>rZahl gab, war ke<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>ist an Technik <strong>in</strong>teressiert. <strong>Das</strong> än<strong>de</strong>rte sich, sobald die Arbeitskräfte durch die Ausweitung <strong>de</strong>r Produktionsweise<strong>in</strong> England knapp wur<strong>de</strong>n und sich sogar im Kampf um höhere Löhne zu organisieren begannen. Dank dieser ersten Wertrevolutionfür die Ware Arbeitskraft wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r Dampfmasch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Textil<strong>in</strong>dustrie nicht nur profitabel, son<strong>de</strong>rn auch zu e<strong>in</strong>emwichtigen Mittel im Kampf gegen die Belegschaften und <strong>de</strong>ren For<strong>de</strong>rung nach höheren Löhnen und kürzerer Arbeitszeit. Seit<strong>de</strong>m s<strong>in</strong>dUnternehmer regelrechte Technikfreaks, je<strong>de</strong>nfalls dann, wenn es sich rechnet, also nur <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r engeren Grenzen <strong>de</strong>r Profitabilität.Und das verlangt e<strong>in</strong>e Menge mehr als nur rentabel zu se<strong>in</strong>.In <strong>de</strong>r jüngeren Geschichte <strong>de</strong>r Produktionsweise ist vor allem <strong>de</strong>r Ölpreis als Auslöser von Wertrevolutionen bekannt gewor<strong>de</strong>n. Die sogenannteÖlkrise, die 1973 durch starke Ölpreiserhöhungen begann, verstärkte die ohneh<strong>in</strong> schon vorhan<strong>de</strong>nen rezessiven Ten<strong>de</strong>nzen <strong>in</strong>vielen kapitalistischen Län<strong>de</strong>rn und brachte <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland die bis dah<strong>in</strong> schwerste Wirtschaftskrise, die erst durch diegegenwärtige Krise übertroffen wird. In dieser Krise war es kurioserweise <strong>de</strong>r Absturz <strong>de</strong>r Ölpreise, <strong>de</strong>r die Krise verschärfte, weil alle mit<strong>de</strong>m hohen Ölpreis verknüpften spekulativen Anlagen vernichtet wur<strong>de</strong>n. Die damit verbun<strong>de</strong>nen Kreditverpflichtungen mußten durchVerkauf an<strong>de</strong>rer Investments ausgeglichen wer<strong>de</strong>n, was wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>n Preisverfall <strong>de</strong>r "Papierchens" beschleunigte und so fort. Wir haltenschon mal für spätere Verwendung fest, dass sich die "normalen" Krisen zu schweren Krisen auswachsen, wenn sie von parallelenWertrevolutionen verstärkt wer<strong>de</strong>n, die durchaus außerökonomische Ursachen haben können wie es beim gyptisch-israelischenKrieg von1973 <strong>de</strong>r Fall war.468Die Hoffnungen auf neue Verwertungsquellen s<strong>in</strong>d um so größer, wenn es sich nicht nur um Umwälzungen <strong>in</strong> bestehen<strong>de</strong>n Sektoren<strong>de</strong>r Produktion, son<strong>de</strong>rn um Umwälzungen han<strong>de</strong>lt, die neue Produkte und damit neue Marktsegmente hervorbr<strong>in</strong>gen. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nicht nurneue Produkte für <strong>de</strong>n <strong>in</strong>dividuellen Konsum, son<strong>de</strong>rn immer auch solche für <strong>de</strong>n produktiven Konsum. Schließlich müssen die Masch<strong>in</strong>enund Anlagen zur Herstellung <strong>de</strong>r neuen Produkte vorher produziert wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Produkt<strong>in</strong>novation erschließt zunächst neue Verwertungsfel<strong>de</strong>rfür die Investitionsgüter<strong>in</strong>dustrie. Umwälzungen dieser Art haben beson<strong>de</strong>rs weitreichen<strong>de</strong> Wirkung bis <strong>in</strong> die Rohstoff- undGrundlagen<strong>in</strong>dustrie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Deshalb war <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1980er Jahren die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung, Deutschland von E<strong>in</strong>glas-Holzfenstern zubefreien und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Doppelglas-Kunststofffenster-Land zu verwan<strong>de</strong>ln, vergleichsweise genial. E<strong>in</strong> preiswertes För<strong>de</strong>rungsprogramm mittiefer und breiter Wirkung. Dagegen ist die Abwrackprämie <strong>de</strong>s Jahres 2009 nur e<strong>in</strong>e I<strong>de</strong>e, die Leuten e<strong>in</strong>fällt, <strong>de</strong>nen sonst nichts e<strong>in</strong>fällt.In <strong>de</strong>n Wirtschaftsmedien belegt man das Wechselspiel von technologischer Innovation, <strong>Kapital</strong>vernichtung und Neuanlage von <strong>Kapital</strong>,wenn es mit <strong>de</strong>r Vorhersagbarkeit e<strong>in</strong>es Sommergewitters zu Überkapazitäten führt, seit neuestem mit <strong>de</strong>m anschaulichen Begriff <strong>de</strong>r Spekulationsblaseund leitet daraus, schon mal wie<strong>de</strong>r, e<strong>in</strong>en eigenen Wissenschaftszweig ab, <strong>de</strong>r sich mit <strong>de</strong>r Bubble-Ökonomie befaßt. AuchM. war schon bekannt, dass Aufblähungen <strong>de</strong>r Produktionskapazitäten sehr oft (aber eben nicht nur) im Gefolge technischer Umwälzungenauftreten. Schließlich hat er die Weltwirtschafstkrise von 1857 genau studiert, die von <strong>de</strong>r kreditf<strong>in</strong>anzierten Eisenbahnspekulation <strong>in</strong><strong>de</strong>n USA ausg<strong>in</strong>g. An<strong>de</strong>rs als die mo<strong>de</strong>rnen Blasen-Theoretiker wäre M. freilich nie auf die I<strong>de</strong>e gekommen, ausgerechnet die wun<strong>de</strong>rbareErf<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Eisenbahn (als Blasenvariable) und die Neigung <strong>de</strong>r Investoren zu möglichst hohen Renditen (Blasenkonstante) für die skurrilenkapitalistischen Spekulationen verantwortlich zu machen. Da braucht es schon noch etwas mehr im Untergrund, z.B. soziale Verhältnisse,die überhaupt erst Investoren, Konkurrenz und Verwertungszwang hervorbr<strong>in</strong>gen. Aber auch das mal wie<strong>de</strong>r nur am Ran<strong>de</strong> angemerkt.469MEW 24, S.109. Man beachte die Zusammenstellung "anormal" plus "Spekulation". Hier geht es um die Folgen nach unerwarteten,nicht vorhersehbaren Verän<strong>de</strong>rungen; um das "Anormale" eben.M. ist klar, dass alles Verhalten <strong>de</strong>r Akteure <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise Spekulation ist. Netter formuliert: <strong>Das</strong> Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Akteure erfolgt im Vertrauen auf <strong>de</strong>n Markt, <strong>de</strong>r ihren Aktionen nachträglich die höheren Weihen e<strong>in</strong>er klugen Entscheidung ver-225


Die anormale Spekulation me<strong>in</strong>t die Reaktionen <strong>de</strong>r Akteure auf die Wertrevolutionen <strong>de</strong>r unterschiedlichenArt: Sie entschei<strong>de</strong>n sich für die Erneuerung ihrer Produktionsmittel, vielleicht auchfür die Neuanlage <strong>in</strong> neu entstan<strong>de</strong>nen Sektoren <strong>de</strong>r Produktion. Erneuerung me<strong>in</strong>t aber immer:Ausweitung vorhan<strong>de</strong>ner o<strong>de</strong>r Schaffung neuer Produktionskapazitäten. Genau wie unser Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikantverlassen sich die Akteure dabei auf <strong>de</strong>n Markt. Sie sehen die enormen Möglichkeiten,das "Renditepotential", wie sie es nennen. Sie vertrauen darauf, für ihre ausgeweiteteProduktion auch entsprechen<strong>de</strong> Nachfrage zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Und sie vertrauen darauf, für die ausgeweiteteProduktion <strong>de</strong>n steigen<strong>de</strong>n Bedarf an Zulieferungen zu kalkulierten Preisen <strong>de</strong>cken zukönnen. <strong>Das</strong> geht e<strong>in</strong>e Weile gut, da solche Investitionen ihre Zeit erfor<strong>de</strong>rn und allerorten nichtausgelastete Kapazitäten und Warenreserven e<strong>in</strong>en Spielraum geben. Dann aber wird <strong>de</strong>r Betriebzeigen, dass <strong>de</strong>r Ausbau <strong>de</strong>r Produktion nicht nur an e<strong>in</strong>er Stelle, son<strong>de</strong>rn an vielen Stellenstattfand, weit über die zahlungsfähige Nachfrage 470 h<strong>in</strong>aus.Umwälzungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktionstechnik s<strong>in</strong>d regelmäßig mit <strong>de</strong>m Aufbau von Überkapazitätenund zeitweiliger Überproduktion verbun<strong>de</strong>n. 471 Auch dann, wenn man die Produktion zurückfährt,statt <strong>de</strong>n Markt mit Waren zu überschwemmen, bleiben die Überkapazitäten als Ansammlungvon produktivem fixem <strong>Kapital</strong> erhalten, das die aktuellen Verwertungsmöglichkeiten übersteigt- und zu totem <strong>Kapital</strong> wird. In <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Manager s<strong>in</strong>d das dann die nicht ausgelastetenKapazitäten. 472leihen möge. Tut er das nicht, war es eben e<strong>in</strong> Managementfehler. Dieselbe Entscheidung, die im Januar zu Ovationen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wirtschaftspresseführt, kann e<strong>in</strong>em Manager schon im Oktober die gol<strong>de</strong>ne Zitrone e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen.Folgen e<strong>in</strong>er Entscheidung <strong>de</strong>s Managements gute Zahlen, war es e<strong>in</strong> geschickter Schachzug und alle bestätigen, dass man <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Chefetageklug die Bewegungen <strong>de</strong>r Märkte gelesen habe. Ganz unabhängig davon, ob zwischen <strong>de</strong>r Entscheidung und <strong>de</strong>n guten Zahlenüberhaupt irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> Zusammenhang besteht. Folgen e<strong>in</strong>er Entscheidung schlechte Zahlen... Klar: Wie<strong>de</strong>r unabhängig davon, ob zwischenZahlen und Entscheidung überhaupt e<strong>in</strong> Zusammenhang besteht. Da geht es Managern wie Fußballtra<strong>in</strong>ern.Ob kluge Entscheidung o<strong>de</strong>r Fehler: Bei näherer Betrachtung löst sich das <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Glücksspiel auf, mal mehr, mal weniger gelenkt durch <strong>de</strong>nZufall - spekulativ eben. Wer mit M.s Augen die Wirtschaftspresse liest, könnte fast (fast!) Mitleid mit <strong>de</strong>n Managern bekommen. Aber diehaben schon genug Mitleid mit sich selbst und sorgen für sich im großen Stil, sobald sie zum ersten Mal e<strong>in</strong>en Sessel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er oberstenEtage mit ihrem H<strong>in</strong>tern wärmen.470<strong>Das</strong> ist immer e<strong>in</strong> wichtiger Punkt, wenn wir über die kapitalistische Produktion sprechen, auf <strong>de</strong>n wir noch mehrmals zurückkommenwer<strong>de</strong>n:<strong>1.</strong> Es entwickelt sich die Produktion über die Nachfrage h<strong>in</strong>aus, nicht die Konsumtion h<strong>in</strong>ter die Nachfrage zurück. M. legt darauf beson<strong>de</strong>renNachdruck: "Es ist e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Tautologie zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion o<strong>de</strong>r an zahlungsfähigenKonsumenten hervorgehn. Andre Konsumarten als zahlen<strong>de</strong> kennt das kapitalistische System nicht, ausgenommen die sub formapauperis (= Nachfrage <strong>de</strong>r Armen = betteln) o<strong>de</strong>r die <strong>de</strong>s 'Spitzbuben' (= stehlen). Daß Waren unverkäuflich s<strong>in</strong>d, heißt nichts, als daßsich ke<strong>in</strong>e zahlungsfähigen Käufer für sie fan<strong>de</strong>n..." (MEW 24, S.409).* sub forma pauperis me<strong>in</strong>t hier: Nachfrage <strong>de</strong>r Armen, also betteln. Die Konsumart <strong>de</strong>s 'Spitzbuben' me<strong>in</strong>t natürlich stehlen.2. Es nützt nichts, wenn e<strong>in</strong>e Menge Leute ohne Schuhe herumlaufen und gleichzeitig zu viele Schuhe produziert wer<strong>de</strong>n. Die Schuhemüssen bezahlt wer<strong>de</strong>n. So kommt es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus immer wie<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>r Situation, die wir schon als Schaufensterperspektivebezeichnet haben: Man steht vor <strong>de</strong>n sehnsüchtig erwünschten, vielleicht sogar lebensretten<strong>de</strong>n Waren und kann sie mangelsGeld doch nicht erreichen. <strong>Das</strong> wird dann gerne als Verteilungsproblem ge<strong>de</strong>utet, als fehle es an <strong>de</strong>n Möglichkeiten, die Lebensmittel undan<strong>de</strong>re Waren dorth<strong>in</strong> zu schaffen, wo sie fehlen. Nur wenn am En<strong>de</strong> die hungern<strong>de</strong>n Menschen die Warenlager stürmen und das Verteilungsproblemfür sich lösen, macht ihnen <strong>de</strong>r Polizeiknüppel die Tatsache bewußt, dass Privateigentum vor Lebensrettung geht. Tatsächlichwurzelt das sche<strong>in</strong>bare Verteilungsproblem im Verwertungszwang, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Grundstruktur <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweiseentspr<strong>in</strong>gt. Die ungleiche Verteilung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ist dafür nur <strong>de</strong>r oberflächliche Ausdruck.<strong>Das</strong> Ziel <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion ist tatsächlich nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, son<strong>de</strong>rn die Verwertung <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>gesetzten<strong>Kapital</strong>s. <strong>Das</strong> mag durch humanitäre Geschenke sche<strong>in</strong>bar durchbrochen wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Regel ist es dann aber die UNO o<strong>de</strong>r es s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>zelneStaaten o<strong>de</strong>r Hilfsorganisationen, die <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten die Waren abkaufen und verteilen, die im System mangels Kaufkraft eigentlichunverkäuflich waren.471<strong>Das</strong> gilt <strong>in</strong> doppelter Weise, wenn es sich um die Erschließung neuer Märkte für neue Produkte han<strong>de</strong>lt. Dann nämlich wird es e<strong>in</strong>erseitsim Wettrennen um die neuen Märkte für die neuen Produkte zu Überkapazitäen kommen. Gleichzeitig wird man, was im neuen Sektorals Nachfrage gebun<strong>de</strong>n wird, an an<strong>de</strong>rer Stelle als Verlust von zahlungsfähiger Nachfrage h<strong>in</strong>nehmen müssen und ebenfalls mit Überkapazitätenbezahlen, die angepaßt wer<strong>de</strong>n müssen. Die Entwicklung <strong>de</strong>r Mobiltelefonie hat e<strong>in</strong>e Menge Kaufkraft <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Jahrenumgeschichtet, die natürlich an an<strong>de</strong>rer Stelle fehlt.472Doch auch mit solchen unternehmerischen Nachrichten muß man vorsichtig umgehen. Denn häufig wer<strong>de</strong>n nicht ausgelastete Kapazitätenherbeigerechnet, um <strong>de</strong>n Belegschaften e<strong>in</strong>en Mitleidsbonus <strong>in</strong> Form von Lohnverzicht o<strong>de</strong>r Mehrarbeit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Betriebsrat Zuge-226


Krise ist, wenn...Wir haben jetzt bereits e<strong>in</strong>ige Seiten lang von Krisen gesprochen, ohne genau zu sagen, was Kriseneigentlich s<strong>in</strong>d. <strong>Das</strong> war möglich, weil ökonomische Krisen ganz selbstverständlich zur kapitalistischenProduktionsweise gehören und je<strong>de</strong>r daher auch e<strong>in</strong>e Vorstellung davon hat, wasgeme<strong>in</strong>t ist. 473 Wir möchten es <strong>de</strong>nnoch etwas genauer wissen, vor allem mit Blick auf die Ursachen<strong>de</strong>r Krise. Denn so sehr auch alle Politiker und Kommentatoren beim Krisenthema <strong>de</strong>rzeitim selben Takt nicken: <strong>Das</strong> Nicken hört schlagartig auf, sobald es um die Frage nach <strong>de</strong>n Ursachengeht. 474Nun ist M. auch im 2. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" ke<strong>in</strong> Anhänger geson<strong>de</strong>rter Def<strong>in</strong>itionen <strong>de</strong>r Art "Kriseist wenn...". Aber aus se<strong>in</strong>en historischen Beispielen zu kapitalistischen Krisen und aus se<strong>in</strong>enAusführungen zur Wertrevolution ergeben sich wichtige Bestimmungen. Wir übernehmen sie <strong>in</strong>unseren Fundus, um später darauf zurückzukommen.Krisen s<strong>in</strong>d gesellschaftlich spürbare Stockungen <strong>de</strong>r Zirkulation, die für die Akteure <strong>in</strong> Überkapazitätenproduktiven <strong>Kapital</strong>s o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Überangebot an Warenkapital o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emÜberangebot an Geld o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Mangel an Kreditgeld sichtbar wird. Krisen bil<strong>de</strong>n sich imInneren <strong>de</strong>r Produktionsweise. Sie erhalten durch die zyklische Verwertung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s ihrenRhythmus und wer<strong>de</strong>n durch die Verkopplung <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>zelkapitale als gegenseitige Zuliefererund Abnehmer wie auch durch die Mitwirkung <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>zelkapitale am selben Kreditsystem zu e<strong>in</strong>ergesellschaftlich spürbaren Krisenwirkung gebracht. Krisen können durch parallele Wertrevolutionenverstärkt, aber auch gemil<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.Wachsen<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>fixierung, Wertrevolutionen und Kreditsystem s<strong>in</strong>d Folgen von Konkurrenzund Verwertungszwang, die selbst aber nicht das Ergebnis von Vere<strong>in</strong>barungen zwischen <strong>de</strong>nständnisse <strong>in</strong> Sachen Leiharbeit abzuhan<strong>de</strong>ln. Es macht eben e<strong>in</strong>en Unterschied, ob ich die berechenbare Auslastung <strong>de</strong>r Anlagen zugrun<strong>de</strong>lege und dabei von e<strong>in</strong>em (unüblichen) Vollschichtbetrieb ausgehe, o<strong>de</strong>r ob ich die übliche Auslastung im 2-Schicht-Betrieb und realistischeAusfallzeiten kalkuliere. So bieten sich zahlreiche Tricks, um die Angaben Kapazitätsauslastung ganz nach Bedarf zu manipulieren.473Die kapitalistische Produktionsweise wird von Krisen begleitet. <strong>Das</strong> ist gar ke<strong>in</strong> Streitpunkt mehr, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigenWeltwirtschaftskrise. Jetzt wird allerorten von <strong>de</strong>n "unvermeidlichen Verwerfungen" geschrieben, die je<strong>de</strong>s dynamische System begleitenmüssen. "Verwerfung" gemahnt an die Unvermeidbarkeit geologischer Prozesse. Wer wollte da richten?Aber tatsächlich geht es um Krisen mit gesellschaftlichen Ursachen und tiefgreifen<strong>de</strong>n Folgen. Es geht um Massenarbeitslosigkeit, Vernichtungwervoller Produktionsanlagen, Subventionierung von Banken und Unternehmen durch langwirken<strong>de</strong> Staatsverschuldung, um dieStornierung von ohneh<strong>in</strong> beschei<strong>de</strong>nen Hilfs- und Entwicklungsprogrammen und um millionenfache Verelendung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ärmsten Län<strong>de</strong>rn.Hier geht es um Mittelkürzungen im Sozialbereich, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Klima- und Umwelt<strong>pol</strong>itik. Es geht voraussehbar um die Entwertung von Sparvermögendurch Inflation, um die Umlenkung und Deformierung von Millionen Lebensläufen gegen <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>r Betroffenen... <strong>Das</strong> gesamteSpektrum krisenbed<strong>in</strong>gter Grausamkeiten und Dummheiten ersche<strong>in</strong>t als unvermeidbarer Preis, <strong>de</strong>n die Gesellschaft zu bezahlenhat, um sich an Autos, Handys und Navi-Systemen zu erfreuen.Tatsächlich bezahlt die Gesellschaft mit <strong>de</strong>n Krisenfolgen nicht für Leistungen <strong>de</strong>r Produktionsweise, son<strong>de</strong>rn nur für <strong>de</strong>ren Unfähigkeiten.Diese Produktionsweise kann offenbar nur auf die harte Tour, per Krise eben, die gesellschaftliche For<strong>de</strong>rung nach kont<strong>in</strong>uierlicher Produktionmit <strong>de</strong>n privaten Verwertungs<strong>in</strong>teressen ihrer Betreiber synchronisieren - bis zu nächsten Krise.474Bei <strong>de</strong>r Erklärung <strong>de</strong>r Krisen dom<strong>in</strong>iert <strong>de</strong>rzeit ganz klar die psychologische Schule. Die Habgier <strong>de</strong>r amerikanischen Arbeiter nach e<strong>in</strong>emeigenen Häuschen o<strong>de</strong>r die Habgier <strong>de</strong>r Banker o<strong>de</strong>r die Dummheit <strong>de</strong>r Wirtschafts<strong>pol</strong>itiker o<strong>de</strong>r das Fehlen e<strong>in</strong>es ethischen Co<strong>de</strong>sund entsprechen<strong>de</strong>r Regulierungen o<strong>de</strong>r die übermäßigen Regulierungen, die <strong>de</strong>n Markt erstickt haben und so weiter... Wie<strong>de</strong>r hilft dieAllerweltspsychologie aus <strong>de</strong>r Patsche, die so wun<strong>de</strong>rbar zur Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse taugt, weil sie davon re<strong>in</strong> gar nichtserklärt.Wir zweifeln nicht am Wunsch <strong>de</strong>r amerikanischen Arbeiter nach e<strong>in</strong>em eigenen Haus. Wir zweifeln nicht an <strong>de</strong>r Habgier <strong>de</strong>r (meisten)Banker. Wir haben nichts gegen ethische Co<strong>de</strong>s und Good Governance und Eigenkapitalvorschriften... Welche Zwecke das auch immererfüllen mag, <strong>de</strong>n propagierten Zweck erfüllt es nicht. Es wird we<strong>de</strong>r die nächste Spekulationsblase noch die nächste weltweite Krise verh<strong>in</strong><strong>de</strong>rn,weil diese Maßnahmen eben mit <strong>de</strong>n Ursachen so wenig zu tun haben wie die psychologischen Deutungen.Darüber ist man sich auch auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite meist durchaus klar. E<strong>in</strong> bürgerlicher Wirtschaftswissenschaftler antwortete En<strong>de</strong> 2008auf die Frage "Wie en<strong>de</strong>t die <strong>de</strong>rzeitige Bankenkrise?" kurz und trocken und voller Überzeugung: "Wenn die nächste Blase beg<strong>in</strong>nt."(NZZ 20.12.2008) Der Aktionismus <strong>de</strong>r Politiker ist überwiegend Kulisse. Die am En<strong>de</strong> wirklich ergriffenen Maßnahmen sollen die Folgenkommen<strong>de</strong>r Krisen erträglicher gestalten - <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie für die Akteure <strong>de</strong>s F<strong>in</strong>anzmakts, nicht für uns. Ob das gel<strong>in</strong>gt steht freilich aufe<strong>in</strong>em an<strong>de</strong>ren Blatt, an <strong>de</strong>ssen Text wir selber übrigens auch mitschreiben.227


Akteuren s<strong>in</strong>d. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Optionen, die man nach Stimmung o<strong>de</strong>r moralischer Überzeugungwählt. 475 <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Verhältnisse, die aus <strong>de</strong>r Grundstruktur <strong>de</strong>r Produktionsweise erwachsenund sich ebenso reproduzieren wie das <strong>Kapital</strong>verhältnis selbst.Krisen s<strong>in</strong>d <strong>de</strong>shalb ke<strong>in</strong>e zufällig von außen hervorgerufenen Störungen e<strong>in</strong>es an sich reibungslosenAblaufs. 476 Es s<strong>in</strong>d periodisch immer wie<strong>de</strong>r auftreten<strong>de</strong> Störungen, die für alle Betroffenenebenso <strong>de</strong>struktiv wirken, wie sie <strong>de</strong>n Prozess im Ganzen überhaupt erst ermöglichen. Krisenwer<strong>de</strong>n zu notwendigen Elementen für die fortdauern<strong>de</strong> Reproduktion <strong>de</strong>s Gesamtkapitals.Zu ihrer Überw<strong>in</strong>dung gehören regelmäßig Vernichtung von <strong>Kapital</strong> und Freisetzung von Arbeitskräftenwie auch Neuanlage von <strong>Kapital</strong> und B<strong>in</strong>dung von Arbeitskräften nach Überw<strong>in</strong>dung<strong>de</strong>r Krise.Die Überw<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>er Krise wird immer auch vom Vortrieb <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität und von<strong>de</strong>r Schaffung neuer Verwertungsmöglichkeiten begleitet. Man kann das auch an<strong>de</strong>rs lesen: Diegrößte Leistung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise, nämlich die Entwicklung <strong>de</strong>r produktivenKräfte <strong>de</strong>r Arbeit, br<strong>in</strong>gt ihr und vor allem <strong>de</strong>n Arbeitskräften regelmäßig die größten Schwierigkeitene<strong>in</strong>. 477 Aus <strong>de</strong>m Wachstum <strong>de</strong>r Produktivität entspr<strong>in</strong>gt periodischer Mangel.475Wür<strong>de</strong> Mutter Teresa o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Inkarnation <strong>de</strong>r Menschenliebe an die Spitze <strong>de</strong>r Deutschen Bank berufen, wür<strong>de</strong> sie schon nachwenigen Tagen durch die vere<strong>in</strong>igte Front <strong>de</strong>r Na<strong>de</strong>lstreifen aus <strong>de</strong>m Mammon-Tempel vertrieben wer<strong>de</strong>n. Gelänge das nicht und wür<strong>de</strong>menschliches Mitgefühl das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Bank fortan leiten, wür<strong>de</strong> man <strong>de</strong>r Konkurrenz erliegen und nach wenigen Quartalen als <strong>in</strong>ternationaleGroßbank nicht mehr existieren. Alternative: Von Verwertungszwang und Konkurrenz überwältigt, betreibt auch unsere Inkarnation<strong>de</strong>r Menschenliebe das Geschäft wie irgend so e<strong>in</strong> Ackermann. Nur die Regeln für Good Governance wer<strong>de</strong>n moralisch aufgerüstet und fürEthic Co<strong>de</strong>s und ethische Investments und Mikrokredite* wür<strong>de</strong> flugs e<strong>in</strong>e eigene Abteilung gebil<strong>de</strong>t. <strong>Das</strong> Geschäft muss schließlich <strong>in</strong>allen Bereichen wachsen.*Mikrokredite s<strong>in</strong>d Kle<strong>in</strong>- bis W<strong>in</strong>zkredite, die an arme Menschen vergeben wer<strong>de</strong>n, die nach üblichen Kriterien nicht kreditwürdig s<strong>in</strong>d.<strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>e lukrative Angelegenheit, und es gibt <strong>in</strong>zwischen zahlreiche Investmentfonds, die ihren Anlegern e<strong>in</strong>erseits hohe Rendite, an<strong>de</strong>rerseitse<strong>in</strong>e gute Tat im "Kampf gegen die Armut" versprechen. <strong>Das</strong> Anleger-Magaz<strong>in</strong> <strong>de</strong>r CreditSuisse zitiert ihren Leiter für das PrivateBank<strong>in</strong>g, Arthur Vayloyan: "Natürlich war ich als Banker anfangs auch skeptisch. Ich konnte mir fast nicht vorstellen, dass die Vergabee<strong>in</strong>es Kredits von e<strong>in</strong> paar hun<strong>de</strong>rt Dollar für <strong>de</strong>n Dienstleistungserbr<strong>in</strong>ger profitabel se<strong>in</strong> kann. Doch dann musste ich mit Erstaunen feststellen,dass es sich so organisieren lässt, dass selbst bei diesen kle<strong>in</strong>en Beträgen – natürlich über e<strong>in</strong>e grosse Anzahl von Kreditnehmernverteilt – unter <strong>de</strong>m Strich e<strong>in</strong> Geschäft herausschaut. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>erseits erklärbar aufgrund <strong>de</strong>r Z<strong>in</strong>ssituation, die man lokal anwen<strong>de</strong>t, undan<strong>de</strong>rerseits – was ebenfalls erstaunlich ist – aufgrund <strong>de</strong>r enorm guten Rückzahlungsquote. Bei<strong>de</strong>s komb<strong>in</strong>iert führt dazu, dass sogarGeld verdient wer<strong>de</strong>n kann, wenn auch nicht auf e<strong>in</strong>em wahns<strong>in</strong>nig hohen, aber doch attraktiven Niveau. <strong>Das</strong> macht Mikrokredite auchals Investitionsmöglichkeit <strong>in</strong>teressant." In Bangla<strong>de</strong>sh hat Muhammad Yunus mit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 70er Jahren gegrün<strong>de</strong>ten Grameen-Bank<strong>in</strong>zwischen über Mikrokredite 7,5 Millionen Menschen, überwiegend Frauen, unter Kontrolle. Yunus bekam dafür <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>nsnobelpreisals Bekämpfer <strong>de</strong>r Armut. Se<strong>in</strong>e Bank bekommt 20% Z<strong>in</strong>sen auf je<strong>de</strong>n Kredit. <strong>Das</strong> ist offenbar die "Z<strong>in</strong>ssituation, die man lokal anwen<strong>de</strong>t",von <strong>de</strong>r oben <strong>de</strong>r Banker wohlwollend sprach. Wie unabhängige Untersuchungen an <strong>de</strong>r Jahangirnagar Universität <strong>in</strong> Dhaka ergaben,profitieren tatsächlich weniger als 10% <strong>de</strong>r Kreditnehmer von <strong>de</strong>n Krediten; das s<strong>in</strong>d die, die ohneh<strong>in</strong> noch an<strong>de</strong>re E<strong>in</strong>kommen haben.Der Rest hat große Mühe, die wöchentlichen Z<strong>in</strong>sen zurückzuzahlen. 40% <strong>de</strong>r Schuldner müssen weitere Kredite zu noch schlechterenKonditionen nehmen, um die Z<strong>in</strong>sen <strong>de</strong>r alten Kredite aufzubr<strong>in</strong>gen, mit verheeren<strong>de</strong>n Wirkungen für die Familien und die Dorfgeme<strong>in</strong>schaften.Derschon zitierte Arthur Vayloyan von <strong>de</strong>r CreditSuisse schließt mit dieser Botschaft für se<strong>in</strong>e wohlhaben<strong>de</strong>n Kun<strong>de</strong>n: "In<strong>de</strong>n Siebzigerjahren hätte niemand geglaubt, dass man mit armen Frauen <strong>in</strong> Bangla<strong>de</strong>sch <strong>in</strong>s Geschäft kommen könnte. Dreissig Jahrespäter steht fest, dass man dies sogar Gew<strong>in</strong>n br<strong>in</strong>gend tun kann." Nützlich? <strong>E<strong>in</strong>e</strong> gute Tat? Weg aus <strong>de</strong>r Armut? Für die Mehrzahl <strong>de</strong>rKreditnehmer han<strong>de</strong>lt es sich um dasselbe Geschäftsmo<strong>de</strong>ll, mit <strong>de</strong>m sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Armut schon immer von Wuchererern und Pfandleiherntraktiert wur<strong>de</strong>n. Ergiebig und anschaulich, aber lei<strong>de</strong>r nur <strong>in</strong> englischer Sprache verfügbar, das Buch von Farooque Chowdhury:Microcredits - Myth Manufactured (Verlag Shrabon Prokashani ISBN 984-70088-0003-1).476Selbstverständlich gibt es solche äußeren Störungen. Aber es s<strong>in</strong>d eben nur <strong>de</strong>shalb Störungen, weil sie die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungenverän<strong>de</strong>rn. Der <strong>pol</strong>itische Machtwechsel im Iran 1979 wirkte durch Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Erdölpreise auf die Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>.An<strong>de</strong>re nicht weniger gravieren<strong>de</strong> Ereignisse, etwa Bürgerkriege o<strong>de</strong>r Dürrekatstrophen und Hungersnöte <strong>in</strong> Afrika, gehen praktisch spurlosan <strong>de</strong>n Verwertungsbed<strong>in</strong>gungen vorüber.477<strong>Das</strong> er<strong>in</strong>nert uns an die Formulierung aus <strong>de</strong>m "Manifest", <strong>de</strong>r wir im Zwischentext begegneten: "Die bürgerlichen Verhältnisse s<strong>in</strong>d zueng gewor<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen." Präziser formulierte M. diesen Wi<strong>de</strong>rspruch im Zwischentext zum Gegenstand<strong>de</strong>r Politischen Ökonomie: "Auf e<strong>in</strong>er gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte <strong>de</strong>r Gesellschaft<strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rspruch mit <strong>de</strong>n vorhan<strong>de</strong>nen Produktionsverhältnissen... Aus Entwicklungsformen <strong>de</strong>r Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse<strong>in</strong> Fesseln <strong>de</strong>rselben um." (MEW 13, S.9) Tatsächlich bekommen wir hier <strong>in</strong> <strong>de</strong>n periodischen Krisen bereits e<strong>in</strong>en Zipfel dieses Wi<strong>de</strong>rspruchszu fassen.228


Vom Zirkulationsprozess zur ReproduktionKrisen und Wertrevolutionen s<strong>in</strong>d nicht dasselbe. Nicht je<strong>de</strong> Wertrevolution, die e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles<strong>Kapital</strong> o<strong>de</strong>r auch mehrere vernichtet, wird zu e<strong>in</strong>er Krise, die das Gesamtkapital berührt. Wiewer<strong>de</strong>n aber aus Wertrevolutionen Krisen? Und warum treten Krisen nicht ständig o<strong>de</strong>r zum<strong>in</strong><strong>de</strong>stjährlich auf? Was erzeugt ihr periodisches Auftreten? Wie<strong>de</strong>r müssen wir uns <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>sfixen <strong>Kapital</strong>s im Verwertungsprozess zuwen<strong>de</strong>n.Sobald die <strong>Kapital</strong>fixierung für das Gesamtkapital e<strong>in</strong>en bestimmten Umfang erreicht hat, f<strong>in</strong><strong>de</strong>nwir mehr o<strong>de</strong>r weniger stark ausgeprägte Verwertungszyklen. Solche augenfälligen Krisenzyklenbegleiten die kapitalistische Produktionsweise seit ihrem Übergang zum Fabriksystem. Seit<strong>de</strong>mhat das fixe <strong>Kapital</strong> e<strong>in</strong>e Größe erreicht, durch die se<strong>in</strong>e zyklische Verwertung auch <strong>de</strong>r Verwertung<strong>de</strong>s Gesamtkapitals e<strong>in</strong>e zyklische Form gibt. M. bezeichnet die zyklische Verwertung <strong>de</strong>sfixen <strong>Kapital</strong>s als "e<strong>in</strong>e materielle Grundlage <strong>de</strong>r periodischen Krisen, wor<strong>in</strong> das Geschäft aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>Perio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht."478 Halten wir das fest: Die diskont<strong>in</strong>uierliche stoffliche Ersetzung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>sbr<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> zyklisches Element <strong>in</strong> die Reproduktion <strong>de</strong>s Gesamtkapitals. Es muß noch an<strong>de</strong>re geben.Zunächst aber e<strong>in</strong>e viel näher liegen<strong>de</strong> Frage: Wie können die Anlage<strong>in</strong>vestitionen, die doch zuunterschiedlichen Zeiten und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Branchen auf unterschiedliche Weise erfolgen, e<strong>in</strong>e Ursachezyklischer Entwicklung für das Gesamtkapital se<strong>in</strong>? Die vielen <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e <strong>in</strong>vestierendoch zu unterschiedlichen Zeiten <strong>in</strong> das fixe <strong>Kapital</strong> und durchlaufen eigene <strong>in</strong>dividuelle Zyklen.Müßten sich da im Gesamtkapital diese <strong>in</strong>dividuellen Zyklen nicht gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r auslöschenund im Gesamtprozess verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n?Es s<strong>in</strong>d die Wertrevolutionen und die daraus sich ergeben<strong>de</strong>n Krisen, die für die betroffenen <strong>Kapital</strong>eimmer wie<strong>de</strong>r als Gleichrichter wirken. Sie erzw<strong>in</strong>gen für Branchen o<strong>de</strong>r Sektoren e<strong>in</strong>eNeuausrichtung <strong>de</strong>r Produktion durch Investitionen <strong>in</strong> Produktionsmittel. So beg<strong>in</strong>nt <strong>de</strong>r Verwertungszyklusfür e<strong>in</strong>e große Zahl von ihnen nach je<strong>de</strong>r Wertrevolution neu. So bil<strong>de</strong>t, wie M. sagt,"die Krise immer <strong>de</strong>n Ausgangspunkt e<strong>in</strong>er großen Neuanlage. Also auch - die ganze Gesellschaftbetrachtet - mehr o<strong>de</strong>r m<strong>in</strong><strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e neue materielle Grundlage für <strong>de</strong>n nächsten Umschlagszyklus."Für tonangeben<strong>de</strong> Branchen, etwa die Roh- und Grundstoff<strong>in</strong>dustrie, die Automobil-o<strong>de</strong>r Chemie<strong>in</strong>dustrie, für Masch<strong>in</strong>en- und Großanlagenbau ergeben sich daraus zyklischeBewegungen, die wegen <strong>de</strong>r betroffenen großen <strong>Kapital</strong>massen ihre Spuren <strong>in</strong> die Bewegungen<strong>de</strong>s Gesamtkapitals e<strong>in</strong>prägen.Wir haben M.s H<strong>in</strong>weis nicht vergessen. Die beson<strong>de</strong>ren Merkmale <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verwertung <strong>de</strong>s fixen<strong>Kapital</strong>s s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>e materielle Grundlage für die Zyklizität <strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses. Wir sehen478"In <strong>de</strong>mselben Maße also, wor<strong>in</strong> sich mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise <strong>de</strong>r Wertumfang und die Lebensdauer<strong>de</strong>s angewandten fixen <strong>Kapital</strong>s entwickelt, entwickelt sich das Leben <strong>de</strong>r Industrie und <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r besondren Anlagezu e<strong>in</strong>em vieljährigen, sage im Durchschnitt zehnjährigen. Wenn e<strong>in</strong>erseits die Entwicklung <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s dieses Leben aus<strong>de</strong>hnt,so wird es andrerseits abgekürzt durch die beständige Umwälzung <strong>de</strong>r Produktionsmittel, die ebenfalls mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise beständig zunimmt. Mit ihr daher auch <strong>de</strong>r Wechsel <strong>de</strong>r Produktionsmittel und die Notwendigkeit ihres beständigenErsatzes <strong>in</strong>folge <strong>de</strong>s moralischen Verschleißes, lange bevor sie physisch ausgelebt s<strong>in</strong>d. Man kann annehmen, daß für die entschei<strong>de</strong>ndstenZweige <strong>de</strong>r großen Industrie dieser Lebenszyklus jetzt im Durchschnitt e<strong>in</strong> zehnjähriger ist. Doch kommt es hier nicht auf die bestimmteZahl an. Soviel ergibt sich: Durch diesen e<strong>in</strong>e Reihe von Jahren umfassen<strong>de</strong>n Zyklus von zusammenhängen<strong>de</strong>n Umschlägen, <strong>in</strong>welchen das <strong>Kapital</strong> durch se<strong>in</strong>en fixen Bestandteil gebannt ist, ergibt sich e<strong>in</strong>e materielle Grundlage <strong>de</strong>r periodischen Krisen, wor<strong>in</strong> dasGeschäft aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong> Perio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht. Es s<strong>in</strong>d zwar die Perio<strong>de</strong>n,wor<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> angelegt wird, sehr verschiedne und ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rfallen<strong>de</strong>. In<strong>de</strong>ssen bil<strong>de</strong>t die Krise immer <strong>de</strong>n Ausgangspunkt e<strong>in</strong>ergroßen Neuanlage. Also auch – die ganze Gesellschaft betrachtet – mehr o<strong>de</strong>r m<strong>in</strong><strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e neue materielle Grundlage für <strong>de</strong>n nächstenUmschlagszyklus." (MEW 24, S.185f)229


uns <strong>de</strong>shalb genauer an, wie die Produktion von fixem <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> die Reproduktion <strong>de</strong>s Gesamtkapitalse<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n ist, um an<strong>de</strong>ren Ursachen <strong>de</strong>r zyklischen Bewegung auf die Spur zu kommen.Dafür müssen wir die Zirkulation <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>e verlassen und uns <strong>de</strong>r Bewegung<strong>de</strong>s Gesamtkapitals zuwen<strong>de</strong>n.Der gesellschaftlichen Reproduktion s<strong>in</strong>d wir im Kapitel zum Akkumulationsprozess bereits begegnet.Wir haben dabei gelernt, dass je<strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelne sich verwerten<strong>de</strong> und akkumulieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>an <strong>de</strong>n Zusammenhang mit an<strong>de</strong>ren <strong>Kapital</strong>en gebun<strong>de</strong>n ist. Vor kurzem ist uns das alsgesellschaftlicher Charakter <strong>de</strong>r Produktion offiziell vorgestellt wor<strong>de</strong>n. Die Verwertung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen<strong>Kapital</strong>e hat <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Produktionsprozess zur Voraussetzung und mußsich als <strong>in</strong>dividueller Produktionsprozess dar<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegrieren und behaupten. Dieser gesellschaftlicheProduktionsprozess dauert aber nicht nur e<strong>in</strong> Jahr o<strong>de</strong>r zehn, er ist fortwähren<strong>de</strong>r Reproduktionsprozess.Lektüre: Karl Marx: S.327Wenn wir unsere Perspektive vom Zirkulationsprozess <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e auf die Reproduktion<strong>de</strong>s Gesamtkapitals lenken, läßt sich das nicht mehr alle<strong>in</strong> als Verwertungsprozess o<strong>de</strong>rals Geldfluß behan<strong>de</strong>ln. 479 "Diese nur formelle Manier <strong>de</strong>r Darstellung", wie M. das nennt, istausgereizt. Klar, die Mehrwertproduktion ist Ziel und Zwang und Voraussetzung von allem, wasunter kapitalistischen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> Gang gesetzt wird. Der Weg dah<strong>in</strong> führt aber nur über diestoffliche Reproduktion. Die Art <strong>de</strong>r produzierten Waren hört auf, gleichgültig zu se<strong>in</strong>, sobaldwir die Vernetzung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen Zirkulationsprozesse zu e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Prozess betrachten.<strong>Das</strong> ist uns nicht neu. Wir haben ke<strong>in</strong>en Augenblick angenommen, unser Gully<strong>de</strong>ckel-Fabrikantkäme ohne die stofflichen Elemente se<strong>in</strong>er Produktion, ohne Öfen und Kohle und Sand, ohneHebe- und Transporttechnik, ohne Hämmer und Zangen und Schleiftechnik aus. Aber jetzt gehtes darum zu untersuchen, welche Konsequenzen sich für die Verwertung <strong>de</strong>s Gesamtkapitalsergeben, wenn wir die Verwertung <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>zelkapitale als <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r stofflichen Reproduktion <strong>de</strong>sGesamtprozesses betrachten. Und wir fragen auch hier nach <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Rolle <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s,das ja durch se<strong>in</strong>e stofflichen Beson<strong>de</strong>rheiten bereits im Verwertungsprozess für Aufregungsorgt.Reproduktion <strong>de</strong>s GesamtkapitalsNicht für e<strong>in</strong>en Augenblick hatte M. <strong>de</strong>n Ehrgeiz, <strong>de</strong>n Gesamtzusammenhang, sagen wir <strong>de</strong>senglischen Freihan<strong>de</strong>lskapitalismus, zu mo<strong>de</strong>llieren, <strong>in</strong> tausen<strong>de</strong> von Variablen zu zerlegen und479"Solange wir die Wertproduktion und <strong>de</strong>n Produktenwert <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong>dividuell betrachteten, war die Naturalform <strong>de</strong>s Warenproduktsfür die Analyse ganz gleichgültig, ob sie z.B. aus Masch<strong>in</strong>en bestand o<strong>de</strong>r aus Korn o<strong>de</strong>r aus Spiegeln. Es war dies immer Beispiel,und je<strong>de</strong>r beliebige Produktionszweig konnte gleichmäßig zur Illustration dienen. Womit wir es zu tun hatten, war <strong>de</strong>r unmittelbare Produktionsprozeßselbst, <strong>de</strong>r auf je<strong>de</strong>m Punkt als Prozeß e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>s sich darstellt. Soweit die Reproduktion <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>in</strong>Betracht kam, genügte es zu unterstellen, daß <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre <strong>de</strong>r <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Warenprodukts, welcher <strong>Kapital</strong>wert darstellt,die Gelegenheit f<strong>in</strong><strong>de</strong>t, sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Produktionselemente und daher <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Gestalt als produktives <strong>Kapital</strong> rückzuverwan<strong>de</strong>ln; ganz wiees genügte zu unterstellen, daß Arbeiter und <strong>Kapital</strong>ist auf <strong>de</strong>m Markte die Waren vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, wor<strong>in</strong> sie Arbeitslohn und Mehrwert verausgaben.Diese nur formelle Manier <strong>de</strong>r Darstellung genügt nicht mehr bei Betrachtung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Gesamtkapitals und se<strong>in</strong>esProduktenwerts. Die Rückverwandlung e<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>s Produktenwerts <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>, das E<strong>in</strong>gehn e<strong>in</strong>es an<strong>de</strong>rn <strong>Teil</strong>s <strong>in</strong> die <strong>in</strong>dividuelle Konsumtion<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten- wie <strong>de</strong>r Arbeiterklasse bil<strong>de</strong>t e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Produktenwerts selbst, wor<strong>in</strong> das Gesamtkapital resultierthat; und diese Bewegung ist nicht nur Wertersatz, son<strong>de</strong>rn Stoffersatz, und ist daher ebensosehr bed<strong>in</strong>gt durch das gegenseitigeVerhältnis <strong>de</strong>r Wertbestandteile <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Produkts wie durch ihren Gebrauchswert, ihre stoffliche Gestalt." (MEW 24, S.393)230


<strong>de</strong>ren Zusammenhänge <strong>in</strong> quantitative Beziehungen zu gießen. Er wäre auch nicht auf dieseI<strong>de</strong>e verfallen, wenn ihm heutige Computertechnik zur Verfügung gestan<strong>de</strong>n hätte. Wie auchimmer e<strong>in</strong> solches Computermo<strong>de</strong>ll aussehen wür<strong>de</strong> und was auch immer es an Erkenntnisgew<strong>in</strong>nbrächte o<strong>de</strong>r nicht: Alles h<strong>in</strong>ge doch nur vom zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n theoretischen Konzeptab. Um <strong>de</strong>ssen Präzisierung geht es M. im letzten Abschnitt <strong>de</strong>s 2. Bands. Wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>mal gehenwir mit M. <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Abstraktion, <strong>de</strong>r uns zu se<strong>in</strong>em Reproduktionsschema führt. 480M. geht von e<strong>in</strong>er Gesellschaft aus, die nur aus <strong>Kapital</strong>isten und Arbeiterklasse besteht. Der Reproduktionsprozessvollzieht sich ohne Wertrevolutionen und im strikten Austausch von Wertäquivalenten.Im ersten Schritt schließt M. auch e<strong>in</strong>e Akkumulation aus und nimmt statt<strong>de</strong>ssenan, <strong>de</strong>r Mehrwert wer<strong>de</strong> durch die <strong>Kapital</strong>isten vollständig <strong>in</strong>dividuell konsumiert. Und auch dieRolle <strong>de</strong>s fixen <strong>Kapital</strong>s ignoriert er zunächst. Unter diesen Voraussetzungen kommt er zu folgen<strong>de</strong>mSchema e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen, sich nicht erweitern<strong>de</strong>n Reproduktion: 481Erstens müssen Masch<strong>in</strong>en, Gebäu<strong>de</strong>, Rohstoffe, Energie, Schiffe, Eisenbahnen... <strong>in</strong> genügen<strong>de</strong>rMenge erzeugt wer<strong>de</strong>n, um die Produktionsprozesse zu versorgen und ihren Austausch untere<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rzu sichern. M. bezeichnet diesen Bereich, <strong>de</strong>r die Waren für die produktive Konsumtionbereitstellt, als Abteilung 1 <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion. Der Wert W1 <strong>de</strong>r <strong>in</strong> Abteilung 1produzierten Waren setzt sich aus <strong>de</strong>m konstanten <strong>Kapital</strong> c, aus <strong>de</strong>m variablen <strong>Kapital</strong> v undaus <strong>de</strong>m Mehrwert m zusammen. Für Abteilung 1 ist die Wertmasse <strong>de</strong>r produzierten Waren<strong>de</strong>mnach W1 = c1 + v1 + m<strong>1.</strong>Zweitens müssen natürlich auch Wohnhäuser, Lebensmittel, Haushaltsgeräte, Kleidung, Luxuswaren,Mobilität, Energie... erzeugt wer<strong>de</strong>n, um die Lebensgrundlage für Arbeitskräfte und <strong>Kapital</strong>istenzu sichern. M. bezeichnet diesen Bereich <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion, <strong>de</strong>r dieWaren für die <strong>in</strong>dividuelle Konsumtion erzeugt, als Abteilung 2. Die Wertmasse <strong>de</strong>r <strong>in</strong> dieser Abteilungproduzierten Waren ist W2 = c2 + v2 +m2.Es lassen sich wichtige Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Abteilungen 1 und 2 erkennen:Erstens hängt <strong>de</strong>r Verwertungserfolg <strong>in</strong> Abteilung 1 ganz davon ab, wieweit die Nachfrage ausbei<strong>de</strong>n Abteilungen nach Produktionsmitteln die <strong>in</strong> Abteilung 1 tatsächlich produzierten Produktionsmittelaufnimmt. Im i<strong>de</strong>alen Zustand wäre c1 + c2 = c1 + v1 + m<strong>1.</strong> Dann wäre die Gesamtproduktion<strong>in</strong> Abteilung 1, das ist das <strong>in</strong> bei<strong>de</strong>n Abteilungen e<strong>in</strong>gesetzte konstante <strong>Kapital</strong>c1+c2, gleich <strong>de</strong>r Wertmasse W<strong>1.</strong>480Solche Schemata zur Analyse <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Reproduktion s<strong>in</strong>d nicht M.s Erf<strong>in</strong>dung. Er greift auf Verfahren se<strong>in</strong>er Vorgängerzurück. Allerd<strong>in</strong>gs kann er dank se<strong>in</strong>er Wertthorie, mit <strong>de</strong>r die Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts aufge<strong>de</strong>ckt und <strong>de</strong>r Unterschied von Wert und Gebrauchswertkonsequent beachtet wird, die stoffliche Reproduktion <strong>de</strong>r Gesellschaft (als Gebrauchswertmenge für die produktive und <strong>in</strong>dividuelleKonsumtion) mit <strong>de</strong>r wertmäßigen, kapitalistischen Reproduktion verb<strong>in</strong><strong>de</strong>n und die dar<strong>in</strong> liegen<strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsprüche auf<strong>de</strong>cken.Allerd<strong>in</strong>gs gilt auch hier: Es ist nicht das Schema, das irgen<strong>de</strong>twas an Erkenntnis hervorbr<strong>in</strong>gt o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>twas beweist. Es ist unserestrukturelle Analyse, die sich <strong>de</strong>r Schemata nur als Hilfsmittel bedient.481"<strong>Das</strong> Gesamtprodukt, also auch die Gesamtproduktion, <strong>de</strong>r Gesellschaft zerfällt <strong>in</strong> zwei große Abteilungen:I. Produktionsmittel, Waren, welche e<strong>in</strong>e Form besitzen, wor<strong>in</strong> sie <strong>in</strong> die produktive Konsumtion e<strong>in</strong>gehn müssen o<strong>de</strong>r wenigstens e<strong>in</strong>gehnkönnen.II. Konsumtionsmittel, Waren, welche e<strong>in</strong>e Form besitzen, wor<strong>in</strong> sie <strong>in</strong> die <strong>in</strong>dividuelle Konsumtion <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten- und Arbeiterklassee<strong>in</strong>gehn.In je<strong>de</strong>r dieser Abteilungen bil<strong>de</strong>n sämtliche verschiedne ihr angehörige Produktionszweige e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen großen Produktionszweig, diee<strong>in</strong>en <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Produktionsmittel, die an<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Konsumtionsmittel. <strong>Das</strong> <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Produktionszweige angewandte gesamte<strong>Kapital</strong> bil<strong>de</strong>t e<strong>in</strong>e besondre große Abteilung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>s." (MEW 24, S.394)Ohne Frage gibt es Produkte, die <strong>in</strong> bei<strong>de</strong>n Bereichen e<strong>in</strong>gesetzt wer<strong>de</strong>n, die also entwe<strong>de</strong>r produktiv o<strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuell konsumiert wer<strong>de</strong>n,z.B. Energie, Transportkapazitäten, Computer, PKWs, Straßen usw. Die Unterscheidung bei<strong>de</strong>r Abteilungen hat aber nicht zum Ziel, diee<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>e nach ihrer Zugehörigkeit zu klassifizieren. Sie soll die Wi<strong>de</strong>rsprüche aufspüren, die sich aus <strong>de</strong>r Abhängigkeit bei<strong>de</strong>rAbteilungen vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r ergeben.231


Zweitens hängt die produktive Nutzung <strong>de</strong>r von Abteilung 2 <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Abteilung 1 gekauften Produktionsmitteldavon ab, ob und <strong>in</strong> welchem Umfang die damit produzierten Waren <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellenKonsums auf e<strong>in</strong>e zahlungsfähige Nachfrage treffen. Solange wir mit M. zunächst e<strong>in</strong>facheReproduktion annehmen und <strong>de</strong>r gesamte Mehrwert <strong>de</strong>shalb <strong>in</strong>dividuell konsumiert wer<strong>de</strong>ndarf, wäre W2 = v1 + m1 + v2 + m2. Die <strong>in</strong> Abteilung 2 produzierten Konsumgüter repräsentierene<strong>in</strong>en Wert, <strong>de</strong>r exakt <strong>de</strong>r Konsumtionskraft von Arbeiterklasse und <strong>Kapital</strong>isten entspricht.Drittens: Nur wenn die <strong>in</strong> Abteilung 2 produzierten Waren <strong>in</strong>dividuell konsumiert wer<strong>de</strong>n unddamit aus <strong>de</strong>r Zirkulation ausschei<strong>de</strong>n, kann die Produktion <strong>in</strong> Abteilung 2 fortgesetzt wer<strong>de</strong>nund damit auch Nachfrage für die Waren <strong>in</strong> Abteilung 1 neu entstehen. Wenn wir die oben genanntenSchemata komb<strong>in</strong>ieren, ergibt sich so etwas wie e<strong>in</strong>e Proportionalitäts- o<strong>de</strong>r Gleichgewichtsbed<strong>in</strong>gungfür die e<strong>in</strong>fache Reproduktion. Sie lautet c1 +c2 = c1 + v1 + m1 o<strong>de</strong>r kürzer:c2 = v1 + m<strong>1.</strong> An<strong>de</strong>rs gesagt: Um Abteilung 1 und 2 bei e<strong>in</strong>facher Reproduktion im Gleichgewichtzu halten, muß das jährlich <strong>in</strong> Abteilung 2 neu <strong>in</strong>vestierte konstante <strong>Kapital</strong> die Lohnausgabenund <strong>de</strong>n Mehrwert <strong>in</strong> Abteilung 1 ersetzen.Wie gesagt: Bisher g<strong>in</strong>gen wir von unkapitalistischer, nämlich e<strong>in</strong>facher Reproduktion aus. Daaber Konkurrenz und Verwertungszwang nur gleichzeitig wirken, je<strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuelle <strong>Kapital</strong> se<strong>in</strong>Heil <strong>in</strong> verbesserter Verwertung, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktion von mehr Mehrwert suchen muß, erweiternund verän<strong>de</strong>rn sich die Reproduktionsbed<strong>in</strong>gungen beständig. Wir wer<strong>de</strong>n später noch sehen,warum die Annahme e<strong>in</strong>es auch nur zweitweiligen Gleichgewichts nicht e<strong>in</strong>mal für die (unrealistische)Annahme e<strong>in</strong>facher Reproduktion haltbar ist.Erweiterte Reproduktion und RückkopplungenDie Komplexität <strong>de</strong>r wirklichen, nämlich erweiterten Reproduktion wird bereits sichtbar, wennwir die Rückkopplungen zwischen Abteilung 1 und Abteilung 2 beachten. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nämlich genaudie durch Abhängigkeiten zwischen Abteilung 1 und 2 ausgelösten Bewegungen, die <strong>de</strong>nzyklischen Verlauf <strong>de</strong>r Gesamtbewegung zusätzlich prägen. Sehen wir uns e<strong>in</strong> mo<strong>de</strong>lliertes Beispielsolcher Rückkopplungen an:In <strong>de</strong>r erweiterten Reproduktion wird <strong>in</strong> bei<strong>de</strong>n Abteilungen e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Mehrwerts als produktives<strong>Kapital</strong> re<strong>in</strong>vestiert. Diese Akkumulation verstärkt die Nachfrage von Waren aus Abteilung <strong>1.</strong>Es ist klar, dass die Akkumulation <strong>de</strong>s Mehrwerts <strong>in</strong> bei<strong>de</strong>n Abteilungen nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Maße möglichist, wie <strong>in</strong> Abteilung 1 die dafür notwendigen Produktionsmittel bereitgestellt wer<strong>de</strong>n. Abteilung1 muß vorauseilen, bevor e<strong>in</strong>e Produktion <strong>in</strong> Abteilung 1 o<strong>de</strong>r 2 überhaupt erneuerto<strong>de</strong>r ausgeweitet wer<strong>de</strong>n kann.Da e<strong>in</strong> stets wachsen<strong>de</strong>r <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Produktionsmittel als fixes <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong>vestiert wird, führt se<strong>in</strong>ezyklische Ersetzung zu e<strong>in</strong>er stoßweisen Nachfrage, die <strong>in</strong> Abteilung 1 zu gesteigerter Produktionführt. Die Nachfrage wird um so wirksamer, wenn es sich nicht nur um die normale Ersetzungfixen <strong>Kapital</strong>s, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er tieferen Wertrevolution um zusätzliche Nachfragehan<strong>de</strong>lt. 482482Tiefe und Dauer e<strong>in</strong>er Krise hängen davon ab, wieviele Verän<strong>de</strong>rungen, die wir hier noch mit <strong>de</strong>m Sammelbegriff "Wertrevolution" belegen,zusammentreffen und die zyklische Rezession, die aus <strong>de</strong>m Zyklus <strong>de</strong>r Anlage<strong>in</strong>vestitionen resultiert, verstärken o<strong>de</strong>r auch verm<strong>in</strong><strong>de</strong>rn.Für die gegenwärtige Wirtschaftskrise waren die geplatzen Spekulationsblasen am Aktienmarkt und am Hypothekenmarkt kräftigeVerstärker, weil sie das Kreditsystem teilweise regelrecht lahmlegten. Die gleichzeitig platzen<strong>de</strong> Spekulationsblase bei Rohstoffen wirkteh<strong>in</strong>gegen zwiespältig. Der rasant s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Preis für Rohöl von 150$ pro Faß Mitte 2008 auf unter 40$ Anfang 2009 verstärkte zunächstdurch Vernichtung spekulativer Investments die F<strong>in</strong>anzkrise, wirkte danach aber wie<strong>de</strong>r stabilisierend. Da sich wegen <strong>de</strong>r s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong>n Ener-232


Die Produktionssteigerung <strong>in</strong> Abteilung 1 steigert die Nachfrage nach Arbeitskräften, <strong>de</strong>renLöhne ebenfalls steigen. Wir bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n uns für Abteilung 1 <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Phase extensiver Akkumulation.<strong>Das</strong> regt die Nachfrage <strong>in</strong> Abteilung 2 weiter an, die <strong>in</strong> Erwartung besserer Geschäfte die Produktionauszuweiten beg<strong>in</strong>nt und ebenfalls extensiv akkumuliert. Daraus folgt weiter wachsen<strong>de</strong>Nachfrage für Abteilung 1 nach neuen Produktionsmitteln. Jetzt kommt es auch zu Neue<strong>in</strong>stellungen<strong>in</strong> Abteilung 2 mit e<strong>in</strong>em weiteren Impuls für die Nachfrage nach Konsumwaren.Wir haben es an diesem Punkt <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls schon mit e<strong>in</strong>em sich selbst anfeuern<strong>de</strong>n Prozess zutun, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m viele E<strong>in</strong>zelkapitale sche<strong>in</strong>bar nach <strong>de</strong>mselben Plan mit <strong>de</strong>mselben Ziel han<strong>de</strong>ln, wobeiallerd<strong>in</strong>gs je<strong>de</strong>m Akteur <strong>de</strong>r Überblick fehlt, was tatsächlich im Ganzen passiert. 483Im weiteren Verlauf normalisiert sich das Geschäft <strong>in</strong> Abteilung 1 und man wechselt <strong>in</strong> die Phase<strong>in</strong>tensiver Akkumulation über, um herauszuholen, was möglich ist. <strong>Das</strong> geht vielleicht e<strong>in</strong> paarJahre gut, bis die Nachfrage nach Produktionsmitteln spürbar abs<strong>in</strong>kt. 484 In Abteilung 1 tretendie ersten Stockungen auf: Unverkäufliche Waren und sich leeren<strong>de</strong> Auftragsbücher leiten dortdie Krise und <strong>de</strong>n Stillstand <strong>de</strong>r Akkumulation e<strong>in</strong>. Große Mengen an fixem <strong>Kapital</strong> welken <strong>in</strong>Abteilung 1 dah<strong>in</strong>. Entlassungen übertragen die Krise durch weiteren Rückgang <strong>de</strong>r Konsumnachfragedirekt auf die Abteilung 2, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bislang alles noch sche<strong>in</strong>bar freundlich aussieht.Doch jetzt geht man mit Verzögerung auch <strong>in</strong> Abteilung 2 von <strong>de</strong>r extensiven <strong>in</strong> die Phase <strong>de</strong>r<strong>in</strong>tensiven Akkumulation über. Sobald Auftragsrückgang und erste Warenstockungen spürbarwer<strong>de</strong>n, sollen Entlassungen und Reduzierung <strong>de</strong>r Produktion die Probleme für die betroffenen<strong>Kapital</strong>e entschärfen. Tatsächlich verstärken sie über <strong>de</strong>n weiteren Nachfragerückgang die Verwertungsproblemeim Ganzen. Überproduktion und Überkapazitäten und e<strong>in</strong> starker Rückkgang<strong>de</strong>r Akkumulation, vielleicht sogar Stillstand o<strong>de</strong>r Rückschritt, s<strong>in</strong>d unvermeidbar, auch wennstaatliche Konjunkturprogramme <strong>de</strong>n Rückgang vielleicht m<strong>in</strong><strong>de</strong>rn.Wir können <strong>in</strong> unser Mo<strong>de</strong>ll jetzt noch <strong>de</strong>n Kredit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>nehmen, <strong>de</strong>r neben <strong>de</strong>r schwanken<strong>de</strong>nNachfrage e<strong>in</strong> wichtiger Weg ist, auf <strong>de</strong>m sich Verwertungsprobleme zwischen <strong>de</strong>n Abteilungiepreisesehr schnell e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>ken<strong>de</strong> Inflation errechnen ließ, gab das <strong>de</strong>r europäischen Zentralbank nämlich freie Hand zur Absenkung <strong>de</strong>rLeitz<strong>in</strong>sen bis nahe Null Prozent.Auf <strong>de</strong>r produktiven Seite, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sogenannten Realwirtschaft, br<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r Absturz <strong>de</strong>s Ölpreises e<strong>in</strong>en Rückgang <strong>de</strong>r Investitionen für dieErdölför<strong>de</strong>rung um fast 200 Mrd.$ <strong>in</strong> 2009 und e<strong>in</strong>en Rückgang <strong>de</strong>r Investitionen im Bereich <strong>de</strong>r alternativen Energien um 40% <strong>in</strong> ähnlicherHöhe. So sehr <strong>de</strong>r niedrige Ölpreis <strong>in</strong> Abteilung 2 für Entlastung sorgt, so be<strong>de</strong>utet er für Abteilung 1 gleichzeitig e<strong>in</strong>en spürbarenRückgang <strong>de</strong>r Nachfrage und für die Weltwirtschaft möglicherweise mittelfristige Versorgungsprobleme für Rohöl. <strong>Das</strong> Beispiel soll noche<strong>in</strong>mal unseren H<strong>in</strong>weis unterstreichen, dass je<strong>de</strong> kapitalistische Krise ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Übertragungswege hat.Je<strong>de</strong> Krise ist an<strong>de</strong>rs.Wer sich aber nur von <strong>de</strong>n äußerlichen Merkmalen leiten läßt, übersieht leicht ihre geme<strong>in</strong>samen Grundlagen. Immobilienblase, Rohstoffspekulation,Aktienboom, Politik <strong>de</strong>s billigen Gel<strong>de</strong>s, Risikomanagement... all das s<strong>in</strong>d verän<strong>de</strong>rbare Umstän<strong>de</strong>, die nicht <strong>de</strong>n Ausbruch<strong>de</strong>s Vulkans hervorbr<strong>in</strong>gen, son<strong>de</strong>rn nur E<strong>in</strong>fluß darauf nehmen, an welcher Stelle und mit welcher Intensität <strong>de</strong>r Ausbruch erfolgt. Je<strong>de</strong>kapitalistische Krise ist an<strong>de</strong>rs und alle kapitalistischen Krisen s<strong>in</strong>d gleich.483Was <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>zelnen Akteur an Überblick fehlt, versucht die Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten als Geme<strong>in</strong>schaftsaufgabe zu lösen. Durch viele Krisengewitzt, hat man bei <strong>de</strong>n Regierungen und <strong>Kapital</strong>verbän<strong>de</strong>n schon sehr früh spezielle Institute geschaffen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen ausgebil<strong>de</strong>teVolkswirte und Wirtschaftsstatistiker das Wirtschaftsgeschehen <strong>in</strong> Zahlen aufbereiten. Doch brauchbare Daten über <strong>de</strong>n Wirtschaftsgangerhält man immer nur mit zeitlicher Verzögerung. Und selbst wenn mit gol<strong>de</strong>nen Lettern und mit höchster Aktualität geschrieben stün<strong>de</strong>:Achtung! Überkapazitäten drohen! wür<strong>de</strong> nichts an<strong>de</strong>res geschehen als tatsächlich immer wie<strong>de</strong>r geschieht. Es wer<strong>de</strong>n Überkapazitäenaufgebaut. Solange es nur eben geht, wird je<strong>de</strong>r versuchen, sich von <strong>de</strong>r Konjunktur e<strong>in</strong> größeres Stück abzuschnei<strong>de</strong>n als <strong>de</strong>r lästige Konkurrent.Alle folgen <strong>de</strong>mselben Pr<strong>in</strong>zip: "Wo ich b<strong>in</strong> ist vorne. Den letzten holt die Krise." Die Vernunft sitzt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Falle <strong>de</strong>s Verwertungszwangs.484<strong>Das</strong> Schema macht auch e<strong>in</strong>sichtig, warum etwa <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Masch<strong>in</strong>enbau, wichtiger Sektor <strong>in</strong> Abteilung 1, sich so stark auf <strong>de</strong>nExport orientiert hat. Wäre er überwiegend auf <strong>de</strong>n B<strong>in</strong>nenmarkt fixiert, hätte er wegen <strong>de</strong>r zyklischen Nachfrage erheblich Auslastungsprobleme.Da aber <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn diese Zyklen meist unterschiedlich verlaufen, kommt es nicht nur zu e<strong>in</strong>er besseren Auslastung,son<strong>de</strong>rn auch zu e<strong>in</strong>em Wachstum weit über die Nachfrage <strong>de</strong>s B<strong>in</strong>nenmarkts h<strong>in</strong>aus. An<strong>de</strong>rerseits ist die starke Exportabhängigkeitauch gefährlich, wie die gegenwärtige Krise zeigt. Auftragsrückgänge von über 50% treten jetzt auf, da die Nachfrage nach Produktionsmitteln<strong>de</strong>rzeit <strong>in</strong> vielen wichtigen Exportlän<strong>de</strong>rn zurückgeht.233


gen, aber auch <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Abteilungen auf die verschie<strong>de</strong>nen Sektoren <strong>de</strong>r Produktion übertragen.In <strong>de</strong>r Aufschwungphase stimuliert das frei verfügbare Kreditgeld nicht nur <strong>de</strong>n beschleunigtenAusbau <strong>de</strong>r Produktion. Er stimuliert über Komsumentenkredite auch die <strong>in</strong>dividuelleNachfrage. Aber auch <strong>de</strong>r Absturz wird dadurch steiler. Sobald es zu Störungen <strong>de</strong>r Verwertungsprozessekommt, zirkuliert das Kreditgeld nicht mehr flüssig, wird knapper und teurer. Die<strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e, die sich <strong>in</strong> Erwartung weiterer Geschäfte mit Krediten belastet haben unddabei von <strong>de</strong>r rezessiven Phase überrascht wer<strong>de</strong>n, gehören mit großer Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu<strong>de</strong>n Verlierern. Die Kredite, die erst großer Stimulator <strong>de</strong>r Nachfrage waren, wer<strong>de</strong>n wegen <strong>de</strong>rKreditbelastungen zu e<strong>in</strong>er ebenso großen Bremse und schaffen nach <strong>de</strong>r Krise längere Phasen<strong>de</strong>r Stagnation.Genug an Mo<strong>de</strong>llierung. Unser Beispiel hat alles und nichts mit <strong>de</strong>n Realitäten zu tun. Je<strong>de</strong> Kriseist an<strong>de</strong>rs, hat ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Beson<strong>de</strong>rheiten. Und je<strong>de</strong> kapitalistischeKrise ist gleich, wurzelt <strong>in</strong> <strong>de</strong>nselben Strukturen. Wenn man Krisen so wie Schmetterl<strong>in</strong>ge sammelnwür<strong>de</strong>, könnte man die gegenwärtige Krise als <strong>in</strong>teressante Mutation <strong>de</strong>r Sammlung e<strong>in</strong>verleiben,so wie man es mit <strong>de</strong>r Krise von 1857 o<strong>de</strong>r 1929 hätte machen können. Die gesellschaftlicheReproduktion kennt viele Variationen und ebenso viele Wege <strong>in</strong> die Krise. Nur e<strong>in</strong>eskennt sie unter kapitalistischen Bed<strong>in</strong>gungen nicht: <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Verlauf ohne periodisch auftreten<strong>de</strong>krisenhafte Rückkopplungen.Die Rückkopplungen treten auf verschie<strong>de</strong>ne Weise <strong>in</strong> wechseln<strong>de</strong>n Sektoren zu Tage. Als Auslöserund Verstärker kommen technologische und <strong>pol</strong>itische und <strong>de</strong>mografische und klimatischeund e<strong>in</strong>e Vielzahl an<strong>de</strong>rer Faktoren <strong>in</strong> Frage. Aber stets s<strong>in</strong>d es Verwertungskrisen. Auf <strong>de</strong>r Produktionsebenetreten Sie als Überproduktion von Waren und als nicht ausgelastete Produktionskapazitätenzutage. Auf <strong>de</strong>r Verwertungsebene sehen wir sie als Liquiditätskrise <strong>in</strong>dividueller<strong>Kapital</strong>e, die zu e<strong>in</strong>em größeren <strong>Teil</strong> dann auch mit <strong>de</strong>r Insolvenz und <strong>de</strong>r Vernichtung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sabgeschlossen wird. Für das Gesamtkapital sehen wir e<strong>in</strong>e Überakkumulation, das ist e<strong>in</strong>eAnsammlung von potentiellem <strong>Kapital</strong>, <strong>de</strong>ssen Verwertung durch die Krise gebremst wur<strong>de</strong> unddas nun auf Verwertung lauert.<strong>Kapital</strong>istische Krisen s<strong>in</strong>d immer Krisen durch Überfluß und <strong>de</strong>shalb eigentlich völlig überflüssigeKrisen. Es s<strong>in</strong>d nicht die dürren Jahre, die <strong>de</strong>n fetten Jahren als e<strong>in</strong>e Art göttlicher Ausgleichfolgen. Sie wurzeln alle<strong>in</strong> (wor<strong>in</strong> wohl?) <strong>in</strong> Konkurrenz und Verwertungszwang <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. <strong>Das</strong>kennen wir <strong>in</strong>zwischen, <strong>de</strong>nn wir haben diese Formulierung oft genug, bis hart an die Grenze<strong>de</strong>r Belastbarkeit verwen<strong>de</strong>t. Aber die bei<strong>de</strong>n Begriffe umfassen nun mal die kapitalistische Spezifik,die uns bereits als E<strong>in</strong>heit von Arbeitsprozess und Verwertungsprozess begegnet ist. Sieverwan<strong>de</strong>lt Vernunft und gesellschaftliche Bedürfnisse <strong>in</strong> Konkurrenz und Verwertung. Wo ke<strong>in</strong>eVerwertung möglich ist, haben auch Vernunft und gesellschaftliche Bedürfnisse ke<strong>in</strong>en Raum. 485485Dieselbe Vernunft, die im Herrschaftsbereich <strong>de</strong>s E<strong>in</strong>zelkapitals durch viele Betriebswirte und IT-Fachleute und Buchhalter und Revisorenund Formulare und je<strong>de</strong> Menge an Controll<strong>in</strong>g und Innenrevision durchgesetzt wird, macht sich rar, sobald sich die E<strong>in</strong>zelkapitale auf<strong>de</strong>m Feld <strong>de</strong>r Konkurrenz begegnen. Dann herrscht dieselbe verdrehte Vernunft wie auf je<strong>de</strong>m Schlachtfeld. Man steckt dr<strong>in</strong>. Man kommtnicht mehr raus. Nur gew<strong>in</strong>nen und überleben ist wichtig.Gesellschaftliche Bedürfnisse br<strong>in</strong>gen sich nur über <strong>de</strong>n mühevollen außerökonomischen Weg, über Klassenkampf und erzwungene staatlicheInterventionen zur Sprache. Dennoch spielen sie auch für die Bewältigung <strong>de</strong>r Krisen e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Ohne Errungenschaften wiedas Arbeitslosengeld wären die Krisen noch tiefer und die sozialen Folgen für die Beschäftigten wür<strong>de</strong>n uns dann wie<strong>de</strong>r an M.s Zeitener<strong>in</strong>nern.Es hat se<strong>in</strong>e Berechtigung, wenn bürgerliche Ökonomen das Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld als "automatische Stabilisatoren" bezeichnen,weil sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Krise <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen Konsums durch Massenentlasssungen bremsen und die zahllosen Konsumentenkrediteauch <strong>in</strong> Krisenzeiten absichern. Wenn dieselben Ökonomen außerhalb <strong>de</strong>r Krisen mit For<strong>de</strong>rungen kommen, die auf e<strong>in</strong>e Beschneidung<strong>de</strong>r automatischen Stabilisatoren h<strong>in</strong>auslaufen, die dann als "soziale Hängemagtte" und ähnliches bezeichnet wer<strong>de</strong>n, ist dasauch nur e<strong>in</strong>e Form <strong>de</strong>sselben Wi<strong>de</strong>rspruchs: Gesellschafts<strong>in</strong>teresse o<strong>de</strong>r Verwertungs<strong>in</strong>teresse? Bei<strong>de</strong>s gibt es nicht gleichzeitig.234


Gehen wir e<strong>in</strong>en Schritt weiter und untersuchen wir genauer, was h<strong>in</strong>ter bei<strong>de</strong>n Begriffensteckt.Kompass und RegulatorM. diskutiert die Reproduktionsschemata für die e<strong>in</strong>fache und die erweiterte Reproduktion im 2.Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" ausführlich auf <strong>de</strong>n letzten 170 Seiten. Unterhaltsam s<strong>in</strong>d diese Seiten nicht.Er trägt dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl von Querverb<strong>in</strong>dungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zusammen.Wir halten davon folgen<strong>de</strong> Ergebnisse fest:In <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise agieren e<strong>in</strong>e Vielzahl von <strong>in</strong>dividuellen Verwertungsprozessenunabhängig <strong>in</strong> gegenseitiger Konkurrenz. Trotz ihrer Unabhängigkeit und Konkurrenzbil<strong>de</strong>n sie e<strong>in</strong>en verwobenen Reproduktionsprozess, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sich die konkurrieren<strong>de</strong>n Verwertungsprozesseals vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abhängige Produktionsprozesse stofflich ergänzen müssen. Diewechselseitigen stofflichen Voraussetzungen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n <strong>in</strong> die Grenzen <strong>de</strong>r gesellschaftlichenKonsumtionskraft, wobei dieselben Verhältnisse, die je<strong>de</strong>m <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong> die Verbesserungse<strong>in</strong>er Verwertung als Zwang auferlegen, gleichzeitig die Ten<strong>de</strong>nz zur <strong>Kapital</strong>fixierung,zur Ausweitung <strong>de</strong>r Produktion und zur E<strong>in</strong>schränkung dieser Konsumtionskraft hervorbr<strong>in</strong>gen.Schon das von uns oben vorgestellte Schema <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Reproduktion hört schlagartig aufsimpel zu se<strong>in</strong>, wenn man sich die beteiligten Größen nicht nur als variabel vorstellt, son<strong>de</strong>rn ihrZustan<strong>de</strong>kommen be<strong>de</strong>nkt. Sie wer<strong>de</strong>n ja nicht auf Beschluß irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>es gesamtkapitalistischenAusschusses festgelegt. Was uns im Reproduktionsschema als c+v+m begegnet, bil<strong>de</strong>t sich austausen<strong>de</strong>n von E<strong>in</strong>zelwerten, die sich nicht nur unabhängig vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> Gegnerschaftzue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r im Herrschaftsbereich <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e ergeben.Es ist nicht nur so, dass niemand weiß, was <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re tut. Er soll es auch nicht wissen. Dennnicht nur <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Produzent <strong>de</strong>rselben Warenart ist <strong>de</strong>r unerbittliche Gegner. 486 Je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>reAkteur ist Konkurrent, da es für alle Akteure um <strong>de</strong>n Anteil an begrenzter Konsumtionskraftgeht. Nur über diesen Anteil an <strong>de</strong>r Konsumtionskraft führt <strong>de</strong>r Weg zum <strong>in</strong>dividuellen Anteilam gesellschaftlichen Mehrwert. Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen ist die Vorstellung e<strong>in</strong>es irgendwiegleichgewichtigen proportionalen Zustands schon für die schlichten Annahmen <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachenReproduktion absurd. <strong>Das</strong> ist nicht e<strong>in</strong>mal als zufälliges Resultat <strong>de</strong>nkbar. 487Krisen s<strong>in</strong>d die periodischen Begleiter <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Reproduktion unter kapitalistischenBed<strong>in</strong>gungen. Aber es s<strong>in</strong>d Krisen <strong>de</strong>s Überflusses. Zuviele Waren, zu viele Produktionskapazitäten:Die Krise löst <strong>de</strong>n Knoten. Fabriken wer<strong>de</strong>n stillgelegt, Waren wer<strong>de</strong>n vernichtet, Arbeitskräftewer<strong>de</strong>n entlassen. An<strong>de</strong>res <strong>Kapital</strong> flieht <strong>in</strong> die Geldform, legt vielleicht <strong>in</strong> Staatspapiereno<strong>de</strong>r niedrig verz<strong>in</strong>sten Geldanlagen e<strong>in</strong>e Verwertungspause e<strong>in</strong>, um nach kommen<strong>de</strong>n neuenVerwertungsmöglichkeiten zu schnobern. Bere<strong>in</strong>igung durch Vernichtung und Neuausrich-486Im Wirtschaftsjargon tituliert man <strong>de</strong>n Konkurrenten am geme<strong>in</strong>samen Markt höflicher als Mitbewerber. Aber das än<strong>de</strong>rt nichts an <strong>de</strong>rausschließlichen Gegnerschaft. Denn was <strong>de</strong>r verkauft, kann man nicht selbst verkaufen. Dessen Gew<strong>in</strong>n ist eigener Verlust.487"Die Tatsache, daß die Warenproduktion die allgeme<strong>in</strong>e Form <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion ist, schließt bereits die Rolle e<strong>in</strong>, die dasGeld, nicht nur als Zirkulationsmittel, son<strong>de</strong>rn als Geldkapital <strong>in</strong> <strong>de</strong>rselben spielt, und erzeugt gewisse, dieser Produktionsweise eigentümlicheBed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s normalen Umsatzes, also <strong>de</strong>s normalen Verlaufs <strong>de</strong>r Reproduktion, sei es auf e<strong>in</strong>facher, sei es auf erweiterter Stufenleiter,die <strong>in</strong> ebenso viele Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s anormalen Verlaufs, Möglichkeiten von Krisen umschlagen, da das Gleichgewicht – bei <strong>de</strong>rnaturwüchsigen Gestaltung dieser Produktion – selbst e<strong>in</strong> Zufall ist." (MEW 24, S.490)235


tung 488 : <strong>Das</strong> beschreibt <strong>de</strong>n Weg, über <strong>de</strong>n sich die von <strong>de</strong>r Krise betroffenen Bereiche wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong>die gesellschaftliche Reproduktion <strong>in</strong>tegrieren.Dennoch ist die gesellschaftliche Reproduktion ke<strong>in</strong> zielloses Gewimmel. Man kann die Notwendigkeitvon Krisen für die gesellschaftliche Reproduktion als Hohn auf menschliche Vernunfto<strong>de</strong>r als teuren Irrweg o<strong>de</strong>r als Konstruktionsfehler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ansonsten leistungsstarken Konzeptbetrachten: Tatsache ist, dass die gesellschaftliche Reproduktion unter kapitalistischen Bed<strong>in</strong>gungenimmer wie<strong>de</strong>r gel<strong>in</strong>gt - so o<strong>de</strong>r so, mit hohen o<strong>de</strong>r sehr hohen Verlusten. Wie ist dasmöglich?Was da geschieht, wird von Unternehmerseite hochtrabend "das freie Spiel <strong>de</strong>r Kräfte" o<strong>de</strong>r"die unsichtbare Hand <strong>de</strong>s Marktes" genannt. Mit gleicher Berechtigung können wir es als Versuch-und-Irrtum-Zirkusbezeichnen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die Akteure auf <strong>de</strong>r Grundlage ihrer eigenen beschränktenErfahrungen, geleitet durch ihre eigenen beschränkten Verwertungs<strong>in</strong>teressen, e<strong>in</strong>enWeg zur Verwertung suchen. <strong>Das</strong> ist wie <strong>de</strong>r Weg durch e<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th <strong>in</strong> völliger Dunkelheit, bei<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r schmerzhafte Zusammenstoß mit e<strong>in</strong>er Wand als lenken<strong>de</strong> Hand <strong>de</strong>s Schicksals gefeiertwird.Doch was br<strong>in</strong>gt die Akteure dazu, das Labyr<strong>in</strong>th überhaupt zu betreten? Dieses und jenes zuversuchen? Woran erkennen sie ihren Irrtum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Labyr<strong>in</strong>th ohne Wän<strong>de</strong>? Wir akzeptieren,dass unverkaufte Waren e<strong>in</strong> schlagen<strong>de</strong>r Beweis für gravieren<strong>de</strong> Probleme s<strong>in</strong>d. Aber es ist janicht ständig Krise. Was sagt ihnen, wenn alle Waren verkauft wer<strong>de</strong>n, ob sich ihr <strong>Kapital</strong> ausreichendverwertet? Woran wird das gemessen und woraus ergibt sich dieser Maßstab?Und weil die Reproduktion ja immer auch stofflich erfolgen muß: Woher wissen die Akteure,wann Investitionen <strong>in</strong> Transportkapazitäten o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> die Stahlproduktion erfor<strong>de</strong>rlich s<strong>in</strong>d? Woranerkennt man, ob man sich aus <strong>de</strong>r Gully<strong>de</strong>ckel-Produktion zurückziehen und <strong>in</strong> elektrische Beleuchtunggehen sollte?Und wie steht es mit <strong>de</strong>m Geldkapital, das wir <strong>in</strong>zwischen als Kreditsystem kennengelernt haben:Was bewirkt se<strong>in</strong>e Verteilung auf die e<strong>in</strong>zelnen Sektoren <strong>de</strong>r Produktion? Warum wird <strong>in</strong>jenen Bereichen <strong>in</strong>vestiert? Warum zieht es sich aus an<strong>de</strong>ren Bereichen zurück?Die Fragen zielen auf zweierlei: E<strong>in</strong>mal auf <strong>de</strong>n <strong>in</strong>neren Kompaß <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>zelkapitale, nach <strong>de</strong>nensie ihre Bewegungen ausrichten. Zum an<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>n Regulator <strong>de</strong>r stofflichen Reproduktion,<strong>de</strong>r dafür sorgt, dass die vielen vere<strong>in</strong>zelten Produktionsprozesse h<strong>in</strong>reichend aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abgestimmts<strong>in</strong>d. Und <strong>de</strong>r, wenn sie es nicht s<strong>in</strong>d, dafür sorgt, dass diese Abstimmung gewaltsam erzwungenwird. Unser beliebter H<strong>in</strong>weis auf Konkurrenz und Verwertungszwang reicht zur Beantwortungdieser Fragen nicht mehr aus.Auch das Wertgesetz <strong>in</strong> unserer ersten Formulierung hilft uns nicht aus <strong>de</strong>r Verlegenheit. Denndie Preisbildung alle<strong>in</strong> wäre hier e<strong>in</strong> völlig unzulänglicher Regulator. Schließlich haben wir es seite<strong>in</strong>igen Kapiteln nicht mehr mit <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>llwelt e<strong>in</strong>er Warenproduktion zu tun, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelneWarenproduzenten mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zelnen Produkt agieren und im Preis ihres Produkts e<strong>in</strong>en sicherenOrientierungwert hatten. Jetzt haben wir es mit <strong>Kapital</strong>en zu tun, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s e<strong>in</strong>e488Neuausrichtung me<strong>in</strong>t die mit je<strong>de</strong>r Krise fast immer verbun<strong>de</strong>ne massenweise Restrukturierung von Unternehmen. <strong>Das</strong> kann umfassen:Abtrennung o<strong>de</strong>r Schließung von Betriebsteilen, Zusammenschluß mit an<strong>de</strong>ren Unternehmen, Mo<strong>de</strong>rnisierung <strong>de</strong>r Produktion, Än<strong>de</strong>rung<strong>de</strong>s Produktsortiments, Aufnahme von <strong>Kapital</strong> bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em kompletten Eigentümerwechsel und so weiter. Krisen s<strong>in</strong>d die wichtigstenMotoren für die Zentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Wichtig: Welche Maßnahmen auch immer ergriffen wer<strong>de</strong>n; je<strong>de</strong> e<strong>in</strong>zelne davon ist auf irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>eWeise mit <strong>de</strong>r Entlassung von Beschäftigten verbun<strong>de</strong>n.236


Vielzahl von Produkten herstellt und die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umgebung ständig schwanken<strong>de</strong>r Preisebehaupten müssen.So kommen wir endlich wie<strong>de</strong>r auf das Wertgesetz zurück. Jetzt aber als Frage nach <strong>de</strong>m Wertgesetzfür die kapitalistische Produktion. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Antwort haben wir schon gegeben, als esum die Mehrwertproduktion als Oberschiedsrichter g<strong>in</strong>g. Doch um etwas über <strong>de</strong>n Kompaß fürE<strong>in</strong>zelkapitale und über <strong>de</strong>n Regulator <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Reproduktion zu erfahren, müssenwir <strong>de</strong>n Mehrwert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Form verlassen.Mal wie<strong>de</strong>r ist e<strong>in</strong> Perspektivenwechsel fällig. Jetzt geht es um die tatsächliche Aneignung <strong>de</strong>sMehrwerts durch das e<strong>in</strong>zelne <strong>Kapital</strong>. In dieser Form begegnet uns <strong>de</strong>r Mehrwert als Profit. Undmit <strong>de</strong>m Profit bekommt auch das Wertgesetz e<strong>in</strong>e neue, nämlich kapitalistische Formulierung –<strong>de</strong>mnächst im zweiten <strong>Teil</strong> unserer <strong>Spurensuche</strong>.Ab Februar 2012 auf unserer Website www.<strong>pol</strong>-<strong>oek</strong>.<strong>de</strong> als Download.237


Antworten zu <strong>de</strong>n Zwischenfragen<strong>1.</strong> Was verstehen wir eigentlich unter "Klassenkampf"?Wir verwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Begriff Klassenkampf ganz <strong>in</strong> M.s S<strong>in</strong>ne: "Die Geschichte aller bisherigenGesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." So lautet <strong>de</strong>r berühmte erste Satz im"Kommunistischen Manifest" von 1848. 489 Aber we<strong>de</strong>r die sozialen Klassen noch <strong>de</strong>r Kampfdieser Klassen als Triebkraft <strong>de</strong>r Geschichte ist M.s Ent<strong>de</strong>ckung. Und schon gar nicht ist <strong>de</strong>r KlassenkampfM.s "Erf<strong>in</strong>dung", um arme, unwissen<strong>de</strong> Bürgerk<strong>in</strong><strong>de</strong>r zur Rebellion zu verführen.Mancher <strong>de</strong>nkt bei Klassenkampf vielleicht an Barrika<strong>de</strong>n, Massenproteste, Revolutionen, an <strong>de</strong>nSturm auf das W<strong>in</strong>terpalais <strong>in</strong> Petrograd 1917 o<strong>de</strong>r an die 72 Tage <strong>de</strong>r Pariser Kommune im Jahr187<strong>1.</strong> Aber das ist nur e<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziger Ausschnitt. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d nur die Kulm<strong>in</strong>ationspunkte, über dieman spricht, die "Lokomotiven <strong>de</strong>r Geschichte", wie M. sie e<strong>in</strong>mal nannte. 490 Die meiste Geschichteaber, um im Bil<strong>de</strong> zu bleiben, wird zu Fuß erledigt.Außer<strong>de</strong>m herrscht die unseres Erachtens nicht marxistische Vorstellung vor, es gehe bei diesemKlassenkampf stets um <strong>de</strong>n Kampf <strong>de</strong>r großen Klassen, etwa zwischen "Bourgeoisie" und "Proletariat",mit wehen<strong>de</strong>n Fahnen und geschmetterten Kampflie<strong>de</strong>rn und Heroismus bis zum Abw<strong>in</strong>ken.Tatsächlich s<strong>in</strong>d mit Klassenkampf alle Kämpfe aller Klassen und Klassenfraktionen gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rund <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>rselben Klasse geme<strong>in</strong>t. Auch die kapitalistische Konkurrenz ist <strong>in</strong>dieser Sicht nichts an<strong>de</strong>res als e<strong>in</strong>e Seite <strong>de</strong>s Klassenkampfs, die sich sowohl gegen Belegschaftenals auch gegen an<strong>de</strong>re <strong>Kapital</strong>e richtet. Die unterschiedlichen Interessenlagen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>fraktionenbil<strong>de</strong>n die Grundlage <strong>de</strong>s Gerangels um die "richtige Regierungs<strong>pol</strong>itik" und entschei<strong>de</strong>nviel häufiger über zentrale Fragen, etwa die von Krieg und Frie<strong>de</strong>n, als dies die Kämpfezwischen <strong>de</strong>n großen Klassen tun.489MEW 4, S.462. Engels macht für spätere Ausgaben <strong>de</strong>s "Manifest" die E<strong>in</strong>schränkung: "<strong>Das</strong> heißt, genau gesprochen, die schriftlichüberlieferte Geschichte. 1847 war die Vorgeschichte <strong>de</strong>r Gesellschaft, die gesellschaftliche Organisation, die aller nie<strong>de</strong>rgeschriebenenGeschichte vorausg<strong>in</strong>g, noch so gut wie unbekannt."Als Vorgeschichte gilt die Frühzeit <strong>de</strong>r Menschheitsgeschichte, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r we<strong>de</strong>r gesellschaftliche Arbeitsteilung noch Privateigentum e<strong>in</strong>e bestimmen<strong>de</strong>Rolle spielten, es also auch nicht zur Herausbildung verschie<strong>de</strong>ner gesellschaftlicher Klassen und daher auch zu ke<strong>in</strong>em Klassenkampfkommen konnte. Gestritten haben die sich trotz<strong>de</strong>m, aber eben persönlich von Vorgeschichtler zu Vorgeschichtler, so wie wiruns auch heute noch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Familie o<strong>de</strong>r mit Nachbarn streiten – <strong>in</strong> aller Freund- und Fe<strong>in</strong>dschaft.490Wir f<strong>in</strong><strong>de</strong>n diese Formulierung <strong>in</strong> M.s Schrift "Die Klassenkämpfe <strong>in</strong> Frankreich", <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen er die revolutionären Ereignisse und die Nie<strong>de</strong>rlage<strong>de</strong>r Revolution <strong>in</strong> Frankreich zwischen 1848 und 1850 analysiert. Er schreibt über <strong>de</strong>n beschleunigten Klassenkampf:"Man begreift die Lage <strong>de</strong>r französischen Bauern, als die Republik ihren alten Lasten noch neue h<strong>in</strong>zugefügt hatte. Man sieht, daß ihreExploitation von <strong>de</strong>r Exploitation <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen Proletariats sich nur durch die Form unterschei<strong>de</strong>t. Der Exploiteur ist <strong>de</strong>rselbe: das <strong>Kapital</strong>.Die e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten exploitieren die e<strong>in</strong>zelnen Bauern durch die Hypotheke und <strong>de</strong>n Wucher, die <strong>Kapital</strong>istenklasse exploitiertdie Bauernklasse durch die Staatssteuer. Der Eigentumstitel <strong>de</strong>r Bauern ist <strong>de</strong>r Talisman, womit das <strong>Kapital</strong> ihn bisher bannte, <strong>de</strong>r Vorwand,unter <strong>de</strong>m es ihn gegen das <strong>in</strong>dustrielle Proletariat aufhetzte. Nur <strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s kann <strong>de</strong>n Bauern steigen machen, nur e<strong>in</strong>eantikapitalistische, e<strong>in</strong>e proletarische Regierung kann se<strong>in</strong> ökonomisches Elend, se<strong>in</strong>e gesellschaftliche Degradation brechen. Die konstitutionelleRepublik, das ist die Diktatur se<strong>in</strong>er vere<strong>in</strong>igten Exploiteurs; die sozial-<strong>de</strong>mokratische, die rote Republik, das ist die Diktatur se<strong>in</strong>erVerbün<strong>de</strong>ten. Und die Waage steigt o<strong>de</strong>r fällt je nach <strong>de</strong>n Stimmen, welche <strong>de</strong>r Bauer <strong>in</strong> die Wahlurne wirft. Er selbst hat über se<strong>in</strong>Schicksal zu entschei<strong>de</strong>n. – So sprachen die Sozialisten <strong>in</strong> Pamphlets, <strong>in</strong> Almanachs, <strong>in</strong> Kalen<strong>de</strong>rn, <strong>in</strong> Flugschriften aller Art. Verständlicherwur<strong>de</strong> ihm diese Sprache durch die Gegenschriften <strong>de</strong>r Partei <strong>de</strong>r Ordnung, die sich ihrerseits an ihn wandte und durch die grobe Übertreibung,durch die brutale Auffassung und Darstellung <strong>de</strong>r Absichten und I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Sozialisten <strong>de</strong>n wahren Bauernton traf und se<strong>in</strong>e Lüsternheitnach <strong>de</strong>r verbotenen Frucht überreizte. Am verständlichsten aber sprachen die Erfahrungen selbst, welche die Bauernklasse von<strong>de</strong>m Gebrauch <strong>de</strong>s Stimmrechts gemacht hatte, und die <strong>in</strong> revolutionärer Hast Schlag auf Schlag ihn überstürzen<strong>de</strong>n Enttäuschungen. DieRevolutionen s<strong>in</strong>d die Lokomotiven <strong>de</strong>r Geschichte." (MEW 7, S. 84f)<strong>Das</strong> Zitat zeigt, was M. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en <strong>pol</strong>itischen Analysen unter Klassenkampf versteht: <strong>Das</strong> ganze Spektrum <strong>de</strong>r Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungen eben.238


Der Klassenkampf besteht wie alles an<strong>de</strong>re im Leben vornehmlich aus <strong>de</strong>m Alltag. Je<strong>de</strong> Tagesschau,je<strong>de</strong> Vorstandssitzung e<strong>in</strong>es Konzerns, je<strong>de</strong> Betriebversammlung, Millionen von Handlungentagtäglich s<strong>in</strong>d wirklicher Klassenkampf, mehr o<strong>de</strong>r weniger bewußt o<strong>de</strong>r zielstrebig o<strong>de</strong>rerfolgreich geführt, aber zweifellos Klassenkampf: Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungen zwischen sozialenGruppen um die Durchsetzung ihrer Interessen. Auch wenn die Akteure das ganz an<strong>de</strong>rs sehenund es vielleicht "Informationspflicht" o<strong>de</strong>r "Wettbewerb" o<strong>de</strong>r "soziale Reform" nennen, von"sozialen Konflikten" o<strong>de</strong>r "Arbeitskämpfen" o<strong>de</strong>r sogar von e<strong>in</strong>er "Politik für das Allgeme<strong>in</strong>wohl"und von "partnerschaftlicher Mitbestimmung" re<strong>de</strong>n. Es geht um Klassen<strong>in</strong>teressen, obwir diese Klassen nun Gruppen o<strong>de</strong>r soziale Schichten o<strong>de</strong>r Sozialpartner o<strong>de</strong>r sonst wie nennen.Der Begriff "Klassenkampf" wird, wenn er <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Medien auftaucht, stets als etwas Ungehörigesvermittelt, das bestenfalls e<strong>in</strong>er dunklen Vergangenheit angehört, die längst überwun<strong>de</strong>nist. Aber <strong>de</strong>r "Klassenkampf" ist eben ke<strong>in</strong>e kommunistische Erf<strong>in</strong>dung und erst recht ke<strong>in</strong>emarxistische Verführung <strong>de</strong>r Massen zur Unbotmäßigkeit. (Die wür<strong>de</strong>n sich das verbitten.) DerKlassenkampf wur<strong>de</strong> nicht von dieser o<strong>de</strong>r jener Gruppe erfun<strong>de</strong>n und kann auch nicht e<strong>in</strong>fach<strong>in</strong>szeniert o<strong>de</strong>r hervorgerufen wer<strong>de</strong>n. Er f<strong>in</strong><strong>de</strong>t statt.Inmitten <strong>de</strong>r Weltwirtschaftskrise stellte "Die Zeit" <strong>in</strong> ihrem Feuilleton die Frage "Führt die F<strong>in</strong>anzkrisezum Klassenkampf?" (30.10.2008). Kuriose Frage! Dabei steht doch <strong>de</strong>r Autor längstmittendr<strong>in</strong>: Mit se<strong>in</strong>em eigenen Artikel und dank <strong>de</strong>s schlichten Umstands, dass die Krise selbstnicht nur Resultat, son<strong>de</strong>rn auch sofort e<strong>in</strong>e Form <strong>de</strong>s Klassenkampfs ist. Sie ist gewiß ke<strong>in</strong> Naturereignis.Sie ist vermutlich auch ke<strong>in</strong>e beabsichtigte, aber doch e<strong>in</strong> wirkliche Konsequenzmenschlichen Han<strong>de</strong>lns. Und nicht irgendwelcher Menschen, son<strong>de</strong>rn von Menschen, die ihrenökonomischen Interessen folgten. Nun könnten wir das vornehmer ausdrücken, könnten das"unternehmerisches Han<strong>de</strong>ln" o<strong>de</strong>r "Umsetzung von Gruppen<strong>in</strong>teressen" o<strong>de</strong>r "Marktrationalität"nennen. Wir können das auf psychologisch formulieren und von "Habgier <strong>de</strong>r Banker", von"Dummheit <strong>de</strong>r Investoren" o<strong>de</strong>r von "Risikobl<strong>in</strong>dheit <strong>de</strong>r Marktteilnehmer" sprechen. Es bleibt- Klassenkampf.Der Klassenkampf ist die Art und Weise, wie die Menschen ihre Geschichte wirklich machen.Spätestens seit <strong>de</strong>r französischen Revolution von 1789 ist die Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>in</strong>Klassen und soziale Gruppen mit divergieren<strong>de</strong>n ökonomischen Interessen und <strong>de</strong>n daraus resultieren<strong>de</strong>nKlassenkämpfen akzeptiert. 491 Immerh<strong>in</strong> betrat die junge Bourgeoisie als bewußteKlassenkämpfer<strong>in</strong> die historische Bühne. Wenn ihre Medienfritzen heute auch alles daran setzen,<strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Ereignisse als objektive Notwendigkeit und als logisches Resultat <strong>de</strong>r diversenSachzwänge ersche<strong>in</strong>en zu lassen.Es gibt <strong>de</strong>n Klassenkampf von oben, <strong>de</strong>rzeit sehr <strong>in</strong> Mo<strong>de</strong>. Der ist mal offen und brutal, wennvon unvermeidlichen Freisetzungen die Re<strong>de</strong> ist. O<strong>de</strong>r er versteckt sich h<strong>in</strong>ter wohlkl<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>nWorten wie "Eigenverantwortung" und wird sogar als "Reformpaket" geschnürt, wenn es um<strong>de</strong>n Abbau sozialer Rechte geht. Und es gibt <strong>de</strong>n Klassenkampf von unten, <strong>de</strong>rzeit stark e<strong>in</strong>geschüchterto<strong>de</strong>r sanft schlummernd. Aber selbst <strong>de</strong>r Verzicht darauf ist wichtiges Element <strong>de</strong>salltäglichen Klassenkampfs: Je<strong>de</strong>s "Die da oben machen doch was sie wollen", je<strong>de</strong>s "Wir kle<strong>in</strong>enLeute können da nichts machen" ist ebenso wie e<strong>in</strong> Streik o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e Betriebsbesetzungpraktischer alltäglicher Klassenkampf. Wer dazu gebracht wird, auf die Durchsetzung eigener491Wer sich näher damit befassen will, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t immer noch mit <strong>de</strong>r Arbeit von Rudolf Herrnstadt e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> das Thema. (R.Herrnstadt: Die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r Klassen. Die Geschichte <strong>de</strong>s Begiffs Klasse von <strong>de</strong>n Anfängen bis zum Vorabend <strong>de</strong>r Pariser Julirevolution1830; Berl<strong>in</strong> (DDR) 1965)239


Interessen zu verzichten, ist eben e<strong>in</strong> passiver Bauer im großen Klassenschach. Aber er nimmt<strong>de</strong>nnoch daran teil.Ob wir es wahrhaben wollen o<strong>de</strong>r nicht: Wir s<strong>in</strong>d <strong>Teil</strong> dieser alles beherrschen<strong>de</strong>n Produktionsweise.Von <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Umweltschädigung bis zum Verlust <strong>de</strong>s Arbeitsplatzes, von <strong>de</strong>rschönen bunten Warenwelt <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>kaufscenter bis zu <strong>de</strong>n schäbigen M<strong>in</strong>ijobs ebendort. Und dieBewegungsgesetze dieser Produktionsweise bewegen und verän<strong>de</strong>rn unsere Lebensverhältnissetäglich – und sie bewegen uns so o<strong>de</strong>r so.Der Klassenkampf ist e<strong>in</strong>e objektive Tatsache. Unabhängig davon, was wir darüber <strong>de</strong>nken. Subjektivist nur die Art und Weise, wie er geführt wird. Man kann ihn bewußt führen, also: Zielstrebigfür die eigenen Interessen e<strong>in</strong>treten, sich mit Menschen, die ähnliche Interessen haben,zusammenschließen. Man kann <strong>de</strong>n Problemen, die e<strong>in</strong>en selbst und an<strong>de</strong>re bedrängen, zu Leiberücken. Man kann sogar für e<strong>in</strong>e Gesellschaft auf nicht kapitalistischer Grundlage kämpfen.Man kann das alles auch lassen. Aber wenn man nicht teilnimmt, so steckt man doch mittendr<strong>in</strong>.Wer sich selbst nicht e<strong>in</strong>mischt, wird <strong>de</strong>nnoch mitgemischt.2. Bei Marx und Engels f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir sehr oft das Wort "Kritik" <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Titeln ihrerVeröffentlichungen. Und <strong>de</strong>r Text ihrer Arbeiten ist meist sehr scharf und <strong>pol</strong>emischformuliert. Han<strong>de</strong>lte es sich bei <strong>de</strong>n Herren um extreme Streithammel?Die Vorliebe für schärfste Polemik ist <strong>in</strong>sofern verständlich, als sie mit ihren Gedanken fast immerwirkliches Neuland betraten. Man kann e<strong>in</strong>en sich erst noch entwickeln<strong>de</strong>n Standpunkt, <strong>de</strong>rsich gegen alle Denktraditionen und etablierten Schulen behaupten muß, wohl kaum mit aka<strong>de</strong>misch-braven,höflich zurückhalten<strong>de</strong>n und emotionsfreien Beiträgen vorantreiben.Und da es sich überwiegend um Beiträge mit brandaktuellen <strong>pol</strong>itischen Bezügen han<strong>de</strong>lte, hattensie natürlich auch das Ziel, sich gegen an<strong>de</strong>re Auffassungen zu behaupten. Im <strong>pol</strong>itischenFeld waren M. und E. nicht auf Lehrstühle aus, son<strong>de</strong>rn wollten <strong>de</strong>m revolutionären Kampf gegendie bürgerliche Gesellschaft e<strong>in</strong> gedankliches Fundament geben. Auch <strong>de</strong>r Orientierungskampf<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er zersplitterten Arbeiterbewegung mußte geführt wer<strong>de</strong>n: Woh<strong>in</strong> soll esgehen? Was s<strong>in</strong>d die weiter führen<strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen? Woran erkennt man e<strong>in</strong>en Holzweg? BeimStreit um solche Fragen geht es nicht eben höflich zu.Unbestritten ist aber auch, dass die, die heute als Klassiker gelten, nicht eben unter Beschei<strong>de</strong>nheitlitten, son<strong>de</strong>rn von ihren hervorragen<strong>de</strong>n Fähigkeiten vollständig überzeugt waren. 492 <strong>Das</strong>ist nur <strong>de</strong>shalb erträglich, weil bei<strong>de</strong> eben auch außergewöhnliche Fähigkeiten besassen. Für unsje<strong>de</strong>nfalls gibt es ke<strong>in</strong>en Grund, <strong>de</strong>rgleichen nachzuahmen.Wer ohne die entsprechen<strong>de</strong>n Fähigkeiten me<strong>in</strong>t, heute <strong>de</strong>n Marx <strong>in</strong> Wort und Ton geben zumüssen, läuft Gefahr, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s großspurigen Lauttöners stecken zu bleiben, <strong>de</strong>m manauch dann nicht zuhören wird, wenn er etwas richtiges sagt.3. Gibt es überhaupt e<strong>in</strong>en „Marxismus“? Was könnte dafür, was könnte dagegensprechen?Der Begriff "Marxismus", mehr noch "Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus", legt die Vermutung nahe, manhabe es mit e<strong>in</strong>em verb<strong>in</strong>dlichen, fix und fertigen System <strong>de</strong>r Welterklärung zu tun. Gera<strong>de</strong> nach492Überliefert ist Vater Marxens Brief an <strong>de</strong>n 19jährigen Stu<strong>de</strong>nten Karl He<strong>in</strong>rich, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m es heißt: "Du weißt es, Du mußt es wissen, mitwelcher Liebe ich Dich umfasse, aber ich kann mich <strong>de</strong>s Gedankens nicht entschlagen, daß Du nicht frei von Egoismus bist, etwas mehr alszur Selbsterhaltung nötig."240


<strong>de</strong>m Scheitern <strong>de</strong>s Sozialismus <strong>in</strong> <strong>de</strong>r UdSSR, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r DDR und an<strong>de</strong>ren Staaten sollte man zurückru<strong>de</strong>rnund <strong>de</strong>n Mund nicht allzu voll nehmen. "Beschei<strong>de</strong>ner se<strong>in</strong> und wirksamer analysieren"wäre unsere Losung. Und alles wie<strong>de</strong>r neu durch<strong>de</strong>nken. Und sich an <strong>de</strong>n Klassikern e<strong>in</strong> Beispielnehmen, sie als wirkliche Anregungen nutzen, nicht aber als Ste<strong>in</strong>bruch für Zitate mißbraucheno<strong>de</strong>r als heilige Offenbarung hüten.Engels gab 1893 e<strong>in</strong>em Vertreter <strong>de</strong>r russischen Emigranten <strong>in</strong> Chicago, die ihn als Schiedsrichterfür <strong>pol</strong>itische Fragen beanspruchen wollten, <strong>in</strong> dieser Sache folgen<strong>de</strong>n Korb. Er schrieb:"Wenn Sie die russische Emigrationsliteratur <strong>de</strong>r letzten zehn Jahre verfolgt haben, wer<strong>de</strong>n Sieselbst wissen, wie zum Beispiel von <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen russischen Emigrantengruppen Passagenaus <strong>de</strong>n Schriften und <strong>de</strong>m Briefwechsel von Marx <strong>in</strong> höchst wi<strong>de</strong>rsprüchlicher Weise ausgelegtwor<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, genau so, als wären es Texte aus Klassikern o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Neuen Testament. Wasich auch immer über <strong>de</strong>n von Ihnen erwähnten Gegenstand sagen könnte, wür<strong>de</strong> wahrsche<strong>in</strong>lichdasselbe Schicksal erlei<strong>de</strong>n, wenn ihm irgendwelche Aufmerksamkeit erwiesen wür<strong>de</strong>." 493Weniger höflich formuliert: Selber essen macht satt. Selber <strong>de</strong>nken macht schlau.An<strong>de</strong>rerseits bezeichnet "Marxismus" 494 heute e<strong>in</strong>e Grundposition, die im E<strong>in</strong>zelnen zwar differenziertwer<strong>de</strong>n kann, die aber e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Bezugspunkt <strong>in</strong> M.s Theorie und Metho<strong>de</strong>hat. In diesem S<strong>in</strong>ne hätten wir ke<strong>in</strong>e Be<strong>de</strong>nken, uns selbst als Marxisten zu bezeichnen, weil wirM.s zentrale Erkenntnisse, von <strong>de</strong>nen wir e<strong>in</strong>ige <strong>in</strong> dieser <strong>Spurensuche</strong> kennenlernen, als Konsens,als allgeme<strong>in</strong> akzeptierten Ausgangspunkt eigener Analysen nutzen.4. Übertreiben die Marxisten mit ihrer Kritik an <strong>de</strong>r Volkswirtschaftslehre nicht erheblich?Als während <strong>de</strong>r sogenannten F<strong>in</strong>anzkrise 2007/2008 plötzlich <strong>de</strong>r Bedarf nach Übersicht und<strong>de</strong>n "großen Zusammenhängen" stärker wur<strong>de</strong>, sprach man <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Medien mal wie<strong>de</strong>r häufigervon Volkswirtschaft. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>r aus <strong>de</strong>r Gruppe <strong>de</strong>r ansonsten tonangeben<strong>de</strong>n Analysten <strong>de</strong>utete dasso: "Wenn Volkswirte plötzlich so sehr im Mittelpunkt <strong>de</strong>s Interesses stehen, dann muss es umdie Märkte schlimm bestellt se<strong>in</strong>." <strong>Das</strong> Han<strong>de</strong>lsblatt kommentiert am <strong>1.</strong>12.2008 die Rolle <strong>de</strong>rVolkswirtschaft: "Stan<strong>de</strong>n früher Anlagestrategen und Analysten an vor<strong>de</strong>rster Front, um Investoren,Top-Kun<strong>de</strong>n und Journalisten ihre Empfehlungen für das kommen<strong>de</strong> Jahr zu präsentieren,so führen sie diesmal e<strong>in</strong> Schattendase<strong>in</strong>. Statt<strong>de</strong>ssen dom<strong>in</strong>ieren diejenigen, die sonst wegenihrer als trocken und manchmal gar praxisfern verschrieenen Materie im H<strong>in</strong>tergrund stan<strong>de</strong>n."Auch die Akteure <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzkrise teilen sche<strong>in</strong>bar unsere Ablehnung <strong>de</strong>r Volkswirtschaftslehre.Allerd<strong>in</strong>gs geht es <strong>de</strong>nen wohl nicht um Wissenschaft. Die wünschen sich nur eben e<strong>in</strong>e Lehre,die ihnen traumwandlerisch sicheren Zugang zu <strong>de</strong>n Renditequellen weist. Und wenn schonnicht das, ihnen wenigstens rechtzeitig e<strong>in</strong>e Warnung zuruft und dann <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lage ist, <strong>de</strong>n Krisenscha<strong>de</strong>nzu reparieren.493Friedrich Engels: Brief an Isaac Adolfowitsch Gurwitsch <strong>in</strong> Chicago, 27.5.1893; MEW 39, S.75494Angeblich soll M. erschrocken auf die Feststellung reagiert haben, es gebe Menschen, die sich als "Marxisten" bezeichnen. <strong>Das</strong> müßtee<strong>in</strong> völlig unüblicher Anfall von Beschei<strong>de</strong>nheit gewesen se<strong>in</strong>. Vermutlich geht die krumme Anekdote auf e<strong>in</strong>e Fehl<strong>de</strong>utung zurück. M. rüffeltenämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an se<strong>in</strong>en Schwiegersohn Paul Lafargue die theoretischen Positionen <strong>de</strong>r französischen Sozialisten, die sichselbst und ihre Positionen als marxistisch priesen. Daraufh<strong>in</strong> hat M. nach Mitteilung von Friedrich Engels festgestellt: "Wenn diese LeuteMarxisten s<strong>in</strong>d, dann b<strong>in</strong> ich selbst ke<strong>in</strong> Marxist."Später wur<strong>de</strong> daraus die schon erwähnte drollige Anekdote mit <strong>de</strong>utlich an<strong>de</strong>rem Akzent. In dieser Form wird sie hauptsächlich von Leutenkolportiert, die Marx e<strong>in</strong>e be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Persönlichkeit <strong>de</strong>r Geschichte nennen und damit alle<strong>in</strong> die Vergangenheit me<strong>in</strong>en.Marxismus ist <strong>in</strong> mancherlei H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> Etikett gewor<strong>de</strong>n, das nur Vermutungen über <strong>de</strong>n Inhalt zuläßt. Aus Sicht <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomieist <strong>de</strong>r Spielraum enger: Hier zählen wir Werttheorie, Mehrwerttheorie und die Theorie vom ten<strong>de</strong>nziellen Fall <strong>de</strong>r Profitrate, wie auchimmer für die heutigen Bed<strong>in</strong>gungen konkretisiert, zum unverwechselbaren Markenzeichen. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>pol</strong>itische Ökonomie wäre ohne dieseElemente natürlich möglich, aber eben nicht marxistisch.241


Doch für die Volkswirte kommt es noch knüppeldicker. E<strong>in</strong>ige Krisenmonate später steht ihre"Lehre" endgültig da, wo sie h<strong>in</strong>gehört: Im Regen nämlich aus Spott und Hohn <strong>de</strong>r eigenenKlassenbrü<strong>de</strong>r und Auftraggeber. Beispielhaft die Vorwürfe <strong>de</strong>r neoliberalen Neuen Zürcher Zeitung<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Grundsatzbeitrag <strong>de</strong>r Redaktion vom 1<strong>1.</strong>4.2009:Die Vorwürfe betreffen erstens <strong>de</strong>n "vom Zeitgeist geprägten, überzogenen Optimismus" un<strong>de</strong>s heißt: "Dieser naive Zukunftsglaube liess viele die unvermeidliche Zyklizität, ja Krisenanfälligkeitje<strong>de</strong>r Volkswirtschaft vergessen." Holla, im Angesicht <strong>de</strong>r Weltwirtschaftskrise macht Leugnenwirklich ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n. Also wird (entgegen früheren Verlautbarungen) die These vom krisenfreien<strong>Kapital</strong>ismus <strong>de</strong>n Zeitgeistfolgern untergeschoben. Und mit weltmännischem Augenzw<strong>in</strong>kerntut man selber so, als seien zyklische Krisen das normalste von <strong>de</strong>r Welt – wie täglichesZähneputzen.Der zweite Vorwurf betrifft "die übertriebene Betonung <strong>de</strong>r an sich durchaus hilfreichen Mathematikund <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>lle". Im Schatten <strong>de</strong>r Krise wer<strong>de</strong>n plötzlich die Anhänger <strong>de</strong>s freienMarktes (<strong>de</strong>r ja auch nur e<strong>in</strong> Mo<strong>de</strong>ll ist) zu methodologischen Skeptikern: "Je raff<strong>in</strong>ierter dieFormeln wur<strong>de</strong>n... <strong>de</strong>sto mehr g<strong>in</strong>g <strong>de</strong>r zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> ökonomische Sachverhalt verloren: Jegenauer die Ergebnisse wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto irrelevanter wur<strong>de</strong>n sie zugleich." Mit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rungnach e<strong>in</strong>em "Denken <strong>in</strong> Ordnungen, das nicht an e<strong>in</strong>e präzise Vorhersagbarkeit und Steuerbarkeit<strong>de</strong>r Wirtschaft glaubt", wird <strong>de</strong>r "Blick fürs Ganze" gefor<strong>de</strong>rt.Der dritte Vorwurf betrifft die Zerglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r ökonomischen Wissenschaften. Und siehe da:Beson<strong>de</strong>rs wird die "Vernachlässigung <strong>de</strong>r Geschichte" hervorgehoben: "Manchmal wünschteman sich sogar, die historische Schule <strong>de</strong>r Nationalökonomie komme trotz all ihren methodischenDefekten wie<strong>de</strong>r etwas mehr zu Ehren, weil sie <strong>de</strong>m Denken <strong>in</strong> gesellschaftlichen Gesamtzusammenhängenverpflichtet ist." Was? Neoliberales Sehnen nach M. und Konsorten? Trotz"<strong>de</strong>r methodischen Defekte" wie Mehrwerttheorie und Fall <strong>de</strong>r Profitrate? Dann muß es wirklichübel aussehen.Der vierte Vorwurf gilt <strong>de</strong>r "Ten<strong>de</strong>nz, die Ökonomie re<strong>in</strong> technokratisch zu betreiben." <strong>Das</strong> istgeschickt, um die Rolle <strong>de</strong>r echten Neoliberalen <strong>in</strong>s rechte Licht zu rücken: "Gera<strong>de</strong> nicht dieangeblichen Markti<strong>de</strong>ologen, son<strong>de</strong>rn vielmehr die ökonomischen Technokraten, die an wertfreieObjektivität glauben und die Wirtschaftswissenschaften als blutleeres Instrument verstehen,haben nie die S<strong>in</strong>nfrage gestellt." S<strong>in</strong>nfrage? Der S<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s Ganzen besteht offenbar dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>tiefgreifen<strong>de</strong> i<strong>de</strong>ologische Krise durch Beschimpfung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren zu meistern. Die bürgerlichenWirtschaftswissenschaften haben zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt gehalten, was ihre Akteure <strong>de</strong>n Auftraggebernund was die Auftraggeber sich selbst versprochen haben. Die Krise hat das nur mal wie<strong>de</strong>r<strong>de</strong>utlich gemacht. Aber sie kommt <strong>de</strong>m neoliberalen Ma<strong>in</strong>stream gera<strong>de</strong> recht als Sün<strong>de</strong>nbock.Also schließt <strong>de</strong>r NZZ-Kommentar: "Die Krise <strong>de</strong>r Wirtschaft ist <strong>de</strong>shalb auch die Krise e<strong>in</strong>erzu eng verstan<strong>de</strong>nen, zu sehr e<strong>in</strong>em naturwissenschaftlichen I<strong>de</strong>al nacheifern<strong>de</strong>n, stark angelsächsischgeprägten neoklassischen Ökonomie."Auf wun<strong>de</strong>rbare Weise br<strong>in</strong>gt sich durch diesen Trick <strong>de</strong>r Neoliberalismus, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er sich <strong>in</strong> europäischenOrdo-Liberalismus 495 verwan<strong>de</strong>lt, nicht nur aus <strong>de</strong>r Schußl<strong>in</strong>ie. Er stellt sich damit auch495Hübsch ist auch dieses Zitat aus gleicher Quelle: "Die sich als ordoliberal verstehen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschsprachigen Ökonomen haben die aus<strong>de</strong>n USA importierte Mathematikgläubigkeit nie geteilt. Aber genau diese Ökonomie wur<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n europäischen Universitäten ausgetrocknet.Während Mo<strong>de</strong>llschre<strong>in</strong>erei sowie das Zählen, Messen und das Berechnen von Korrelationen Reputation und e<strong>in</strong>e aka<strong>de</strong>mischeKarriere versprechen, fristet die Ordnungstheorie e<strong>in</strong> <strong>Das</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Elendsvierteln <strong>de</strong>r Nationalökonomie. Da und dort wur<strong>de</strong> sie sogardurch e<strong>in</strong>e moralistische Wirtschaftsethik ersetzt." Vom modischen neoliberal geht’s schnell zum altväterischen ordoliberal. Der Unter-242


noch als Opfer dar, das von Hyper-Optimisten, Mo<strong>de</strong>llschre<strong>in</strong>ern, unhistorischen Banausen undTechnokraten, kurz: von angelsächsischen Umtrieben an <strong>de</strong>n Rand gedrängt wird und for<strong>de</strong>rt"an <strong>de</strong>n Universitäten <strong>in</strong> Zukunft wie<strong>de</strong>r mehr Anerkennung", sprich: noch mehr Lehrstühle.Genug <strong>de</strong>r Jeremia<strong>de</strong>. Es hat e<strong>in</strong>en gewissen Unterhaltungswert, wenn bürgerliche Wirtschaftsleuteüber an<strong>de</strong>re bürgerliche Wirtschaftsleute herziehen. Aber es br<strong>in</strong>gt uns nicht weiter. Diestecken nunmal mit <strong>de</strong>r gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise nicht nur im ökonomischen, son<strong>de</strong>rnauch im i<strong>de</strong>ologischen Morast.Zurück zur Frage: Ist unsere Kritik überzogen? Antwort: Wenn man sieht, was Volkswirte <strong>de</strong>rzeitvon <strong>de</strong>n Klassenkamera<strong>de</strong>n an Keile beziehen, ist unsere Kritik <strong>de</strong>r bürgerlichen Volkswirtschafteher zurückhaltend und e<strong>in</strong> bißchen sogar von Mitleid geprägt, aber nur e<strong>in</strong> bißchen.5. Was ist <strong>de</strong>r Gegenstand <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie? Was s<strong>in</strong>d die Unterschie<strong>de</strong> zur"bürgerlichen" Wirtschaftswissenschaft?Die Politische Ökonomie untersucht, wie sich e<strong>in</strong>e Gesellschaft ihre Lebensbed<strong>in</strong>gungen schafftund sich dadurch von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation reproduziert. Sie untersucht,mit welchen technischen und organisatorischen Mitteln das geschieht, welche Beziehungen dieMenschen dabei zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>gehen und wie sich solche Beziehungen zu sozialen Klassen undEigentumsverhältnissen formen.Die ("bürgerlichen") Wirtschaftswissenschaften s<strong>in</strong>d vielfältig zerglie<strong>de</strong>rt, untersuchen die e<strong>in</strong>zelnenMomente <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens, wie sie sich vom Standpunkt <strong>de</strong>s Unternehmers darstellen.Der Gesamtzusammenhang, Macht- und Eigentumsfragen s<strong>in</strong>d weitgehend ausgespart undwer<strong>de</strong>n, bestenfalls, an die Wirtschaftsgeschichte und Soziologie <strong>de</strong>legiert. Etwas vere<strong>in</strong>fachendgesagt: Die Wirtschaftswissenschaften betrachten Geld, Arbeit, Ressourcen, Vertrieb, Technik,Investition usw. als d<strong>in</strong>gliche Faktoren <strong>de</strong>r Produktion, <strong>de</strong>r Zirkulation und <strong>de</strong>s Konsums. Sie untersuchtdie Beziehungen <strong>de</strong>r Menschen als Funktionsträger ("Konsument", "Arbeitskraft", "Investor","Unternehmer") zu diesen Faktoren, bevorzugt <strong>in</strong> Begriffen wie Nachfrage, Intention,Motiv o<strong>de</strong>r Bedürfnis.Die Politische Ökonomie untersucht die Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Menschen als soziale Wesen("Klassen") und wie sich diese Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Menschen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n "D<strong>in</strong>gen" darstellen.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Masch<strong>in</strong>e ist zweifellos e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g. Aber es ist auch e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das jeman<strong>de</strong>m gehört undvon jeman<strong>de</strong>m <strong>in</strong> Bewegung gesetzt wird. Auch wenn Eigentümer und Beweger verschie<strong>de</strong>neMenschen s<strong>in</strong>d, die sich womöglich nicht e<strong>in</strong>mal kennen, stehen sie durch die Masch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>embestimmten Verhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, ob sie das wollen o<strong>de</strong>r nicht. Und warum gehen sie e<strong>in</strong>Verhältnis e<strong>in</strong>, das außerhalb ihres Willens liegt?Die Politische Ökonomie stellt Fragen wie diese. Macht- und Eigentumsverhältnisse s<strong>in</strong>d davonebenso wenig zu trennen wie die historische Perspektive. 496 Wenn wir nur fragen, was machte<strong>in</strong>en Menschen zu e<strong>in</strong>em Unternehmer, wer<strong>de</strong>n wir uns mit <strong>de</strong>m Ökonomen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seitevermutlich sogar auf e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Formulierung e<strong>in</strong>igen können. Fragen wir aber mal so:Woher kommen die Unternehmer als soziale Klasse? Warum spielen sie heute e<strong>in</strong>e beherrschenschied?Die erstgenannten s<strong>in</strong>d Schuld an <strong>de</strong>r Krise. Den letztgenannten sollte man die Sache überlassen. Interfraktioneller Kampf umPfrün<strong>de</strong>, Fettlebe und E<strong>in</strong>fluß.496Auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Volkswirtschaftslehre bzw. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Makroökonomik wird die Frage nach <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Macht, nach <strong>Kapital</strong>konzentrationund Großunternehmen gestellt. Aber wie! Sogar <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Lehrbüchern <strong>de</strong>r 70er Jahre, als die Systemause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung zwischen BRDund DDR noch alles überschattete und man auch die "heiklen Themen" aufgreifen mußte, wur<strong>de</strong> "wirtschaftliche Macht" nur als stören<strong>de</strong>rFaktor e<strong>in</strong>er effizienten Wirtschafts<strong>pol</strong>itik behan<strong>de</strong>lt. Es war <strong>in</strong> dieser Sicht nur e<strong>in</strong> untergeordneter, kartellrechtlich beherrschbarerFaktor und ke<strong>in</strong>eswegs <strong>de</strong>r Kern <strong>de</strong>r Machtverhältnisse.243


<strong>de</strong> Rolle? Worauf grün<strong>de</strong>t ihre Macht? Dann wird die Gegenseite als nicht <strong>in</strong>teressiert abw<strong>in</strong>kenund das an die Historiker <strong>de</strong>legieren. Mit <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>m Herkommen ist allzu leicht diepe<strong>in</strong>liche Frage nach <strong>de</strong>m Verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>n verbun<strong>de</strong>n.6. Ist M.s Politische Ökonomie e<strong>in</strong>e "Weltanschauung"? O<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> davon?<strong>Das</strong> Wort "Weltanschauung" wird oft von anti-marxistischer Seite für M.s Theorie angewen<strong>de</strong>t,m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens so oft wie <strong>de</strong>r (abwertend geme<strong>in</strong>te) Begriff "I<strong>de</strong>ologie". Auch von marxistischerSeite hört man <strong>de</strong>n Begriff bisweilen; früher häufiger als heute. Wir verwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Begriff"Weltanschauung" nicht. Erstens, weil es eben gera<strong>de</strong> nicht um "Anschauung", son<strong>de</strong>rn um"h<strong>in</strong>ter die Kulissen schauen" geht. Wie je<strong>de</strong> Wissenschaft, will auch M.s Politische Ökonomiedas nicht direkt Sichtbare erkennbar machen. Zweitens, weil die ganze "Welt" etwas zu viel aufe<strong>in</strong>mal wäre. Also wäre "Gesellschaftsh<strong>in</strong>terschauung" zwar e<strong>in</strong> monströser, aber viel angemessenererBegriff.Man sollte auch beachten, dass uns das Etikett "Weltanschauung" letztlich zu Betrachternmacht. M.s Ansatz geht aber unbed<strong>in</strong>gt von e<strong>in</strong>er aktiven, teilnehmen<strong>de</strong>n, verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Wissenschaftaus, bei <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>r Verhältnisse ("Aneignung <strong>de</strong>r Welt") und Än<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Verhältnissee<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit bil<strong>de</strong>n. In gewisser Weise ist sogar die Bereitschaft zu verän<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e Voraussetzungfür die Erkennbarkeit <strong>de</strong>r Verhältnisse: Wer Verhältnisse für natürlich o<strong>de</strong>r unverän<strong>de</strong>rbarhält, hat wenig Trieb zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Zusammenhänge, mögen sie nun verborgen se<strong>in</strong>o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Hand liegen. Der ist mit <strong>de</strong>m, was ist, zufrie<strong>de</strong>n.Außer<strong>de</strong>m täuscht <strong>de</strong>r Begriff "Weltanschauung", vor allem <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Etiketten wie"Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus", e<strong>in</strong>e Geschlossenheit und Leistungsstärke <strong>de</strong>r Theorie vor, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>rPraxis gar nicht e<strong>in</strong>zulösen ist. Vor allem legt <strong>de</strong>r Begriff nahe, diese "Weltanschauung" sei etwas,das aus festgefügten Regeln besteht, die man e<strong>in</strong>mal erwirbt und nach Bedarf wie Kochrezeptezur Lösung aller möglichen Probleme anwen<strong>de</strong>t.<strong>Das</strong> aber wäre doch e<strong>in</strong>e kuriose, gera<strong>de</strong>zu anti-marxistische Vorstellung: Die Verhältnisse s<strong>in</strong>dnicht nur verän<strong>de</strong>rbar, sie verän<strong>de</strong>rn sich auch stetig. Zu glauben, e<strong>in</strong>mal gewonnene Erkenntnissemüßten e<strong>in</strong>fach nur wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n, um auch die Verän<strong>de</strong>rungen zu begreifen, führtauf <strong>de</strong>n Holzweg.M.s Theorie ist auch ke<strong>in</strong>e "Geschichtsphilosophie", ke<strong>in</strong> Entwicklungsmo<strong>de</strong>ll, auf <strong>de</strong>m die Gesellschaft,durch Klassenkampf getrieben, von <strong>de</strong>r Urgesellschaft zum Sozialismus unverdrossenvoranschreitet. M. hat sich über solche Geschichtsmo<strong>de</strong>lle nur lustig gemacht.Als e<strong>in</strong> russischer Rezensent M.s Skizze zur Vorgeschichte <strong>de</strong>s englischen <strong>Kapital</strong>ismus als Zukunftsmo<strong>de</strong>llRusslands werten wollte, wehrte sich M. gegen <strong>de</strong>n Versuch, "me<strong>in</strong>e historischeSkizze von <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus <strong>in</strong> Westeuropa <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geschichtsphilosophischeTheorie <strong>de</strong>s allgeme<strong>in</strong>en Entwicklungsganges" zu verwan<strong>de</strong>ln.M. macht an e<strong>in</strong>em historischen Beispiel klar, dass es solche Zwangläufigkeit nicht gibt, dass imGegenteil ganz ähnliche Umstän<strong>de</strong> zu ganz an<strong>de</strong>ren Ergebnissen führen können. Er schreibt,dass sich die Ursachen für solche unterschiedlichen Entwicklungen leicht f<strong>in</strong><strong>de</strong>n lassen, "wennman je<strong>de</strong> dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r vergleicht", also durchkonkrete historische Analyse. Demgegenüber wer<strong>de</strong> man die wirklichen Ursachen e<strong>in</strong>er historischenEntwicklung niemals mit <strong>de</strong>m "Universalschlüssel e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en geschichtsphilosophi-244


schen Theorie" auf<strong>de</strong>cken. 497 Und weil das so ist, sollten wir es auch niemals versuchen, so verlockendund bequem das auch se<strong>in</strong> mag.7. Welche an<strong>de</strong>ren wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en tummeln sich auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>rPolitischen Ökonomie? O<strong>de</strong>r ist das e<strong>in</strong> alle<strong>in</strong>iges Privileg <strong>de</strong>r Marxisten?Den Marxisten ist (unfreiwillig) das Firmenschild "Politische Ökonomie" als Erbe zugefallen. AberM. selbst beanspruchte ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Urheberrecht daran. Er betrachtete die Erf<strong>in</strong><strong>de</strong>r und Vertreter<strong>de</strong>r Politischen Ökonomie, sogar die schwächeren, als se<strong>in</strong>e Vorläufer und baute auf <strong>de</strong>renWerk auf. Natürlich arbeiten auch die heutigen Wirtschaftswissenschaften auf diesem Feld. Abersie ziehen, um im Bild zu bleiben, nur noch e<strong>in</strong>zelne Furchen. Die Bearbeitung <strong>de</strong>s ganzen Fel<strong>de</strong>s,strukturell wie historisch, betrachten sie <strong>in</strong>zwischen als abwegig.Die enge Ingriffnahme dieser (bürgerlichen) Wirtschaftswissenschaft(en) mit ihrer Vielzahl vonDiszipl<strong>in</strong>en und <strong>Teil</strong>gebieten durch die Unternehmen und <strong>de</strong>ren meist kurzfristige Interessen hatdie wissenschaftliche Kreativität als Gesellschaftswissenschaft weitgehend versiegen lassen.Dennoch s<strong>in</strong>d viele Beiträge aus diesem Lager etwa zur Geld- und Preistheorie auch für Marxisten<strong>in</strong>teressant. Ganz zu schweigen von <strong>de</strong>r umfassen<strong>de</strong>n Datenbasis, auf <strong>de</strong>ren Grundlage sich<strong>de</strong>r gegenwärtige <strong>Kapital</strong>ismus wirtschafts<strong>pol</strong>itisch und betriebswirtschaftlich immer wie<strong>de</strong>r zurationalisieren versucht. Diese Datenbasis ist für die marxistische Analyse erst ansatzweise genutzt.Und natürlich haben an<strong>de</strong>re Wissenschaften enge Berührung mit <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie: Dazugehören vor allem die Geschichtswissenschaften (Wirtschaftsgeschichte, Technikgeschichte,Archäologie) und die Soziologie; wir wer<strong>de</strong>n noch sehen, dass M.s Analyse zahlreiche soziologischeElemente enthält.Aber nicht nur Wissenschaften, auch die Literatur ist <strong>in</strong> gewisser Weise auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r PolitischenÖkonomie aktiv. In <strong>de</strong>n Romanen <strong>de</strong>r französischen Realisten <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts f<strong>in</strong><strong>de</strong>tman mehr E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die ökonomischen Zusammenhänge als bei <strong>de</strong>n meisten Ökonomendieser Zeit. M. nutzt im "<strong>Kapital</strong>" e<strong>in</strong>e Reihe literarischer Zitate zur Veranschaulichung se<strong>in</strong>erArgumente.497M. stimmt mit se<strong>in</strong>em Rezensenten dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, dass Russland, wenn es e<strong>in</strong>en kapitalistischen Entwicklungsweg e<strong>in</strong>schlägt, diesnicht fertig br<strong>in</strong>gen wer<strong>de</strong>, "ohne vorher e<strong>in</strong>en guten <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>er Bauern <strong>in</strong> Proletarier verwan<strong>de</strong>lt zu haben; und dann, e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gerissen<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wirbel <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft, wird es die unerbittlichen Gesetze dieses Systems zu ertragen haben, genauso wie diean<strong>de</strong>rn profanen Völker. <strong>Das</strong> ist alles. Aber das ist me<strong>in</strong>em Kritiker zu wenig. Er muß durchaus me<strong>in</strong>e historische Skizze von <strong>de</strong>r Entstehung<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus <strong>in</strong> Westeuropa <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e geschichtsphilosophische Theorie <strong>de</strong>s allgeme<strong>in</strong>en Entwicklungsganges verwan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>r allenVölkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstän<strong>de</strong> se<strong>in</strong> mögen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen sie sich bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n, umschließlich zu jener ökonomischen Formation zu gelangen, die mit <strong>de</strong>m größten Aufschwung <strong>de</strong>r Produktivkräfte <strong>de</strong>r gesellschaftlichenArbeit die allseitigste Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen sichert. Aber ich bitte ihn um Verzeihung. (<strong>Das</strong> heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu vielSchimpf antun.). Nehmen wir e<strong>in</strong> Beispiel. An mehreren Stellen im '<strong>Kapital</strong>' spiele ich auf das Schicksal an, das die Plebejer <strong>de</strong>s alten Romsereilte. <strong>Das</strong> waren ursprünglich freie Bauern, die, je<strong>de</strong>r auf eigne Rechnung, ihr eignes Stück Land bebauten. Im Verlauf <strong>de</strong>r römischenGeschichte wur<strong>de</strong>n sie expropriiert. Die gleiche Entwicklung, die sie von ihren Produktions- und Subsistenzmitteln trennte, schloß nicht nurdie Bildung <strong>de</strong>s Großgrundbesitzes, son<strong>de</strong>rn auch die großer Geldkapitalien e<strong>in</strong>. So gab es e<strong>in</strong>es schönen Tages auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite freieMenschen, die von allem, außer ihrer Arbeitskraft, entblößt waren, und auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn, zur Ausbeutung dieser Arbeit, die Besitzer all <strong>de</strong>rerworbenen Reichtümer. Was geschah? Die römischen Proletarier wur<strong>de</strong>n nicht Lohnarbeiter, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong> faulenzen<strong>de</strong>r Mob, noch verächtlicherals die sog. 'poor whites' <strong>de</strong>r Südstaaten <strong>de</strong>r Vere<strong>in</strong>igten Staaten, und an ihrer Seite entwickelte sich ke<strong>in</strong>e kapitalistische, son<strong>de</strong>rne<strong>in</strong>e auf Sklavenarbeit beruhen<strong>de</strong> Produktionsweise. Ereignisse von e<strong>in</strong>er schlagen<strong>de</strong>n Analogie, die sich aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unterschiedlichenhistorischen Milieu abspielten, führten also zu ganz verschie<strong>de</strong>nen Ergebnissen. Wenn man je<strong>de</strong> dieser Entwicklungen für sich studiertund sie dann mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r vergleicht, wird man leicht <strong>de</strong>n Schlüssel zu dieser Ersche<strong>in</strong>ung f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, aber man wird niemals dah<strong>in</strong> gelangenmit <strong>de</strong>m Universalschlüssel e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en geschichtsphilosophischen Theorie, <strong>de</strong>ren größter Vorzug dar<strong>in</strong> besteht, übergeschichtlichzu se<strong>in</strong>." (Brief an die Redaktion <strong>de</strong>r 'Otetschestwennyje Sapiski', MEW 19, S.111f)245


8. Wo haben Natur, Ökologie und Biologie ihren Platz <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie? Gibt esdas überhaupt?Die Natur wird als Grundlage <strong>de</strong>r menschlichen Existenz vorausgesetzt. M. spricht von ihr als <strong>Teil</strong><strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Produktionsbed<strong>in</strong>gungen. Aber M. war sich klar darüber (wie Ökonomen vorihm), dass die Natur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie e<strong>in</strong>en wichtigen Stellenwert hat. <strong>Das</strong> natürlicheWachstum <strong>de</strong>r Pflanzen war e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r ersten systematisch angewen<strong>de</strong>ten Produktivkräfte. Ebensodie Viehzucht und <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>satz von Tieren zur Vervielfachung <strong>de</strong>r Arbeitskraft.Die biologische Existenz <strong>de</strong>r Menschen gehört natürlich zu diesen Voraussetzungen. Im Begriff<strong>de</strong>r Reproduktion, <strong>de</strong>m wir noch begegnen wer<strong>de</strong>n, wird das <strong>de</strong>utlich. Die ökonomische Reproduktionumfaßt immer auch die leibliche Reproduktion <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>er Gesellschaft. Aberim Wesentlichen ist die Politische Ökonomie e<strong>in</strong>e Wissenschaft von <strong>de</strong>n materiellen Lebensbed<strong>in</strong>gungen<strong>de</strong>r Gesellschaft, die diese sich "im Stoffwechsel mit <strong>de</strong>r Natur" immer wie<strong>de</strong>r neuerschaffen muss.Auch Fragen, die erst ab <strong>de</strong>n 1970er Jahren mo<strong>de</strong>rn wur<strong>de</strong>n, wie die nach <strong>de</strong>r Vernichtung vonnatürlicher Umwelt o<strong>de</strong>r die nach versiegen<strong>de</strong>n Ressourcen, wer<strong>de</strong>n von M. bereits unter <strong>de</strong>mStichwort <strong>de</strong>r Allgeme<strong>in</strong>en Produktionsbed<strong>in</strong>gungen thematisiert. Für ihn war es selbstverständlich,dass Wasser, Luft und Bo<strong>de</strong>nschätze, so sehr sie von <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten se<strong>in</strong>er Zeit (und weitgehendja auch noch heute) als "Gratisdienste <strong>de</strong>r Natur" vere<strong>in</strong>nahmt wur<strong>de</strong>n, für die Gesellschaftke<strong>in</strong>eswegs gratis und für die sich erweitern<strong>de</strong>n Produktionsprozesse auch ke<strong>in</strong>eswegsunerschöpflich s<strong>in</strong>d. Wie bei vielen an<strong>de</strong>ren brisanten Themen fand M. auch hier nicht die Zeit,se<strong>in</strong>e umfangreichen Notizen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e systematische Darstellung zu br<strong>in</strong>gen.Berühmt ist se<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bare Abschweifung im Kapitel über "Baustellenrente, Bergwerksrente,Bo<strong>de</strong>npreis" im 3. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>", mit <strong>de</strong>r er darauf h<strong>in</strong>weist, wie erst durch bestimmteProduktionsverhältnisse das Privateigentum am Bo<strong>de</strong>n entsteht. Für <strong>de</strong>n kapitalistischen Grundbesitzerist <strong>de</strong>r Privatbesitz am Bo<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Kauf begrün<strong>de</strong>t und se<strong>in</strong> Anspruch auf dieoberirdische und unterirdische Nutzung <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns wird für ihn genauso zu e<strong>in</strong>em <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r natürlichenOrdnung wie <strong>de</strong>r Anspruch <strong>de</strong>s feudalen Grundherrn auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n für diesen e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong><strong>de</strong>r göttlichen Ordnung war. M. schreibt:"Ganz so ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>em Sklavenhalter, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Neger gekauft hat, se<strong>in</strong> Eigentum an <strong>de</strong>mNeger nicht durch die Institution <strong>de</strong>r Sklaverei als solche, son<strong>de</strong>rn durch Kauf und Verkauf vonWare erworben. Aber <strong>de</strong>r Titel (= Eigentumstitel) selbst wird durch <strong>de</strong>n Verkauf nicht erzeugt,son<strong>de</strong>rn nur übertragen. Der Titel muß da se<strong>in</strong>, bevor er verkauft wer<strong>de</strong>n kann, und sowenigwie e<strong>in</strong> Verkauf, kann e<strong>in</strong>e Reihe von solchen Verkäufen, ihre beständige Wie<strong>de</strong>rholung, diesenTitel schaffen. Was ihn überhaupt geschaffen hat, waren die Produktionsverhältnisse." Und M.zieht daraus auf se<strong>in</strong>e übliche Art e<strong>in</strong>e kühne Schlußfolgerung, die je<strong>de</strong>m ökologisch engagiertenMenschen heute vollständig vertraut ist und ke<strong>in</strong>eswegs mehr als kühn ersche<strong>in</strong>t:"Vom Standpunkt e<strong>in</strong>er höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentume<strong>in</strong>zelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt ersche<strong>in</strong>en wie das Privateigentum e<strong>in</strong>esMenschen an e<strong>in</strong>em an<strong>de</strong>rn Menschen. Selbst e<strong>in</strong>e ganze Gesellschaft, e<strong>in</strong>e Nation, ja allegleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, s<strong>in</strong>d nicht Eigentümer <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Sie s<strong>in</strong>d nurihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (= gute Familienväter) <strong>de</strong>nnachfolgen<strong>de</strong>n Generationen verbessert zu h<strong>in</strong>terlassen." (MEW 25, S.784)246


9. Gibt es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r marxistischen Theorie feststehen<strong>de</strong> Wahrheiten?Ja und ne<strong>in</strong>. Wenn man die Feststellung, dass Menschen essen müssen, als allgeme<strong>in</strong>e Wahrheitversteht, gibt es sie. In diesem S<strong>in</strong>ne bezeichnet M. etwa die Arbeit als "allgeme<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung<strong>de</strong>s Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>s menschlichen Lebensund daher unabhängig von je<strong>de</strong>r Form dieses Lebens, vielmehr allen se<strong>in</strong>en Gesellschaftsformengleich geme<strong>in</strong>sam." (MEW 23, S.198)Aber M. gibt sich mit solchen Feststellungen niemals zufrie<strong>de</strong>n: Sicher müssen alle Menschen essen."Hunger ist Hunger", schreibt er, "aber Hunger, <strong>de</strong>r sich durch gekochtes, mit Gabel undMesser gegeßnes Fleisch befriedigt, ist e<strong>in</strong> andrer Hunger, als <strong>de</strong>r rohes Fleisch mit Hilfe vonHand, Nagel und Zahn verschl<strong>in</strong>gt." (MEW 13, S.624) Nicht dass gegessen wer<strong>de</strong>n muß <strong>in</strong>teressiertihn, son<strong>de</strong>rn wie gegessen wird, woher das Essen stammt, wer es produziert, wie es <strong>in</strong> <strong>de</strong>rGesellschaft verteilt wird und so fort.Sofern wir glauben, e<strong>in</strong>e "Wahrheit" erkannt zu haben, han<strong>de</strong>lt es sich nicht um e<strong>in</strong>e "marxistischeWahrheit", son<strong>de</strong>rn eben um Wahrheit. Vielleicht wird sie nur von Marxisten akzeptiert(was schon verdächtig wäre), aber gelten muß sie auch außerhalb. An<strong>de</strong>rerseits sollte klar se<strong>in</strong>,dass <strong>de</strong>r Marxismus die Wahrheit nicht gepachtet hat. Wir sollten vielleicht sowieso weniger vonWahrheit, als vielmehr von weitgehend gesicherten Erkenntnissen sprechen. Ganz gewiß gibt esviele Erkenntnisse, die außerhalb <strong>de</strong>r marxistischen Theorie und Metho<strong>de</strong> nicht o<strong>de</strong>r nicht wissenschaftlichexakt gewonnen wer<strong>de</strong>n können. <strong>Das</strong> gilt freilich auch für an<strong>de</strong>re Wissenschaften.Bestimmte Erkenntnisse können eben nur mit Hilfe <strong>de</strong>r Physik, an<strong>de</strong>re nur mit Hilfe <strong>de</strong>r Archäologiegewonnen wer<strong>de</strong>n. Es gibt sogar Erkenntnisse, die nur mit Hilfe <strong>de</strong>r Betriebswirtschaft zugew<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d, wie e<strong>in</strong>geschränkt gültig ihre Wahrheiten auch immer se<strong>in</strong> mögen. Aber wenne<strong>in</strong> Betriebswirt (mittels Excel-Tabelle) feststellt, dass die Entlassung <strong>de</strong>r Mitarbeiter für Toilettenpflegeund die Übertragung dieser Aufgabe an e<strong>in</strong> externes Unternehmen 2.620,00 EuroE<strong>in</strong>sparung monatlich br<strong>in</strong>gt, wird das vermutlich stimmen - irgendwie.Kommen wir auf die "feststehen<strong>de</strong>n Wahrheiten" zurück. Eigentlich s<strong>in</strong>d das die am wenigsten<strong>in</strong>teressanten Erkenntnisse. Es han<strong>de</strong>lt sich, je feststehen<strong>de</strong>r die Wahrheit ist, um immer dünnereAbstraktionen; das oben zitierte Beispiel "Arbeit" zeigt das. Es s<strong>in</strong>d Abstraktionen, <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>sLeben ausgetrieben wur<strong>de</strong>, und die <strong>de</strong>shalb auch <strong>in</strong> M.s Analyse nur als Ausgangspunkt se<strong>in</strong>erKritik und zur Präzisierung se<strong>in</strong>er Fragestellung dienen. Uns kommt es immer wie<strong>de</strong>r auf die historischeKonkretheit an: Wer? Wann? Wie? Womit? Warum? Für Wen? Unter wessen Kontrolle?Fragen dieser Art 498 s<strong>in</strong>d unser Metier als M.s Erben.So wie je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne Marxist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Analysen irren kann, hat auch die marxistische Theorieke<strong>in</strong> "Wahrheitsmono<strong>pol</strong>", auch nicht für die Analyse <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft. An<strong>de</strong>rs gesagt:Sich Marxist zu nennen heißt noch lange nicht, Recht zu haben. Dafür muß man schonwas tun. Für marxistisch gewonnene Erkenntnisse gilt, was für alle Arten von Erkenntnissen gilt:Sie wer<strong>de</strong>n nicht nur gesellschaftlich hervorgebracht, son<strong>de</strong>rn s<strong>in</strong>d immer historisch bed<strong>in</strong>gt; dasgilt für M.s geniales Werk nicht weniger als für Erkenntnisse ger<strong>in</strong>gerer Reichweite.Die ökonomischen Bewegungsgesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise gelten auch nur fürdiese. Und mit <strong>de</strong>r Entwicklung dieser Produktionsweise wer<strong>de</strong>n auch diese Gesetze verän<strong>de</strong>rt,müssen immer wie<strong>de</strong>r neu aufge<strong>de</strong>ckt und neu formuliert wer<strong>de</strong>n. Beispiel: Die Verän<strong>de</strong>rungen<strong>in</strong> <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Konkurrenzbeziehungen zwischen <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>en als Folge ihrer wachsen<strong>de</strong>n Kon-498Wie es Cohen, <strong>de</strong>r Barbar, hellsichtig formulierte, als er bei <strong>de</strong>n Bauern <strong>de</strong>s achatenen Reiches nur auf dünne Suppen aus Hühnerfüßenund Schwe<strong>in</strong>ehufen traf: Irgendwo haben sich irgendwelche Mistkerle e<strong>in</strong>e Menge Hühner- und Schwe<strong>in</strong>efleisch unter <strong>de</strong>n Nagel gerissen.247


zentration und Zentralisation. Um das Zitat von oben zum Thema Essen aufzugreifen: Profithungerist Profithunger, aber ob er <strong>in</strong> <strong>de</strong>r offenen Konkurrenz tausen<strong>de</strong>r, nur ger<strong>in</strong>g differenzierterE<strong>in</strong>zelkapitale o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r ökonomischen Macht und <strong>de</strong>m <strong>pol</strong>itischen E<strong>in</strong>fluß transnationalerKonzerne befriedigt wird, macht gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>n uns <strong>in</strong>teressieren<strong>de</strong>n Unterschied aus.10. Will man als "parteilicher Wissenschaftler" nicht vieleicht <strong>de</strong>n gewünschtenVerän<strong>de</strong>rungen mit passen<strong>de</strong>n "Erkenntnissen" auf die Sprünge helfen?Die Gefahr besteht immer. Wo e<strong>in</strong>er (<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>em nützlich se<strong>in</strong> kann) <strong>de</strong>utlich sagt, was er erwartet,ist man vielleicht auch bereit, <strong>de</strong>n Forschungsergebnissen auf die Sprünge zu helfen. Ob dase<strong>in</strong> M<strong>in</strong>ister, e<strong>in</strong> Institutsdirektor, e<strong>in</strong> Sponsor o<strong>de</strong>r Parteivorstand ist. Die Geschichte <strong>de</strong>r Wissenschaftenist angefüllt mit Beispielen. Lei<strong>de</strong>r macht auch die marxistische Forschung da ke<strong>in</strong>eAusnahme. Viel zu oft hat sie sich nicht nur "parteilich", son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong>zu liebedienerisch undschleimend verhalten, wo sie kritisch und voller Wi<strong>de</strong>rspruchgsgeist hätte se<strong>in</strong> müssen. Dennochwer<strong>de</strong>n wir e<strong>in</strong>e "Parteilichkeit" für unseren marxistischen Ansatz beibehalten, wenn auch nichtunbed<strong>in</strong>gt die Formulierung. Und wir s<strong>in</strong>d uns klar darüber, dass die <strong>in</strong>neren Kontrollen wieauch die äußeren Kontrollen durch Offenheit, Austausch <strong>de</strong>r Ergebnisse und Debatte gestärktwer<strong>de</strong>n müssen.Die Re<strong>de</strong>wendung von <strong>de</strong>r "parteilichen Wissenschaft" war lange Zeit üblich. Damit wur<strong>de</strong> zunächstetwas richtiges gesagt: <strong>E<strong>in</strong>e</strong> von Interessen freie, also un-i<strong>de</strong>ologische Wissenschaft gibtes nicht, schon gar nicht als Wissenschaft von <strong>de</strong>r Gesellschaft. 499 Je<strong>de</strong>r Wissenschaftler ist vonK<strong>in</strong>dheit an <strong>in</strong> e<strong>in</strong> soziales Geflecht e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen Wertsetzung und Moral auf ihn e<strong>in</strong>wirkt.Je<strong>de</strong>r Wissenschaftler wird von irgendjeman<strong>de</strong>m bezahlt, bekommt von irgendjeman<strong>de</strong>mAufträge, muß für die Publikation se<strong>in</strong>er Werke e<strong>in</strong>e Zeitschrift o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Verlag f<strong>in</strong><strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r esselber bezahlen, ist <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>es Wissenschaftsbetriebs, <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Vorgaben folgt, usw.usf.<strong>Das</strong> ist das e<strong>in</strong>e.<strong>Das</strong> an<strong>de</strong>re me<strong>in</strong>t: Welche Art von Erkenntnis man erreichen kann, ist immer vom jeweiligenStandpunkt abhängig, von <strong>de</strong>m aus man startet. Gera<strong>de</strong> als Gesellschaftswissenschaftler mußich daher e<strong>in</strong>en Standpunkt beziehen, bevor es überhaupt losgeht. (Mach ich mir das nicht klar,passiert es mir <strong>de</strong>nnoch, nur eben auf unklare, implizite Weise.) 500 Wissenschaftler, die <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismusfür alternativlos halten, folgen an<strong>de</strong>ren Fragestellungen als wir. <strong>Das</strong> läßt ihre Analysen,auch wenn sie nach allen Regeln <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> korrekt s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> unseren Augen als merkwürdigbeengt bis borniert ersche<strong>in</strong>en.Die "parteiliche Wissenschaft" ist <strong>de</strong>shalb auch ke<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Marxisten. Die haben nurke<strong>in</strong>en Versuch unternommen, ihre B<strong>in</strong>dung an e<strong>in</strong>en Standpunkt zu verbergen. Aber auch e<strong>in</strong>everborgene B<strong>in</strong>dung an Standpunkte wird immer wie<strong>de</strong>r sichtbar. Man kann das fast täglich er-499Mit <strong>de</strong>m Begriff von <strong>de</strong>r "Parteilichkeit" wird ke<strong>in</strong>eswegs die Treue <strong>de</strong>r Wissenschaftler zu irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er (bevorzugt e<strong>in</strong>er kommunistischen)Partei bezeichnet. <strong>Das</strong> ist nur e<strong>in</strong>e propagandistische Verdrehung. Solchen Verdrehungen wur<strong>de</strong> es allerd<strong>in</strong>gs leicht gemacht.Denn ganz entgegen <strong>de</strong>m theoretischen Gehalt <strong>de</strong>s Begriffs wur<strong>de</strong> daraus e<strong>in</strong> <strong>pol</strong>itisches Pr<strong>in</strong>zip abgeleitet und <strong>in</strong> <strong>de</strong>r UdSSR und an<strong>de</strong>rensozialistischen Län<strong>de</strong>rn wie auch <strong>in</strong> kommunistischen Parteien tatsächlich als Herrschaftsmittel mißbraucht, um die "eigenen" Gesellschaftswissenschaftlerauf <strong>de</strong>n beschlossenen Parteikurs zu zw<strong>in</strong>gen.500"Wertfreiheit" und "Objektivität" ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht ke<strong>in</strong> Standpunkt, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e Ausre<strong>de</strong>, um se<strong>in</strong>en Standpunkt nicht klären zumüssen. Wertfreiheit und Objektivität, also <strong>de</strong>r beständige Versuch, e<strong>in</strong>e von Erwartungen und Setzungen, kurz: von Vor-Urteilen freieForschung zu betreiben, ist e<strong>in</strong> Gebot <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong>. Die kommt aber erst nach <strong>de</strong>m Standpunkt. Ich kann <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus für <strong>de</strong>n Abschluß<strong>de</strong>r Geschichte halten und von diesem Standpunkt aus methodisch korrekte Forschung betreiben. Nach Alternativen zum <strong>Kapital</strong>ismuswer<strong>de</strong> ich freilich nicht forschen; die kommen mir gar nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n S<strong>in</strong>n. Ich kann an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus für das mögliche En<strong>de</strong><strong>de</strong>r Geschichte halten und me<strong>in</strong>e Kraft auf die (methodisch korrekte) Erforschung von alternativen Produktionsweisen konzentrieren. DerStandpunkt schlägt sich zunächst <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Forschungsfragen nie<strong>de</strong>r. Deshalb sollte man sich über se<strong>in</strong>en Standpunkt Klarheit verschaffenund immer prüfen, welche bl<strong>in</strong><strong>de</strong>n Flecke er nebenbei auch noch produziert.248


leben. Kommt e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Studie mit irgendwelchen Ergebnissen auf <strong>de</strong>n Me<strong>in</strong>ungsmarkt,z.B. <strong>de</strong>r x-te <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Pisa-Studie, wird sie von allen hochgelobt, <strong>de</strong>nen die Ergebnisse passen;ganz unabhängig von <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r Studie. Wem sie nicht passen, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t die Studie wenigüberzeugend und ent<strong>de</strong>ckt plötzlich Schwächen <strong>de</strong>r Untersuchungsmetho<strong>de</strong>, <strong>pol</strong>itische E<strong>in</strong>flüsterungenund an<strong>de</strong>res.Dieser methodologische Opportunismus, <strong>de</strong>r lobt, was ihm passt und bemäkelt, was ihm nichtpasst, ist nur e<strong>in</strong> Spiegelbild für die wi<strong>de</strong>rsprüchliche Rolle, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich die Gesellschaftswissenschaftennotwendigerweise bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Auch die marxistischen Beiträge machen da grundsätzlichke<strong>in</strong>e Ausnahme. (Man verfolge nur die Diskussionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em x-beliebigen l<strong>in</strong>ken Forum.) Nure<strong>in</strong>en gewichtigen Unterschied sollte es geben: Für marxistische Forschung sollte <strong>de</strong>r Zusammenhangvon Interessen und Erkenntnis selbst immer auch Gegenstand <strong>de</strong>r Untersuchung se<strong>in</strong>.Im "<strong>Kapital</strong>" forciert M. se<strong>in</strong>e Argumentation durch e<strong>in</strong>en beständigen Wechsel <strong>de</strong>r Perspektive:Mal bezieht er die Perspektive <strong>de</strong>s Gesamtkapitals, dann die <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten; mal betrachteter e<strong>in</strong> Problem aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen Arbeitskraft, dann aus <strong>de</strong>r Perspektive<strong>de</strong>s Gesamtarbeiters. Denselben Prozess <strong>de</strong>r Zirkulation analysiert er mal aus <strong>de</strong>r Perspektive<strong>de</strong>s Geldkapitals, dann aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Warenkapitals, dann vom Produktionsprozess aus. DerWechsel <strong>de</strong>r Perspektiven ist notwendig, weil sich dieselbe Sache von unterschiedlichen Positionenaus an<strong>de</strong>rs darstellt. Was für die perspektivische Wahrnehmung <strong>de</strong>r räumlichen Dimensionengilt, gilt auch für die sozialen Dimensionen. Nur haben wir es hier nicht mit räumlichenStandpunkten zu tun, son<strong>de</strong>rn mit sozialen Positionen. Dah<strong>in</strong>ter steht die Annahme, dass bestimmteErkenntnisse überhaupt nur von bestimmten Positionen aus gewonnen wer<strong>de</strong>n können.Die Formung unserer Wahrnehmungen durch unsere soziale Position und die daraus sich ergeben<strong>de</strong>nInteressen, ob als Wissenschaftler o<strong>de</strong>r Unternehmer o<strong>de</strong>r Gewerkschaftsfunktionär,wird bei M. selbst <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Untersuchung. Beson<strong>de</strong>rs ausgeprägt f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wird das im 4. Band <strong>de</strong>s"<strong>Kapital</strong>", <strong>de</strong>n sogenannten "Theorien über <strong>de</strong>n Mehrwert". Dar<strong>in</strong> wird e<strong>in</strong>e Analyse <strong>de</strong>r Theorieentwicklungvorgenommen, die vorbereiten<strong>de</strong>r <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Arbeit am "<strong>Kapital</strong>" gewesen ist. Dar<strong>in</strong>zeigt M. unter an<strong>de</strong>rem, wie e<strong>in</strong>zelne Fortschritte <strong>de</strong>r ökonomischen Analyse nicht nur vomFortschritt <strong>de</strong>r ökonomischen Verhältnisse abhängen. <strong>Das</strong> überrascht nun wirklich nicht. Siehängen immer auch ab von <strong>de</strong>n sozialen B<strong>in</strong>dungen <strong>de</strong>r jeweiligen Ökonomen, die sich mit <strong>de</strong>rökonomischen Analyse befassen. Sie s<strong>in</strong>d eben, wie auch M. selbst, nicht nur Wissenschaftler,son<strong>de</strong>rn immer auch I<strong>de</strong>ologen. Was be<strong>de</strong>utet: Sie betreiben ihre Analyse von bestimmten Positionenaus, s<strong>in</strong>d Träger von Interessen und <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Systems und se<strong>in</strong>er Prozesse, die sie analysieren.Etwas an<strong>de</strong>res kann es nicht geben.Im Kapitel zum sogenannten Warenfetischismus untersucht M., welche Erkenntnisgrenzen dieökonomischen Verhältnisse ihren Akteuren setzen. Nicht, weil diese Akteure dumm o<strong>de</strong>r beschränkts<strong>in</strong>d, son<strong>de</strong>rn weil sie Akteure <strong>in</strong>nerhalb dieser Verhältnisse s<strong>in</strong>d. 501 Innerhalb dieser501Die harmlose Form dieser B<strong>in</strong>dung an die Verhältnisse ist uns allen als Betriebsbl<strong>in</strong>dheit bekannt. Weil man mitten dr<strong>in</strong> steckt, siehtman oft <strong>de</strong>n Wald vor lauter Bäumen nicht. Aber solche <strong>in</strong>nigen B<strong>in</strong>dungen an die Verhältnisse entwickeln sich oft auch zu pe<strong>in</strong>lichtragischerErgebenheit. Wie etwa bei diesem Verteidiger <strong>de</strong>r Misere, <strong>de</strong>r die Feststellung, dass Millionen Arbeitnehmer mit Drogen ihreArbeitsleistung för<strong>de</strong>rn, mit <strong>de</strong>n Worten kommentiert: "Mit <strong>de</strong>n steigen<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen am Arbeitsplatz können offenkundig viele Beschäftigtenicht umgehen." (WAZ 13.2.2009)Hier wird die Arbeitsbelastung als natürliche und daher unverän<strong>de</strong>rliche Größe ausgegeben, <strong>de</strong>r man sich vernünftigerweise richtig anpassenmuß. Nicht <strong>de</strong>m Urheber <strong>de</strong>r Belastung, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Belasteten wird zusätzlich die Verantwortung dafür aufgebür<strong>de</strong>t. Nur ist es wohlgenau an<strong>de</strong>rsrum: Offenbar ist die Arbeitsbelastung auf e<strong>in</strong> für viele Menschen nicht mehr erträgliches Maß hochgeschraubt wor<strong>de</strong>n. Darausresultieren die Versuche, mit Hilfe von Aufputschmitteln <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen zu entsprechen.Dieser naheliegen<strong>de</strong> Gedanke kommt <strong>de</strong>m Kommentator offenbar nicht <strong>in</strong> die Tastatur. Zu fest ist er mit <strong>de</strong>n kapitalistischen Arbeitsbed<strong>in</strong>gungenals "natürlichen Bed<strong>in</strong>gungen" verwachsen.249


Verhältnisse s<strong>in</strong>d zweifellos brilliante gesellschaftswissenschaftliche Leistungen möglich. Aberum die durch die Verhältnisse gesetzten Grenzen zu überschreiten, muß man e<strong>in</strong>en Standpunktaußerhalb <strong>de</strong>r Verhältnisse e<strong>in</strong>nehmen, muß das System als Ganzes "wie von außen" betrachten.Wer das "<strong>Kapital</strong>" liest, kann ke<strong>in</strong>en Zweifel haben, wo M.s Sympathien liegen: Ohne Zweifelauf Seiten <strong>de</strong>r Frauen und K<strong>in</strong><strong>de</strong>r, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Manufakturen und Fabriken körperlich und seelischverbraucht wur<strong>de</strong>n. Gewiß auf Seiten <strong>de</strong>r Fabrikarbeiter und Bergleute, von <strong>de</strong>nen tausen<strong>de</strong> an<strong>de</strong>n Masch<strong>in</strong>en und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gruben ihr Leben und ihre Gesundheit verloren. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> marxistischeAnalyse ohne diese grundsätzliche Parte<strong>in</strong>ahme wäre nicht nur schwer vorstellbar. Es käme e<strong>in</strong>emVerzicht auf wichtige Fragen gleich. Da s<strong>in</strong>d wir wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r "Parteilichkeit".Mag man jährlich bei <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sagentur für Arbeit auch e<strong>in</strong>ige tausend wissenschaftliche Arbeitenüber Vermittlungschancen von Arbeitslosen, sozialpsychologische Faktoren <strong>de</strong>r Dauerarbeitslosigkeit,regionale Unterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Arbeitsmärkte usw. publizieren. Diese Wissenschaft ist nurMaskera<strong>de</strong>. Hat man sich erst mal darauf gee<strong>in</strong>igt, Arbeitslosigkeit als "soziales Problem" undUntersuchungen darüber als querfel<strong>de</strong><strong>in</strong> Analyse von <strong>in</strong>dividuellen Merkmalen zu betreiben, istdie Forschung auch schon am En<strong>de</strong>. Man wirft wöchentlich sehr wissenschaftlich kl<strong>in</strong>gen<strong>de</strong> Forschungsberichteauf <strong>de</strong>n Markt; e<strong>in</strong>e Menge Statistik sichert <strong>de</strong>n Anspruch auf Objektivität undwertneutrale Forschung und Wissenschaftlichkeit. 502 Aber Arbeitslosigkeit selbst wird für natürlichgehalten, für e<strong>in</strong>e Art unvermeidlicher sozialer Ausleseprozess, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Analyse über die<strong>in</strong>dividuellen Merkmale <strong>de</strong>r Betroffenen erschließt.Unqualifizierte Arbeitnehmer s<strong>in</strong>d beson<strong>de</strong>rs betroffen? Dann müßt ihr euch eben qualifizieren.Gesundheitlich e<strong>in</strong>geschränkte Personen s<strong>in</strong>d beson<strong>de</strong>rs betroffen? Dann müßt ihr eben fitterwer<strong>de</strong>n. Beson<strong>de</strong>rs ältere Menschen s<strong>in</strong>d betroffen? Dann müßt ihr eben jünger wer<strong>de</strong>n...Selbst wenn es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>r Betroffenen läge, diesen sche<strong>in</strong>bar wissenschaftlich begrün<strong>de</strong>tenAnfor<strong>de</strong>rungen zu entsprechen: Es wür<strong>de</strong> doch nur die Konkurrenz um die vorhan<strong>de</strong>nenArbeitsplätze anheizen, aber ke<strong>in</strong>e neuen schaffen und daher auch die Arbeitslosigkeit nichtm<strong>in</strong><strong>de</strong>rn. Womit wir wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Treue zum System wären.Die Wissenschaftler, die <strong>in</strong> solche Forschungen verwickelt s<strong>in</strong>d, verlieren je<strong>de</strong>s Gespür für die kritischenFragen, ohne die e<strong>in</strong> Blick h<strong>in</strong>ter die Kulissen e<strong>in</strong>er Produktionsweise, <strong>in</strong> <strong>de</strong>ren Verhältnissenman selber lebt, nun e<strong>in</strong>mal nicht möglich ist. Wissenschaftler, die sich bereitwillig nur vor<strong>de</strong>n Kulissen tummeln, hören irgendwann auf, Wissenschaftler zu se<strong>in</strong>. Für die wer<strong>de</strong>n kritischeFragen schon zu subversiven Fragen. Lieber wer<strong>de</strong>n sie zu Datenerhebungstechnikern undStatistikprogammanwendungsspezialisten.1<strong>1.</strong> Was gehört außer <strong>de</strong>m "großen Kopf" noch zu e<strong>in</strong>er großen Ent<strong>de</strong>ckung?Natürlich gehört e<strong>in</strong> bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsstand dazu. E<strong>in</strong> Werk wie das"<strong>Kapital</strong>" wäre 50 Jahre früher noch nicht möglich gewesen; und vermutlich auch nicht immexicanischen Exil. Ganz sicher gehört e<strong>in</strong> Menge Arbeit dazu: "99% Transpiration, 1% Inspiration".Und im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich gehört die Unabhängigkeit dazu. Als Systemdienerhätte M. se<strong>in</strong>e Erkenntnisse wohl kaum gew<strong>in</strong>nen können. Und nicht zu vergessen502<strong>Das</strong> kl<strong>in</strong>gt vielleicht etwas giftiger, als es se<strong>in</strong> müßte. Auch Gesellschaftswissenschaftler müssen essen. Es soll auch <strong>de</strong>n Wissenschaftlernke<strong>in</strong> Vorwurf gemacht, nur ihre wissenschaftliche Arbeit soll korrekt bewertet wer<strong>de</strong>n. Wür<strong>de</strong> man e<strong>in</strong> Institut grün<strong>de</strong>n und jährlich<strong>1.</strong>000 Forschungsarbeiten über das Perpetuum mobile <strong>in</strong> Vergangenheit und Zukunft vergeben, wür<strong>de</strong> alle Welt kichern. Dieselbe Zahl anForschungsarbeiten, um mit Korrelationen <strong>in</strong>dividueller Merkmale von Arbeitslosen die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, wird weith<strong>in</strong> fürbeispielhaft gehalten.250


die Grundausstattung: Umfassen<strong>de</strong> Kenntnisse <strong>de</strong>r Geschichte, <strong>pol</strong>itische Erfahrungen (auch ameigenen Leib) und die kreative Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung mit an<strong>de</strong>ren Sichtweisen an<strong>de</strong>rer Ökonomen,Philosophen o<strong>de</strong>r Politiker.Wichtig ist aber M.s Standpunkt, <strong>de</strong>r Wissenschaft als "das Produkt <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en geschichtlichenEntwicklung <strong>in</strong> ihrer abstrakten Qu<strong>in</strong>tessenz" bezeichnet. 503 <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>er unserer Liebl<strong>in</strong>gssätze,mit <strong>de</strong>m M. sich e<strong>in</strong>en zentralen Grundsatz e<strong>in</strong>prägte: Die Gesellschaft ist das Subjekt (!)<strong>de</strong>r Erkenntnis. Der e<strong>in</strong>zelne Wissenschaftler, mag er noch so be<strong>de</strong>utend se<strong>in</strong>, ist nur ihr Agent,<strong>de</strong>r das gesellschaftlich produzierte Wissen zwar formuliert und damit unter Umstän<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>enbeachtlichen <strong>in</strong>dividuellen Beitrag leistet. Aber ohne die Leistungen an<strong>de</strong>rer Wissenschaftler se<strong>in</strong>ereigenen Zeit, ohne die Beiträge <strong>de</strong>r vielen tausend Wissenschaftler vergangener Zeiten undvor allem: Ohne die gesellschaftliche Basis ihrer Arbeit, die milliar<strong>de</strong>nfachen Alltagserfahrungen,die <strong>de</strong>n Fundus gesellschaftlicher Erfahrungen erzeugen, wäre nichts dabei herausgekommen.Bei <strong>de</strong>n Physikern, die mit viel Gerät arbeiten, das selbst wie<strong>de</strong>r Ergebnis e<strong>in</strong>er über Generationenfortgesetzten kont<strong>in</strong>uierlichen technischen und wissenschaftlichen Arbeit ist, wird <strong>de</strong>r gesellschaftlicheCharakter von Erkenntnissen direkt fühlbar. Physiker arbeiten etwa an gigantischen<strong>Teil</strong>chenbeschleunigern, um <strong>de</strong>n Bauste<strong>in</strong>en <strong>de</strong>r Materie auf die Spur zu kommen. Ihr Arbeitsgerätist selbst die Essenz <strong>de</strong>s technischen Know-how unserer Zeit. Immer nur auf dieserGrundlage s<strong>in</strong>d weitere Fortschritte möglich.<strong>Das</strong> ist für die Gesellschaftswissenschaften nicht an<strong>de</strong>rs. Auch hier können Erkenntnisse über dieGesellschaft nicht nach Belieben gewonnen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn s<strong>in</strong>d an <strong>de</strong>n Entwicklungsstand <strong>de</strong>rGesellschaft selbst gebun<strong>de</strong>n und erhalten von dort ihre Impulse. Die <strong>pol</strong>itische Ökonomie <strong>de</strong>s18. Jahrhun<strong>de</strong>rts konnte nicht die <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts se<strong>in</strong>. Neue Entwicklungen brachtenneue Erkenntnisse. Und die <strong>pol</strong>itische Ökonomie unserer Zeit läßt sich nicht e<strong>in</strong>fach als Aufguß<strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" herstellen, son<strong>de</strong>rn muß unseren Entwicklungsstand verarbeiten – möglicherweisesogar mit an<strong>de</strong>ren Ergebnissen.<strong>Das</strong> war übrigens M.s eigene Devise und machte <strong>de</strong>n Entstehungsprozess <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" solangwierig. Deshalb schon 12 Jahre nach <strong>de</strong>m Ersche<strong>in</strong>en <strong>de</strong>s ersten Bands se<strong>in</strong>e Hoffnung, dieZeit zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, um die Verän<strong>de</strong>rungen dieses Zeitraums e<strong>in</strong>arbeiten zu können.12. S<strong>in</strong>d die Ausgangsfragen <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts: "Woher kommt <strong>de</strong>r Reichtum?" und"Warum gehen Reichtum und Armut parallel?" für unsere Zeit alte Hüte? O<strong>de</strong>r <strong>in</strong> welcherForm begegnen uns diese Fragen heute?Der Kontrast zwischen Arm und Reich, <strong>de</strong>r M.s Londoner Alltag bestimmte, ist nicht verschwun<strong>de</strong>n.Er zeigt sich nur an<strong>de</strong>rs. Auch bei uns gibt es erhebliche Unterschie<strong>de</strong> im Reichtum. Wennwir alle <strong>de</strong>utschen Haushalte nach <strong>de</strong>r Höhe ihres Vermögens gruppieren, gehören <strong>de</strong>n unteren50% <strong>de</strong>r Haushalte nur 4% <strong>de</strong>s Privatvermögens. Auf die oberen 10% <strong>de</strong>r Haushalte entfallenh<strong>in</strong>gegen 42% <strong>de</strong>s Privatvermögens. <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Erhebungen <strong>de</strong>s "Armuts- undReichtumsbericht" <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sregierung, <strong>de</strong>r 2005 veröffentlicht wur<strong>de</strong>. Dabei wur<strong>de</strong> übrigens503M. analysiert <strong>in</strong> <strong>de</strong>n "Theorien über <strong>de</strong>n Mehrwert" die Produktivität <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit, die im Arbeitsprozess als sche<strong>in</strong>bareProduktivität <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s auftritt. Er schreibt: "In diesem Prozess, wor<strong>in</strong> die gesellschaftlichen Charaktere ihrer Arbeit ihnen (<strong>de</strong>n Produzenten)gewissermaßen kapitalisiert gegenübertreten - wie z.B. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>erie die sichtbaren Produkte <strong>de</strong>r Arbeit als Beherrscher <strong>de</strong>rArbeit ersche<strong>in</strong>en -, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t natürlich dasselbe statt für die Naturkräfte und die Wissenschaft, das Produkt <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en geschichtlichenEntwicklung <strong>in</strong> ihrer abstrakten Qu<strong>in</strong>tessenz - sie treten ihnen als Mächte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s gegenüber. Sie trennen sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat von <strong>de</strong>m Geschickund <strong>de</strong>r Kenntnis <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen Arbeiters - und obgleich sie, an ihrer Quelle betrachtet, wie<strong>de</strong>r das Produkt <strong>de</strong>r Arbeit s<strong>in</strong>d - ersche<strong>in</strong>ensie überall, wo sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Arbeitsprozess e<strong>in</strong>treten, als <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong> e<strong>in</strong>verleibt." (MEW, 26.1, S.367)251


das oberste Prozent <strong>de</strong>r Haushalte, die Superreichen, "aus Datenschutzgrün<strong>de</strong>n" nicht e<strong>in</strong>malberücksichtigt.Noch <strong>de</strong>utlicher wird die ungleiche Verteilung, wenn wir nur das Betriebsvermögen, also das Eigentuman <strong>de</strong>n Mehrwertquellen betrachten. Hier s<strong>in</strong>d es 6,2% <strong>de</strong>r Haushalte, die über das gesamteBetriebsvermögen verfügen. <strong>Das</strong> schlägt sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r Geldvermögen nie<strong>de</strong>r.Die Vermögensberatung und Investmentbank Merrill Lynch (die es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzkrise fast zerbröselthat) gibt regelmäßig e<strong>in</strong>en Report über die wirklich Reichen dieser Welt heraus. Demnachbesitzen <strong>in</strong> Deutschland etwa 1% <strong>de</strong>r Bevölkerung rund 60% <strong>de</strong>s Geldvermögens.Solche Vermögensunterschie<strong>de</strong> erzeugen auch bei uns unterschiedliche Wohnviertel, nicht nur<strong>in</strong> London zu M.s Zeit. Auch bei uns s<strong>in</strong>d doch die heruntergewirtschafteten Wohnsilos <strong>in</strong> <strong>de</strong>nhäßlichen Gegen<strong>de</strong>n etwas an<strong>de</strong>res als die schmucken Villen mit viel Grundstück und Privatheit.Dennoch zeigen uns unsere Wohnviertel heute nur e<strong>in</strong>en Bruchteil <strong>de</strong>r Wahrheit. Die Reichenund die Superreichen bekommen wir nicht zu sehen, höchstens mal im Fernsehen. DerenWohngebiete liegen ebenso außerhalb unserer Reichweite wie ihr Vermögen außerhalb unsererAlltagsvorstellungen liegt.Und dann gibt es noch die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Wohnvierteln, die man nicht auf <strong>de</strong>n erstenBlick sehen kann. Beispiel: Die Firma Creditreform lebt davon, Bürger nach ihrer Bonität zuprüfen. Wir kennen das als Schufa-Verfahren. Wer se<strong>in</strong>en Ratenzahlungen nicht nachkommto<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Hypotheken im Rückstand ist o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e Rechnung irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>es Versandhausesnicht bezahlt, lan<strong>de</strong>t schneller im Register <strong>de</strong>r nicht kreditwürdigen Menschen als ihm liebist. So weit, so schlecht. Jetzt <strong>de</strong>r Bezug zur <strong>de</strong>utschen Stadt.Creditrefom erstellt regelmäßig e<strong>in</strong>en "Schuldner-Atlas", dröselt also die Quote <strong>de</strong>r registriertenSchuldner nach Postleitzahlgebieten auf. Die Unterschie<strong>de</strong> s<strong>in</strong>d <strong>de</strong>utlich und bil<strong>de</strong>n die ungleicheVermögens- und Chancenverteilung räumlich ab. Für die nordöstliche Mitte Dortmunds etwa(PLZ 44145) wird für 2004 e<strong>in</strong>e Schuldnerquote von 26%, für <strong>de</strong>n südlichen Stadtteil (PLZ44267) e<strong>in</strong>e Quote von unter 6% ausgewiesen.<strong>Das</strong>selbe gilt für Essen. Der Stadtkern nördlich <strong>de</strong>s Hauptbahnhofes (PLZ 45127) ist mit 22,5%negativer Spitzenreiter, während sich Essen-Heis<strong>in</strong>gen (am Bal<strong>de</strong>neysee, PLZ 45259) mit unter5% als schuldnerärmster Stadtteil präsentiert. Preisfrage: Welche Stadtviertel s<strong>in</strong>d die unattraktiven,welche die attraktiven Viertel? Wo f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir überwiegend Menschen mit gutem E<strong>in</strong>kommen(richtig reich s<strong>in</strong>d auch von <strong>de</strong>nen nur wenige) und wo wohnen überwiegend die mit niedrigemund unsicherem E<strong>in</strong>kommen?Wir haben allen Grund, die Än<strong>de</strong>rungen seits M.s Zeiten zu beachten. Wir sollten aber auchnicht so tun, als hätten wir mit <strong>de</strong>n Problemen selbst nichts mehr zu schaffen. Die Frage steht:Wie tiefgreifend s<strong>in</strong>d die Än<strong>de</strong>rungen seit M.s Zeit wirklich? Je<strong>de</strong>nfalls ist klar, dass viele Autosvor <strong>de</strong>n Haustüren bestenfalls die halbe Wahrheit s<strong>in</strong>d.Schauen wir über unseren Kirchturm h<strong>in</strong>aus. Es gehört heute zum Grundwissen je<strong>de</strong>s Globalisierungskritikers,dass die Armut <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Welt zunimmt, ja: <strong>Das</strong> Wissen um das parallele Wachstumvon Reichtum auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en und Armut auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite ist gera<strong>de</strong>zu Folklore gewor<strong>de</strong>n. Ine<strong>in</strong>er älteren repräsentativen Befragung <strong>de</strong>r Schweizer Bevölkerung im Auftrag <strong>de</strong>r Credit SuisseBank von 2001 wur<strong>de</strong> die Feststellung "Reiche wer<strong>de</strong>n immer reicher, Arme immer ärmer" bewertet,e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Bezug auf die Schweiz, zum an<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> Bezug auf die Welt. <strong>Das</strong> Ergebnis iste<strong>in</strong><strong>de</strong>utig:252


94% <strong>de</strong>r Befragten stimmen dieser Behauptung mit Bezug auf die Schweiz zu; mit Bezug aufdie Welt sogar 95%. Der Anteil <strong>de</strong>r Befragten, die "voll und ganz" zustimmten, war <strong>in</strong> Bezugauf die Welt mit 61% sogar <strong>de</strong>utlich höher als <strong>in</strong> Bezug auf die Schweiz (49%). Wir haben ke<strong>in</strong>enGrund anzunehmen, dass e<strong>in</strong>e ähnliche Befragung <strong>in</strong> Deutschland zu wesentlich an<strong>de</strong>renErgebnissen führen wür<strong>de</strong>. Was allerd<strong>in</strong>gs fehlt, ist E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Zusammenhänge. Die fortschreiten<strong>de</strong>Scheidung <strong>in</strong> "arm und reich" wird entwe<strong>de</strong>r als "natürlicher", nicht als von Menschengeschaffener Prozess, o<strong>de</strong>r als e<strong>in</strong> Prozess betrachtet, gegen <strong>de</strong>n nichts auszurichten sei.Wichtig ist auch, dass die Vorstellungen von "reich" sehr unterschiedlich s<strong>in</strong>d. Der wirklicheReichtum sche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>n meisten Mitbürgern unverstellbar. In <strong>de</strong>r zitierten Schweizer Umfrageergab sich, dass für e<strong>in</strong>e Mehrheit <strong>de</strong>r "Reichtum" schon bei e<strong>in</strong>em Vermögen von 100.000Franken beg<strong>in</strong>nt. Über solche Summen lachen die Reichen nur. Da fällt e<strong>in</strong>em <strong>de</strong>r BankierPferdmenges e<strong>in</strong>, Berater <strong>de</strong>s ersten <strong>de</strong>utschen Bun<strong>de</strong>skanzlers A<strong>de</strong>nauer. Der hat auf die typischeReporterfrage, was er machen wür<strong>de</strong>, wenn er 1 Million Mark besäße, trocken geantwortet:"Dann wür<strong>de</strong> ich mich wohl recht or<strong>de</strong>ntlich e<strong>in</strong>schränken müssen."13. Kommen uns die zu M.s Zeit angebotenen Erklärungen für Armut bekannt vor?Uns je<strong>de</strong>nfalls kommen die sehr bekannt vor. Wo zu M.s Zeiten "sittliche Verrohung" o<strong>de</strong>r "hoheK<strong>in</strong><strong>de</strong>rzahl" herhalten mußte, um das Anwachsen <strong>de</strong>r Armut zu erklären, s<strong>in</strong>d es heute die"Hängemattenlieger", die "Arbeitsunwilligen", die "Sozialschmarotzer" usw. Und aus <strong>de</strong>r"überzähligen Bevölkerung" e<strong>in</strong>es Malthus im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt wird die "Überalterung" und"<strong>de</strong>mografische Zeitbombe" im 2<strong>1.</strong> Jahrhun<strong>de</strong>rt. Aus <strong>de</strong>r "nationalen Größe" wird <strong>de</strong>r "StandortDeutschland", aus <strong>de</strong>m "Je<strong>de</strong>r ist se<strong>in</strong>es Glückes Schmied" wird die heutige "Eigenverantwortung"und "Wir s<strong>in</strong>d Deutschland" blablabla.Und wie zu M.s Zeiten f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sich auch heute aka<strong>de</strong>mische Vorbeter, die im Gewand <strong>de</strong>r Wissenschaftund im Geruch <strong>de</strong>s Expertentums solchen populären Irrtümern und Vorurteilen diehöheren Weihen geben: <strong>in</strong> Talkrun<strong>de</strong>n, reißerischen Schmökern und Spiegel-Interviews. E<strong>in</strong>zigeGrundbed<strong>in</strong>gung, um auf diesem Lügenmarkt mitzumischen: Es liegt niemals am System!Und wenn es dann doch e<strong>in</strong>mal ganz offensichtlich am System liegt, so offensichtlich, dass mansogar "Banken mit systemischer Be<strong>de</strong>utung" mit riesigen Geldsummen zu retten versucht, dannliegt es trotz<strong>de</strong>m nicht am System, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>r Habgier <strong>de</strong>r Banker, fehlen<strong>de</strong>r Regulierung,mangeln<strong>de</strong>m Vertrauen usw.14. Warum ist es vernünftig, moralische Kategorien wie "gut", "gerecht", "anständig" usw.aus <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie herauszuhalten?Als "Moral" bezeichnen wir die aus <strong>de</strong>m gesellschaftlichen Leben heraus sich entwickeln<strong>de</strong>nVorstellungen darüber, wie man se<strong>in</strong> Leben führen sollte, was gut und böse, falsch und richtigist. Die Moral begegnet uns als äußere Erwartung ("In unserer Familie macht man so etwasnicht" o<strong>de</strong>r "Du, das ist total unsolidarisch") o<strong>de</strong>r als <strong>in</strong>neres Gewissen. Moralische Normen undWerte haben unterschiedliche Reichweite. Es gibt allgeme<strong>in</strong>e Werte ("Du sollst nicht töten") undGruppenwerte ("Man haut ke<strong>in</strong>en Kumpel <strong>in</strong> die Pfanne"). Moralische Werte unterliegen nichtnur schnellen historischen Wandlungen, son<strong>de</strong>rn auch e<strong>in</strong>er beachtlichen sozialen Streuung.Wie sollte man sich mit e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Analyse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen moralisch abgestecktenRaum bewegen können? M. macht zwar niemals e<strong>in</strong>en Hehl daraus, dass er das bürgerlicheProfitregime ablehnt. Er stellt die aka<strong>de</strong>mischen Schwadroneure, die "bezahlten Klopffechter"und "Vulgärökonomen" gerne bloß. Aber moralische Wertungen sollen ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß auf das253


Ergebnis nehmen. Nicht e<strong>in</strong>mal dort, wo M. die "Ausbeutung <strong>de</strong>r Lohnarbeit" analysiert, erfolgtdas von e<strong>in</strong>em moralischen Standpunkt (s. S. 9-28).An<strong>de</strong>rs gesagt: Die Werttheorie wird nicht entwickelt, um zu zeigen, wie h<strong>in</strong>terhältig das kapitalistischeSystem ist. Die Werttheorie wird entwickelt, weil sie die zufrie<strong>de</strong>nstellen<strong>de</strong> Lösung e<strong>in</strong>erReihe von theoretischen Problemen darstellt, mit <strong>de</strong>nen sich Ökonomen vor und nach M. immerwie<strong>de</strong>r herumschlagen.Die Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>s kapitalistischen Eigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln wird nicht gefor<strong>de</strong>rt,um <strong>de</strong>n reichen Säcken e<strong>in</strong>s auszuwischen. Es ist ke<strong>in</strong>e Neidhammel-For<strong>de</strong>rung, son<strong>de</strong>rndie Voraussetzung, um <strong>de</strong>r Anarchie <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion zu entkommen und dieProduktion und Verteilung <strong>de</strong>r Güter besser als bisher nach <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>r Gesellschaft zuorganisieren.Wenn es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Praxis darauf ankommt, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen,die Macht <strong>de</strong>r Großkonzerne, Banken und Investmentfonds e<strong>in</strong>zuschränken, wird manfreilich, ob man will o<strong>de</strong>r nicht, an <strong>de</strong>r gelten<strong>de</strong>n Moral anknüpfen müssen. Man wird Wertewie "soziale Gerechtigkeit" o<strong>de</strong>r "Solidarität" gegen "Habgier" und "Eigensucht" setzen, um<strong>de</strong>n alternativen Vorstellungen e<strong>in</strong>e Begründung zu geben, die auch ohne wissenschaftlicheSchulung e<strong>in</strong>leuchtet. Dabei wissen wir sehr genau, dass die For<strong>de</strong>rung nach sozialer Gerechtigkeitnoch ke<strong>in</strong>eswegs soziale Gerechtigkeit verwirklicht. Und dass soziale Gerechtigkeit mehrverlangt, als e<strong>in</strong>e Erhöhung <strong>de</strong>r Hartz IV Regelsätze.15. Spielt <strong>de</strong>nn die Moral für die Politische Ökonomie überhaupt ke<strong>in</strong>e Rolle?Natürlich spielt die Moral auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie wie <strong>in</strong> allen Fel<strong>de</strong>rn menschlicherAktivitäten e<strong>in</strong>e Rolle. Zu allererst bei <strong>de</strong>r Entscheidung für das Thema. M. hätte sich ja auch <strong>de</strong>rMollusken-Forschung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r antiken Philosophie zuwen<strong>de</strong>n können. Nach Fertigstellung <strong>de</strong>s<strong>1.</strong> Bands vom "<strong>Kapital</strong>" formulierte M. das so: "Ich lache über die sog. 'praktischen' Männerund ihre Weisheit. Wenn man e<strong>in</strong> Ochse se<strong>in</strong> wollte, könnte man natürlich <strong>de</strong>n Menschheitsqualen<strong>de</strong>n Rücken kehren und für se<strong>in</strong>e eigene Haut sorgen. Aber ich hätte mich wirklich für unpraktischgehalten, wenn ich krepiert wäre, ohne me<strong>in</strong> Buch, wenigstens im Manuskript, ganzfertigzumachen." (MEW 31, S.542) Aber nicht nur die Moral <strong>de</strong>s Autors ist wichtig. Ebensospielt unsere eigene Moral e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, nämlich bei unserer Entscheidung, uns mit M.sPolitischer Ökonomie näher zu befassen (und durchzuhalten).Und auch <strong>de</strong>r Forschungsprozess selbst ist niemals frei von moralischen E<strong>in</strong>flüssen, wie er überhauptniemals frei von außerwissenschaftlichen E<strong>in</strong>flußnahmen ist. <strong>Das</strong> anzunehmen wäre überheblich.Etwas ganz an<strong>de</strong>res ist die Frage, ob sich wissenschaftliche Forschung externen Vorgabenunterordnet, mögen die auch noch so "gut geme<strong>in</strong>t" se<strong>in</strong>. Ob sie sich die Problemstellungservieren und damit das Feld abstecken läßt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m sie sich bewegt. Ob sie sich nach Gegenstando<strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Untersuchung <strong>in</strong> "gute" (för<strong>de</strong>rungswürdige) und "schlechte" (subversive)Wissenschaft teilen läßt. Wo solche Bed<strong>in</strong>gungen herrschen (und das ist für Deutschland <strong>in</strong>allen Bereichen <strong>de</strong>r organisierten gesellschaftswissenschaftlichen Forschung <strong>de</strong>r Fall), ist wissenschaftlicheErkenntnis nur noch e<strong>in</strong>geschränkt möglich.Wer sich <strong>de</strong>m antikapitalistischen Kampf anschließt, hat se<strong>in</strong>en eigenen Zugang: Betriebliche Erfahrungenmit <strong>de</strong>n geme<strong>in</strong>en Tricks und Kniffen <strong>de</strong>r Manager, Arbeitslosigkeit und entwürdigen<strong>de</strong>Erfahrungen mit <strong>de</strong>r Bürokratie, Irak-Krieg o<strong>de</strong>r Korruption, Ausbeutung <strong>de</strong>r armen Län<strong>de</strong>ro<strong>de</strong>r Umweltvernichtung und Klimawan<strong>de</strong>l... In all diesen Punkten und vielen an<strong>de</strong>ren wirdman die kapitalistische Produktionsweise schuldig sprechen müssen.254


Und wer daraus <strong>de</strong>n Schluß zieht, etwas dagegen tun zu müssen - immer zu! Dabei spielt unsereMoral e<strong>in</strong>e zentrale Rolle, <strong>de</strong>nn sie läßt uns die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten überhaupterkennen und kann uns <strong>in</strong> Bewegung setzen. Aber die eigene moralische Position ist nochke<strong>in</strong> Leitfa<strong>de</strong>n für die Analyse <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise. Und sie ist <strong>de</strong>shalb auchke<strong>in</strong>e Garantie dafür, dass wir uns im Kampf gegen die Ungerechtigkeit auch wirklich <strong>in</strong> die richtigeRichtung bewegen, nämlich auf die Ursachen zu.16. Woher kommen die Kategorien, mit <strong>de</strong>nen M.s Analyse arbeitet: Arbeit, Produktion,Distribution, aber auch Ware, Lohn, Preis usw.?Sie kommen aus <strong>de</strong>r Anschauung und ihrer gedanklichen Verarbeitung. Sie basieren auf Begriffen,die M. von se<strong>in</strong>en Vorgängern übernommen, geprüft und <strong>de</strong>r Kritik unterzogen hat. Sie geltenihm als "verständige Abstraktionen", die geeignet ersche<strong>in</strong>en, <strong>de</strong>n analytischen Weg vomAbstrakten zum Konkreten o<strong>de</strong>r vom Allgeme<strong>in</strong>en zum Beson<strong>de</strong>ren zurückzulegen.Dennoch bleiben es gedankliche Konstruktionen, die sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r strukturellen und historischenAnalyse bewähren müssen. För<strong>de</strong>rn sie Neues zu Tage? Dann s<strong>in</strong>d sie brauchbar. Kleistern sienur zu? Dann weg damit.17. S<strong>in</strong>d diese Kategorien fest vorgegeben o<strong>de</strong>r käme man mit an<strong>de</strong>ren Ansätzen auch zuan<strong>de</strong>ren Kategorien?Sie s<strong>in</strong>d nicht fest vorgegeben. Nichts kann e<strong>in</strong>en Wissenschaftler daran h<strong>in</strong><strong>de</strong>rn, lang und breitüber die Bevölkerung und <strong>de</strong>mografische Trends zu schwadronieren und daraus e<strong>in</strong>e ökonomischeTheorie zu entwickeln. Schließlich wird das und noch sehr viel dümmeres Tag für Tag anUniversitäten und an<strong>de</strong>ren Forschungs<strong>in</strong>stituten <strong>de</strong>r Wirtschaft getan.Die Rechtfertigung für M.s Weg ergibt sich alle<strong>in</strong> aus <strong>de</strong>m Ergebnis: Wo liegt die größere analytischePotenz? Damit schei<strong>de</strong>t aber auch M.s Weg für alle Schwadronierer aus, die ja an solchenErgebnissen, mit <strong>de</strong>nen die bestehen<strong>de</strong> Produktionsweise als verän<strong>de</strong>rbar gilt, gar nicht <strong>in</strong>teressierts<strong>in</strong>d.18. Ist M.s analytischer Ansatz <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zig <strong>de</strong>nkbare? O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zig wissenschaftliche?O<strong>de</strong>r doch nur <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zige uns zusagen<strong>de</strong> Ansatz?Natürlich ist das nicht <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zig <strong>de</strong>nkbare analytische Ansatz. Schließlich gibt es vielfältige Versuche,die ökonomischen Grundlagen <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen und zu verstehen.M.s Ansatz ist auch nicht <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zige wissenschaftliche Ansatz, sofern man als Wissenschaftdie durch nachvollziehbare Metho<strong>de</strong> gewonnenen und überprüfbaren Aussagen über ihren jeweiligenGegenstand betrachtet.In gewisser Weise ist die Entscheidung für diesen o<strong>de</strong>r jenen wissenschaftlichen Ansatz immerauch e<strong>in</strong>e i<strong>de</strong>ologische Entscheidung. Man bestimmt damit auch se<strong>in</strong>e eigene Position zu dieserGesellschaft. Wer sie für die Beste <strong>de</strong>r möglichen hält, wird sich an<strong>de</strong>rs ausrichten als wir, diewir nicht bereit s<strong>in</strong>d, uns mit <strong>de</strong>n unübersehbaren Grausamkeiten abzuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n.Dabei halten wir M.s Ansatz aber nicht nur se<strong>in</strong>e revolutionäre Energie o<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e "gute Absicht"zugute. <strong>Das</strong> wäre nicht ausreichend. Vor allem geht es darum, dass M.s Ansatz eben zahlreichePraxistests bestan<strong>de</strong>n und <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten 15 Jahren fast schon pe<strong>in</strong>lich-triumphale Erfolgevorzuweisen hat. Ironischerweise also se<strong>in</strong>e Triumphe gera<strong>de</strong> zu e<strong>in</strong>er Zeit erlebte, da sich vieleehemalige "Marxisten" wegen <strong>de</strong>r Riesenpleite <strong>de</strong>r sozialistischen Versuche vom "Marxismus"abwandten. Hier bewußt <strong>in</strong> Anführungszeichen gesprochen, da natürlich genau geprüft wer<strong>de</strong>n255


muß, wieweit die sozialistischen Staaten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Vergangenheit wirklich e<strong>in</strong>e kreative Anwendungvon M.s Theorie umgesetzt haben.Unabhängig von allen Überlegungen über <strong>de</strong>n richtigen wissenschaftlichen Ansatz dürfen wirdas nicht vergessen: Je<strong>de</strong>r kann auf ganz eigenen Wegen ohne e<strong>in</strong>en Hauch von Wissenschaftund ohne e<strong>in</strong>e Zeile von M. gelesen zu haben, zu kritischen Auffassungen über die Politik, überunsere Gesellschaft und unsere Wirtschaftsordnung kommen. Wäre <strong>de</strong>m nicht so, stün<strong>de</strong> esschlecht um uns.19. Wie entschei<strong>de</strong>t man, welcher analytische Ansatz "richtig" o<strong>de</strong>r "falsch" ist? WelcheTrennl<strong>in</strong>ien für verschie<strong>de</strong>ne Ansätze gibt es? Welche Rolle spielt dabei das"Historische"?Wie oben schon gesagt: Je<strong>de</strong> Theorie muss sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Praxis bewähren. Sicher hat gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>rgute M. wegen <strong>de</strong>s katastrophalen Ausgangs <strong>de</strong>r sozialistischen Phase von 1917 bis 1990 e<strong>in</strong>eMenge Prügel bezogen. Aber hat er sie verdient? Wohl doch eher das als "Marxismus" ausgegebenekanonisierte Lehrgebäu<strong>de</strong>, das unter <strong>de</strong>m Tarnmantel "Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus" e<strong>in</strong>ewirklich lebendige Anwendung <strong>de</strong>r von M. (und vielen an<strong>de</strong>ren) entwickelten Theorie und Metho<strong>de</strong>eben nicht im nötigen Umfang zugelassen hat.Was die eigentliche Trennungsl<strong>in</strong>ie zwischen "marxistischer" o<strong>de</strong>r "fortschrittlicher" und "bürgerlicher"Wissenschaft angeht, müssen wir uns an das Historische <strong>in</strong> M.s Metho<strong>de</strong> er<strong>in</strong>nern:Wo die gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft mit ihren Eigentums- und Produktionsverhältnissenals immerwährend, sozusagen als das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geschichte, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st aber als alternativlosbetrachtet wird, betreten wir <strong>de</strong>n bürgerlichen Sektor.Die historische Perspektive über <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Status Quo h<strong>in</strong>aus macht <strong>de</strong>n ganzen Unterschied.Und <strong>de</strong>shalb ist das, was man "fortschrittliche Wissenschaft" nennen könnte, alsoWissenschaft, die die Verän<strong>de</strong>rbarkeit <strong>de</strong>s Status quo auch <strong>in</strong> gesellschaftlicher Dimension e<strong>in</strong>bezieht,sehr differenziert und umfaßt mehr als explizit marxistische Ansätze.20. Hat die marxistische Theorie eigene Verfahren entwickelt, Fehler zu erkennen?E<strong>in</strong> Frühwarnsystem für eigene Fehler wur<strong>de</strong> offenbar nur ungenügend entwickelt, sonst hättees schließlich <strong>de</strong>n Zusammbruch <strong>de</strong>r sozialistischen Staaten <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1980er Jahren nicht <strong>in</strong> dieserForm geben können.Viele Jahrzehnte war die <strong>in</strong> M.s Tradition stehen<strong>de</strong> Forschung zu stark <strong>in</strong> Staats- und Partei<strong>in</strong>teressene<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n, um wirklich fruchtbar zu se<strong>in</strong>. Von "fruchtbar" zu "furchtbar" ist dann nure<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Schritt. Die Überbetonung <strong>de</strong>r "e<strong>in</strong>heitlichen L<strong>in</strong>ie", die Umwandlung e<strong>in</strong>er wissenschaftlichenTheorie durch Kanonisierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e "Lehre" hat zu<strong>de</strong>m die engere Parteiwissenschaftvon <strong>de</strong>n partei-ungebun<strong>de</strong>nen Marxisten und <strong>de</strong>r <strong>in</strong> M.s Tradition stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Forschungabgetrennt. <strong>Das</strong> war verheerend für die wissenschaftliche Produktivität und <strong>de</strong>ren <strong>pol</strong>itischeWirksamkeit - auf bei<strong>de</strong>n Seiten.Der beste, weil ohne weiteres erreichbare Schutz vor groben Fehlern besteht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stärkerenempirischen Ausrichtung <strong>de</strong>r marxistischen Debatte. Nicht Austausch von Me<strong>in</strong>ungen, son<strong>de</strong>rnvon begrün<strong>de</strong>ten und daher nachprüfbaren Aussagen wäre das Ziel. Diese Begründungen solltensich viel mehr als bisher durch die Analyse <strong>de</strong>r ökonomischen und <strong>pol</strong>itischen Prozesse <strong>in</strong> unsererGesellschaft untermauern. Sie sollten das reiche empirische Material e<strong>in</strong>beziehen, das unserGesellschaftssystem mit unendlicher Ausdauer <strong>in</strong> Form von betrieblichen Kennziffern, sozio-256


logischen Panelstudien, Mikrozensus und tausen<strong>de</strong>n von ökonomischen Kennziffern fortlaufendproduziert.Diese Daten s<strong>in</strong>d nicht brauchbar? Stimmt nicht, man muß sie nur angemessen nutzen. Gera<strong>de</strong><strong>in</strong> diesem Punkt sollten wir <strong>de</strong>r Arbeitsweise von Marx und Engels, aber auch Len<strong>in</strong>, Hilferd<strong>in</strong>g,Varga, Sweezy, Kuczynski, Hobsbawn und all <strong>de</strong>n vielen an<strong>de</strong>ren achtbaren marxistischen Ökonomenund Historikern praktisch nacheifern.2<strong>1.</strong> M.s Ansatz ist historisch. Gilt das auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Richtung? Sagt er mit se<strong>in</strong>er<strong>pol</strong>itischen Ökonomie die Zukunft voraus?Je<strong>de</strong> Wissenschaft ist immer auch Prognose. Deswegen will man ja die Gesetzmäßigkeiten <strong>in</strong> <strong>de</strong>rGesellschaft auf<strong>de</strong>cken. Nur s<strong>in</strong>d gesellschaftswissenschaftliche Gesetze etwas an<strong>de</strong>res als physikalischeGesetze. Den Planeten ist ihre Bewegung egal. Den Menschen nicht. Wir wer<strong>de</strong>n beiM. immer dort, wo über gesellschaftliche Gesetze die Re<strong>de</strong> ist, sehen, dass alles durch <strong>in</strong>nereKräfte angetrieben wird. Da s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e äußeren göttlichen Kräfte, ke<strong>in</strong>e immerwähren<strong>de</strong>n Naturgesetzeam Werk. Es s<strong>in</strong>d die Menschen selbst, durch <strong>de</strong>ren Handlungen sich die gesellschaftlichenGesetze verwirklichen – o<strong>de</strong>r auch nicht. Denn weil es um gesellschaftliches Han<strong>de</strong>lngeht, müssen wir auch immer wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Kräften sprechen, die <strong>de</strong>r Durchsetzung von Gesetzenentgegenwirken. Und auch die wer<strong>de</strong>n durch menschliches Han<strong>de</strong>ln hervorgebracht.M. selbst und se<strong>in</strong>en Nachfolgern wird oft vorgeworfen, viel von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeitenzu re<strong>de</strong>n, doch immer dann, wenn die verausgesagte Wirkung ausbleibt, sich mit <strong>de</strong>n"Gegenten<strong>de</strong>nzen" herauszure<strong>de</strong>n. Kann man so sehen; sehen wir aber nicht bei M. 504 DieserH<strong>in</strong>weis ist alles an<strong>de</strong>re als e<strong>in</strong> dialektischer Kniff. Schließlich wird man auch aus <strong>de</strong>r Tatsache,dass e<strong>in</strong> 100 Tonnen schwerer Metallklotz fliegen kann, nicht auf die Ungültigkeit <strong>de</strong>s Gravitationsgesetzesschließen. Soll heißen: Gesetze können wirken, ohne sichtbare Wirkung zu zeigen.Die Sache ist aber noch komplizierter: Wer die relative Bewegung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>n Sternen vorhersagt,wer exakt Sonnen- und Mondf<strong>in</strong>sternisse berechnen kann, <strong>de</strong>r schafft das nur <strong>de</strong>shalb,weil Planeten und Sterne mitspielen. Ke<strong>in</strong>er von <strong>de</strong>nen sagt plötzlich: "<strong>Das</strong> wollen wir doch malsehen…" und spr<strong>in</strong>gt von se<strong>in</strong>er Bahn.Was passierte, als Hugo Chavez <strong>in</strong> Venezuela <strong>de</strong>n Sozialismus zum Ziel erklärte? Sofort habensich weltweit tausen<strong>de</strong> Geld- und Machtmenschen zusammengesetzt und beschlossen, Venezuelaaus dieser "Bahn" spr<strong>in</strong>gen zu lassen. Was wür<strong>de</strong> passieren, wenn <strong>de</strong>r Tagesschau-Sprecherankündigt, <strong>de</strong>r Zucker wer<strong>de</strong> knapp? Auch wenn die Zuckerreserven <strong>de</strong>s Tages für Monate ausreichen:Die sofort e<strong>in</strong>setzen<strong>de</strong>n Hamsterkäufe wer<strong>de</strong>n die völlig ungerechtfertigte Vorhersagebestätigen.<strong>Das</strong> ist das verflixte <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Gesellschaftswissenschaften. Was da auf Gesetzmäßigkeit untersuchtwird, ist mit eigenem Verstand, eigenen Interessen und eigenen Machtmitteln ausgerüstet, umje<strong>de</strong>r Prognose e<strong>in</strong>e eigene Prognose <strong>de</strong>r Tat entgegenzustellen und an <strong>de</strong>ren Verwirklichung504An<strong>de</strong>rerseits erlebten wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ersten Wochen <strong>de</strong>s Jahres 2009 wöchentlich Prognosen <strong>de</strong>r Wirtschafts<strong>in</strong>stitute, <strong>de</strong>r OECD, <strong>de</strong>s InternationalenWährungsfonds und vieler an<strong>de</strong>rer gut bezahlter Fachleute zum Verlauf <strong>de</strong>r Wirtschaftskrise, die im wöchentlichen Rhythmusmit <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>weis auf externe Faktoren, exogene Wirkungen, Angstreaktionen <strong>de</strong>r Märkte usw. immer wie<strong>de</strong>r korrigiert wur<strong>de</strong>n.Resumierend <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Neuen Zürcher Zeitung: "Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r letzten Woche haben aufgrund solcher düsterer Daten mehrere Forschungs<strong>in</strong>stituteihre Prognosen für 2009 auf vor kurzem noch kaum vorstellbare Werte reduziert; die OECD erwartet nun e<strong>in</strong>e Schrumpfung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschenBrutto<strong>in</strong>landprodukts um 5,3%, das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung sagte 5% voraus, laut <strong>de</strong>m Rhe<strong>in</strong>isch-Westfälischen Institut wer<strong>de</strong>n es 4,3% se<strong>in</strong>." (NZZ 2.4.2009) Dieselben Institut hatten drei Monate zuvor noch e<strong>in</strong> leichtes Wachstum auf<strong>de</strong>r Rechnung. Hier trifft die bekannte Metapher mit <strong>de</strong>n Glashaus und <strong>de</strong>n Ste<strong>in</strong>en recht gut.257


energisch zu arbeiten. Mit <strong>de</strong>m Effekt, dass am En<strong>de</strong> sogar Vorhersagen, die "eigentlich" völligdaneben lagen, plötzlich als <strong>de</strong>r Weisheit größte Leistung ersche<strong>in</strong>en.Es ist e<strong>in</strong> beliebtes Spiel <strong>de</strong>r Marxologen, M.s "prognostische Katastrophen" herauszustellen: Erhabe die Revolution vorausgesagt, die aber ausgeblieben sei (allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong> Rußland und e<strong>in</strong>igenan<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn). Den Arbeitern geht es nicht schlechter, son<strong>de</strong>rn immer besser (abgesehenvon <strong>de</strong>r Mehrheit, die irgendwo <strong>in</strong> <strong>de</strong>n tiefen <strong>de</strong>s kapitalistischen Raums für miese Löhnedie Mehrwertquellen spru<strong>de</strong>ln läßt). Beliebt war bis vor kurzem auch <strong>de</strong>r stolze H<strong>in</strong>weis, manhabe ganz entgegen M.s Vorhersage <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>ismus sogar die Krisen ausgetrieben. Aber darumist es <strong>de</strong>rzeit still.Wenn man sich nicht an<strong>de</strong>rs zu helfen weiß, wer<strong>de</strong>n M. solche Prognosen untergeschoben, von<strong>de</strong>nen man fest überzeugt ist, er müsse sie doch von sich gegeben haben. Tatsächlich s<strong>in</strong>d das"Prognosen", die er nicht e<strong>in</strong>mal im Vollrausch getroffen hätte. Etwa: "Der <strong>Kapital</strong>ismus brichtzusammen" o<strong>de</strong>r "Auf <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus folgt <strong>de</strong>r Sozialismus" 505 usw.Kurz: Natürlich trifft M. Aussagen über die Entwicklung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus. Konzentration undZentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s: Welch e<strong>in</strong> Triumph wissenschaftlicher Voraussage. Und man könntenoch manch an<strong>de</strong>res nennen. 506 Eugen Varga war <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zige Wirtschaftswissenschaftler, <strong>de</strong>rdie große Depression von 1929, Entstehung und Verlauf recht zutreffend prognostiziert hat.Ganz im Gegensatz zu mitarbeiterstarken Instituten für Konjunkturanalyse. Auch was die gegenwärtigeWirtschaftskrise betrifft, waren die Beiträge von marxistischer Seite, etwa imMonthly Review, sowohl vor als auch während <strong>de</strong>r Krise mit Abstand erhellen<strong>de</strong>r als das Konjunktur-Gere<strong>de</strong>vor und das aufgeregte Gewusel im bürgerlichen Mediengetümmel während <strong>de</strong>rKrise.Gewiß haben sich M.s Nachfolger auch häufig geirrt. Vor allem die selbstherrlichen Staats- undParteimarxisten seligen Ange<strong>de</strong>nkens. Aber selbst wenn wir auch <strong>de</strong>ren Schnitzer auf M.s Kappenehmen, stehen wir noch recht gut da. Denn wie oft schießen die selbsternannten Super-Wissenschaftler,die regierungsamtlichen Weisen und prächtig f<strong>in</strong>anzierten Gutachter daneben?Fast ständig, so dass Treffer als unvermeidliche Glückstreffer ersche<strong>in</strong>en. 507 In <strong>de</strong>n (bürgerlichen)Sozialwissenschaften geht man nach <strong>de</strong>m Konzept abgebrühter Astrologen vor: Man muß nurausreichend viele Zukunftskonzepte vorlegen. So etwas wie e<strong>in</strong> Treffer wird sich dann schon f<strong>in</strong><strong>de</strong>n.Trotz<strong>de</strong>m warten wir immer noch auf <strong>de</strong>n großen prognostischen Wurf. Damit verglichenkönnte M. se<strong>in</strong>e Nase wirklich sehr sehr hoch tragen.505Selbstverständlich hält M. <strong>de</strong>n Kampf für <strong>de</strong>n Sozialismus für notwendig. Was hat er <strong>de</strong>nn se<strong>in</strong> Leben lang getan? Aber das tat er, weil<strong>de</strong>r Sozialismus eben nicht e<strong>in</strong>fach "folgt", son<strong>de</strong>rn erkämpft wer<strong>de</strong>n muß. Insofern könnten wir sagen: Der Sozialismus wäre zwar diefolgerichtige ("logische") Fortentwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise. Aber das letzte Wort hat auch hier die wirkliche Geschichte.Und die wird bekanntlich, wie wir von M. selbst gehört haben, von <strong>de</strong>n Menschen selbst gemacht und nicht von Automaten.506So hat M., während <strong>in</strong> England noch <strong>de</strong>r 12- und 14-Stun<strong>de</strong>n-Tag galt, die weitere Verkürzung <strong>de</strong>r Arbeitszeit als Notwendigkeit erkannt.Er schreibt:"Es unterliegt nicht <strong>de</strong>m ger<strong>in</strong>gsten Zweifel, daß die Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, sobald ihm Verlängrung <strong>de</strong>s Arbeitstags e<strong>in</strong> für allemal durchdas Gesetz abgeschnitten ist, sich durch systematische Steigrung <strong>de</strong>s Intensitätsgrads <strong>de</strong>r Arbeit gütlich zu tun und je<strong>de</strong> Verbeßrung <strong>de</strong>rMasch<strong>in</strong>erie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Mittel zu größrer Aussaugung <strong>de</strong>r Arbeitskraft zu verkehren, bald wie<strong>de</strong>r zu e<strong>in</strong>em Wen<strong>de</strong>punkt treiben muß, wo abermaligeAbnahme <strong>de</strong>r Arbeitsstun<strong>de</strong>n unvermeidlich wird." (MEW 23, S.440)Dennoch gehört es immer noch zur beliebten Anti-Marx-Übung, ihm mit H<strong>in</strong>weis auf die langen Arbeitszeiten im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, die M.als e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>r ersten mit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>m 8-Stun<strong>de</strong>n-Tag bekämpfte und <strong>de</strong>ren Überw<strong>in</strong>dung er völlig richtig vorhersagte, als altmodischund überholt abzutun.507Die Neue Zürcher Zeitung, e<strong>in</strong> wohl <strong>in</strong>formiertes neo-ordoliberales Kampfblatt, schreibt: "<strong>Das</strong> Institut für <strong>de</strong>utsche Wirtschaftsforschung<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> hat letzte Woche auf Basis e<strong>in</strong>er Analyse <strong>de</strong>r Prognosen <strong>de</strong>r letzten zehn Jahre festgestellt, dass über das laufen<strong>de</strong> Jahr h<strong>in</strong>ausreichen<strong>de</strong>Prognosen 'nahezu ke<strong>in</strong>en Informationsgehalt' hatten." (NZZ, 2.4.2009)258


Genug an Selbstlob. Wir bleiben dabei, dass <strong>in</strong> <strong>de</strong>r marxistischen Debatte zu wenig Wert aufPrognostik und <strong>de</strong>ren ständige Kontrolle und begrün<strong>de</strong>te Korrektur gelegt wur<strong>de</strong>. Wer die ökonomischenund <strong>pol</strong>itischen Verhältnisse erhalten will, hat es e<strong>in</strong>facher als wir, die diese Verhältnisseüberw<strong>in</strong><strong>de</strong>n und Neues, bisher Unbekanntes anstreben wollen. Umso wichtiger, dass wirunsere Prognosen sorgfältig erstellen und immer wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Prüfstand stellen. Aber machenwir überhaupt Prognosen? Natürlich tun wir das, nur nennen wir sie an<strong>de</strong>rs.Prognosen s<strong>in</strong>d das tägliche Brot <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen sozialistischen Bewegungen seit <strong>de</strong>m "KommunistischenManifest". Man benennt die <strong>pol</strong>itischen Ziele, Fernziele und Etappenziele. Man wirdsich über die ökonomischen und <strong>pol</strong>itischen Bed<strong>in</strong>gungen klar, die <strong>de</strong>n genannten Zielen zugrun<strong>de</strong>liegen. Man entwickelt die Tagesfor<strong>de</strong>rungen, durch die man e<strong>in</strong>e Verbesserung <strong>de</strong>s <strong>pol</strong>itischenKräfteverhältnisses erreichen will. Man organisiert <strong>de</strong>n <strong>pol</strong>itischen und ökonomischenKampf und richtet ihn auf die Tagesziele aus. Man schafft Organisationen, die <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lage s<strong>in</strong>d,zunächst die <strong>pol</strong>itischen, dann die ökonomischen Grundlagen für die angestrebten Ziele zu verwirklichen.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> durch und durch historische Aufgabe voller Prognostik.Freilich gehört es von Anfang an zum täglichen Brot <strong>de</strong>r sozialistischen Bewegungen, sich auchvom Gang <strong>de</strong>r geschichtlichen Ereignisse überraschen zu lassen. 508 Klar, <strong>de</strong>n eigenen Prognosenstehen immer noch die Prognosen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite entgegen. Und je<strong>de</strong> Seite ist nach Machtund Vermögen bemüht, <strong>de</strong>n eigenen Prognosen <strong>de</strong>n Mantel <strong>de</strong>r "Wahrheit" zu verschaffen.<strong>Das</strong>s die Seite mit <strong>de</strong>r größeren Macht und <strong>de</strong>n sehr viel größeren Vermögen im historischenVerlauf häufiger die Siegesfanfaren schmettern lassen darf, kann doch nieman<strong>de</strong>n überraschen.Ach ja: Neben <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Prognose mit allen e<strong>in</strong>gebauten Unsicherheiten gibt es dasan<strong>de</strong>re: "Die Zukunft voraussagen!" Wer von sich behauptet, das zu können, hat e<strong>in</strong> ernstesProblem.22. Ist M.s Politische Ökonomie überhaupt zu wi<strong>de</strong>rlegen? O<strong>de</strong>r ist so "flexibel" angelegt,dass sie am En<strong>de</strong> immer Recht hat?In <strong>de</strong>r Wissenschaftstheorie wer<strong>de</strong>n als Merkmale e<strong>in</strong>er Wissenschaft ihre prognostische Qualitätund ihre Falsifizierbarkeit genannt. Anti-Marxisten werfen <strong>de</strong>r marxistischen Theorie oft vor, sieziehe sich durch ihre w<strong>in</strong>digen dialektischen Begriffe immer wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Affäre, wenn ihreVoraussagen daneben gegangen s<strong>in</strong>d. Man könne nie genau sagen, wann <strong>de</strong>nn e<strong>in</strong>e marxistischePrognose schlicht falsch und wann sie nur "dialektisch wi<strong>de</strong>rsprüchlich" sei. Was stimmt andiesen Vorwürfen? Was könnte "Falsifizierbarkeit" für die Politische Ökonomie be<strong>de</strong>uten?Zum Thema Prognosen haben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>ren Zwischenfrage schon e<strong>in</strong>iges abgearbeitet. Esist klar: Wenn e<strong>in</strong>e Theorie so elastisch aufgebaut ist, dass sie sich am En<strong>de</strong> praktisch immer be-508Dazu gehört dann auch <strong>de</strong>r fast "natürliche" Wechsel zwischen euphorischen und nie<strong>de</strong>rschmettern<strong>de</strong>n Phasen. M. selbst hat mit <strong>de</strong>rEuropa weiten Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>r 1848er Revolutionen, aber auch mit <strong>de</strong>r brutalen Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r Pariser Kommune von 1871 diesenWechsel <strong>de</strong>r Phasen erlebt. Gera<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage heraus skizziert M. 1852 se<strong>in</strong>e Sicht <strong>de</strong>s revolutionären Prozesses:"Proletarische Revolutionen… kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend <strong>in</strong> ihrem eignen Lauf, kommen auf dassche<strong>in</strong>bar Vollbrachte zurück, um es wie<strong>de</strong>r von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeitenihrer ersten Versuche, sche<strong>in</strong>en ihren Gegner nur nie<strong>de</strong>rzuwerfen, damit er neue Kräfte aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sauge und sich riesenhafterihnen gegenüber wie<strong>de</strong>r aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor <strong>de</strong>r unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke,bis die Situation geschaffen ist, die je<strong>de</strong> Umkehr unmöglich macht." (MEW 8, S.111f) <strong>Das</strong>s ist nicht nur als "moralische Aufrüstung" geme<strong>in</strong>t.<strong>Das</strong> ist vor allem e<strong>in</strong>e Auffor<strong>de</strong>rung an uns, alle Vorstellungen von gradl<strong>in</strong>igen o<strong>de</strong>r automatischen Entwicklungen aus unseremGedankenarsenal zu streichen. Und natürlich die For<strong>de</strong>rung, <strong>de</strong>n eigenen Nie<strong>de</strong>rlagen analytisch zu begegnen: S<strong>in</strong>d es Nie<strong>de</strong>rlagen, <strong>in</strong><strong>de</strong>nen optimistische, aber unbegrün<strong>de</strong>te Hoffnungen vernichtet wur<strong>de</strong>n, weil die objektiven Voraussetzungen für e<strong>in</strong>en Erfolg fehlten?O<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d es Nie<strong>de</strong>rlagen, die auf eigenen Fehler basieren und die gegnerischen Kräfte erst stark gemacht haben? Die Vitalisierung <strong>de</strong>sbeständigen Lern- und Erfahrungsprozesses aus <strong>de</strong>r sozialen und <strong>pol</strong>itischen Bewegung heraus gehört zu <strong>de</strong>n elementaren Pflichten füralle, die sich als M.s Erben betrachten.259


wahrheitet, kann man damit nichts anfangen. <strong>Das</strong> wäre ja auch nicht Analyse, nicht Auf<strong>de</strong>ckung<strong>de</strong>r Entwicklung, son<strong>de</strong>rn bestenfalls Beschreibung, <strong>de</strong>r man nachträglich e<strong>in</strong>e Erklärung mit<strong>de</strong>m Ausruf "Haben wir immer schon gesagt" unterschiebt. Dann wäre man <strong>de</strong>m Mann vergleichbar,<strong>de</strong>r mit Pfeil und Bogen schießt, um <strong>de</strong>n Pfeil e<strong>in</strong>e Schießscheibe malt und sich alsgroßen Schützen feiert.Tatsächlich s<strong>in</strong>d solche Ex-post-facto Beiträge, also rückblicken<strong>de</strong> Erklärungen, wenn alles schongelaufen ist, im marxistischen Lager nicht selten. Und <strong>in</strong> allen an<strong>de</strong>ren Lagern auch nicht. In diesenBeiträgen geht es auch nicht unbed<strong>in</strong>gt darum, Recht zu behalten. Man kann schlicht nichtan<strong>de</strong>rs verfahren. Wie sollte z.B. die Geschichtsforschung an<strong>de</strong>rs arbeiten, als zu versuchen, bereitserfolgte Entwicklungen, Geschichte eben, zu beschreiben und dafür rückblickend vernünftigeErklärungen zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n? Der Versuch, e<strong>in</strong>e bestimmte Entwicklung nachträglich zu erklären,ist also ke<strong>in</strong>eswegs verwerflich. Allerd<strong>in</strong>gs muß man darauf achten, dass sich die Erklärungen e<strong>in</strong>ernachprüfbaren Metho<strong>de</strong> bedienen und alle verfügbaren Fakten e<strong>in</strong>beziehen.Wer allerd<strong>in</strong>gs behauptet, die marxistische Theorie sei wie Knetgummi formbar und praktischnicht zu wie<strong>de</strong>rlegen, da für alles, was ihr wi<strong>de</strong>rspricht, e<strong>in</strong> dialektischer W<strong>in</strong>kelzug ausreiche,um auch <strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rs<strong>in</strong>nigsten Tatbestand als Bestätigung zu nutzen, <strong>de</strong>r irrt. Der Vorwurf <strong>de</strong>r"Nicht-Falsifizierbarkeit" und daher Beliebigkeit <strong>in</strong> M.s Richtung ist blöds<strong>in</strong>nig.M.s strukturelle Analyse formuliert (implizit) e<strong>in</strong>e Vielzahl von Formbildungen, <strong>de</strong>ren historischerNachweis e<strong>in</strong>e gründliche Revision o<strong>de</strong>r gar Entsorgung <strong>de</strong>r Theorie erfor<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> entwickelteWarenproduktion ohne Geld? Knockout für M. E<strong>in</strong> krisenfreier <strong>Kapital</strong>ismus? Knockoutfür M. Ja, sogar wenn morgen die Eigentümer <strong>de</strong>r 100 größten transnationalen Konzerne ihreAktien an die UNO abtreten und ihr e<strong>in</strong> umfassen<strong>de</strong>s Mandat für die Weltwirtschaftsplanungübertragen, könnten wir uns getrost als falsifiziert betrachten und die blauen Bän<strong>de</strong> als Klopapierrecyceln. Doch bevor <strong>de</strong>rgleichen passiert, wird eher e<strong>in</strong>er von uns zum Papst gewählt.Im Übrigen ist auch <strong>de</strong>r Zusammenbruch <strong>de</strong>r sozialistischen Län<strong>de</strong>r, so o<strong>de</strong>r so, e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>utlicheFalsifizierung ihrer Praxis und <strong>de</strong>r sie rechtfertigen<strong>de</strong>n Theorie. Aber statt von "Falsifizierbarkeit"re<strong>de</strong>n wir als M.s Erben besser von <strong>de</strong>r Praxis als Prüfste<strong>in</strong>. Wie aber das Beispiel <strong>de</strong>r sozialistischenLän<strong>de</strong>r zeigt, hat <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat die stete Rückbeziehung <strong>de</strong>r theoretischen Grundlagen auf diegesellschaftliche Praxis, die kont<strong>in</strong>uierliche und unabhängige Überprüfung <strong>de</strong>s Erfolgs, sozusagene<strong>in</strong> scharfes und unnachsichtiges Monitor<strong>in</strong>g je<strong>de</strong>s sozialistischen Experiments, praktisch gefehlt.<strong>Das</strong> war e<strong>in</strong> verhängnisvoller Schwachpunkt.Die Frage nach <strong>de</strong>r "Falsifizierbarkeit" <strong>de</strong>ckt durchaus e<strong>in</strong>e Schwachstelle <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r marxistischenTheorie auf. Ohne <strong>in</strong>tegrierte Kontrolle besteht die Gefahr, dass man sich e<strong>in</strong> genehmesBild schnitzt und sich dazu aus <strong>de</strong>r Theorie wie aus e<strong>in</strong>em Lego-Baukasten bedient, gera<strong>de</strong>so, wie es e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Kram passt. Die Krisen<strong>de</strong>uter und Problemradierer <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite liefern<strong>de</strong>rzeit für diese Variante <strong>de</strong>r Wissenschaft genügend abschrecken<strong>de</strong> Beispiele. Insofern fällt<strong>de</strong>r Ste<strong>in</strong>, <strong>de</strong>r gegen die Marxisten erhoben wird, <strong>de</strong>n Ste<strong>in</strong>hebern nach guter Mao-Manier 509zunächst mal auf die eigenen Füße.Dennoch gibt es Nachholbedarf was freiwillige Selbstkontrolle und Prüfbarkeit <strong>de</strong>r marxistischenPositionen betrifft. Die eigenen Analysen durch Daten zu belegen sollte vor allem <strong>in</strong> <strong>de</strong>r marxistischenPolitischen Ökonomie unabd<strong>in</strong>gbar se<strong>in</strong>. <strong>Das</strong> ist nicht immer leicht, gewiß. Bisweilen fehlensolche Daten o<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n für ganz an<strong>de</strong>re Zwecke erhoben und s<strong>in</strong>d nur beschränkt ver-509Anspielung auf e<strong>in</strong>en Ausspruch von Mao tse-tung, <strong>de</strong>m Führer <strong>de</strong>r ch<strong>in</strong>esischen Revolution, <strong>de</strong>r für viele Sprüche gut war: "Der Ste<strong>in</strong>,<strong>de</strong>n sie gegen uns erheben, fällt auf ihre eigenen Füße." Geme<strong>in</strong>t waren natürlich die Gegner <strong>de</strong>r Revolution.260


wendbar. Dennoch bleibt <strong>in</strong>sgesamt die Politische Ökonomie gegenwärtig h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>n Möglichkeitenzurück und beschäftigt sich viel zu sehr mit Positionsgekabbel und Exegese <strong>de</strong>r Klassiker;mit Me<strong>in</strong>ungsstreit statt Analysestreit. Und lei<strong>de</strong>r auch, vorsichtig formuliert, mit je<strong>de</strong>r Menge anphilosophischem Eskapismus.23. Warum beg<strong>in</strong>nt M. se<strong>in</strong>e Analyse nicht mit <strong>de</strong>n Elementen <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft,die uns geschichtlich als erste begegnen, z.B. mit Han<strong>de</strong>l und Z<strong>in</strong>s?Tatsächlich tauchen fast alle Elemente <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise (Grundbesitz, arbeitsteiligeProduktion, Han<strong>de</strong>l) und auch die verwen<strong>de</strong>ten Katagorien (Ware, Tauschwert,Mehrwert, Profit, Z<strong>in</strong>s, Rente usw.) vor <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft auf. Es geht M. aber nichtum Geschichtsschreibung, son<strong>de</strong>rn um die Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>r ökonomischen Gesetze <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bürgerlichenGesellschaft. Er geht davon aus, dass <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte stets bestimmte Produktionsverhältnisseüber e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum bestimmend s<strong>in</strong>d. M. bezeichnet solche historischenPerio<strong>de</strong>n als Gesellschaftsform o<strong>de</strong>r Gesellschaftsformation:"In allen Gesellschaftsformen ist es e<strong>in</strong>e bestimmte Produktion, die allen übrigen, und <strong>de</strong>renVerhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und E<strong>in</strong>fluß anweist." (MEW 13, S.637) M. nennt"asiatische, antike, feudale und mo<strong>de</strong>rn bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen<strong>de</strong>r ökonomischen Gesellschaftsformation" (MEW 13, S.9)Deshalb ergibt sich die analytische Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Elemente nicht aus ihrer historischenAbfolge, son<strong>de</strong>rn leitet sich aus ihrem "Rang und E<strong>in</strong>fluß" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaftab. M. begrün<strong>de</strong>t das so:"Es wäre also untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Folge aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r folgenzu lassen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sie historisch die bestimmen<strong>de</strong>n waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmtdurch die Beziehung, die sie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen bürgerlichen Gesellschaft aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r haben, unddie genau das umgekehrte von <strong>de</strong>m ist, was als ihre naturgemäße ersche<strong>in</strong>t o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>rhistorischen Entwicklung entspricht. Es han<strong>de</strong>lt sich nicht um das Verhältnis, das die ökonomischenVerhältnisse <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rfolge verschie<strong>de</strong>ner Gesellschaftsformen historisch e<strong>in</strong>nehmen.(...)Son<strong>de</strong>rn um ihre Glie<strong>de</strong>rung <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen bürgerlichen Gesellschaft."(MEW 13, S.638)24. Ist die "e<strong>in</strong>fache Warenproduktion" von <strong>de</strong>r M.s Analyse <strong>de</strong>r Ware auszugehen sche<strong>in</strong>t,e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Abstraktion o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e historische Perio<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r was?Natürlich hat e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache, noch nicht entwickelte Warenproduktion historisch <strong>in</strong>nerhalb an<strong>de</strong>rerProduktionsweisen existiert (und tut es noch), ohne zur bestimmen<strong>de</strong>n Produktionsweisewer<strong>de</strong>n zu können.Sie stellt daher auch ke<strong>in</strong>e eigene historische Perio<strong>de</strong> dar und kennzeichnet ke<strong>in</strong>en abgrenzbarenAbschnitt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Produktionsverhältnisse.Innerhalb unserer Analyse dient sie uns nur als Mo<strong>de</strong>ll; es ist Warenproduktion, die wir gedanklichvon allen Elementen säubern, die uns vom wesentlichen erst e<strong>in</strong>mal ablenken wür<strong>de</strong>n. Es istwie e<strong>in</strong> Strichmännchen: Je<strong>de</strong>r erkennt, was es ist, und <strong>de</strong>nnoch hat es (hoffentlich) nie e<strong>in</strong>enMenschen gegeben, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>em Strichmännchen auch nur annähernd ähnlich gesehen hätte.Die "e<strong>in</strong>fache Warenproduktion" ist unser Strichmännchen, das uns helfen soll, die Grun<strong>de</strong>lemente<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise zu verstehen.261


25. Gibt es Arbeitsteilung ohne Warenproduktion? Und wenn ja: Wo?Je<strong>de</strong> Menge sogar. Je<strong>de</strong> Fabrik ist e<strong>in</strong> Ort <strong>in</strong>tensiver Arbeitsteilung, ohne dass es zur Warenproduktionkommt. Denn es stehen sich nicht unabhängige Produzenten gegenüber. Diese Form<strong>de</strong>r Arbeitsteilung wird meist als technische o<strong>de</strong>r technologische gegenüber <strong>de</strong>r gesellschaftlicheno<strong>de</strong>r sozialökonomischen Arbeitsteilung bezeichnet.M. berichtet im "<strong>Kapital</strong>" aber auch von historischen Gesellschaftsformen wie <strong>de</strong>r "<strong>in</strong>dischenDorfgeme<strong>in</strong>schaft", <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen es trotz ausgeprägter Arbeitsteilung nicht zur Warenproduktiongekommen sei, da man als geme<strong>in</strong>schaftlich han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Produzent aufgetreten sei, ohne dassdie Produzieren<strong>de</strong>n als e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängig gegenüberstehen<strong>de</strong> Produzenten gehan<strong>de</strong>lt hätten.Man kann daher sagen, dass es zwar ke<strong>in</strong>e Warenproduktion ohne Arbeitsteilung, sehr wohlaber Arbeitsteilung ohne Warenproduktion gibt.26. Welche Rolle spielt <strong>de</strong>r Gebrauchswert im Austauschprozess? Hängt "Gebrauchswert"eher mit Bedarf o<strong>de</strong>r mit Bedürfnis zusammen?Der Gebrauchswert ist die Grundlage je<strong>de</strong>s Tausches. Dabei geht es nicht alle<strong>in</strong> darum, ob dieWare e<strong>in</strong>en Gebrauchswert hat, son<strong>de</strong>rn darum, ob sie e<strong>in</strong>en Gebrauchswert für e<strong>in</strong>en Käuferhat. Gebrauchswert für jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r nicht kaufen kann, nützt nichts. Deshalb geht es <strong>in</strong> <strong>de</strong>rWarenproduktion auch nicht um Bedürfnis, son<strong>de</strong>rn um Bedarf. Also nicht um die bei Menschenvorhan<strong>de</strong>ne Notwendigkeit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Wunsch, etwas zu erwerben, son<strong>de</strong>rn erstmal um die tatsächlichvorhan<strong>de</strong>ne zahlungsfähige Nachfrage.Trotz<strong>de</strong>m spielen Wünsche vor allem im Konsumgütermarkt e<strong>in</strong>e große Rolle. Der Verkäufer e<strong>in</strong>erWare ist nämlich schlau genug, die menschlichen Eigenschaften für sich zu nutzen: Neugier,Stolz, Liebe zur Familie und Freun<strong>de</strong>n, Egozentrik, Spaß usw. So wer<strong>de</strong>n Weihnachten und Muttertagerfun<strong>de</strong>n und Marken kreiert, die <strong>de</strong>m Ego schmeicheln. All das mit <strong>de</strong>m Ziel, sich nötigenfallse<strong>in</strong>e Nachfrage zu schaffen. Freilich auch das nicht gegen das Wertgesetz: Gel<strong>in</strong>gt ese<strong>in</strong>er Marke, zum Muttertag o<strong>de</strong>r zu Weihnachten o<strong>de</strong>r bei Jugendlichen kräftig abzusahnen,wird damit nur umverteilt. Aber all das geschieht, <strong>in</strong><strong>de</strong>m man <strong>de</strong>n Gebrauchswert als Vehikelnutzt und neue Gebrauchswerte dazu erf<strong>in</strong><strong>de</strong>t: <strong>Das</strong> Produkt macht nicht nur satt, son<strong>de</strong>rn auchSpaß, schlank, schön, gesund, jung, vital... Wir kennen das alle und haben uns an diese Lügengewöhnt.27. Wi<strong>de</strong>rspricht nicht das Gesetz von Angebot und Nachfrage <strong>de</strong>m von M. vertretenenTauschwert-Konzept?Könnte man me<strong>in</strong>en. Dann wäre die Argumentation etwa so: "Wenn sich Preise durch Angebotund Nachfrage regulieren, wür<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e Ware als knappes Gut über ihrem Wert verkauft wer<strong>de</strong>n.Nach Marx aber ist <strong>de</strong>r Wert e<strong>in</strong>er Ware durch die dar<strong>in</strong> enthaltene gesellschaftliche Arbeit bestimmt."<strong>Das</strong> Argument kl<strong>in</strong>gt zunächst mal gut, geht aber an <strong>de</strong>r Sache völlig vorbei. Die Arbeitswertlehreist e<strong>in</strong>e grundsätzliche Feststellung und Grundlage <strong>de</strong>s Wertgesetzes. Angebot und Nachfrageaber s<strong>in</strong>d Faktoren <strong>de</strong>r Preisbildung. Preis und Wert s<strong>in</strong>d nicht dasselbe. Für M. s<strong>in</strong>d sie aus verschie<strong>de</strong>nenGrün<strong>de</strong>n praktisch niemals <strong>de</strong>ckungsgleich. Dazu später mehr. Dennoch wird natürlichauch Angebot und Nachfrage durch das Wertgesetz dom<strong>in</strong>iert. Gibt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Branche (auswelchen Grün<strong>de</strong>n auch immer) die Möglichkeit, Waren <strong>de</strong>utlich über ihrem "Wert" zu verkaufenpassiert zweierlei:262


Erstens strömt zusätzliches <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> diese Branche, um die besseren Verwertungsbed<strong>in</strong>gungendort auszunutzen. <strong>Das</strong> wird uns als Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s zur Durchschnittsprofitrate noch begegnen.Zweitens wird die durch erhöhte Preise abgesaugte "Kaufkraft" an an<strong>de</strong>rer Stelle fehlen.Es kommt zu Disproportionen, die durch <strong>Kapital</strong>bewegung und sektorale Krise o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>reWirkungen <strong>de</strong>s Wertgesetzes gelöst wer<strong>de</strong>n. Fragen wie diese wer<strong>de</strong>n uns beschäftigen, wennes um die Krisen <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise geht.<strong>Das</strong> Gesetz von Angebot und Nachfrage bee<strong>in</strong>flußt die Nachfrage <strong>de</strong>r bereits produzierten undauf <strong>de</strong>n Markt kommen<strong>de</strong>n Waren. <strong>Das</strong> Wertgesetz reguliert die Verteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichenArbeit auf die verschie<strong>de</strong>nen Sektoren <strong>de</strong>r Produktion und nimmt so E<strong>in</strong>fluß darauf, welcheWaren <strong>in</strong> welchen Mengen überhaupt das Licht <strong>de</strong>r Warenwelt erblicken.28. Warum ist Gold bevorzugt als Geld verwen<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n? Welche an<strong>de</strong>ren Stoffe könnten<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldform auftreten?Je<strong>de</strong> Ware, die stofflich (und nicht nur per Wertzeichen) als Geld fungieren sollte, mußte e<strong>in</strong>igepraktische Kriterien erfüllen: Sie mußte h<strong>in</strong>reichend wertvoll se<strong>in</strong>, also e<strong>in</strong> größeres Maß an gesellschaftlicherArbeit repräsentieren. Nur so konnte e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Quantität <strong>de</strong>r Ware auch großeWerte repräsentieren. Damit verbun<strong>de</strong>n: Die Ware mußte h<strong>in</strong>reichend knapp und nicht beliebigvermehrbar, von möglichst dauerhafter Konsistenz und e<strong>in</strong>fach und ohne Verlust zu teilense<strong>in</strong>. Diese Bed<strong>in</strong>gungen wur<strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs durch Gold und Silber erfüllt.Sicher spielt dabei auch e<strong>in</strong>e Rolle, dass sich diese E<strong>de</strong>lmetalle schon äußerlich als etwas Beson<strong>de</strong>respräsentierten und damit auch zum Träger i<strong>de</strong>ologischer Vorstellungen wur<strong>de</strong>n und dasVertrauen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n "ewigen Wert" dieser Metalle begrün<strong>de</strong>ten.Aber unabhängig davon könnten alle Arten von Waren <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldfunktion stehen, genaugenommensogar alle Arten von Gegenstän<strong>de</strong>n, wenn sie nur verb<strong>in</strong>dliche, im gesellschaftlichenVerkehr akzeptierte Repräsentanten von Wert und ihre Mengen kontrollierbar s<strong>in</strong>d.29. Warum wäre die E<strong>in</strong>führung von Baumblättern als Geld nicht empfehlenswert? Warumeignet sich auch Vieh o<strong>de</strong>r Le<strong>in</strong>wand nur schlecht? Ist e<strong>in</strong>e fünfte Wertform <strong>de</strong>nkbar?Weil Blätter o<strong>de</strong>r Laub zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>in</strong> waldreichen Gegen<strong>de</strong>n ke<strong>in</strong>en ausreichend großen Wertdarstellen, um als direkter Wertrepräsentant praktikabel zu se<strong>in</strong>. Wegen <strong>de</strong>s Überangebots imHerbst wäre es zu<strong>de</strong>m e<strong>in</strong>e währung mit e<strong>in</strong>gebauter Inflation. Da Blätter und Laub nicht dauerhafthaltbar s<strong>in</strong>d, wäre es zu<strong>de</strong>m e<strong>in</strong>e Art Schwundgeld <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>er eher unglücklichenBesitzer.Ähnliche Probleme treten auf, wenn man Kieselste<strong>in</strong>e o<strong>de</strong>r Sand als Geld verwen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>.Man müßte tonnenweise Ste<strong>in</strong>e und Sand bewegen, um auch nur e<strong>in</strong>en Han<strong>de</strong>l mit ger<strong>in</strong>gwertigenWaren abzuschließen. Auf Sand gebaute Han<strong>de</strong>lskontore wären re<strong>in</strong>e Sandgebirge, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nje<strong>de</strong>r Sandberg e<strong>in</strong> Konto repräsentiert.Auch die von M. <strong>in</strong> die Äquivalentform gesetzte Le<strong>in</strong>wand wür<strong>de</strong> als Geld auf Dauer e<strong>in</strong>igeProbleme aufwerfen. Zwar leicht teilbar, aber schwierig <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Handhabung und wegen <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachenVermehrbarkeit auch zu schwankend im Wert. Leben<strong>de</strong>s Vieh als Geld scheitert auf Daueran <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>geschränkten Haltbarkeit und am rapi<strong>de</strong>n Wertverlust bei <strong>Teil</strong>ung <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>ere Quantitäten.Sobald die allgeme<strong>in</strong>e Wertform nicht nur als vorgestellter Wertmaßstab <strong>de</strong>n Austauschregelt, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r entwickelten Warenproduktion gleichzeitig als Zirkulationsmittel fungierenmuß, bieten sich Gold und Silber und an<strong>de</strong>re Metalle gera<strong>de</strong>zu an.263


Aber auch das ist nur e<strong>in</strong> Übergang. Nichts h<strong>in</strong><strong>de</strong>rt uns daran, M.s vier Wertformen um e<strong>in</strong>efünfte zu erweitern. In dieser Wertform treten uns nurmehr Wertsymbole als Geld gegenüber.Sie repräsentieren nicht <strong>de</strong>shalb Wert, weil sie wie Gold o<strong>de</strong>r Silber o<strong>de</strong>r Vieh o<strong>de</strong>r Tuch selbstWare s<strong>in</strong>d, son<strong>de</strong>rn weil ihnen im gesellschaftlicher Verkehr durch Kontrolle ihrer Menge unddurch <strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Warenproduktion, also durch die dar<strong>in</strong> repräsentiertegesellschaftliche Gesamtarbeit bestimmt s<strong>in</strong>d und ihnen daher e<strong>in</strong> bestimmter Wert <strong>in</strong> Form vonKaufkraft immer wie<strong>de</strong>r zugewiesen wird. Später kommen wir auf diesen Punkt zurück, wennwir <strong>in</strong> unseren Schlußfolgerungen die Ergiebigkeit <strong>de</strong>r Marx'schen Analyse für heute prüfen.30. Ist Geld immer an die reale Goldform gebun<strong>de</strong>n? Kann Geld auch dann funktionieren,wenn ke<strong>in</strong>e spezielle Ware wie Gold o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re stoffliche Wertträger <strong>in</strong> <strong>de</strong>rÄquivalentform steht?Der erste <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Frage ist e<strong>in</strong>fach. Um die Geldfunktion auszuüben, muß Gold ke<strong>in</strong>eswegs anwesendse<strong>in</strong>. Es war außeror<strong>de</strong>ntlich praktisch, mit <strong>de</strong>m Gold o<strong>de</strong>r Silber o<strong>de</strong>r Kupfer allgeme<strong>in</strong>anerkannte, werthaltige, dauerhafte und gut teilbare Waren zu besitzen, die <strong>in</strong> die Geldformtreten konnten. Es war allerd<strong>in</strong>gs auch sehr unpraktisch, viel Gold o<strong>de</strong>r Silber mit sich herum zutragen. Wegen <strong>de</strong>r hohen Sicherheits- und Transportkosten baute man schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Antike, <strong>in</strong>Ch<strong>in</strong>a und im mittelalterlichen Europa e<strong>in</strong>e Infrastruktur für <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l auf. Kontore, Han<strong>de</strong>lsstützpunkteund Bankhäuser <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Städten erlaubten die Durchführung von Transaktionen,ohne dabei das Gold o<strong>de</strong>r Silber selbst zu bewegen. Mit Hilfe von papierenen Zahlungsanweisungenbaute man e<strong>in</strong> System <strong>de</strong>s gegenseitigen Kredits auf, das gold-losen Han<strong>de</strong>l über großeEntfernungen ermöglichte. <strong>Das</strong> gegenseitige Vertrauen (die berühmte Kreditwürdigkeit) wird zue<strong>in</strong>em festen Element <strong>de</strong>s Ware-Geld-Systems. Aber auch solchen goldfreien Transaktionen liegtnoch das Gold <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geldform zugrun<strong>de</strong>.Doch wenn man sich vorstellt, dass <strong>in</strong> diesem Ware-Geld-Kreislauf zwar im H<strong>in</strong>tergrund Goldgelegen hat, dass dieses Gold aber gar nicht <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten mußte, son<strong>de</strong>rn nur als Rechengeldbenötigt und durch an sich wertlose Anweisungen auf Papier vertreten wur<strong>de</strong>, istleicht vorstellbar, dass man Gold eigentlich überhaupt nicht benötigt. Je<strong>de</strong>nfalls dann nicht,wenn die papierenen Wertsymbole überall "wie Gold" <strong>in</strong> Zahlung genommen wer<strong>de</strong>n.<strong>Das</strong> br<strong>in</strong>gt uns zum zweiten, schwierigeren <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Frage, die <strong>in</strong> letzter Zeit zu e<strong>in</strong>igen Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungenzwischen marxistischen Ökonomen geführt hat. Es geht es darum, ob unbed<strong>in</strong>gte<strong>in</strong>e spezielle Ware erfor<strong>de</strong>rlich ist, die wie das Gold als stofflicher Repräsentant <strong>de</strong>s Wertsund dadurch als Wertmaßstab fungiert. <strong>Das</strong> ist letztlich die Frage, ob M.s Wertform D, die wirals Geldform kennenlernten, das letzte Wort <strong>de</strong>r marxistischen Geldtheorie ist.Weil M. se<strong>in</strong>e Ableitung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>m Goldgeld abschließt und weil er an vielen Stellenimmer wie<strong>de</strong>r auf Metallgeld zu sprechen kommt, wird er oft als "Metallist" betrachtet, also jenenGeldtheoretikern zugeordnet, die sich etwas an<strong>de</strong>res als e<strong>in</strong>e durch E<strong>de</strong>lmetall ge<strong>de</strong>ckteWährung nicht vorstellen können. Wir halten diese Annahme für falsch. Der häufige Bezug aufdie Goldwährung entspricht <strong>de</strong>n Verhältnissen zu M.s Zeit, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sich staatlich garantiertes Papiergeldzwar bereits entwickelte und die Trägheit e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Goldwährung zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>nbegann. Nur hätte sich dieser Übergang zum Geld als Wertsymbol ohne die verme<strong>in</strong>tliche Gold<strong>de</strong>ckungniemals vollziehen können. Viel zu tief verankert waren die jahrhun<strong>de</strong>rte alten B<strong>in</strong>dungenan das Goldgeld.Ob M. die Entwicklung e<strong>in</strong>es Geldsystems vorausgesehen hat, das ohne e<strong>in</strong>en stofflichen Wertträgerwie Gold, also ohne e<strong>in</strong>e spezifische Geldware auskommt? <strong>Das</strong> ist schwer zu sagen. Esgibt bei M. nichts, was e<strong>in</strong>er solchen Entwicklung wi<strong>de</strong>rspräche. Aber M. selbst war vollständig264


damit ausgelastet, erst e<strong>in</strong>mal all die magischen Vorstellungen zu entsorgen, die <strong>in</strong> Jahrhun<strong>de</strong>rtenum Geld und Gold gewebt wor<strong>de</strong>n waren, um die Geldrealitäten se<strong>in</strong>er Zeit ans Licht zu heben.Seit<strong>de</strong>m hat sich e<strong>in</strong>iges geän<strong>de</strong>rt. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Goldstandard gibt es nicht mehr. Gold ist zu e<strong>in</strong>emRohstoff wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re gewor<strong>de</strong>n und Goldpreisän<strong>de</strong>rungen haben nur noch e<strong>in</strong>en sehrsehr vermittelten E<strong>in</strong>fluß auf die Kaufkraft unseres Gel<strong>de</strong>s.Die Geldfunktion ist auf das staatliche Papiergeld übergegangen. M.s Ableitung <strong>de</strong>r Geldformfür die kapitalistische Produktionsweise ist unbed<strong>in</strong>gt durch e<strong>in</strong>e 5. Wertform fortzuschreiben,mit <strong>de</strong>r die stürmischen Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Ware-Geld-Beziehungen vor allem <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten 50Jahren erfaßt wer<strong>de</strong>n. In dieser 5. Wertform E steht das heutige, vom Goldstandard und <strong>de</strong>mgesellschaftlichen Warenwert <strong>de</strong>s Gol<strong>de</strong>s abgelöste Staatsgeld <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Äquivalentform.Allerd<strong>in</strong>gs muß das Papiergeld, das ja wie e<strong>in</strong>e Ware gehan<strong>de</strong>lt und behan<strong>de</strong>lt wird, se<strong>in</strong>e Rolleals Wertmaßstab an<strong>de</strong>rs erfüllen. <strong>Das</strong> kann nicht wie beim Gold über die dar<strong>in</strong> repräsentierteMenge an gesellschaftlicher Arbeit geschehen. 510 Der Wert dieses Gel<strong>de</strong>s wird alle<strong>in</strong> durch dasWertgesetz <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulation selbst bestimmt und resultiert aus <strong>de</strong>r Produktivkraft und <strong>de</strong>m Warenvolumen<strong>de</strong>s Währungsraums. Wie sich dabei <strong>de</strong>r "Wert <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s" als se<strong>in</strong>e jeweiligeKaufkraft und als se<strong>in</strong> jeweiliges Tauschverhältnis zu an<strong>de</strong>ren Währungen realisiert und welcheneuen Risiken dar<strong>in</strong> liegen, wird uns noch beschäftigen, wenn es um die Aktualität <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>"geht. Dann müssen wir auch auf M.s Geldtheorie zurückkommen und die Funktionsweiseheutiger Geld- und Währungssysteme ausführlicher behan<strong>de</strong>ln.3<strong>1.</strong> Hat <strong>de</strong>nn nicht <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne <strong>Kapital</strong>ismus duch Marktanalyse und an<strong>de</strong>re Maßnahmendie "Hieroglypen <strong>de</strong>r Marktproduktion" längst entziffert?In gewisser Weise hat er das. Es liegt ja auch auf <strong>de</strong>r Hand, dass Warenproduktion für <strong>de</strong>nMarkt immer e<strong>in</strong>e unangenehme Option enthält, nämlich die Absatzkrise. Je<strong>de</strong> Warenproduktionist e<strong>in</strong>e Art Kredit; vorgeschossene Arbeitsleistung, die erst im Tausch vergolten wird o<strong>de</strong>reben auch nicht. Dann bleibt <strong>de</strong>r Warenproduzent auf <strong>de</strong>r Ware sitzen: Weil zu viele Waren <strong>de</strong>rselbenArt produziert wur<strong>de</strong>n? Weil an <strong>de</strong>n Bedürfnissen vorbei produziert wur<strong>de</strong>? Weil die Produktionsmetho<strong>de</strong>nzu rückständig s<strong>in</strong>d und daher <strong>de</strong>r Preis viel zu hoch ist? Alles ist bereits <strong>in</strong><strong>de</strong>r Grundstruktur <strong>de</strong>r Warenproduktion enthalten.Durch viele Absatzkrisen schlauer gewor<strong>de</strong>n, wird heute ke<strong>in</strong> großes Unternehmen mehr <strong>in</strong>sBlaue produzieren. Viele teure Waren (Autos, Möbel, Häuser, Masch<strong>in</strong>en, Kernkraftwerke usw.)wer<strong>de</strong>n erst produziert, wenn die Bestellung auf <strong>de</strong>m Tisch liegt und die F<strong>in</strong>anzierung gesichertist. Aber die Produktionsanlagen mit bestimmter Kapazität, Produktentwicklung, Vertriebswegeusw. müssen <strong>de</strong>nnoch im Voraus bereitstehen. Wo sich neue Absatzmöglichkeiten abzeichnen,tummelt sich das <strong>Kapital</strong>. Kapazitäten wer<strong>de</strong>n aufgebaut. Bleibt die Nachfrage aus, schränktman die Produktion e<strong>in</strong>, hat aber <strong>de</strong>nnoch die überschüssigen Kapazitäten am Hals.Wir erleben das gegenwärtig: Die Kreditkrise verb<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich 2008/2009 mit e<strong>in</strong>er Überproduktionskrise.In kürzester Zeit müssen erhebliche Produktionskapazitäten etwa <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Auto<strong>in</strong>dustriestillgelegt wer<strong>de</strong>n. Obwohl das Automobil e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r begehrtesten Waren auf <strong>de</strong>m Markt ist,entwickeln sich unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Konkurrenz die Produktionskapazitäten schneller alsdie tatsächliche, nämlich zahlungsfähige Nachfrage. Aus <strong>de</strong>nselben Grün<strong>de</strong>n ist oft die E<strong>in</strong>führungneuer Produkte o<strong>de</strong>r gar die Begründung ganz neuer Branchen mit <strong>de</strong>m spekulativen Auf-510E<strong>in</strong> großer Vorteil unseres heutigen, vom Gold (weitgehend) befreiten Gel<strong>de</strong>s ist ja, dass es zwar wegen <strong>de</strong>r Fälschungssicherheit aufwändigproduziert wird, verglichen mit <strong>de</strong>m Druck von Zeitungen o<strong>de</strong>r Flugblättern, im Ganzen aber viel billiger <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Herstellung kommtals die För<strong>de</strong>rung von Gold und als Zirkulationsmittel immer <strong>in</strong> ausreichen<strong>de</strong>r Menge verfügbar und regulierbar ist.265


au von Überkapazitäten verbun<strong>de</strong>n, die uns dann kurz darauf als platzen<strong>de</strong> Spekulationsblaseo<strong>de</strong>r als angebliche Strukturkrise begegnet.Marktanalyse, Produktion auf Bestellung, <strong>de</strong>mographisch fundierte Kapazitätsplanung und vielesmehr, also die Übernahme planwirtschaftlicher Elemente <strong>in</strong> die kapitalistische Produktionsweise,können die Folgen <strong>de</strong>r Krise für das betroffene <strong>Kapital</strong> m<strong>in</strong><strong>de</strong>rn, aber nicht die zyklischen Krisenverh<strong>in</strong><strong>de</strong>rn, mit <strong>de</strong>nen wir uns noch beschäftigen wer<strong>de</strong>n. Außer<strong>de</strong>m hat uns die dichte Folge<strong>de</strong>r Krisen seit 1980 und <strong>de</strong>r schnelle Übergang <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzmarktkrise von 2007 <strong>in</strong> die Weltwirtschaftskrisevon 2009 die gewaltigen Krisenpotentiale <strong>de</strong>monstriert, die sich im mo<strong>de</strong>rnen <strong>Kapital</strong>ismusnoch verstärkt haben. Aber darauf e<strong>in</strong>zugehen soll <strong>de</strong>n Schlußfolgerungen unserer <strong>Spurensuche</strong>vorbehalten se<strong>in</strong>.32. Spielt <strong>de</strong>r "Fetischcharakter <strong>de</strong>r Ware" <strong>in</strong> unserem Leben überhaupt e<strong>in</strong>e Rolle? O<strong>de</strong>r istdas letztenen<strong>de</strong>s doch nur e<strong>in</strong>e geschwollen formulierte Spekulation, die viel zuabgehoben ist, um praktische Be<strong>de</strong>utung zu haben?Vielleicht ist die Sache mit <strong>de</strong>m Fetischcharakter bei M. etwas "geschwollen" formuliert. Dennochist sie, was die Analyse <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologien <strong>in</strong> <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft betrifft, e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>kmit <strong>de</strong>m Zaunpfahl. Nämlich die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft vorhan<strong>de</strong>nen Vorstellungen über diese Gesellschaftnicht e<strong>in</strong>fach als "Spiel <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en", son<strong>de</strong>rn als Äußerungen <strong>de</strong>r im ökonomischenProzess wirken<strong>de</strong>n Interessen zu betrachten. <strong>Das</strong> hat immerh<strong>in</strong> unzählige Gesellschaftwissenschaftlerweit über <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r erklärten Marxisten h<strong>in</strong>aus zu großartigen Untersuchungen <strong>in</strong>spiriert.Dabei ist die Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>m äußeren Ansche<strong>in</strong> und <strong>de</strong>n dah<strong>in</strong>ter verborgenengesellschaftlichen Verhältnissen von enormer heuristischer Be<strong>de</strong>utung, z.B. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Sozialpsychologie.Nehmen wir als Beispiel die für uns heute selbstverständliche Neigung, alles <strong>in</strong> Geldbegriffenauszudrücken. Etwa die Formulierung "jemand verkauft sich gut" für gewandtes Auftreteno<strong>de</strong>r "das ist e<strong>in</strong>e lohnen<strong>de</strong> Investition" für die Pflege von Bekanntschaften. <strong>Das</strong> ist erst <strong>in</strong> <strong>de</strong>nletzten Jahrzehnten entstan<strong>de</strong>n und Ausdruck e<strong>in</strong>es Bewußtse<strong>in</strong>s, bei <strong>de</strong>m das <strong>in</strong> Ware und Geldverd<strong>in</strong>glichte <strong>Kapital</strong>verhältnis zum allgeme<strong>in</strong>en Mo<strong>de</strong>ll sozialen (o<strong>de</strong>r unsozialen) Verhaltenswird. Dagegen ersche<strong>in</strong>en Solidarität o<strong>de</strong>r Hilfsbereitschaft als Verhaltensweisen, die "sich nichtrechnen" o<strong>de</strong>r die "e<strong>in</strong>em nichts e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen".Nehmen wir das heute allgegenwärtige Mantra aller Neoliberalen, diese immer wie<strong>de</strong>r gemurmelteFormel "Der Markt wird es schon richten", an <strong>de</strong>m auch festgehalten wird, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>rF<strong>in</strong>anzmarkt im Jahre 2008 und danach so manches zugrun<strong>de</strong> gerichtet hat. <strong>Das</strong> Mantra sagtuns: Die höheren Mächte <strong>de</strong>r Ökonomie (so wie Götter <strong>in</strong> Religionen) weisen uns <strong>de</strong>n rechtenWeg. Als ob im Austausch <strong>de</strong>r Waren, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aktienkurs, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wertpapierpreis o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>renKennziffern <strong>de</strong>s Marktes so etwas wie e<strong>in</strong>e höhere Weisheit verborgen liege. Obwohldoch mit je<strong>de</strong>m Verkaufsangebot lediglich geprüft wird, ob irgendjemand bereit ist, dafür zutauschen. So gesehen wäre schon je<strong>de</strong> Briefmarkenbörse e<strong>in</strong> Hort <strong>de</strong>r Weisheit, weil sie es zustan<strong>de</strong>br<strong>in</strong>gt, e<strong>in</strong>e Konrad-A<strong>de</strong>nauer-Briefmarke von 1967 auf e<strong>in</strong>en Preis von 9,80 Euro zu hieven.Am ausgeprägtesten begegnet uns <strong>de</strong>r Fetischismus an <strong>de</strong>r Börse, die für sich bereits e<strong>in</strong> komplexesKulissenspiel ist, h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>m die realen Prozesse <strong>de</strong>r materiellen Produktion, die alle<strong>in</strong> Basisund Inhalt <strong>de</strong>r Börse s<strong>in</strong>d, vollständig verborgen wer<strong>de</strong>n. Deshalb die blumige Ausdrucksweise<strong>de</strong>r Börsianer.266


E<strong>in</strong> schönes Beispiel liefert die DowJones- o<strong>de</strong>r DAX-Gläubigkeit. Als im März 2006 <strong>de</strong>r DAXkurz vor <strong>de</strong>m Wert 6000 stand, schrieb e<strong>in</strong>er dieser Börsianer: "Der Markt will e<strong>in</strong>e run<strong>de</strong> Zahlsehen." <strong>Das</strong> ist aber übliche Schreibe, die so tut, als sei <strong>de</strong>r Markt e<strong>in</strong> Wesen aus Fleisch undBlut und als habe e<strong>in</strong>e "run<strong>de</strong>" Zahl e<strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re magische Wirkung. Aber für Börsianer, <strong>de</strong>renErfolg vom Verhalten vieler Menschen abhängt, ist <strong>de</strong>r Schritt von "mathematischen Mo<strong>de</strong>llen"(von <strong>de</strong>nen es monatlich immer neue gibt) zu magischen Ritualen nur kurz.In <strong>de</strong>r ökonomischen Journaille f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n Warenfetischismus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Re<strong>in</strong>kultur. Die Börsenberichtenehmen <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht traditionell e<strong>in</strong>e Spitzenposition e<strong>in</strong>. Lesen wir e<strong>in</strong> alltäglichesBeispiel <strong>in</strong> <strong>de</strong>r FAZ vom 3<strong>1.</strong>3.2006. Dar<strong>in</strong> geht es um bekannte Indizes und <strong>de</strong>ren Werteund um die Magie <strong>de</strong>r Zahlen:"Als <strong>de</strong>r DAX sich zwischenzeitlich bis auf 23 Punkte <strong>de</strong>r magischen Marke von 6.000 Punkteangenähert hatte, konnte man spüren, wie Verzagtheit um sich griff. Der Han<strong>de</strong>l erlahmte, un<strong>de</strong>rst als am späten Nachmittag <strong>de</strong>s vergangenen Montags die Kurse <strong>de</strong>n Rückwärtsgang e<strong>in</strong>legten,wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l wie<strong>de</strong>r lebhafter. Es ist wahrsche<strong>in</strong>lich, daß dieses Spielchen noch das e<strong>in</strong>eo<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Mal von <strong>de</strong>n Investoren gespielt wer<strong>de</strong>n wird. Der Dax wird die Marke von6.000 Punkten wohl nicht mit e<strong>in</strong>em spektakulären Freu<strong>de</strong>nsprung überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn siche<strong>in</strong> wenig Zeit lassen. Je<strong>de</strong>m neuem Jahreshoch wird e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Konsolidierung folgen und <strong>de</strong>rdann wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> neues Jahreshoch. Und irgendwann <strong>in</strong> nicht allzu ferner Zukunft ist es dann geschafft."Man muß sich <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung rufen, dass sich zu diesem Zeitpunkt bereits die Gewitterwolken<strong>de</strong>s kommen<strong>de</strong>n Donnerwetters über <strong>de</strong>n Börsen und Banken auftürmten. (Blumig können wirauch.) E<strong>in</strong> weiteres Zitat, weil die so schön s<strong>in</strong>d:"Auch <strong>de</strong>r Dow Jones Industrial Average kämpfte lange Zeit mit e<strong>in</strong>er harten Nuß, <strong>de</strong>r run<strong>de</strong>nZahl von 1<strong>1.</strong>000 Punkten, und tat sich enorm schwer, sie h<strong>in</strong>ter sich zu lassen. Aber jetzt ist esgeschafft. Die Bären haben die Waffen gestreckt. Gleichzeitig gelang es <strong>de</strong>m Standard&Poor's500, e<strong>in</strong>e ähnlich be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Wi<strong>de</strong>rstandszone bei <strong>1.</strong>295 Punkten bravourös zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n.Gera<strong>de</strong> weil bei<strong>de</strong>n Indizes dieser entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Schritt gelungen ist, darf mit e<strong>in</strong>igem Fug undRecht davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n, daß diese Schritte <strong>in</strong> die richtige Richtung ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>tagsfliegebleiben und bei<strong>de</strong> nicht so schnell wie<strong>de</strong>r signifikant unter diesen Unterstützungsbereich zurückfallenwer<strong>de</strong>n.""Knackt <strong>de</strong>r Dax <strong>in</strong> <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Woche endlich die psychologisch wichtige Marke von 6000Punkten? Wenn sich die Kurse weiter im Stile <strong>de</strong>r Echternacher Spr<strong>in</strong>gprozession entwickeln,dann bleibt es spannend." (Han<strong>de</strong>lsblatt, 3<strong>1.</strong>3.2006)Alles klar? Die hier als essentielle In<strong>de</strong>xwerte diskutierten Zahlen haben genausowenig e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>haltlichenS<strong>in</strong>n wie die 2000 als Jahreszahl. Die Börsen<strong>in</strong>dizes s<strong>in</strong>d genauso von Menschen gemachteKonstruktionen wie die auf <strong>de</strong>r Welt gültigen Kalen<strong>de</strong>r. Dennoch ersche<strong>in</strong>t es so, als seimit <strong>de</strong>m Erreichen e<strong>in</strong>es run<strong>de</strong>n Wertes irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e beson<strong>de</strong>re Qualität verbun<strong>de</strong>n: Huch, dasJahr 2000! Toll, Dax auf 6.000! Grandios. Die Personalisierung <strong>de</strong>s Meßwertes, <strong>de</strong>n man anschaulichvor sich bravourös gegen die mickrigen ungera<strong>de</strong>n Zahlen kämpfen sieht, ist gera<strong>de</strong>zurührend.Man könnte das als drollig belächeln und abw<strong>in</strong>ken, wenn nicht dieselben Leute, die <strong>de</strong>rgleichenk<strong>in</strong>dischen Uns<strong>in</strong>n hervorbr<strong>in</strong>gen, über das Schicksal von Millionen Menschen entschei<strong>de</strong>nwür<strong>de</strong>n. <strong>Das</strong> ist Warenfetischismus am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Absurdität.267


<strong>Das</strong> wäre so, als wür<strong>de</strong> man e<strong>in</strong>e Wohnung nur <strong>de</strong>shalb mieten (o<strong>de</strong>r nicht mieten), weil <strong>de</strong>rWert aus Wohnzimmerbreite mal Wohnzimmerlänge geteilt durch das Fassungsvermögen <strong>de</strong>rBa<strong>de</strong>wanne genau die Quersumme <strong>de</strong>s Geburtsdatums <strong>de</strong>r Schwiegermutter ergibt.33. Unterliegt vielleicht auch die Betrachtung <strong>de</strong>s Staates diesem Warenfetischismus? Wiesieht hier die Verb<strong>in</strong>dung von Warenproduktion und Staat aus?<strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong> großes Thema für sich. Die Staatstheorie gehört vermutlich außerhalb <strong>de</strong>r PolitischenÖkonomie zu <strong>de</strong>n am heißesten diskutierten Themen unter Marxisten je<strong>de</strong>r Färbung. In allerVerknappung läßt sich folgen<strong>de</strong>r Ausgangspunkt für die Analyse <strong>de</strong>s Staats festmachen:Wir haben gesehen, dass Warenproduktion <strong>in</strong> entwickelter Form ohne bestimmte Rechtsverhältnissenicht funktionieren kann. E<strong>in</strong>haltung <strong>de</strong>r im Warentausch geschlossenen Verträge, Sicherung<strong>de</strong>s Eigentums und Bereitstellung allgeme<strong>in</strong>er Bed<strong>in</strong>gungen (die man früher "Infrastruktur",heute meist "Standortfaktoren" nennt), von <strong>de</strong>nen alle Beteiligten profitieren. Mit wachsen<strong>de</strong>rKomplexität <strong>de</strong>s kapitalistischen Systems (wir wer<strong>de</strong>n das als Reproduktionprozess kennenlernen)wachsen die Aufgaben <strong>de</strong>s Staates. Nicht nur die Abwehr <strong>pol</strong>itischer Gefahren fürdas System bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kern se<strong>in</strong>er Funktionen. Ebenso wichtig wird die Abwendung systemischerRisiken, die aus <strong>de</strong>r Produktionsweise <strong>in</strong> Gestalt ökonomischer Krisen erwachsen.<strong>Das</strong> und vieles an<strong>de</strong>re wer<strong>de</strong>n zu Aufgaben <strong>de</strong>s Staates. Der "Fetischcharakter" kommt <strong>in</strong>sSpiel, weil die Vielfalt dieser Aufgaben, die ja Organisierung <strong>de</strong>r Rechtssicherheit ebenso umfaßtwie Altersversorgung und Umweltschutz, <strong>de</strong>n Staat als Akteur <strong>de</strong>s Allgeme<strong>in</strong>wohls ersche<strong>in</strong>enlassen.Die Rolle <strong>de</strong>s Staates ersche<strong>in</strong>t durch die Brille <strong>de</strong>r Warenproduktion gera<strong>de</strong>zu als e<strong>in</strong> Segen.<strong>Das</strong>s aber Straßenbau, Schulwesen, Gesundheitsfürsorge, Renten usw., die D<strong>in</strong>ge also, auf <strong>de</strong>nendas Image <strong>de</strong>s Sozialstaats beruht, nicht zum Wesensmerkmal <strong>de</strong>s Staats gehören, wirdheute wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlicher, da diese Aufgaben zunehmend an das private <strong>Kapital</strong> zurückfallen. Dervon <strong>de</strong>n Neoliberalen gefor<strong>de</strong>rte "schlanke Staat" soll wie<strong>de</strong>r auf diese Kernfunktionen reduziertwer<strong>de</strong>nb: Sicherung <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Produktionsverhältnisse und <strong>de</strong>r daraus sich ergeben<strong>de</strong>nMacht- und Herrschaftsverhältnisse.Erfreulich offen beschreibt <strong>de</strong>r neoliberale Propagandist Thomas L. Friedman die Rolle <strong>de</strong>s Staateshier <strong>in</strong> Bezug auf die USA: "Die unsichtbare Hand <strong>de</strong>s Marktes wird ohne sichtbare Faustnicht funktionieren. McDonald's kann nicht expandieren ohne McDonnel Douglas, <strong>de</strong>n Hersteller<strong>de</strong>r F-15. Und die sichtbare Faust, die die globale Sicherheit <strong>de</strong>r Technologie <strong>de</strong>s Silicon Valleyverbürgt, heißt US-Armee, US-Luftwaffe, US-Kriegsmar<strong>in</strong>e und US-Mar<strong>in</strong>ekorps." (New YorkTimes Magaz<strong>in</strong>e 28.3.1999)34. Warum kommt es notwendigerweise immer zu Abweichungen zwischen Wert und Preis?Weil sich <strong>de</strong>r Wert nur über die Markthandlungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Preis verwan<strong>de</strong>lt, diese Markthandlungenaber immer neu erfolgen, nehmen unendlich viele an<strong>de</strong>re Faktoren E<strong>in</strong>fluß auf die Preisbildung.Vor allem für <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen Produzenten hat daher die psychologische Betrachtung <strong>de</strong>r Preisbildunge<strong>in</strong>e grundlegen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung. Die Unterscheidung von Wert und Preis <strong>in</strong>teressiert ihnüberhaupt nicht. Er will möglichst hohe Preise und die mit möglichst hoher Sicherheit erzielen.<strong>Das</strong>s ihm da irgendwas unbekannterweise und je nach Branche mal sehr enge und mal aucherweiterte Grenzen für die Preisbildung setzt, ist ihm natürlich irgendwie klar, macht ihn aberauch noch lange nicht zum Anhänger <strong>de</strong>s Wertbegriffs.268


Was mit <strong>de</strong>m Wert zusammenhängt, ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Grundaussagen für ihn viel zu <strong>de</strong>primierend,viel zu gesellschaftlich. <strong>Das</strong> hat mit se<strong>in</strong>en unternehmerischen Interessen nichts zu tun. Ihm s<strong>in</strong>ddie Tricks und Schliche lieber, wie man <strong>de</strong>n eigenen Erfolg am Markt steigert. Als Theorien verklei<strong>de</strong>teAnleitungen, wie man Marktpräsenz und Marktdurchdr<strong>in</strong>gung und Absatz und Konsumentenb<strong>in</strong>dungpipapo verstärkt: <strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d die Ratgeber, die er sich wünscht und für die er vielbezahlt. Er weiß, dass <strong>de</strong>r eigene Erfolg nur auf Kosten an<strong>de</strong>rer Anbieter geht. Aber das eben ist<strong>de</strong>r Wettbewerb. <strong>Das</strong> eben ist <strong>de</strong>r Fortschritt.Da <strong>de</strong>r Wert sich abhängig von <strong>de</strong>r im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendigen Arbeitszeitbil<strong>de</strong>t, diese Bed<strong>in</strong>gungen aber von Produzent zu Produzent variieren, wird auch <strong>de</strong>r Preis niemalsexakt diesem Durchschnittswert folgen, <strong>de</strong>r immer erst nach erfolgter Produktion am Marktsich ergibt.In dynamischen Wirtschaftssystemen verän<strong>de</strong>rt vor allem <strong>de</strong>r produktionstechnische Fortschrittbeständig diesen gesellschaftlichen Durchschnitt, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Tempo, dass vieleWaren beits unter an<strong>de</strong>ren Bed<strong>in</strong>gungen verkauft als produziert wer<strong>de</strong>n. Solche regelmäßigen"Wertrevolutionen", wie M. sie nennt, zw<strong>in</strong>gen <strong>de</strong>n Produzenten, immer sehr schnell se<strong>in</strong>e Warenabzusetzen, also die Zirkulationszeit zu m<strong>in</strong>imieren, o<strong>de</strong>r aber an<strong>de</strong>re Wege zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, diePreise verläßlich zu kalkulieren.Hier reicht die Palette von vorab vere<strong>in</strong>barten Festpreisen, mit <strong>de</strong>nen das Risiko auf <strong>de</strong>n Käuferübergeht, über die schon erwähnten zahlreichen Anstrengungen, die Psychologie <strong>de</strong>r Preisbildung<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Konkurrenz nutzbar zu machen, bis h<strong>in</strong> zu Verkaufssyndikaten und Kartellen, die füre<strong>in</strong>e Branche die Preise fixieren und mono<strong>pol</strong>istisch versüßen. <strong>Das</strong> zuletzt Genannte wäre zurZeit freilich e<strong>in</strong>e verbotene, weil wettbewerbswidrige Praxis - wenn sie erstens bekannt wür<strong>de</strong>und zweitens e<strong>in</strong>en mutigen Ankläger und drittens e<strong>in</strong>en ebenso mutigen Richter fän<strong>de</strong>. 51135. Wie stehen Geld, Wert und Preis zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r? Stimmen Wert und Preis übere<strong>in</strong>?Diese Frage hatten wir eigentlich schon. Da sie aber so wichtig ist, kommen wir darauf zurück.Wer ke<strong>in</strong>e klare Antwort weiß, sollte sich <strong>de</strong>n Abschnitt über Geld und Preis noch e<strong>in</strong>mal vornehmen.Denn dar<strong>in</strong> haben wir M.s Sicht <strong>de</strong>s Zusammenhangs beschrieben. Demnach ist <strong>de</strong>rPreis e<strong>in</strong>er Ware <strong>de</strong>r Geldausdruck ihres Werts am Markt. Dabei stimmen Preis und Wert bestenfallszufällig übere<strong>in</strong>, sofern man <strong>de</strong>n Wert überhaupt exakt quantifizieren kann.Die Marktteilnehmer s<strong>in</strong>d am Wert e<strong>in</strong>er Ware auch nicht <strong>in</strong>teressiert. Der Wert kommt nur <strong>in</strong>direkt<strong>in</strong> die Markthandlungen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, da er objektive Grenzen fixiert, <strong>de</strong>n von uns als Korridor bezeichnetenFreiraum für die Preisverhandlung: Der dauerhafte Verkauf <strong>de</strong>r eigenen Waren unter<strong>de</strong>m Wert gefähr<strong>de</strong>t die eigene Existenz als Produzent. Gegenmaßnahmen wären dr<strong>in</strong>glich. <strong>Das</strong>heißt: Mit <strong>de</strong>m Wert ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>r Akteure jene Preisgrenze geme<strong>in</strong>t, bei <strong>de</strong>ren Unterschreitensich die ganze Sache nicht mehr lohnt, bei <strong>de</strong>ren massenweiser Unterschreitung dieschönste Krise entsteht.Nun könnte man die Me<strong>in</strong>ung vertreten, dass es sich bei <strong>de</strong>r Wertgröße, da letztlich nicht exaktbestimmbar, um e<strong>in</strong>e typisch dialektische F<strong>in</strong>te han<strong>de</strong>lt. Aber dann bleibt immer noch die Frage,warum sich Waren gegene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r überhaupt tauschen lassen und warum sich im chaotischen511Bis 1945 waren solche Syndikate und Kartelle vor allem <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Bereichen Kohle und Stahl, aber auch Erzbergbau und Ölför<strong>de</strong>rung an<strong>de</strong>r Tagesordnung. <strong>Das</strong> waren durchaus offizielle Zusammenschlüsse <strong>in</strong>teressierter Unternehmen, die Produktions- und För<strong>de</strong>rmengen zurSicherung von Absatz und Preisen mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r vere<strong>in</strong>barten.269


Wirrwarr dieser Tauschaktionen immer wie<strong>de</strong>r das Gesamtsystem stabilisiert. Also irgen<strong>de</strong>twasan <strong>de</strong>r Stelle, an <strong>de</strong>r M. <strong>de</strong>n Wert setzt, muß schon existieren.<strong>Das</strong>s es e<strong>in</strong>e solche objektive (wenn auch kaum exakt bestimmbare), durch <strong>de</strong>n Wert gesetzteGrenze <strong>de</strong>r Preisgestaltung gibt, akzeptieren <strong>de</strong>shalb auch die entschie<strong>de</strong>nen Gegner je<strong>de</strong>r Artvon objektiver Werttheorie, wenn sie es auch nicht zugeben. Wie sonst sollten sie Preise als"überzogen", "absurd", "nicht marktgerecht", als "Gleichgewichtspreis", "unteren Preis","oberen Preis", "angemessenen Preis" usw. bezeichnen?Der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Werttheorie ist daher nicht, dass die Subjektivendie Psychologie ent<strong>de</strong>ckt hätten und M. statt<strong>de</strong>ssen e<strong>in</strong>e objektivistische Preismechanikpredigt. M.s Preisbildung kennt alle Varianten <strong>de</strong>r Psychologie. Wir haben das als <strong>in</strong>teraktive Bestimmung<strong>de</strong>s Preises bereits kennengelernt. Nur löst M. <strong>de</strong>n ver<strong>de</strong>ckten gesellschaftlichen Kern<strong>de</strong>r Preisbildung als Wert aus se<strong>in</strong>er subjektvien Verhüllung und macht <strong>de</strong>n objektiven 512 Wertzum Dreh- und Angelpunkt se<strong>in</strong>er Preistheorie, nicht die wil<strong>de</strong>n Scharmützel <strong>de</strong>r Marktteilnehmerum <strong>de</strong>n größeren Anteil am Kuchen.36. Bestimmen Angebot und Nachfrage <strong>de</strong>n Preis?Ne<strong>in</strong>. Angebot und Nachfrage wirken natürlich auf <strong>de</strong>n Preis e<strong>in</strong>. <strong>Das</strong> ist allgeme<strong>in</strong> bekannt.Aber wenn sie <strong>de</strong>n Preis bestimmen wür<strong>de</strong>n, hätten wir die e<strong>in</strong>e Situation zu be<strong>de</strong>nken: Irgendwo<strong>in</strong> diesem Wechsel von Angebot und Nachfrage können wir uns e<strong>in</strong>en Zustand vorstellen, <strong>in</strong><strong>de</strong>m das Angebot exakt <strong>de</strong>r Nachfrage entspricht; manche bürgerlichen Ökonomen sprechenschlicht vom "Gleichgewichtspreis". <strong>Das</strong> ist ke<strong>in</strong> Zustand, bei <strong>de</strong>m irgendwo irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e Leuchtschriftsich e<strong>in</strong>schaltet. Der vorgestellte Gleichgewichtspreis ist <strong>de</strong>n Akteuren genauso unbekanntwie <strong>de</strong>r Wert. Aber wenn wir e<strong>in</strong>e solche Preissituation gedanklich folgern können, <strong>in</strong> <strong>de</strong>rAngebot und Nachfrage sich exakt <strong>de</strong>cken, haben die Waren <strong>de</strong>nnoch e<strong>in</strong>en Preis. Ob man ihnnun Gleichgewichtspreis o<strong>de</strong>r sonstwie nennt. Zu erklären bleibt, woher dieser Preist kommt.Man sieht, dass auch Angebot und Nachfrage letztlich wie<strong>de</strong>r auf die Frage nach <strong>de</strong>m "objektivenPreis" h<strong>in</strong>führen, die M. mit se<strong>in</strong>er Werttheorie nach unserer Me<strong>in</strong>ung besser als je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>reÖkonom beantwortet hat.Der bürgerliche Ökonom wür<strong>de</strong> jetzt kontern und "Quatsch" sagen: Je<strong>de</strong>r Preis e<strong>in</strong>er Ware ist<strong>de</strong>r durch Angebot und Nachfrage bestimmte Preis. Und wenn Angebot und Nachfrage für e<strong>in</strong>eWare sich exakt <strong>de</strong>cken, so bleibt doch <strong>de</strong>r Preis dadurch bestimmt. Völlig richtig. Aber washeißt <strong>in</strong> diesem Fall "Deckung von Angebot und Nachfrage"? Nicht an<strong>de</strong>res, als dass die gesellschaftlicheArbeit, die zur Produktion dieser Ware aufgewen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, exakt <strong>de</strong>m gesellschaftlichenBedürfnis entspricht. Wir hätten also nicht an<strong>de</strong>res vor uns als die ausnahmsweise Situation,<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wert und Preis <strong>de</strong>r Ware sich tatsächlich <strong>de</strong>cken. 513512Zur Er<strong>in</strong>nerung: "Objektiv" heißt für M. nicht, dass <strong>de</strong>r Wert losgelöst von <strong>de</strong>n Menschen existiert so wie <strong>de</strong>r Mond o<strong>de</strong>r die Gravitation.Der Wert existiert nur <strong>de</strong>shalb objektiv, weil er unabhängig von <strong>de</strong>n Me<strong>in</strong>ungen <strong>de</strong>r Menschen über Ökonomie und Preise existiert. Erentsteht nicht, weil die Menschen ihn bewußt schaffen. Aber an<strong>de</strong>rs als Mond und Gravitation, die ebenfalls objektiv, doch von <strong>de</strong>n Handlungen<strong>de</strong>r Menschen unabhängig existieren, entsteht <strong>de</strong>r Wert als gesellschaftliches Verhältnis erst durch die Handlungen <strong>de</strong>r Menschenim Verlauf ihrer gesellschaftlichen Entwicklung. <strong>Das</strong> ist die Entwicklung, die zur Herausbildung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung unddamit zur Herausbildung <strong>de</strong>r Warenproduktion führt. Die vielen Milliar<strong>de</strong>n Menschen, die daran beteiligt waren, haben das nicht gewußto<strong>de</strong>r gar geplant. Aber sie haben das getan.513Wir folgen mit diesem Argument im wesentlichen M. selbst. Der hat sich mit <strong>de</strong>m Gesetz von Angebot und Nachfrage und se<strong>in</strong>er Auswirkungauf <strong>de</strong>n Arbeitslohn beschäftigt. In e<strong>in</strong>em Vortrag, <strong>de</strong>n er dazu im Juni 1865 vor <strong>de</strong>r Internationalen Arbeiter-Association (= <strong>1.</strong>Internationale)* gehalten hat, führt er aus:"Um aber die Sache umfassen<strong>de</strong>r zu betrachten: Ihr wärt sehr auf <strong>de</strong>m Holzweg, falls ihr glaubtet, daß <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeit o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r beliebigenan<strong>de</strong>rn Ware <strong>in</strong> letzter Instanz durch Angebot und Nachfrage festgestellt wer<strong>de</strong>. Angebot und Nachfrage regeln nichts als die270


Auch etwas an<strong>de</strong>res wird hier sichtbar: <strong>Das</strong> Wertgesetz ist aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s Warenproduzentenvöllig überflüssig. Er kann gut ohne Wertgesetz produzieren und verkaufen. Da auch das Wertgesetzihm ke<strong>in</strong>erlei Informationen darüber liefert, ob er mit se<strong>in</strong>en Waren "marktgerecht" produzierthat, liegt ihm das untergeordnete Gesetzt von Angebot und Nachfrage viel näher. Esentspricht se<strong>in</strong>er tagtäglichen Erfahrung. Er kann das irgendwie "fühlen", merkt es am Geschäftsgang.Ob er wertgerecht produziert, ob also se<strong>in</strong> Aufwand für die Produkte <strong>de</strong>m gesellschaftlichenDurchschnitt entsprechen und ob die Gesamtaufwendungen se<strong>in</strong>er Branche <strong>de</strong>mgesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen: All das <strong>in</strong>teressiert ihn nicht die Bohne, obwohl dasall<strong>de</strong>m ja zugrun<strong>de</strong> liegt, unsichtbarerweise und zunächst auch unberechenbarerweise. Liegt ero<strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e Branche allerd<strong>in</strong>gs über <strong>de</strong>m Durchschnitt o<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>m Bedürfnis, macht sich dieAbweichung vom Wert spürbar: Als <strong>in</strong>dividuelle o<strong>de</strong>r als strukturelle Krise, als Zwang zur <strong>in</strong>dividuelleno<strong>de</strong>r sektoralen Anpassung.37. Warum unterliegt die Preisbildung von Luxuswaren an<strong>de</strong>ren Bed<strong>in</strong>gungen als die vonWaren <strong>de</strong>s täglichen Bedarfs?Überall dort, wo e<strong>in</strong>e größere Zahl von Menschen über Kaufkraft verfügt, die über ihre unmittelbarnotwendigen Lebensbedürfnisse h<strong>in</strong>ausgeht, kommen weitere Elemente <strong>in</strong> die Preisbildungh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Man kann sehr wohl ohne e<strong>in</strong>e Rolex-Armbanduhr leben. Aber wer e<strong>in</strong>e MengeGeld hat, will mit <strong>de</strong>r Rolex se<strong>in</strong>en Reichtum <strong>de</strong>monstrieren. E<strong>in</strong> gewisser <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Warenmarkteslebt davon, dass Konsumenten über Geldmittel verfügen, die nicht von vornhere<strong>in</strong> durch unabweisbareAusgaben gebun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Wenn Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnraum und an<strong>de</strong>realltäglichen Bedarfsartikel bezahlt s<strong>in</strong>d, bleibt e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> übrig.Für diese nicht von vornhere<strong>in</strong> gebun<strong>de</strong>nen Mittel (wie groß die auch se<strong>in</strong> mögen) habe ich diefreie Wahl <strong>de</strong>r Verwendung. Jährlich nach Mallorca o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> 10 Jahren e<strong>in</strong>e "Luxuskreuzfahrt"?<strong>E<strong>in</strong>e</strong>n Nissan Micra kaufen o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en VW Passat? Solche Fragen tauchen nur auf, wenndie unbed<strong>in</strong>gt erfor<strong>de</strong>rlichen Bedürfnisse befriedigt s<strong>in</strong>d und <strong>de</strong>nnoch monatlich etwas auf <strong>de</strong>mGirokonto übrig bleibt.In <strong>de</strong>n Industrielän<strong>de</strong>rn wie Deutschland, Frankreich, USA und an<strong>de</strong>ren ist das für e<strong>in</strong>en größeren<strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Bevölkerung <strong>de</strong>r Fall. Da s<strong>in</strong>d spezielle Produkte im Angebot: Luxus für Arme undLuxus für besser Verdienen<strong>de</strong>, aber natürlich auch echter Luxus für wirklich reiche und ganz reicheLeute.Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen kommen z.B. Markenartikel zum Zuge, die nicht nur e<strong>in</strong> Shirt, son<strong>de</strong>rne<strong>in</strong> Lebensgefühl verkaufen. Dafür zahlt man dann e<strong>in</strong>en höheren Preis, als er üblicherweivorübergehen<strong>de</strong>nFluktuationen <strong>de</strong>r Marktpreise. Sie wer<strong>de</strong>n euch erklären, warum <strong>de</strong>r Marktpreis e<strong>in</strong>er Ware über ihren Wert steigt o<strong>de</strong>runter ihn fällt, aber sie können nie über diesen Wert selbst Aufschluß geben. Unterstellt, daß Angebot und Nachfrage sich die Waage halteno<strong>de</strong>r, wie die Ökonomen das nennen, e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r <strong>de</strong>cken. Nun, im selben Augenblick, wo diese entgegengesetzten Kräfte gleich wer<strong>de</strong>n,heben sie e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r auf und wirken nicht mehr <strong>in</strong> <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Richtung. In <strong>de</strong>m Augenblick, wo Angebot und Nachfrage e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rdie Waage halten und daher zu wirken aufhören, fällt <strong>de</strong>r Marktpreis e<strong>in</strong>er Ware mit ihrem wirklichen Wert, mit <strong>de</strong>m Normalpreiszusammen, um <strong>de</strong>n ihre Marktpreise oszillieren. Bei Untersuchung <strong>de</strong>r Natur dieses Werts haben wir daher mit <strong>de</strong>n vorübergehen<strong>de</strong>n E<strong>in</strong>wirkungenvon Angebot und Nachfrage auf die Marktpreise nichts mehr zu schaffen. <strong>Das</strong> gleiche gilt vom Arbeitslohn wie von <strong>de</strong>n Preisenaller an<strong>de</strong>rn Waren." (MEW 16, S.118f)Der Vortrag ist unter <strong>de</strong>m Titel "Lohn, Preis und Profit" zu M.s vermutlich populärster ökonomischer Arbeit gewor<strong>de</strong>n, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st was dieZahl <strong>de</strong>r Leser betrifft.* Die im September 1864 von Sozialisten aus 13 Län<strong>de</strong>rn gegrün<strong>de</strong>te Internationale Arbeiterassoziation (IAA) gab <strong>de</strong>r jungen Arbeiterbewegungwichtige Impulse. Marx und Engels gehörten zu <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>rn und waren Mitglie<strong>de</strong>r im Zentralrat, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>en Sitz <strong>in</strong> London hatte.Die For<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>m 8-Stun<strong>de</strong>n-Tag, nach Wahlrecht und Gewerkschaftsfreiheit gehen auf die IAA zurück. Schwere Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungenmit <strong>de</strong>n Anarchisten um die Staatsfrage spalteten die IAA 1872, die nach <strong>de</strong>r Gründung erster nationaler Arbeiterparteien anBe<strong>de</strong>utung verlor und sich 1876 formell auflöste. Die IAA wird oft auch als <strong>1.</strong>Internationale bezeichnet.271


se für Artikel gleichen Gebrauchswerts zu zahlen ist. Solche externen Aufpreisungen wi<strong>de</strong>rsprechengenausowenig <strong>de</strong>m Wertgesetz wie <strong>de</strong>r Kauf e<strong>in</strong>es VW Passat auf Ratenbasis anstelle e<strong>in</strong>esMicra gegen Barzahlung. Wenn es gel<strong>in</strong>gt, bestimmten Waren e<strong>in</strong>en höheren Preis aufzustempeln,freut das <strong>de</strong>n Hersteller und <strong>de</strong>n Händler. Kurioserweise freut sich meist auch <strong>de</strong>r Käufer.Es ist Umverteilung von Kaufkraft. Wenn mehr Konsumenten auf Kle<strong>in</strong>wagen statt auf teure Luxuswagenumsteigen, trifft das die Hersteller <strong>de</strong>r Luxus-PKW. Aber es setzt e<strong>in</strong>e Menge Kaufkraftfür an<strong>de</strong>re Waren frei.Wir haben ja bereits an an<strong>de</strong>rer Stelle Bischof Whateley zitiert, <strong>de</strong>r die Preisbildung für Perlengegen je<strong>de</strong> Art von Werttheorie <strong>in</strong>s Feld geführt hat. Aber Preisbildungen am Kunstmarkt o<strong>de</strong>rfür Schmuck o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren teuren T<strong>in</strong>nef bewegen sich im Segment <strong>de</strong>r freien Mittel. <strong>Das</strong> än<strong>de</strong>rtgar nichts an <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Tatsache: Wenn irgendjemand für e<strong>in</strong>e Ware e<strong>in</strong>en Preis zahlt, <strong>de</strong>r<strong>de</strong>n durch die Ware verkörperten Anteil an gesellschaftlicher Arbeit weit übersteigt, muß irgendwoe<strong>in</strong> Ausgleich stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Wir wer<strong>de</strong>n noch sehen, dass dafür nur zwei Quellen <strong>in</strong> Fragekommen: E<strong>in</strong>mal <strong>de</strong>r durch E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r Lohnarbeit erzeugte Mehrwert für die exorbitanten Luxusbedürfnisse<strong>de</strong>r Reichen. Aber natürlich auch Millionen Waren, die zwangsweise unter ihremWert verkauft wer<strong>de</strong>n. Darunter f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir nicht zuletzt die Arbeitskraft von Millionen Lohnabhängigenweltweit.Der Kampf um die Kaufkraft am Konsumentenmarkt ist e<strong>in</strong> wichtiges Feld <strong>de</strong>r kapitalistischenKonkurrenz. E<strong>in</strong> Beispiel: In 2009 beschloß die Bun<strong>de</strong>sregierung angeblich zur Krisenabwehr diesogenannte Abwrackprämie. Es gab 2.500 Euro für je<strong>de</strong>n an Stelle e<strong>in</strong>es m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens 9 Jahre altenAutos gekauften Neuwagen als Zuschuß. (Der Autor hat selber davon Gebrauch gemacht!)<strong>Das</strong> be<strong>de</strong>utet <strong>in</strong> etwa: Mit <strong>de</strong>r auf 5 Mrd. Euro begrenzten Aktion wer<strong>de</strong>n maximal 2 Mio.Neuwagen gekauft. Nehmen wir für die e<strong>in</strong>en durchschnittlichen Eigenanteil <strong>de</strong>r Käufer von18.000 Euro an, dann be<strong>de</strong>utet das e<strong>in</strong>e Umschichtung von Kaufkraft <strong>in</strong> Höhe von 36 Mrd.Eurozu Gunsten <strong>de</strong>r Auto<strong>in</strong>dustrie – und zu Lasten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Produzenten. Auch wenn man unterstellt,dass viele <strong>de</strong>r Anschaffungen ohneh<strong>in</strong> erfolgt wären und vielleicht tatsächlich Arbeitsplätze<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Automobil<strong>in</strong>dustrie und damit Kaufkraft erhalten bleibt: Die Aktion zugunsten e<strong>in</strong>ere<strong>in</strong>zelnen Branche schädigt alle an<strong>de</strong>ren durch plötzliche disproportionale Umlenkung <strong>de</strong>rKaufkraftströme.38. Wenn die Welt <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>e Welt <strong>de</strong>r Waren und Preise ist: Warum nicht mit e<strong>in</strong>erPreistheorie <strong>in</strong> die Sache e<strong>in</strong>steigen?Wir haben <strong>in</strong> <strong>de</strong>n vorigen Kapiteln e<strong>in</strong>e Menge über Wert und Preis gesprochen. Dabei habenwir gelernt, dass im Alltag <strong>de</strong>s Warentauschs <strong>de</strong>r Preis <strong>de</strong>n Ton angibt. Wenn aber die Welt <strong>de</strong>s<strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>e Welt <strong>de</strong>r Waren ist (das ist ja unser Ausgangspunkt) und wenn Waren ihren Wert<strong>in</strong> Geld als Preis ausdrücken und auch nur <strong>in</strong> dieser Preisform im gesellschaftlichen Leben <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ungtreten: Warum dann das ganze Theater mit <strong>de</strong>m Wert? Warum nicht mit e<strong>in</strong>er Preistheoriestatt mit e<strong>in</strong>er so schwer faßbaren Werttheorie <strong>in</strong> die Sache e<strong>in</strong>steigen?Tatsächlich spielt we<strong>de</strong>r M.s Werttheorie noch die Werttheorie <strong>de</strong>r bürgerlichen Klassiker vorMarx für die <strong>Kapital</strong>akteure irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e Rolle. Auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n diversen Theorien und Mo<strong>de</strong>llen vonBetriebs- und Volkswirtschaft ist ke<strong>in</strong> Raum für irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>e Werttheorie. Man kann das <strong>de</strong>n Unternehmernnicht verübeln; die folgen nur ihren alltäglichen Interessen. Für die Preiskalkulationkonkreter Waren etwa bietet die Werttheorie ke<strong>in</strong>e Hilfe. Sie kann nichts von <strong>de</strong>m leisten, wasdie betriebliche Kostenrechnung und das Market<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Unternehmen tagtäglich leistet. Freilichlag das auch nicht <strong>in</strong> M.s Absicht. Und auch wir wollen uns schließlich nicht die Köpfe <strong>de</strong>rUnternehmer zerbrechen.272


Aber mal abgesehen davon, dass sich mit M.s Werttheorie ke<strong>in</strong>e Marktoffensive o<strong>de</strong>r Unternehmensrestrukturierungplanen läßt. Für uns leistet sie unschätzbare Dienste. Sie erklärt uns,warum kapitalistische Unternehmen überhaupt (sozusagen um's Verrecken) Marktoffensivenund Restrukturierungen, Kostensenkungen und Entlassungen, Konjunkturen und Krisen undWachstum um je<strong>de</strong>n Preis brauchen. Die Werttheorie er<strong>in</strong>nert uns ständig daran, dass allem gesellschaftlichenLeben die materielle Produktion und dass aller materiellen Produktion die gesellschaftlicheVerteilung <strong>de</strong>r wertschöpfen<strong>de</strong>n Arbeit zugrun<strong>de</strong> liegt. Den F<strong>in</strong>anzmarktakteurenwur<strong>de</strong> diese Erkenntnis im Jahre 2008 durch die Weltwirtschaftskrise mal wie<strong>de</strong>r etwas nähergebracht. E<strong>in</strong> Crash-Kurs <strong>in</strong> Sachen Werttheorie auf unsere Kosten. Der Lernerfolg wie immernahe Null. Denn Monate später schon war's wie<strong>de</strong>r vergessen. Besser gesagt: Durch Konkurrenzund Verwertungszwang aus <strong>de</strong>m kollektiven Bewußtse<strong>in</strong> verdrängt.Uns macht die Werttheorie immer wie<strong>de</strong>r klar, dass Arbeitsteilung nicht abstrakt existiert, son<strong>de</strong>rnnur <strong>in</strong>nerhalb konkreter sozialer Verhältnisse. Diese Produktionsverhältnisse s<strong>in</strong>d KlassenundMachtverhältnisse. Deshalb führt uns M.s Werttheorie gera<strong>de</strong>nwegs zur Mehrwerttheorie,bestätigt die lebendige Arbeit als Quelle allen Mehrwerts und damit als Quelle <strong>de</strong>s gesellschaftlichenReichtums auch für diese Produktionsweise. Sie kommt <strong>de</strong>r Aneignung dieses Reichtumsauf die Spur, <strong>de</strong>r Lohnarbeit und Privatbesitz an Produktionsmitteln zugrun<strong>de</strong> liegt. Damit beschreibtuns die Werttheorie die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen sich die ungleiche Verteilung<strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums nach privaten Verwertungs<strong>in</strong>teressen vollzieht.Die Werttheorie h<strong>in</strong><strong>de</strong>rt uns daran, <strong>Kapital</strong>, Arbeit, Technik, Arbeitsteilung usw. als e<strong>in</strong>zelwirken<strong>de</strong>Faktoren ähnlich e<strong>in</strong>er Naturkraft zu betrachten, son<strong>de</strong>rn dar<strong>in</strong> Kräfte zu sehen, die e<strong>in</strong>zigund alle<strong>in</strong> bestimmten sozialen Verhältnissen entspr<strong>in</strong>gen. Die Werttheorie macht die zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Klassen und die sich gegenüberstehen<strong>de</strong>n ökonomischenInteressen sichtbar. Sie zeigt, dass gesellschaftliche Interessen und Verwertungs<strong>in</strong>teressen nichti<strong>de</strong>ntisch s<strong>in</strong>d.<strong>Das</strong> alles und noch e<strong>in</strong>iges mehr bil<strong>de</strong>t unser werttheoretisches Fundament, ohne das je<strong>de</strong> Untersuchungvon ökonomischen Details auch nur im Detail nützlich wäre - bestenfalls. Für die <strong>Kapital</strong>akteuremag das reichen. Für das Verständnis <strong>de</strong>r ökonomischen Vorgänge reicht das nicht.Ohne das werttheoretische Fundament, an <strong>de</strong>m wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Kapiteln noch zu arbeitenhaben, wird e<strong>in</strong>e ökonomische Analyse <strong>de</strong>r Zusammenhänge fast im Selbstlauf zum Irrläufer.Kühne Behauptung? Wir wer<strong>de</strong>n sehen.Damit ist auch klar, warum M.s Werttheorie von Anfang an wenig Aussicht hatte, <strong>in</strong> Unternehmerkreisenpopulär zu wer<strong>de</strong>n. Wie gesagt: Wenn die <strong>Kapital</strong>akteure auf die Werttheorie verzichten,kann man es ihnen nicht zum Vorwurf machen. Denjenigen aber, die angeblich Ökonomieals Wissenschaft betreiben, kann man das nicht durchgehen lassen. Von ihnen erwartetman schon, dass sie mehr tun, als die alltäglichen Erfahrungen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>akteure zu systematisierenund zu pedantisieren, wie M. das ironisch formulierte.39. Ist <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s frühen Händlers e<strong>in</strong>e Eigenschaft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s? O<strong>de</strong>r woher kommt dieGeldvermehrung sonst?Die Vermehrung <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong> zu allen Zeiten <strong>de</strong>m Geld selbst und <strong>de</strong>r Kühnheit o<strong>de</strong>r Gerissenheit<strong>de</strong>r Händler o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Skrupellosigkeit <strong>de</strong>s Geldverleihers zugeschrieben. Aber die Vermehrung<strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s im Produkthan<strong>de</strong>l kommt nicht aus <strong>de</strong>m Geld selbst und auch nicht aus <strong>de</strong>rTüchtigkeit, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>r Waren. Der Produkthändler teilt sich mit <strong>de</strong>m Pro-273


duzenten <strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ware stecken<strong>de</strong>n Wertzuwachs. Und wenn e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>r beteiligten sich dafürGeld geliehen hat, erhält auch <strong>de</strong>r Geldverleiher se<strong>in</strong>en Anteil.Es gilt hier, was wir auch an an<strong>de</strong>rer Stelle über die Quelle <strong>de</strong>s G' sagen: Durch Ausnutzung vonbeson<strong>de</strong>ren Merkmalen <strong>de</strong>r geographisch getrennten Märkte, durch Ausnutzung von Notlagenwie Mißernten, Kriegen usw., lassen sich mal höhere, mal niedrigere Preise für die Waren o<strong>de</strong>rhöhere o<strong>de</strong>r niedrigere Z<strong>in</strong>sen für das geliehene Geld erzielen. Insofern gibt es zu je<strong>de</strong>m Zeitpunktdie Rolle <strong>de</strong>s erfolgreichen und <strong>de</strong>s weniger erfolgreichen Händlers mit wechseln<strong>de</strong>r Besetzung.Ke<strong>in</strong> Wun<strong>de</strong>r also, dass <strong>de</strong>m "tüchtigen" Händler die Quelle se<strong>in</strong>es Profits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erTüchtigkeit zu liegen sche<strong>in</strong>t. Und dass <strong>de</strong>r Händler, <strong>de</strong>r die jeweiligen Notlagen "tüchtig" fürsich nutzt, auf <strong>de</strong>r Beliebtheitsskala abrutscht.Und auch <strong>de</strong>r Geldhan<strong>de</strong>l etwa als Kredit kann nur funktionieren, wenn <strong>de</strong>r Gläubiger die Z<strong>in</strong>senaus se<strong>in</strong>em Anteil am Mehrprodukt zurückzahlt, durch <strong>de</strong>n Verkauf neuer Produkte, durch<strong>de</strong>n Ertrag <strong>de</strong>r nächsten Ernte, durch gesteigerte Ausbeutung <strong>de</strong>r Sklaven, Leibeigenen o<strong>de</strong>rPächter. Dem Geldverleiher ersche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>r Z<strong>in</strong>s h<strong>in</strong>gegen als verdienter Lohn <strong>de</strong>s von ihm e<strong>in</strong>gegangenenRisikos sowie als "gerechter Anteil" am Nutzen, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gläubiger aus <strong>de</strong>m geliehenenGeld erzielt.Den gemolkenen Akteuren ersche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r Melker, ob Händler o<strong>de</strong>r Geldverleiher, alle<strong>in</strong><strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s zu entspr<strong>in</strong>gen. Wohl ke<strong>in</strong> Gesellschaftsprodukt ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte sooft verflucht und verwünscht und sehnlichst erhofft wor<strong>de</strong>n – wie das Geld.40. Welche Rolle spielte <strong>de</strong>r Fernhan<strong>de</strong>l? Auf welchen Voraussetzungen basierte se<strong>in</strong>Erfolg? Konnte im Fernhan<strong>de</strong>l e<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n erzeugt wer<strong>de</strong>n?<strong>E<strong>in</strong>e</strong> große Rolle zu praktisch allen Zeiten. Dabei basierte <strong>de</strong>r Fernhan<strong>de</strong>l auf <strong>de</strong>r Verb<strong>in</strong>dung unterschiedlicherMärkte. Waren, die auf <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en Markt gängig und daher billig waren, bewegteman zu <strong>de</strong>n Märkten, auf <strong>de</strong>nen diese Waren nachgefragt, aber selten waren. Denken wir an<strong>de</strong>n Sei<strong>de</strong>nhan<strong>de</strong>l o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Gewürzhan<strong>de</strong>l o<strong>de</strong>r die kuriose Tulpenspekulation im 17. Jahrhun<strong>de</strong>rt<strong>de</strong>s bürgerlichen Holland. 514<strong>Das</strong> funktionierte nur, weil zwischen <strong>de</strong>m abgeben<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m aufnehmen<strong>de</strong>n Markt entwe<strong>de</strong>re<strong>in</strong> gleichermaßen gültiges Zahlungsmittel existierte, etwa Gold, o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> symmetrischer Warenaustauschweitgehend ohne Geld stattfand, wobei die jeweils ausgetauschten Waren auf <strong>de</strong>nabgeben<strong>de</strong>n Märkten billig, auf <strong>de</strong>n aufnehmen<strong>de</strong>n Märkten aber stark nachgefragt und daherteuer waren.Damit das funktionieren kann, muß am aufnehmen<strong>de</strong>n Markt, auf <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Händler schließlich<strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>n erzielen will, genügend Kaufkraft <strong>in</strong> Geld o<strong>de</strong>r es müssen auf <strong>de</strong>m Zielmarkt Warenvorhan<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>, die am Quellmarkt gute Preise erzielen. In je<strong>de</strong>m Fall entstammt die Wertsubstanzdieses Fernhan<strong>de</strong>ls zwischen verschie<strong>de</strong>nen Märkten <strong>de</strong>m dort vorhan<strong>de</strong>nen gesellschaftlichenMehrprodukt, setzt also bereits erweiterte Reproduktion im gesellschaftlichen Maßstab vo-514Aber auch heute gibt es natürlich die Ausnutzung <strong>de</strong>r Disparitäten zwischen <strong>de</strong>n Märkten: Arzneimittel o<strong>de</strong>r Automobile wer<strong>de</strong>n aufverschie<strong>de</strong>nen Märkten zu unterschiedlichen Preisen angeboten, so dass sogar e<strong>in</strong> Re-Import dieser Waren <strong>in</strong> das Herstellungsland <strong>de</strong>mRe-Importeur e<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt. Auch die Gründung von Fabrikationsstätten <strong>in</strong> Niedriglohnlän<strong>de</strong>rn ist <strong>de</strong>r Versuch, die Unterschie<strong>de</strong><strong>de</strong>r Märkte, <strong>in</strong> diesem Fall Unterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Märkte für die Ware Arbeitskraft, gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend zu nutzen. Die sogenannten Carry Tra<strong>de</strong>s,also die Währungsspekulation auf Z<strong>in</strong>sunterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e mo<strong>de</strong>rne Variante, die per Tastendruck vom Computeraus erledigt wird. Im Unterschied zu <strong>de</strong>n Fernhändlern vergangener Zeiten, die persönlichen Mut und echten Unternehmungsgeistmitbr<strong>in</strong>gen mußten und ungewollt e<strong>in</strong>e Menge für <strong>de</strong>n Austausch zwischen <strong>de</strong>n Kulturen leisteten, s<strong>in</strong>d diese elektronisierten Variantenzur Ausbeutung von Marktdisparitäten von <strong>de</strong>r re<strong>in</strong> piratischen Sorte.274


aus. Deshalb zielt <strong>de</strong>r antike und mittelalterliche Fernhan<strong>de</strong>l zunächst auf die Luxusbedürfnisse<strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Klasse und <strong>de</strong>r städtischen Oberschicht.Der Fernhan<strong>de</strong>l erzeugt se<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n nicht, son<strong>de</strong>rn erzielt ihn nur. Grundlage ist <strong>de</strong>r Kaufund Verkauf begehrter Waren. Auch wenn dabei die oben beschriebene Symmetrie von Märktenausgenutzt wird, ist das ke<strong>in</strong>e Wertschöpfung. Es ist überwiegend Abschöpfung <strong>de</strong>s Mehrproduktsam jeweiligen Zielmarkt durch nachgefragte Waren. Die Differenz zwischen Kaufpreisauf <strong>de</strong>m Quellmarkt und Verkaufspreis auf <strong>de</strong>m Zielmarkt muß ausreichen, um die Aufwendungen<strong>de</strong>s Fernhan<strong>de</strong>ls und se<strong>in</strong>e unvermeidlichen Verluste aufzufangen und <strong>de</strong>m Händler <strong>de</strong>nnoche<strong>in</strong>en reizen<strong>de</strong>n Gew<strong>in</strong>n zu bescheren.Die Befriedigung von Luxusbedürfnissen spielt auch heute noch e<strong>in</strong>e Rolle. Wenn e<strong>in</strong> japanischerMilliardär für 90 Mio. Pfund <strong>in</strong> London e<strong>in</strong> Picasso-Bild kauft o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> Depp für e<strong>in</strong>e fleckigeUnterhose Bill Cl<strong>in</strong>tons 120.000 Dollar zahlt, ist das genauso Abschöpfung <strong>de</strong>s gesellschaftlichenMehrprodukts. Auch <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>erem Maßstab wird abgeschöpft, wenn wir etwa bereitwilligfür e<strong>in</strong>en Markenturnschuh das Doppelte bezahlen wie für <strong>de</strong>nselben Turnschuh, <strong>de</strong>mdas Markenetikett fehlt. Wir können uns solche Extravaganzen nur erlauben, wenn wir über e<strong>in</strong>efreie Spitze im Lohne<strong>in</strong>kommen verfügen, also e<strong>in</strong>en Lohn erhalten, <strong>de</strong>r nach Befriedigung <strong>de</strong>runabweisbaren Lebensbedürfnisse immer noch etwas übrig läßt, das wir zur eigenen Freu<strong>de</strong> füreigentlich überflüssige D<strong>in</strong>ge ausgeben können. Für mehrere Villen an verschie<strong>de</strong>nen schönenOrten dieser Welt reicht unsere freie Spitze im E<strong>in</strong>kommen freilich nicht aus. Da gibt es zwischenunserem Kle<strong>in</strong>e-Leute-Luxus und <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Mehrwertsauger dieser Welt doch noch gravieren<strong>de</strong>Unterschie<strong>de</strong>.4<strong>1.</strong> Ist M.s Politische Ökonomie auf e<strong>in</strong> bestimmtes Menschenbild o<strong>de</strong>r auf bestimmteanthro<strong>pol</strong>ogische Merkmale wie Habgier o<strong>de</strong>r Nutzenstreben o<strong>de</strong>r Besitztriebangewiesen?Eben nicht. Mit Entwicklung <strong>de</strong>r Werttheorie g<strong>in</strong>g es M. gera<strong>de</strong> darum, e<strong>in</strong>e befriedigen<strong>de</strong> Erklärungfür die Austauschbarkeit <strong>de</strong>r Waren und <strong>de</strong>n Wertzuwachs zu erhalten, ohne dabei Eigenschaftenwie Habgier, Neigung zu Betrug, Hang zur Verschwendung etc. bemühen zu müssen.Solchen Annahmen über die verme<strong>in</strong>tliche Natur <strong>de</strong>s Menschen begegnet man <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Arbeitenpraktisch aller bürgerlichen Ökonomen immer wie<strong>de</strong>r. Dort ist <strong>de</strong>r homo oeconomicus zuHause, <strong>de</strong>m man "natürliche" Eigenschaften wie Nutzenoptimierung, Gew<strong>in</strong>nstreben, Han<strong>de</strong>lstriebund an<strong>de</strong>res unterstellen muß, um die eigenen re<strong>in</strong> psychologischen Erklärungen zu fundieren.Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Grund, warum M. überzeugt war, mit se<strong>in</strong>er Werttheorie <strong>de</strong>n gordischenKnoten durchschlagen zu haben, lag gera<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Unabhängigkeit von vagen anthro<strong>pol</strong>ogischenKonstrukten. Er konnte e<strong>in</strong>e überzeugen<strong>de</strong> Erklärung liefern, die we<strong>de</strong>r bestimmtemenschliche Geme<strong>in</strong>heiten noch menschliche Tugen<strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rte. Dennoch konnten sich Geme<strong>in</strong>heitund Tugend nach Herzenslust austoben, ohne die Gültigkeit <strong>de</strong>r Theorie zu bee<strong>in</strong>trächtigen.Und M.s Erfolg hat e<strong>in</strong>e entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Ursache. Darauf muß man immer wie<strong>de</strong>r aufmerksammachen. Se<strong>in</strong>e Erklärungen holt er nicht aus <strong>de</strong>m Inneren <strong>de</strong>r Menschen, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>n Beziehungen<strong>de</strong>r Menschen zue<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Bevor das Verhalten <strong>de</strong>r Menschen e<strong>in</strong>e Rolle spielt, gibtes schon die Verhältnisse, die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschengruppen, diegleichzeitig die Räume und Bahnen festlegen, auf <strong>de</strong>nen sich die Vielfalt menschlichen Verhaltensentfaltet.275


42. Gibt es e<strong>in</strong>en Unterschied zwischen Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft und Lohn? Wor<strong>in</strong> könnte <strong>de</strong>rUnterschied bestehen?Wir haben bereits gesehen, dass es zwischen <strong>de</strong>m Wert e<strong>in</strong>er Ware und ihrem Preis notwendigerweisezu Abweichungen kommt. Wenn wir <strong>de</strong>n Lohn als Preis <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft betrachten,ist das nicht an<strong>de</strong>rs.Dabei müssen wir die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>r Ware Arbeitskraft und e<strong>in</strong>er xbeliebigen an<strong>de</strong>ren Ware beachten. Die Trennung <strong>de</strong>s lebendigen Menschen von se<strong>in</strong>er Arbeitskraftist künstlich und wird nur durch die Macht <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s erzwungen. Da <strong>de</strong>r "doppelt freieLohnarbeiter" nicht durch eigene Produktion se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt erwirtschaften kann, verkaufter se<strong>in</strong>e Arbeitskraft <strong>de</strong>m Unternehmer, <strong>de</strong>r sie für e<strong>in</strong>e vertraglich geregelte Zeit nach eigenemGutdünken e<strong>in</strong>setzen darf.Aber mit je<strong>de</strong>r Arbeitskraft holt sich <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist ke<strong>in</strong>e stummen Masch<strong>in</strong>en, son<strong>de</strong>rn Menschenmit eigenen Interessen unter se<strong>in</strong>e Herrschaft. Dauer <strong>de</strong>r Arbeitszeit und Gestaltung <strong>de</strong>rArbeit wer<strong>de</strong>n damit zum Gegenstand <strong>de</strong>s Interessenkampfes. Was auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite dazuführt, dass <strong>de</strong>r Lohn immer wie<strong>de</strong>r neu ausgehan<strong>de</strong>lt wird. Was auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite im <strong>Kapital</strong>istenalle Anstrengungen weckt, die Arbeitskraft <strong>in</strong>tensiver zu nutzen, aber auch alle Möglichkeitenauszuschöpfen, ihren Preis zu senken und sich von ihr unabhängig zu machen.Wenn es allerd<strong>in</strong>gs stimmt, dass nur die lebendige Arbeitskraft Quelle <strong>de</strong>s Mehrwerts ist: Mußihn dann se<strong>in</strong>e Abneigung gegen "die störrische Seite" <strong>de</strong>r Arbeitskraft nicht <strong>in</strong> gera<strong>de</strong>zu tragischeWi<strong>de</strong>rsprüche verwickeln? <strong>Das</strong> wird noch spannend.43. Inwieweit ist das Han<strong>de</strong>lskapital Wegbereiter<strong>in</strong> <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen <strong>Kapital</strong>s? Wie erfolgt <strong>de</strong>rÜbergang?Mit <strong>de</strong>r formellen Zusammenfassung vieler Produzenten für die marktorientierte Produktion unter<strong>de</strong>r Regie e<strong>in</strong>es Geldgebers än<strong>de</strong>rt sich alles. Oft schlüpft <strong>de</strong>r Händler <strong>in</strong> die Rolle <strong>de</strong>s Organisatorsund F<strong>in</strong>anziers und wird zur neuen Schlüsselfigur und zum Vorläufer <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>isten.Mit <strong>de</strong>r verän<strong>de</strong>rten sozialen Form <strong>de</strong>r Produktion, die M. als formelle Subsumtion bezeichnet,kommen bereits neue Interessen <strong>in</strong>s Spiel, auch wenn die Produktion <strong>in</strong> technischerH<strong>in</strong>sicht völlig unverän<strong>de</strong>rt bleibt.Die Sichtweise <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen Produzenten, <strong>de</strong>m es um die Sicherstellung se<strong>in</strong>er Existenz g<strong>in</strong>g, istzwar nicht aus <strong>de</strong>m Spiel; gera<strong>de</strong> dieses Interesse br<strong>in</strong>gt ihn vielleicht dazu, se<strong>in</strong>e Tätigkeit e<strong>in</strong>emHändler unterzuordnen, um die Vorteile e<strong>in</strong>er stetigen Zulieferung von Rohmaterial und <strong>de</strong>n gesichertenAbsatz <strong>de</strong>r Produkte zu nutzen. Der Händler kann diese Rolle nur ausfüllen, weil erüber ausreichen<strong>de</strong> Geldmittel verfügt, um Rohstoffe vorzuschießen und die Abnahme <strong>de</strong>r Produktionzu garantieren. Mit dieser neuen Rolle <strong>de</strong>s Händlers kommen neue und immer mehr bestimmen<strong>de</strong>Interessen <strong>in</strong>s Spiel. Denen geht es um die Vermehrung <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>gesetzten Gel<strong>de</strong>s.Ob 50 Weber e<strong>in</strong>zeln für sich mit <strong>de</strong>m Ziel arbeiten, die Lebensmittel für die Familie zu erwirtschaften,ist etwas völlig an<strong>de</strong>res, als wenn dieselben 50 Weber unter <strong>de</strong>r Regie e<strong>in</strong>es Händlersarbeiten: Was <strong>de</strong>n Webern zunächst nützlich erschienen se<strong>in</strong> mag, nämlich die Mühen <strong>de</strong>r Rohstoffbeschaffungund <strong>de</strong>s Verkaufs los zu wer<strong>de</strong>n, wird bald zur Belastung. Denn Intensität undLänge ihres Arbeitstages s<strong>in</strong>d durch die bloße Formwandlung <strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>sHändlers unterworfen. Und die s<strong>in</strong>d eben nicht, siehe oben, auf das Wohlergehen <strong>de</strong>r Weber,son<strong>de</strong>rn auf die Vermehrung <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>gesetzten Gel<strong>de</strong>s gerichtet.276


44. Was be<strong>de</strong>utet technologische Arbeitsteilung gegenüber <strong>de</strong>r gesellschaftlichenArbeitsteilung?Mit <strong>de</strong>r reellen Subsumtion <strong>de</strong>r Arbeitskraft wird die Arbeitsteilung auf e<strong>in</strong>e neue Stufe gehoben.Der Arbeitsprozess wird zerglie<strong>de</strong>rt, damit je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne Schritt mit hoher Produktivitätvollzogen wird. Dabei wer<strong>de</strong>n stets nur <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s Produkts gefertigt, die am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arbeitsprozesseszusammengefügt wer<strong>de</strong>n. Diese Arbeitsteilung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Fabrikorganisation ist aber nichtüber <strong>de</strong>n Markt vermittelt, son<strong>de</strong>rn spielt sich im Herrschaftbereich <strong>de</strong>sselben <strong>Kapital</strong>s ab undwird re<strong>in</strong> produktionstechnisch organisiert.Die im Herrschaftsbereich e<strong>in</strong>es <strong>Kapital</strong>s sich aufbauen<strong>de</strong> technologische Arbeitsteilung steht mit<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n Markt vermittelten Arbeitsteilung <strong>in</strong> Beziehung. In <strong>de</strong>n letzten 20 Jahren kommt eszu neuen Formen <strong>de</strong>r Arbeitsteilung, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen komplette Fertigungsstufen o<strong>de</strong>r Produktionsbereicheaus <strong>de</strong>r technologischen <strong>in</strong> die marktvermittelte Arbeitsteilung entlassen wer<strong>de</strong>n. So habensich große Unternehmen durch gezieltes Outsourc<strong>in</strong>g und die Abspaltung von Unternehmensteilenzu selbständig agieren<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>en (sp<strong>in</strong>-offs) verkle<strong>in</strong>ert. Die bisher im <strong>in</strong>neren <strong>de</strong>sUnternehmens stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Arbeitsprozesse wer<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Kauf entsprechen<strong>de</strong>r Zulieferungenauf <strong>de</strong>m Markt ersetzt. Die technologische Arbeitsteilung wird reduziert und als gesellschaftlicheArbeitsteilung realisiert und über <strong>de</strong>n Markt <strong>in</strong> die eigene Verwertung e<strong>in</strong>gebun<strong>de</strong>n.<strong>Das</strong>, was heute Globalisierung genannt wird, ist wesentlich durch die Internationalisierung <strong>de</strong>rgesellschaftlichen Arbeitsteilung entstan<strong>de</strong>n. Verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>taillierter Standardisierung lassensich auf diese Weise sogar komplexe Produkte, z.B. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Elektronik- o<strong>de</strong>r Automobil<strong>in</strong>dustrie,<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelteilen auf <strong>in</strong>ternationalen Märkten "zusammenkaufen". Dabei kommt es zwischen <strong>de</strong>nRegie führen<strong>de</strong>n transnationalen Konzernen und <strong>de</strong>n zuliefern<strong>de</strong>n Unternehmen zu ganz neuenSpielarten <strong>de</strong>r formellen Subsumtion, die jetzt nicht alle<strong>in</strong> die Arbeitskraft, son<strong>de</strong>rn komplette,kapitalistisch organisierte Produktionsprozesse betreffen.45. Spielt <strong>de</strong>nn das allgeme<strong>in</strong>-menschliche, spielen menschliche Grun<strong>de</strong>igenschaften garke<strong>in</strong>e Rolle?Wir haben diesen Punkt schon gestreift, als es um die unverän<strong>de</strong>rlichen Wahrheiten g<strong>in</strong>g. Jetztkönnen wir das von an<strong>de</strong>rer Seite ausleuchten. M.s "<strong>Kapital</strong>" ist <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> Gegenprogrammzu allen "Analytikern <strong>de</strong>r Ewigkeit" mit ihren überhistorischen, allgeme<strong>in</strong>-menschlichen,überall und immerfort gültigen schlechth<strong>in</strong>nigen Kategorien: "Der Mensch", "die Arbeit", "Produktionals ewiges Erfor<strong>de</strong>rnis", die "ewige <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Menschen <strong>in</strong> Führer und Geführte", das"ewige Spiel <strong>de</strong>r Macht", die "menschliche Natur als Jäger und Räuber" pipapo. Solche Begriffemit Ewigkeits-Nimbus taugen für M. bestenfalls als Ausgangspunkt se<strong>in</strong>er Kritik (!), die selbstaber auf die Analyse <strong>de</strong>r vergänglichen Formen abzielt.M. <strong>in</strong>teressiert nicht, was alle Menschen seit Adam und Eva geme<strong>in</strong>sam haben. <strong>Das</strong> ist weniggenug und fällt mehr <strong>in</strong> das Gebiet von Mediz<strong>in</strong> und Biologie. Ihn und uns <strong>in</strong>teressiert, wasMenschen von heute mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r geme<strong>in</strong>sam haben und wodurch diese Geme<strong>in</strong>samkeiten entstehen- und eben auch, was sie trennt, was sie <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>ne Lebensverhältnisse bannt, wasihre Handlungsmöglichkeiten beschränkt.Wie bequem das Allgeme<strong>in</strong>-Menschliche für <strong>de</strong>n bürgerlichen Ökonomen ist, macht die Behandlung<strong>de</strong>r aktuellen Weltwirtschaftskrise <strong>de</strong>utlich. Als diese Krise nicht mehr wegzurechnen war,g<strong>in</strong>g es <strong>de</strong>n Problembehandlern um e<strong>in</strong>s: <strong>Das</strong> System aus <strong>de</strong>r Schußl<strong>in</strong>ie nehmen. Wie<strong>de</strong>r ist esdas Allgeme<strong>in</strong>-Menschliche, s<strong>in</strong>d es "die Konstanten jenseits <strong>de</strong>r Krise", wie es e<strong>in</strong> neoliberalerKommentator formuliert, mit <strong>de</strong>r man die Ursachen <strong>de</strong>r Krise <strong>in</strong> die dunklen undurchsichtigenSphären <strong>de</strong>r menschlichen Natur verlagert: "Die Krise hat nun viel krim<strong>in</strong>elle Energie und zügel-277


losen Egoismus an die Oberfläche geschwemmt. Sie entspr<strong>in</strong>gen aber nicht <strong>de</strong>m System, son<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r menschlichen Natur." (NZZ 3<strong>1.</strong>12.2008)Die Mont Pèler<strong>in</strong> Society, e<strong>in</strong>e neoliberal orientierte Stiftung, veranstaltete Anfang April 2009 <strong>in</strong>New York e<strong>in</strong>e Tagung mit Nobelpreisträgern und an<strong>de</strong>ren bekannten Ökonomen. Daruntermacht es diese Stiftung nicht. Die Referenten wur<strong>de</strong>n ihrem aka<strong>de</strong>mischen Ruf gerecht und g<strong>in</strong>genbis auf Adam Smith zurück, um ebenfalls die "menschliche Natur" als Krisenursache zu bemühen.Der Korrespon<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Neuen Zürcher Zeitung faßte die Beiträge <strong>de</strong>r namhaften Ökonomenso zusammen: "Viele Redner griffen das auf. Die menschliche Natur könne sich nicht <strong>in</strong>nertweniger Jahre o<strong>de</strong>r Jahrzehnte verän<strong>de</strong>rn, sie bleibe im Grun<strong>de</strong> gleich. Deshalb seien Gierund Masslosigkeit auch ke<strong>in</strong>e neuen Phänomene, sie äusserten sich lediglich auf an<strong>de</strong>re Weiseals früher und sie hätten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fruchtbaren Umfeld entwickelt, lautete e<strong>in</strong> Tenor." (NZZ9.4.2009)Knapp vorbei ist auch daneben. Statt <strong>de</strong>r Entstehung dieses "fruchtbaren Umfelds" nachzuforschenund die "ewige Habgier" h<strong>in</strong>ter sich zu lassen, wie M. es getan hätte, bleibt man bei allgeme<strong>in</strong>-menschlichenPlatitü<strong>de</strong>n. Natürlich spielt Habgier e<strong>in</strong>e Rolle. Die kapitalistische Produktionsweiseist gera<strong>de</strong>zu e<strong>in</strong> Zuchtlabor für die unfriedlichsten menschlichen Eigenschaften. Aberwarum? <strong>Das</strong> ist die Frage, <strong>de</strong>r sich die namhaften Ökonomen hätten zuwen<strong>de</strong>n sollen, statt sichauf mü<strong>de</strong> ethische Konventionen und Schulterzucken zu beschränken.S<strong>in</strong>d nicht vielleicht auch Produktionsverhältnisse <strong>de</strong>nkbar, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen eben nicht "Habgier undMasslosigkeit" <strong>de</strong>n Ton angeben? S<strong>in</strong>d solche <strong>de</strong>nkbar, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Erfolge bei <strong>de</strong>r Armutsbekämpfung,beim Umweltschutz, bei sozialen Projekten i<strong>de</strong>ell wie materiell belohnt wer<strong>de</strong>n? Hiersei noch mal betont: M. war ke<strong>in</strong> Missionar, <strong>de</strong>r die Menschen bessern wollte. Die heute allenthalbenventilierten "ethischen Grundsätze", die "pr<strong>in</strong>ciples of good governance" und was daalles produziert wird, hätten ihn, je nach Tagesform, gr<strong>in</strong>sen o<strong>de</strong>r wettern lassen.M. war davon überzeugt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse entschei<strong>de</strong>nd unser Verhaltenprägen. Deshalb g<strong>in</strong>g es ihm <strong>in</strong> allererster L<strong>in</strong>ie um die Än<strong>de</strong>rung dieser Verhältnisse. Aber nicht<strong>de</strong>rart, dass die Verhältnisse von überlegenen Besserwissern geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>rGesellschaft durch plötzliche Besserung ihres Verhaltens zu beglücken. Von diesem plumpenMaterialismus distanziert sich M. bereits <strong>in</strong> <strong>de</strong>n "Thesen über Feuerbach" <strong>in</strong> <strong>de</strong>r 3. These, die<strong>de</strong>s Nach<strong>de</strong>nkens wert ist. Er schreibt:"Die materialistische Lehre (= die von Feuerbach & Co.) von <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> und<strong>de</strong>r Erziehung vergißt, daß die Umstän<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Menschen verän<strong>de</strong>rt und <strong>de</strong>r Erzieher selbsterzogen wer<strong>de</strong>n muß. Sie muß daher die Gesellschaft <strong>in</strong> zwei <strong>Teil</strong>e – von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e über ihrerhaben ist – sondieren.<strong>Das</strong> Zusammenfallen <strong>de</strong>s Än<strong>de</strong>rn[s] <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r menschlichen Tätigkeit o<strong>de</strong>r Selbstverän<strong>de</strong>rungkann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n." (MEW3, S.5f)Es geht eben nicht darum, dass <strong>de</strong>r "erhabene" <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren erzieht; alle<strong>in</strong>die Vorstellung von Erhabenheit ist für M. grotesk. Er kann sich diese Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Menschennicht als Belehrung o<strong>de</strong>r Erziehung, son<strong>de</strong>rn nur als Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> vorstellen(später wür<strong>de</strong> M. von Verhältnissen gesprochen haben), die dadurch verän<strong>de</strong>rnd auf dieVerän<strong>de</strong>rer zurückwirken. Die E<strong>in</strong>heit vom Än<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en, vom sich dadurchverän<strong>de</strong>rn lassen auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite, nennt er die "revolutionäre Praxis". <strong>Das</strong> ist gesellschaftliches,also geme<strong>in</strong>schaftliches Han<strong>de</strong>ln, das die Lebensverhältnisse und damit die Handlungsmöglichkeiten<strong>de</strong>r Menschen verän<strong>de</strong>rt. Nicht zur Mildtätigkeit ermahnen, son<strong>de</strong>rn die Ur-278


sachen <strong>de</strong>r Armut bestimmen und bekämpfen. <strong>Das</strong> ist das entschie<strong>de</strong>ne Gegenprogramm zurSonntagspredigt.Bei revolutionärer Praxis <strong>de</strong>nkt M. zunächst gar nicht an Barrika<strong>de</strong>n und Aufstand, son<strong>de</strong>rn nuran die wirkliche materielle Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Verhältnisse. Wenn es jedoch betonierte <strong>pol</strong>itischökonomischeVerhältnisse s<strong>in</strong>d, die sich an<strong>de</strong>rs nicht än<strong>de</strong>rn lassen, können letztlich auch Barrika<strong>de</strong>ndazugehören.46. Warum treten Naturelemente (Wasser, Luft) zunächst nicht als Wertbildner auf? Unterwelchen Voraussetzungen gehen auch die Naturstoffe <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wertbildungsprozess e<strong>in</strong>?Hier muß man unterschei<strong>de</strong>n. Naturstoffe gehen als Rohstoffe wie Kohle, Kupfer, Eisenerz o<strong>de</strong>rGold natürlich immer <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wertbildungsprozess e<strong>in</strong>. Wir haben diese Seite <strong>de</strong>r Wertbildung alszirkulieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> kennengelernt. An<strong>de</strong>re Naturstoffe wie Wasser und Luft wur<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>rFrühphase <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus und zum <strong>Teil</strong> auch heute noch als Gratisdienste <strong>de</strong>r Natur betrachtetso wie die Gravitation. Erst mit wachsen<strong>de</strong>r Produktion wird spürbar, dass bestimmte Elemente<strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Produktionsbed<strong>in</strong>gungen, wie M. sie nennt, auf Dauer ke<strong>in</strong>eswegs umsonst zuhaben s<strong>in</strong>d.Von an<strong>de</strong>ren Elementen <strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Produktionsbed<strong>in</strong>gungen wie <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r gepachtetwer<strong>de</strong>n muß, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Kanälen und Straßen, für <strong>de</strong>ren Gebrauch entwe<strong>de</strong>r bezahlt o<strong>de</strong>r dieim Umlageverfahren durch Steuern errichtet wer<strong>de</strong>n, war das immer schon klar. Aber auch Wasserund Luft s<strong>in</strong>d längst nicht mehr als Gratisdienste verfügbar. Was mit <strong>de</strong>r Grundwasserregulierungim Bergbau begann, setzt sich mit <strong>de</strong>n steigen<strong>de</strong>n Kosten <strong>de</strong>r Brauch- und Tr<strong>in</strong>kwassergew<strong>in</strong>nungfort. Auch die Re<strong>in</strong>haltung <strong>de</strong>r Luft, nicht erst seit Klimawan<strong>de</strong>l- und CO2-Debatte,absorbiert e<strong>in</strong>en immer größeren <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit. Auflagen zum Umweltschutzs<strong>in</strong>d nicht nur <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Kostenkalkulation, son<strong>de</strong>rn gehen <strong>in</strong>zwischen als Preise für die RohstoffeWasser und Luft <strong>in</strong> die Wertbildung e<strong>in</strong>.Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite macht das die Auslagerung von Produktionsbetrieben <strong>in</strong> Län<strong>de</strong>r mit wenigerkostenwirksamen Umweltauflagen für das e<strong>in</strong>zelne <strong>Kapital</strong> attraktiv. Gleichzeitig wird die<strong>in</strong>ternationale Durchsetzung von Umweltstandards absur<strong>de</strong>rweise zu e<strong>in</strong>em wirksamen Mittel<strong>de</strong>r Konkurrenz. Die <strong>in</strong>dustrialisierten Staaten Europas, die ihren eigenen wirtschaftlichen Aufstiegund heutige Dom<strong>in</strong>anz <strong>de</strong>r rücksichtslosen Ausbeutung <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>r Menschen verdanken,gefallen sich heute als Umwelt- und Menschenrechtsapostel all jenen Staaten gegenüber,<strong>de</strong>ren schneller Aufstieg die eigene Position zu bedrohen sche<strong>in</strong>t.Umweltschutz und Menschenrechte als Mittel <strong>de</strong>r Wirtschaftskonkurrenz? Auch das geht.47. Wie steht es eigentlich um die Abnutzung und die Zirkulation <strong>de</strong>r Arbeitskraft?Für die Ware Arbeitskraft haben wir bereits e<strong>in</strong>ige Beson<strong>de</strong>rheiten kennengelernt; hier gilt e<strong>in</strong>eweitere Beson<strong>de</strong>rheit: Während nämlich alle toten Elemente im Produktionsprozess (Masch<strong>in</strong>en,Rohstoffe, Energie, Halbfabrikate usw.) mit <strong>de</strong>r Übertragung ihres Werts gleichzeitig auch stofflichverbraucht wer<strong>de</strong>n, gilt das für die lebendige Arbeitskraft nicht, besser gesagt: nicht <strong>in</strong> diesemMaße. Ihre beson<strong>de</strong>re Qualität, nicht nur <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r toten Stoffe, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n eigenenWarenwert an die Produkte zu übertragen und die eigene Arbeitskraft ständig zu reproduzieren,kann über viele Jahre h<strong>in</strong>weg praktisch unverän<strong>de</strong>rt genutzt wer<strong>de</strong>n. Ja, weil die Arbeitskraftuntrennbarer <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>es lernfähigen Menschen ist, nimmt die Produktivität ihres E<strong>in</strong>satzessogar zu.279


Wenn Energie und Rohstoffe verbraucht s<strong>in</strong>d, existieren sie wertmäßig im neuen Produkt. AlsRohstoffe s<strong>in</strong>d sie nicht mehr verfügbar. Masch<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrer Lebensdauer beschränkt: Jemehr sie genutzt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto schneller verschleißen sie und müssen ersetzt wer<strong>de</strong>n. Die lebendigeArbeitskraft kennt e<strong>in</strong>e solche stoffliche Grenze <strong>de</strong>r eigenen Verwertung nicht; dafürsorgt die tagtägliche Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r eigenen Arbeitsfähigkeit. Welche Masch<strong>in</strong>e kanndas schon? Wertmäßig geht die Arbeitskraft wie zirkulieren<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> die Wertbildung e<strong>in</strong>.Gleichzeitig hat sie für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten <strong>de</strong>n Charme e<strong>in</strong>er komplizierten Masch<strong>in</strong>e, die über vieleJahre h<strong>in</strong>weg immer wie<strong>de</strong>r gekauft und praktisch mit unverän<strong>de</strong>rter Leistungsfühigkeit e<strong>in</strong>gesetztwer<strong>de</strong>n kann. Ja <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Regel ist es sogar so, dass diese Masch<strong>in</strong>e sich nicht nur außerhalbihrer Arbeitszeit für <strong>de</strong>n nächsten Arbeitstag selbständig regeniert, son<strong>de</strong>rn Erfahrungen ansammeltund daher im Laufe <strong>de</strong>r Zeit sogar immer besser funktioniert.Natürlich verschleißt die Arbeitsfähigkeit letztenen<strong>de</strong>s doch. <strong>Das</strong> weiß je<strong>de</strong>r ab e<strong>in</strong>em bestimmtenLebensalter von sich selbst sehr gut. Aber das geht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft und, abhängigvom Klassenkampf, auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Lohn e<strong>in</strong>. Dieser sichert Familie und Vermehrung, auch mediz<strong>in</strong>ischeVersorgung, Schutz vor Unfall und Invalidität und Unterhalt im Alter <strong>in</strong> bestimmtenGrenzen. Je höher die Kosten <strong>de</strong>r Arbeitskraft s<strong>in</strong>d, <strong>de</strong>sto mehr wird gleichzeitg <strong>de</strong>ren möglichstökonomische Abnutzung zur unternehmerischen Maxime – das plumpe "quick&dirty" aus <strong>de</strong>rFrühzeit <strong>de</strong>r Verwertungsmasch<strong>in</strong>e ist out. Statt<strong>de</strong>ssen gibt es Arbeitsschutzmassnahmen, Gymnastikam Computer, Biokost <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Kant<strong>in</strong>e, Yogakurse für <strong>de</strong>n Stressabbau und vieles mehr.Aber selbstverständlich steht über allem die Rationalisierung mit "Freisetzung" und "gesteigerterEffizienz", also mit noch mehr Belastung. Und dann gibt es die Überredung <strong>in</strong> die Rente,wenn <strong>de</strong>r Verschleiß spürbar wird, o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en schlichten Rausschmiß mit Abf<strong>in</strong>dung, weil manschnell und sauber (ohne Konflikte) die Zahl <strong>de</strong>r Mitarbeiter reduzieren will.Doch wie immer auch die Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d, unter <strong>de</strong>nen sich die Arbeitskraft verwertet: Diemenschliche Fähigkeit zur tagtäglichen Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r eigenen Arbeitsfähigkeit und dasDurchhaltevermögen über viele Arbeitsjahre bei großer körperlicher und psychischer Belastungbleibt erstaunlich und ist sozusagen e<strong>in</strong> Gratisdient für <strong>de</strong>n Arbeitskraftkäufer.48. Ist Geschichte nur e<strong>in</strong> wirres Knäuel aus vielen Milliar<strong>de</strong>n tagtäglicher Handlungen o<strong>de</strong>rliegt ihr e<strong>in</strong>e Richtung zugrun<strong>de</strong>?Die Vorstellung von Geschichte, die von <strong>de</strong>n Menschen selbst gemacht, aber eben nicht unterselbst gemachten Umstän<strong>de</strong>n gemacht wird 515 , die also tatsächlich aus <strong>de</strong>n vielen Milliar<strong>de</strong>n alltäglicherHandlungen besteht, wi<strong>de</strong>rspricht ke<strong>in</strong>eswegs unserer Vorstellung e<strong>in</strong>er geschichtlichenStruktur.Die Geschichte ist nicht regellos, nicht willkürlich. Sie hat e<strong>in</strong>e Struktur, die sich aus <strong>de</strong>r Notwendigkeit<strong>de</strong>r materiellen Existenzsicherung ableitet. Diese Struktur ergibt sich aus <strong>de</strong>r gesellschaftlichenAnwendung <strong>de</strong>r jeweiligen Produktivkräfte, ihrer Fortentwicklung durch Anwendungund <strong>de</strong>r daraus wie<strong>de</strong>r resultieren<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r sozialen Verhältnisse: E<strong>in</strong>facherAckerbau br<strong>in</strong>gt an<strong>de</strong>re Gesellschaftsstrukturen hervor als die Dreifel<strong>de</strong>rwirtschaft. Die Fabrikproduktionerfor<strong>de</strong>rt e<strong>in</strong>e an<strong>de</strong>re Gesellschaft als die auf <strong>de</strong>r Arbeitsteilung von Stadt und Landberuhen<strong>de</strong> feudale Ökonomie. Wir er<strong>in</strong>nern uns dabei an <strong>de</strong>n ersten Satz unserer Marx-Lektürezum Gegenstand <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie: "In <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens515<strong>Das</strong> ist es, was M. sagt: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unterselbstgewählten; son<strong>de</strong>rn unter unmittelbar vorgefun<strong>de</strong>nen, gegebenen und überlieferten Umstän<strong>de</strong>n." (MEW 8, S.115)280


gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse e<strong>in</strong>,Produktionsverhältnisse, die e<strong>in</strong>er bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfteentsprechen." (MEW 13, S.8)Diese Produktionsverhältnisse entstehen nicht zufällig, kennen <strong>in</strong> ihrer konkreten Ausprägungaber e<strong>in</strong>e nahezu unendliche Vielzahl von Variationen. In diesen Variationen <strong>de</strong>r gegenwärtigenkapitalistischen Gesellschaften spiegelt sich ihre über viele Generationen sich erstrecken<strong>de</strong> Vorgeschichtemit ihrem Arsenal an Erbstücken und ihrer langen Liste an Altlasten, die uns als Traditionenund Normen, als Werte und Kultur mit <strong>de</strong>r Vergangenheit verb<strong>in</strong><strong>de</strong>n.So weit so gut. Ob unser Verständnis für Geschichte ausdrücklich auf M.s Entwürfen aufbauto<strong>de</strong>r sich mehr pragmatisch aus unserem eigenen Leben ableitet, ist e<strong>in</strong>erlei. Es kommt aber daraufan, diese Geschichte als <strong>in</strong>ner-gesellschaftlichen Prozess zu verstehen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die Gesellschaftaus sich selbst heraus und im Wechselspiel mit an<strong>de</strong>ren Gesellschaften <strong>de</strong>n eigenen Entwicklungsprozessvorantreibt. Ob "große I<strong>de</strong>en" o<strong>de</strong>r "große Persönlichkeiten", ob "Revolutionen"o<strong>de</strong>r "Reformen": All das entwickelt sich und wirkt nur soweit, wie es mit <strong>de</strong>m Stand <strong>de</strong>rgesellschaftlichen Entwicklung zusammenpaßt. Es s<strong>in</strong>d nicht die I<strong>de</strong>en, die die Gesellschaft treiben.Es s<strong>in</strong>d die gesellschaftlichen Entwicklungen, die I<strong>de</strong>en hervorbr<strong>in</strong>gen und ihnen Wirkungsraumeröffnen. Nur mit diesen Grundannahmen bleiben wir zu M.s Analyse kompatibel undkönnen ihr folgen.Wie steht es mit uns? Wieweit s<strong>in</strong>d wir Akteure im geschichtlichen Prozess? Zunächst so wie allean<strong>de</strong>ren. Da spielt es erstmal ke<strong>in</strong>e Rolle, ob wir als <strong>pol</strong>itische Aktivisten versuchen, direkten E<strong>in</strong>flußauf ihren Verlauf zu nehmen, o<strong>de</strong>r ob wir <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Zeiten nur kommentieren und unserenbeson<strong>de</strong>ren persönlichen Beitrag zur Geschichte durch Unterlassung und Verzicht auf eigene<strong>pol</strong>itische Beiträge leisten. Je<strong>de</strong>r tut, was er kann. 516Nur e<strong>in</strong>es ist bei M. gewiß: Se<strong>in</strong>e Vorstellung e<strong>in</strong>es sich selbst aus <strong>de</strong>m <strong>in</strong>neren <strong>de</strong>r Gesellschaftheraus bewegen<strong>de</strong>n historischen Prozesses heißt eben nicht, dass alles von alle<strong>in</strong>e o<strong>de</strong>r imSelbstlauf o<strong>de</strong>r mit vorgegebener Richtung kommt. Die kapitalistische Produktionsweise formtsich nicht selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e friedliche und zukunftsorientierte Produktionsweise um. Alles, was passiert,passiert durch Handlungen. Wer e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en großen Streik erlebt hat, weiß, wie schnelldas, was uns normal ersche<strong>in</strong>t, plötzlich nicht mehr funktioniert. Alle Rä<strong>de</strong>r stehen dann wirklichstill. Besser: Stell dir e<strong>in</strong>fach mal vor, was passiert, wenn die Versorgung mit elektrischem Stromüber Wochen ausfällt. Dann wür<strong>de</strong>n wir leibhaftig sehen können, wie sich unsere Gesellschaftvor unseren Augen neu konfiguriert. Vornehm umschrieben...Ob Streik o<strong>de</strong>r Naturkatastrophe o<strong>de</strong>r technologisches Desaster: Auch wer gesehen hat, wiestabile Staaten <strong>in</strong> wenigen Monaten implodierten, weil ihnen die Menschen mehrheitlich dieGefolgschaft aufkündigten, hat anschaulich gelernt, dass eben doch alles vom tagtäglichen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rgreifen<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Menschen abhängt, so o<strong>de</strong>r so.Nur e<strong>in</strong>es muß hier offen bleiben: Wie man nämlich diesem milliar<strong>de</strong>nfachen Han<strong>de</strong>ln e<strong>in</strong>e Richtunggibt, vielleicht sogar irgendwann mal h<strong>in</strong> zur Überw<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise…<strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res großes M-Thema, für das wir mit <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie Vorarbeitenleisten.516Dennoch sei an das Bonmot er<strong>in</strong>nert, wonach unterlassene Taten sich durch e<strong>in</strong>en erstaunlichen Mangel an Wirkung, niemals aberdurch e<strong>in</strong>en Mangel an Folgen auszeichnen.281


49. Kann man sagen, dass e<strong>in</strong> großer <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s ökonomischen Klassenkampfs ebenso zumWohl <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten wie zum Wohl <strong>de</strong>r Arbeiter erfolgt, die ihn führen?<strong>Das</strong> kann man sehr wohl sagen, wenigstens dann, wenn man die Geschichte <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen kapitalistischenGesellschaften im Ganzen betrachtet. Der Klassenkampf funktioniert als e<strong>in</strong>e ArtFrühwarnsystem, das auf Bruchstellen im System h<strong>in</strong>weist und e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> kurzfristige Interessen befangenenKlasse auf die Sprünge helfen kann. <strong>Das</strong> heißt nicht, dass das immer so funktioniert.Aber praktisch alle durch Klassenkämpfe erzwungenen Zugeständnisse <strong>de</strong>r Unternehmer, vom8-Stun<strong>de</strong>n-Tag über Sozialversicherungen bis h<strong>in</strong> zu Mitbestimmungsmo<strong>de</strong>llen, haben ihnen geholfen,<strong>in</strong>nere Entwicklungshemmnisse, etwa die begrenzten Potentiale e<strong>in</strong>er extensiven Ausbeutung<strong>de</strong>r Arbeitskraft, zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n.S<strong>in</strong>d Klassenkämpfe, die von Gewerkschaften geführt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>shalb s<strong>in</strong>nlos? Haben sich dieMillionen Gewerkschafter, die über Jahrzehnte für die Verkürzung <strong>de</strong>r Arbeitszeit gekämpft haben,letztenen<strong>de</strong>s als "nützliche Idioten" <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s erwiesen? Wer die Sache so ansieht, hatwenig begriffen. Die Verkürzung <strong>de</strong>r Arbeitszeit war für die Betroffenen von buchstäblich vitalerBe<strong>de</strong>utung. Der Klassenkampf war und ist <strong>de</strong>shalb ebenso unvermeidlich wie die sich daraus ergeben<strong>de</strong>nneuen Perspektiven für alle Beteiligten.Wieweit sich die unvermeidlichen Kämpfe um die Verbesserung <strong>de</strong>r Arbeits- und Lebensverhältnissemöglicherweise zu e<strong>in</strong>em Kampf entwickeln können, <strong>de</strong>r dann um e<strong>in</strong>en grundsätzlichenWechsel <strong>de</strong>r Produktionsverhältnisse geführt wird, steht auf e<strong>in</strong>em an<strong>de</strong>ren Blatt, das nicht zudiesem Text gehört. Aber darauf läuft alles h<strong>in</strong>aus: Die Bruchstellen zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, die e<strong>in</strong>e Überw<strong>in</strong>dung<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise notwendig machen und ermöglichen.Wir er<strong>in</strong>nern uns: <strong>Das</strong> ist die persönliche Antriebskraft für M.s jahrzehntelange Beschäftigungmit <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise. Und wir sollten das für unsselbst im Auge behalten.50. Ist <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist durchweg e<strong>in</strong> technischer Neuerer? O<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d ihm klare Grenzengezogen?Die wirkungsvollste Ausnutzung <strong>de</strong>r Arbeitskraft be<strong>de</strong>utet für <strong>de</strong>n Regie führen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>istene<strong>in</strong>e Steigerung se<strong>in</strong>es Gew<strong>in</strong>ns. Er ist jetzt nicht mehr <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Händlerposition, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Produzentenum <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r Ware feilscht. Er hat alles <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Eigentum und alles, was am En<strong>de</strong>dieses Prozesses an verkäuflicher Ware herauskommt, gehört ihm.Je<strong>de</strong> technische Neuerung, mit <strong>de</strong>r die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeitskräfte gesteigert wird, liegt <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em unmittelbaren Interesse. Nur die kapitalistische Form <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses, <strong>de</strong>r ja die Kooperationerweitert und die lebendige Arbeit <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>erie zuordnet, kann die neuen technischenMöglichkeiten, <strong>in</strong>sbeson<strong>de</strong>re die Dampfkraft als neue Antriebskraft <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>erie, imgroßen Stil nutzen.Die historischen Darstellungen <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Revolution rücken meistens die Rolle <strong>de</strong>r Dampfkraft<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. <strong>Das</strong> kann man zwar mit bee<strong>in</strong>drucken<strong>de</strong>n dampfgeschwängerten Bil<strong>de</strong>rnillustrieren, ist aber <strong>de</strong>nnoch nur e<strong>in</strong> Viertel <strong>de</strong>s Zusammenhangs. Die <strong>in</strong>dustrielle Revolutionist ke<strong>in</strong> Produkt <strong>de</strong>r Technik, son<strong>de</strong>rn Aneignung und Verwertung von Technik. Und dabeig<strong>in</strong>gen die wesentlichen Impulse nicht von <strong>de</strong>r Dampfmasch<strong>in</strong>e, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n neuen Werkzeugmasch<strong>in</strong>enaus.Ohne Werkzeugmasch<strong>in</strong>e blieb die Dampfmasch<strong>in</strong>e, von ersten Anwendungen im Bergbau für<strong>de</strong>n Pumpenantrieb abgesehen, e<strong>in</strong>e Jahrmarktsattraktion. Erst nach<strong>de</strong>m es <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Manufakturgelungen war, <strong>de</strong>n Arbeitsprozess <strong>in</strong> e<strong>in</strong>fache <strong>Teil</strong>schritte zu zerlegen, öffnete sich e<strong>in</strong> Anwen-282


dungsfeld für <strong>de</strong>n neuen Masch<strong>in</strong>entyp. Die Werkzeugmasch<strong>in</strong>e imitiert die Handbewegung <strong>de</strong>sArbeiters, führt sie aber schneller, gleichmäßiger und vor allem mehrfach gleichzeitig aus. Erstwenn die Arbeitsschritte, die vorher <strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Handarbeit erledigt wur<strong>de</strong>n, durch Masch<strong>in</strong>en erledigtwer<strong>de</strong>n, werfen die neuen Masch<strong>in</strong>en die Frage nach <strong>de</strong>r Antriebskraft auf.Anfänglich ist es menschliche o<strong>de</strong>r tierische Körperkraft o<strong>de</strong>r preiswerte Wasser- und W<strong>in</strong>dkraft,mit <strong>de</strong>nen die neuen Werkzeugmasch<strong>in</strong>en zunächst <strong>de</strong>r Sp<strong>in</strong>nereien, später auch <strong>de</strong>r Webereienbetrieben wer<strong>de</strong>n. Die E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>r Dampfkraft erfolgt erst danach und zwar ebenso zögerlichwie die E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>r Werkzeugmasch<strong>in</strong>en zuvor. Denn ob Werkzeugmasch<strong>in</strong>e o<strong>de</strong>rDampfkraft: Ihre E<strong>in</strong>führung ist <strong>de</strong>shalb e<strong>in</strong> so wechselvoller und langwieriger Prozess, weil dieproduktive kapitalistische Anwendung nicht alle<strong>in</strong> an die Existenz <strong>de</strong>r Technik, son<strong>de</strong>rn an weitereBed<strong>in</strong>gungen geknüpft war.Erstens mußte die manuelle Arbeit aufhören, kostengünstiger als die Masch<strong>in</strong>enarbeit zu se<strong>in</strong>,entwe<strong>de</strong>r als Folge steigen<strong>de</strong>r Löhne o<strong>de</strong>r durch schlichten Mangel an Arbeitskräften o<strong>de</strong>r durch<strong>in</strong>dustrielle Fertigung <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en und damit durch S<strong>in</strong>ken ihrer Preise. Zweitens brauchte esfür <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>satz von Masch<strong>in</strong>en und Dampfkraft und die damit verbun<strong>de</strong>ne Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivitätdie Entwicklung entsprechend aufnahmefähiger Märkte. Deshalb setzt sichMasch<strong>in</strong>isierung und Dampfkraft <strong>in</strong> <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Branchen und Regionen zu unterschiedlichenZeiten und erst über e<strong>in</strong>en recht langen Zeitraum h<strong>in</strong>weg durch: Im Bergbau zur Verstärkung<strong>de</strong>r Pumpleistungen früher als <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Textil<strong>in</strong>dustrie, wo billige Frauen- und K<strong>in</strong><strong>de</strong>rarbeitdie E<strong>in</strong>führung verzögerte.Wir kommen <strong>in</strong> wenigen Kapiteln darauf zu sprechen, warum die steigen<strong>de</strong>n Löhne <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>1.</strong>Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts und die zunehmen<strong>de</strong>n Klassenkämpfe <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Betrieben mehr zurBeschleunigung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Revolution beigetragen haben als irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> "Technik<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt"o<strong>de</strong>r "Innovationstrieb" <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, wenn es auch unter <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten <strong>de</strong>r Zeit wahrhaftigbegabte Techniker und starke, erf<strong>in</strong>dungsreiche Persönlichkeiten gab.Verglichen damit nehmen sich heutige Nieten <strong>in</strong> Na<strong>de</strong>lstreifen mit ihren wechseln<strong>de</strong>n Geschäftsmo<strong>de</strong>llen,<strong>de</strong>signten F<strong>in</strong>anzprodukten und allgegenwärtigen Excel-Grafiken recht armseligaus. Doch armselig be<strong>de</strong>utet nicht ärmlich. Denn die heutigen Vertreter <strong>de</strong>r Klasse verdienentrotz<strong>de</strong>m sehr viel mehr als ihre wirklich kreativen und <strong>in</strong>novativen Vorgänger; und sie regierenüber viel mehr <strong>Kapital</strong> als diese und s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Lage, auch viel mehr Unheil zu stiften.5<strong>1.</strong> Ist M.s Analyse nicht schon wegen <strong>de</strong>r gravieren<strong>de</strong>n sozialen Verän<strong>de</strong>rungen seit 1865hoffnungslos veraltet?Die Frage hatten wir schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>leitung, aber man sollte sich immer wie<strong>de</strong>r damit ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzen.Immerh<strong>in</strong> ist es M.s Analyse, die uns die <strong>in</strong>neren Triebkräfte dieser sozialen Verän<strong>de</strong>rungenoffenlegt. Ist es wirklich so, dass soziale Verän<strong>de</strong>rungen e<strong>in</strong>er Theorie <strong>de</strong>r sozialen Verän<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n entziehen? Warum sollte ihre Gültigkeit an e<strong>in</strong>en zeitweiligen Zustanddieser sozialen Verhältnisse gebun<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>, wenn sich ansonsten <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Fundamenten <strong>de</strong>r Theorienoch nichts geän<strong>de</strong>rt hat?Natürlich konnte M. nicht voraussehen, wie und wo und wann sich Mechanisierung und <strong>Teil</strong>automatisierungdurchsetzen. M.s Bild vom <strong>Kapital</strong>ismus wur<strong>de</strong> durch die Schornste<strong>in</strong><strong>in</strong>dustriengeprägt. Ebenso g<strong>in</strong>g es <strong>de</strong>m Autor und allen an<strong>de</strong>ren heute noch leben<strong>de</strong>n Menschen jenseits<strong>de</strong>r 50. Natürlich wußte er so wenig wie wir vor 40 Jahren, dass e<strong>in</strong> großer <strong>Teil</strong> dieser urkapitalistischenIndustrien e<strong>in</strong>mal aus <strong>de</strong>n Vorreiterstaaten an die verme<strong>in</strong>tliche "Peripherie" <strong>de</strong>r kapitalistischenWelt verlagert wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Woher sollte M. 1865 wissen, welche Rolle die Elekt-283


onik <strong>in</strong> allen Bereichen mal spielen wür<strong>de</strong>? Er kannte nicht e<strong>in</strong>mal die produktive Anwendung<strong>de</strong>r Elektrizität.Die grandiose Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität seit M.s Zeit wür<strong>de</strong> ihn und se<strong>in</strong>e Zeitgenossennicht als Fakt, aber vermutlich <strong>de</strong>m Ausmaß nach überraschen. Wie auch nicht? Selbst fürdie Akteure dieses Prozesses ist er schließlich immer wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> Gegenstand staunen<strong>de</strong>r Lobhu<strong>de</strong>leien.Und dass sich auf diesem Weg zu hoher Arbeitsproduktivität <strong>de</strong>r Gesamtarbeiter nochweiter differenziert hat und e<strong>in</strong> großer Bereich von Dienstleistungen außerhalb <strong>de</strong>r eigentlichenProduktion entstehen konnte? M. wäre auch hier über das Ausmaß und das Tempo <strong>de</strong>r Differenzierung,nicht über die Tatsache selbst erstaunt.M. war ke<strong>in</strong> Prophet und hat ke<strong>in</strong>e Prophezeiungen verlautbart. Er ass ke<strong>in</strong>e Fliegenpilze, littnicht an Verzückungen und predigte ke<strong>in</strong>e Visionen. Aber mit <strong>de</strong>r Mehrwerttheorie lieferte eruns e<strong>in</strong> immens produktives Instrument zur Analyse dieser fortlaufen<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen um unsherum. Wichtig ist nur, dass se<strong>in</strong>e Analyse immer wie<strong>de</strong>r aktualisiert, also auf <strong>de</strong>n Stand <strong>de</strong>r eigenenZeit und Gesellschaft gehoben wird, so wie M. es von sich selbst stets gefor<strong>de</strong>rt hat. M.sErkenntnisse wollen angewen<strong>de</strong>t, nicht gepredigt wer<strong>de</strong>n. Er liefert uns die Schlüssel, aufschließenmüssen wir schon selber.Was immer Konzernchefs und Wirtschaftsgurus an Begründungen liefern und vielleicht sogarselber glauben: Ihren "Unternehmensphilosophien" und "Konzernstrategien" liegt <strong>de</strong>r Zwangzur Verwertung zugrun<strong>de</strong>, ob als absoluter o<strong>de</strong>r relativer Mehrwert. Diese Triebkräfte s<strong>in</strong>d esnach wie vor, die unsere Arbeitswelt und damit unsere Gesellschaft ständig verän<strong>de</strong>rn und natürlichauch zu Verän<strong>de</strong>rungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sozialen Struktur <strong>de</strong>r Arbeiterklasse führen. Wie wir imText schon zitierten: Der Kampf um <strong>de</strong>n relativen Mehrwert "revolutioniert durch und durch dietechnischen Prozesse <strong>de</strong>r Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen." 517Wir haben diese ständigen Verän<strong>de</strong>rungen mit Formulierungen wie "sozialer Wan<strong>de</strong>l", "Innovation","weltweiter Wettbewerb" und "globalisierte Welt" längst mehr o<strong>de</strong>r weniger ver<strong>in</strong>nerlicht.Wir haben uns an Masch<strong>in</strong>en und Montagebän<strong>de</strong>r, an Pausengymnastik und Supervis<strong>in</strong>g,an Schichtarbeit und flexible Arbeitszeiten, an Staus vor und nach <strong>de</strong>r Arbeit, an Fastfood zwischendurch,an Urlaubsritual und Psychotherapie, an Kostendruck und Psychodruck gewöhnt.Sie s<strong>in</strong>d zu e<strong>in</strong>em <strong>Teil</strong> unserer beschleunigten Lebensweise gewor<strong>de</strong>n.Und die meisten von uns teilen vielleicht die allgeme<strong>in</strong>e Wertschätzung für Geschw<strong>in</strong>digkeit undPünktlichkeit 518 , für Effizienz, Effektivität und ökonomischen E<strong>in</strong>satz <strong>de</strong>r Mittel. Vielleicht haltenwir das alles für natürliche o<strong>de</strong>r sogar für "<strong>de</strong>utsche", unbed<strong>in</strong>gt aber für erstrebenswerte Tugen<strong>de</strong>n.Wir kommen womöglich <strong>in</strong>s Schleu<strong>de</strong>rn, wenn uns <strong>de</strong>r Urlaubstrip mal mit Lebensweisen<strong>in</strong> Berührung br<strong>in</strong>gt, wo "unsere Werte" <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>ismus noch ke<strong>in</strong>eswegs alsunbed<strong>in</strong>gtes Muss akzeptiert s<strong>in</strong>d. Dann stöhnen wir womöglich und erf<strong>in</strong><strong>de</strong>n "Schlamperei"und "Faulheit" als Merkmale dieser und jener "Mentalität"... Auch wenn es sich bei genauerBetrachtung bei all <strong>de</strong>m Effizienz-Gere<strong>de</strong> nur um Schlagworte e<strong>in</strong>er Produktions- und Lebens-517s. Fußnote 268. Hier f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir auch die Schnittstelle von <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie zur Klassenanalyse und marxistischen Politik. Wieist die Arbeiterklasse geglie<strong>de</strong>rt? Welche Unterschie<strong>de</strong> <strong>in</strong> Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen, Lohnhöhe und Lohnform s<strong>in</strong>d zu beachten? Wie wird dieLohnabhängigkeit wahrgenommen und zu welchen E<strong>in</strong>stellungen verdichtet sich diese Sichtweise? Entsprechen<strong>de</strong>s gilt für die <strong>Kapital</strong>istenklasse,die ja ebenfalls ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches Bild bietet, son<strong>de</strong>rn sich <strong>in</strong> Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Interessen glie<strong>de</strong>rt.518Wenn auch unsere Urgroßeltern dieser Vergötterung <strong>de</strong>r Geschw<strong>in</strong>digkeit nur mit Verachtung und Angst begegnet wären und es füre<strong>in</strong>en Götzendienst wi<strong>de</strong>r die Natur erklärt hätten. <strong>Das</strong> sollten wir uns klar machen: Zwischen e<strong>in</strong>er Lebensweise, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen Postkutschene<strong>in</strong> Privileg <strong>de</strong>r Reichen waren und das Leben (ke<strong>in</strong>eswegs rosig-idyllisch) <strong>de</strong>m Wechsel von Tag und Nacht und <strong>de</strong>n Jahreszeiten folgte,und <strong>de</strong>r heutigen "Verzeitung" <strong>de</strong>s Lebens, das schon morgens mit <strong>de</strong>m Radiowecker e<strong>in</strong>en auf die M<strong>in</strong>ute festgelegten Tagesablauf eröffnet,liegen nur wenig mehr als 150 Jahre - e<strong>in</strong> historischer Klacks.284


weise han<strong>de</strong>lt, die uns <strong>in</strong> dieser entwickelten Form erst seit 5 Generationen, also gera<strong>de</strong> mal seit150 Jahren dressiert und <strong>de</strong>nnoch <strong>in</strong> ihren Bann schlägt. Diese Bannkraft ist gewaltig, ob unsdas gefällt o<strong>de</strong>r nicht.52. Warum ist <strong>de</strong>n Unternehmern wegen <strong>de</strong>r gestiegenen Löhne <strong>de</strong>r Mehrwert noch nichtausgegangen?Wir haben bereits darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass man die Lohnentwicklung nicht nom<strong>in</strong>ell und auchnicht alle<strong>in</strong> nach <strong>de</strong>r Kaufkraft, also als Reallohnentwicklung betrachten darf. Wichtigster Bezugspunktist die Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität und <strong>de</strong>ren E<strong>in</strong>fluß auf die Wertbildung.Wenn wir über gestiegene Löhne re<strong>de</strong>n wollen, dürfen wir nicht <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Preise bleiben,son<strong>de</strong>rn müssen die Wertbildung zum Ausgangspunkt nehmen.Sehen wir uns zunächst M.s Antwort an, um anschließend zu überlegen, welche Zusammenhängezu betrachten s<strong>in</strong>d. M. schreibt:"Mit <strong>de</strong>r Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit wächst die Produktenmasse, wor<strong>in</strong> sich e<strong>in</strong> bestimmter Wert,also auch Mehrwert von gegebner Größe, darstellt. Bei gleichbleiben<strong>de</strong>r und selbst bei fallen<strong>de</strong>rRate <strong>de</strong>s Mehrwerts, sofern sie nur langsamer fällt, als die Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit steigt,wächst die Masse <strong>de</strong>s Mehrprodukts.... Aber mit <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit geht,wie man gesehn, die Verwohlfeilerung <strong>de</strong>s Arbeiters, also wachsen<strong>de</strong> Rate <strong>de</strong>s Mehrwerts, Hand<strong>in</strong> Hand, selbst wenn <strong>de</strong>r reelle Arbeitslohn steigt. Er steigt nie verhältnismäßig mit <strong>de</strong>r Produktivität<strong>de</strong>r Arbeit. Derselbe variable <strong>Kapital</strong>wert setzt also mehr Arbeitskraft und daher mehr Arbeit<strong>in</strong> Bewegung. Derselbe konstante <strong>Kapital</strong>wert stellt sich <strong>in</strong> mehr Produktionsmitteln, d.h.mehr Arbeitsmitteln, Arbeitsmaterial und Hilfsstoffen dar, liefert also sowohl mehr Produktbildnerals Wertbildner o<strong>de</strong>r Arbeitse<strong>in</strong>sauger. Bei gleichbleiben<strong>de</strong>m und selbst abnehmen<strong>de</strong>m Wert<strong>de</strong>s Zusatzkapitals f<strong>in</strong><strong>de</strong>t daher beschleunigte Akkumulation statt. Nicht nur erweitert sich dieStufenleiter <strong>de</strong>r Reproduktion stofflich, son<strong>de</strong>rn die Produktion <strong>de</strong>s Mehrwerts wächst schnellerals <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>s Zusatzkapitals." (MEW 23, S.631)Man muß sich diesen Unterschied vor Augen führen: Die Höhe <strong>de</strong>s Lohns und die Menge <strong>de</strong>rdamit käuflichen Waren spielt sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Preise ab. Wenn wir fragen, ob <strong>de</strong>r Mehrwertausgeht, dürfen wir nicht <strong>in</strong> Preisen <strong>de</strong>nken, son<strong>de</strong>rn müssen nach <strong>de</strong>m Wert fragen. WelcheWert, also welche Masse an gesellschaftlicher Arbeit, repräsentiert das E<strong>in</strong>kommen e<strong>in</strong>es Arbeiterhaushaltsheute im Vergleich zu e<strong>in</strong>em Haushalt 1870. Es ist ke<strong>in</strong>eswegs übertrieben zu sagen,dass die Küchenmöbel (handma<strong>de</strong>) <strong>de</strong>s Arbeiterhaushalts 1870 mehr Wert repräsentierenals die gesamte Unterhaltungselektronik <strong>de</strong>s Arbeiterhaushalts von 2010. <strong>Das</strong> Denken <strong>in</strong> Preisstatt <strong>in</strong> Wert führt auf Abwege, wenn man über <strong>de</strong>n Mehrwert re<strong>de</strong>t.E<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer wichtigerer Zusammenhang ist aus M.s Äußerung ableitbar. Er hat die stoffliche Erweiterung<strong>de</strong>r Reproduktion vor Augen, aber das tatsächliche Ausmaß dieser Ausweitung <strong>in</strong> <strong>de</strong>nvergangenen 150 Jahren geht über M.s Annahmen und alle Erwartungen weit h<strong>in</strong>aus. Der Zusammenhangist e<strong>in</strong>fach: Wenn mit <strong>de</strong>mselben variablen <strong>Kapital</strong> mehr Produktmasse erzeugtwird, ist die gesellschaftliche Nachfrage schneller befriedigt. Es wer<strong>de</strong>n zusätzliche Arbeitskräftefür die produktive Nutzung frei. Die Sphäre <strong>de</strong>r Verwertung kann so fortlaufend ausge<strong>de</strong>hntwer<strong>de</strong>n. Neue Produkte und neue Branchen erschließen immer wie<strong>de</strong>r neue Verwertungsquellen.Die Expansion <strong>in</strong> neue und entwickelbare Märkte verschafft <strong>de</strong>r sich ausweiten<strong>de</strong>n Produktiondie ausreichen<strong>de</strong> neue Nachfrage. Plötzlich wächst die Zahl <strong>de</strong>r "Wertbildner o<strong>de</strong>r Arbeitskrafte<strong>in</strong>sauger"und mit ihr die Zahl <strong>de</strong>r Mehrwertquellen. Völlig konfliktfrei? Im Gegenteil.Den <strong>in</strong>neren Wi<strong>de</strong>rsprüchen dieses expansiven Prozesses wer<strong>de</strong>n wir an vielen Stellen immer285


wie<strong>de</strong>r begegnen, und wir wer<strong>de</strong>n sie unter <strong>de</strong>m Stichwort "Krise" ausführlicher diskutieren.53. Hat die Debatte über die M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsicherung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n M<strong>in</strong><strong>de</strong>stlohn irgen<strong>de</strong>twas mit <strong>de</strong>mWert <strong>de</strong>r Arbeitskraft zu tun?Nur <strong>in</strong>sofern, als sie <strong>Teil</strong> e<strong>in</strong>er Kampagne ist, die Löhne auf breiter Front abzusenken. M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsicherungz.B. für Hartz IV Empfänger o<strong>de</strong>r die jetzt vom DGB gefor<strong>de</strong>rten M<strong>in</strong><strong>de</strong>stlöhne s<strong>in</strong>d <strong>pol</strong>itischeSetzungen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen sich die bekämpfen<strong>de</strong>n Interessen äußern. Die M<strong>in</strong><strong>de</strong>stlöhne sollen<strong>de</strong>m Druck auf die Löhne e<strong>in</strong>e untere Schranke setzen; das ist also e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>fensive Gewerkschaftsfor<strong>de</strong>rung,die das <strong>de</strong>rzeitige, zu Gunsten <strong>de</strong>r Unternehmer verschobene Kräfteverhältniswie<strong>de</strong>rgibt. Der Streit um die M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsätze für Hartz IV Empfänger steht im selben Kontext: Jeniedriger diese Sätze, <strong>de</strong>sto niedriger s<strong>in</strong>d (nach Verständnis <strong>de</strong>r bürgerlichen Ökonomen) die"Anreizlöhne", die es <strong>de</strong>m Arbeitslosen "verlockend" ersche<strong>in</strong>en lassen, e<strong>in</strong>e Arbeit anzunehmen.Da es sogar an solchen "Jobs mit Anreizlöhnen" fehlt, hat diese Debatte freilich etwas Gespenstischesan sich.Auf was bürgerliche Ökonomen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang verfallen, <strong>de</strong>monstrierte im September2008 e<strong>in</strong> Professor Thießen. Der berechnete nämlich sehr medienwirksam auf <strong>de</strong>n Euro genau,was e<strong>in</strong> 170 cm großer Mann von 70 kg Körpergewicht als Lebensm<strong>in</strong>imum braucht: 132Euro pro Monat. Zu unserer Beruhigung s<strong>in</strong>d Wohnungs-, Strom- und Heizungskosten dar<strong>in</strong>nicht enthalten. Thießen empfiehlt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Studie <strong>de</strong>m Hartz-Opfer, Leitungswasser zu tr<strong>in</strong>kenund natürlich auf Alkohol und Zigaretten vollständig zu verzichten. 519 Für Kommunikation s<strong>in</strong>d 2Euro im Monat e<strong>in</strong>geplant; immerh<strong>in</strong> doppelt so viel wie für "Freizeit, Unterhaltung, Kultur".Diesem offenbar ger<strong>in</strong>gerwertigen Gut gönnt <strong>de</strong>r F<strong>in</strong>anzfachmann nur 1 Euro monatlich. 520Auch die Möblierung für die zwangsweise zugewiesene (am Wohnungsmarkt allerd<strong>in</strong>gs nichtvorhan<strong>de</strong>ne) Billigwohnung hält <strong>de</strong>r Professor für überflüssig, <strong>de</strong>nn Möbel bekommt man lautdieser Studie entwe<strong>de</strong>r umsonst (wo?) o<strong>de</strong>r als Altmöbel für 'nen Appel und 'n Ei. Nur sieht <strong>de</strong>rProfessor <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 132 Euro we<strong>de</strong>r Eier noch Äpfel vor. Aber Thießen ist großzügig und gönnt<strong>de</strong>m Hartz IV Empfänger tatsächlich e<strong>in</strong>en Fernseher, vermutlich, um sich f<strong>in</strong>anzwirtschaftlichauf <strong>de</strong>m Laufen<strong>de</strong>n zu halten. Nur kaputt gehen darf die Glotze nicht. Reparaturen und <strong>de</strong>rgleichenkommen bei Herrn Professor nicht vor.Bemerkenswert ist an Thießens Beitrag gar nicht mal <strong>de</strong>r Zynismus; da s<strong>in</strong>d wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ökonomieseit 200 Jahren e<strong>in</strong>iges gewöhnt. Viel trauriger ist die ernsthafte Debatte darüber <strong>in</strong> vielen Medien.Klar, die e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d empört über die frei erfun<strong>de</strong>nen Zahlen und die Reduzierung menschlicherBedürfnisse auf Aldi-Tütensuppen und Leitungswasser. Die an<strong>de</strong>ren f<strong>in</strong><strong>de</strong>n sie be<strong>de</strong>nkenswertund verkaufen uns mal wie<strong>de</strong>r, jetzt aber mit wissenschaftlichem Rückenw<strong>in</strong>d, die "völligüberhöhte M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsicherung" als Grund für die "fehlen<strong>de</strong> Arbeitsbereitschaft" <strong>de</strong>r Hartz-Opfer.Und darum g<strong>in</strong>g es schließlich bei <strong>de</strong>r Auftragsarbeit: Je<strong>de</strong> For<strong>de</strong>rung nach Erhöhung <strong>de</strong>r offensichtlichviel zu niedrigen Hartz-Leistungen muß sich plötzlich gegen diesen pseudoaka<strong>de</strong>mischenFlaturan<strong>de</strong>n rechtfertigen. Denn das ist <strong>de</strong>r Kernsatz aus Thießens Beitrag zur Politikberatung:"Auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>rzeit formulierten Ziele ist eher e<strong>in</strong> Absenken<strong>de</strong>r M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsicherung als e<strong>in</strong> Anstieg gerechtfertigt."519<strong>Das</strong> kl<strong>in</strong>gt, als habe Thießen aus jener englischen Flugschrift von 1770 abgekupfert, die wir bereits an an<strong>de</strong>rer Stelle zitierten. Dar<strong>in</strong>empört sich <strong>de</strong>r anonyme Autor auch über die unverschämt hohen Löhne. Er schreibt: "Man betrachte nur die haarsträuben<strong>de</strong> Masse vonÜberflüssigkeiten, die unsre Manufakturarbeiter verzehren, als da s<strong>in</strong>d Branntwe<strong>in</strong>, G<strong>in</strong>, Tee, Zucker, frem<strong>de</strong> Früchte, starkes Bier, gedruckteLe<strong>in</strong>wand, Schnupf- und Rauchtabak etc." (zit.n. MEW 23, S.627)520<strong>Das</strong> ist sogar <strong>de</strong>r BLÖD-Zeitung <strong>in</strong> ihrem reißerischen Bericht unangenehm aufgefallen. Denn ob die sich selbst unter Kommunikationo<strong>de</strong>r unter Kultur e<strong>in</strong>ordnet: Bei dieser Summe ist nicht e<strong>in</strong>mal das Billigblatt dr<strong>in</strong>.286


Natürlich hat Thießens Studie nichts mit Wissenschaft zu tun. <strong>Das</strong> ist e<strong>in</strong>e beauftragte Wortmeldunge<strong>in</strong>es gut bezahlten Propagandisten, <strong>de</strong>r das Glück hatte, e<strong>in</strong>en Wie<strong>de</strong>rvere<strong>in</strong>igungslehrstuhl<strong>in</strong> Chemnitz zu ergattern. Mit Steuergel<strong>de</strong>rn, aber <strong>in</strong> enger Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>rCommerzbank und <strong>de</strong>r Reuters AG, durfte er <strong>de</strong>n Studiengang "Investment Bank<strong>in</strong>g" fürDeutschland erf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. 521 Dazu qualifizierten ihn kurze Tätigkeiten als Devisenspekulant und Unternehmenscontroller.Für solche Figuren hätte Meister M., nach <strong>de</strong>m Chemnitz e<strong>in</strong>st benanntwar, nicht e<strong>in</strong>mal die Bezeichnung "Vulgärökonom" verwen<strong>de</strong>t.Wir empfehlen <strong>de</strong>m Investment-Fachmann Thießen unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Wie<strong>de</strong>rholung se<strong>in</strong>er Studiezur M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsicherung. Dann aber nicht e<strong>in</strong>fach als Gedankenexperiment mit <strong>de</strong>m Taschenrechner,wie bisher, son<strong>de</strong>rn zur M<strong>in</strong><strong>de</strong>stsicherung <strong>de</strong>r Wissenschaftlichkeit als echten Feldversuch.Wohlgemerkt: Nicht als Selbstversuch! Dafür ist e<strong>in</strong> <strong>de</strong>utscher Professor viel zu teuer. Aber vielleichtmit se<strong>in</strong>en Investment-Bank<strong>in</strong>g-Stu<strong>de</strong>nten? Dann hätte Thießen tatsächlich noch dieChance, <strong>in</strong> die Geschichte <strong>de</strong>r Wissenschaft e<strong>in</strong>zugehen: Als erster <strong>de</strong>utscher Lehrstuhlbesetzer,<strong>de</strong>r <strong>in</strong> Ausübung se<strong>in</strong>es Lehr- und Forschungsamtes von se<strong>in</strong>en Proban<strong>de</strong>n aus methodologischenund forschungsethischen Grün<strong>de</strong>n entstuhlt und vertrieben wur<strong>de</strong>.54. Ist <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ismus nicht tatsächlich e<strong>in</strong>e tolle Erfolgsgeschichte?Ist er. M. hat das immer wie<strong>de</strong>r betont, wo es ihm um die Entfaltung <strong>de</strong>r Produktivkräfte geht.Aber das ist nur e<strong>in</strong>e Seite… Es wäre <strong>in</strong>teressant, mal e<strong>in</strong>e Wirtschaftsgeschichte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismusals Geschichte <strong>de</strong>s Scheiterns zu schreiben. Wir me<strong>in</strong>en jetzt gar nicht die großen Katastrophen,die imperialen Eroberungs- und Vernichtungskriege. Bleiben wir bei <strong>de</strong>n "normalen" D<strong>in</strong>gen:Was hat nicht funktioniert? Welche Fehlentscheidungen haben welche kle<strong>in</strong>en und großenund gigantischen Pleiten ausgelöst? Welche wissenschaftlichen Ent<strong>de</strong>ckungen wur<strong>de</strong>n viel zuspät o<strong>de</strong>r auch überhaupt nicht genutzt o<strong>de</strong>r kurzfristigen Interessen geopfert? Wonach wirdüberhaupt nicht geforscht, weil es durch die Rendite-Optik nicht erfaßt wird? usw.Wir haben uns daran gewöhnt, dass man uns immer nur die Erfolge um die Ohren dröhnt: Aberselbst die wenigen Unternehmungen mit mehr als 100jähriger Geschichte wur<strong>de</strong>n ja auf <strong>de</strong>nTrümmern gescheiterter Unternehmen errichtet. Je<strong>de</strong>s Jahr verlassen zehntausen<strong>de</strong> Unternehmendas Profit-Rat(t)en-Rennen; und beileibe nicht nur kle<strong>in</strong>e Betriebe. Da man immer nur sehenkann, was übrig geblieben ist, halten wir das für die Geschichte <strong>de</strong>s Erfolgs, obwohl es doch genausoe<strong>in</strong>e Geschichte <strong>de</strong>s Scheiterns ist.Wir sehen nur das, was herauskommt. Aber vielleicht s<strong>in</strong>d ja viel bessere Lösungen, Erf<strong>in</strong>dungen,I<strong>de</strong>en auf <strong>de</strong>r Strecke geblieben, von <strong>de</strong>nen wir nie etwas hörten, weil sie unbeachtet bliebeno<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fach niemals <strong>in</strong> Angriff genommen wur<strong>de</strong>n. Und vielleicht nicht e<strong>in</strong>mal <strong>de</strong>shalb, weil siesystemwidrig waren, son<strong>de</strong>rn vielleicht nur aus <strong>de</strong>m simplen Grun<strong>de</strong>, weil für kurze Zeit die falschenInteressen dom<strong>in</strong>ierten. Als Edisons Erf<strong>in</strong>dung <strong>de</strong>r Glühbirne <strong>de</strong>m Geschäft mit <strong>de</strong>mLampenöl <strong>in</strong> USA <strong>de</strong>n Docht ausknipste, stürzte sich Rockefeller als Ölmagnat se<strong>in</strong>er Zeit mitMacht auf die Verbrennungsmotoren. Die zur selben Zeit schon stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Versuche mitElektromobilen wur<strong>de</strong>n jäh been<strong>de</strong>t. <strong>Das</strong> Ergebnis st<strong>in</strong>kt um uns herum.521Thießen gilt jetzt als seriöser Fachmann. In dieser Funktion wur<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>r Süd<strong>de</strong>utschen Zeitung am 2. April 2008 über die damalsschon kräftig rumoren<strong>de</strong> F<strong>in</strong>anzkrise <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA befragt. Se<strong>in</strong> Urteil: "Wir haben ke<strong>in</strong>e reale Krise, son<strong>de</strong>rn nur e<strong>in</strong>e Ängstlichkeitskrise."Kurz drauf knallt und kracht es im Gebälk <strong>de</strong>r Banken allerorten. Ziemlich ängstliche Ängstlichkeitskrise, Herr Professor, o<strong>de</strong>r? Unser Tip:Psychologie ist gut und schön und gehört nun mal dazu. Alles, was Menschen tun, muß ja irgendwie durch ihren Kopf h<strong>in</strong>durch. Aberwenn die Krise e<strong>in</strong> Produkt <strong>de</strong>r Ängstlichkeit ist: Woher kommt dann plötzlich die Ängstlichkeit nach so viel Mut und Übermut zur Spekulation?Klar ist das e<strong>in</strong>e schwierige Frage, Herr Professor, doch ke<strong>in</strong>e Angst: Es ist nicht verboten, h<strong>in</strong> und wie<strong>de</strong>r auch mal <strong>de</strong>n Ursachenauf <strong>de</strong>n Grund gehen. Wofür sonst sollten Universitäten und Wissenschaften gut se<strong>in</strong>?287


Der Trick, mit <strong>de</strong>m es <strong>de</strong>n Propagandisten <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s gel<strong>in</strong>gt, ihre Geschichte als sche<strong>in</strong>barimmerwähren<strong>de</strong> und ungetrübte Erfolgsgeschichte zu feiern, läßt sich am Dow Jones Börsen<strong>in</strong><strong>de</strong>xschön zeigen. <strong>Das</strong> ist <strong>de</strong>r Stammvater aller Wirtschafts<strong>in</strong>dikatoren, e<strong>in</strong>e Art Gottheit voll <strong>de</strong>rWeisheit mit zahlreichen Untergöttern, durch <strong>de</strong>ren Anrufung man uns täglich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tagesschauund <strong>in</strong> allen an<strong>de</strong>ren Fernsehsen<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>n Weisheiten <strong>de</strong>r Börse trimmt. Die Sache istnatürlich e<strong>in</strong> Riesenwitz, nur dass <strong>de</strong>n habgierigen Anlegern und superhektischen Börsianern vorlauter Habgier und Hektik die Po<strong>in</strong>te entgeht.Der Dow Jones Industrial In<strong>de</strong>x wur<strong>de</strong> 1896 gestartet und bestand damals aus 11 "angesehenenUnternehmen"; heute besteht er aus 30 "angesehenen Unternehmen". Nur General Electric gehörtedamals wie heute zu <strong>de</strong>n für würdig befun<strong>de</strong>nen Aktiengesellschaften. Und das ist <strong>de</strong>rganze Trick: Nur erfolgreiche Unternehmen kommen re<strong>in</strong>. Auch General Electric wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>nletzten 100 Jahren zweimal wegen schlechter Geschäftslage aus <strong>de</strong>m Dow Jones für e<strong>in</strong>ige Jahresuspendiert, um das Bild <strong>de</strong>s In<strong>de</strong>x nicht dauerhaft zu trüben. <strong>Das</strong> gilt heute immer noch: Unternehmen,die enttäuschen, wer<strong>de</strong>n durch die H<strong>in</strong>tertür entfernt und gegen bessere ausgetauscht.522Je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r zahlreichen Indizes hat nun e<strong>in</strong>mal zum obersten Ziel, e<strong>in</strong> fortdauern<strong>de</strong>s Wachstum zudokumentieren, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m die Krisen und Katastrophen nur als temporäre Abschwünge enthaltense<strong>in</strong> dürfen. So wur<strong>de</strong> das Trimmen <strong>de</strong>r Indizes von e<strong>in</strong>er Reklame-I<strong>de</strong>e zu e<strong>in</strong>em eigenen Geschäft.Warum auch nicht? Der In<strong>de</strong>x wur<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>m selben Zweck erfun<strong>de</strong>n wie zahlreiche an<strong>de</strong>repseudo-wissenschaftliche Hilfsmittel, mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sportsfreund <strong>in</strong> <strong>de</strong>r US-Sportpresseimmer schon genau ablesen konnte, welches Pferd o<strong>de</strong>r welcher Boxer o<strong>de</strong>r welcher Baseball-Club die Nase vorn haben wür<strong>de</strong> – o<strong>de</strong>r auch nicht. So konnte man für die eigenen Sportwettensche<strong>in</strong>bar rational entschei<strong>de</strong>n und die Unwägbarkeiten <strong>de</strong>s Glücks m<strong>in</strong>imieren – o<strong>de</strong>r auchnicht.Man wird jetzt vielleicht fragen: Was hat die Sportpresse mit <strong>de</strong>m Dow Jones zu tun? Sehr viel.Die Tricks <strong>de</strong>r Buchmacher dienten als Inspiration, um auch das Wetten an <strong>de</strong>r Börse populär zumachen. Deshalb kann es nicht überraschen, dass <strong>de</strong>r Dow Jones als Stammvater aller Indizesnicht von Ökonomen, son<strong>de</strong>rn von pfiffigen Reportern erfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Und auch heute verbirgtsich h<strong>in</strong>ter <strong>de</strong>r Betreiberfirma <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Dow Jones Indizes immer noch ke<strong>in</strong> wissenschaftlichesForschungs<strong>in</strong>stitut. Im Gegenteil: Dah<strong>in</strong>ter steckt <strong>de</strong>r vielleicht e<strong>in</strong>flußreichsteMe<strong>in</strong>ungskonzern für alles, was mit <strong>de</strong>r Wirtschaft zu tun hat. Auch heute wird nicht Analyse,son<strong>de</strong>rn wissenschaftlich verbrämte Wirtschafts<strong>pol</strong>itik betrieben, um vor allem die vielen Anlegermit kle<strong>in</strong>erer Börse börsenmäßig aufzumuntern und anzuspornen. Psychohygiene für die Her<strong>in</strong>gsschwärmezum Wohle <strong>de</strong>r dicken Fische."Die Dow Jones Consumer Media Group ist Herausgeber <strong>de</strong>s Wall Street Journal sowie von Barron’s,Market Watch und Far Eastern Economic Review. Die Dow Jones Enterprise Media Groupumfasst Dow Jones Newswires, Factiva, Dow Jones Client Solutions, Dow Jones In<strong>de</strong>xes undDow Jones F<strong>in</strong>ancial Information Services. Die Local Media Group ist Herausgeber von 8 regionalenTageszeitungen sowie 15 wöchentlich ersche<strong>in</strong>en<strong>de</strong>n Regionalzeitungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA. Darüberh<strong>in</strong>aus liefert Dow Jones Inhalte für CNBC und Radiostationen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA."(http://<strong>de</strong>.wikipedia.org/wiki/Dow_Jones)522Als <strong>de</strong>r Nasdaq100-In<strong>de</strong>x nach <strong>de</strong>m Platzen <strong>de</strong>r New Technology-Spekulation zwischen März 2000 und Oktober 2002 um 78% implodierte,wur<strong>de</strong> er eiligst beurlaubt und mit verläßlich ersche<strong>in</strong>en<strong>de</strong>n neuen Unternehmen rekonstruiert; standardmäßig s<strong>in</strong>d das die 100Technologiekonzerne mit <strong>de</strong>m jeweils höchsten Börsenwert. Wer rausfällt wird ersetzt. Erfolg auf Dauer garantiert. Der <strong>de</strong>utsche Nemax-In<strong>de</strong>x, <strong>de</strong>m dasselbe passierte, wur<strong>de</strong> 2002 sogar vollständig e<strong>in</strong>gestellt, um die Pleite nicht länger dokumentieren zu müssen.288


Der Dow Jones-Konzern hat über se<strong>in</strong>e Tochterfirma Dow Jones News GmbH seit 2004 se<strong>in</strong>enE<strong>in</strong>fluß als Nachrichtenzulieferer für Medien auch <strong>in</strong> Deutschland verstärkt. Die weltweite Produktionvon Wirtschaftsnachrichten unter <strong>de</strong>m Dow Jones Etikett betreibt <strong>de</strong>r ehemals <strong>in</strong> Familienbesitzbef<strong>in</strong>dliche Konzern seit 2007 als h<strong>in</strong>zu gekaufter Vasall im Reich <strong>de</strong>s MedienherrschersRupert Murdoch. Für 5,6 Mrd. US-Dollar gab Murdochs News Corporation <strong>de</strong>m me<strong>in</strong>ungsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>nDow Jones Konzern als neuer Tochtergesellschaft e<strong>in</strong>e noch breitere Plattform.Bleibt festzuhalten: Der Dow Jones wie se<strong>in</strong>e europäischen und asiatischen Nachahmer s<strong>in</strong>d aufOptimismus und Wachstum getrimmte Instrumente <strong>de</strong>r Wirtschaftspropaganda. Sie s<strong>in</strong>d nichte<strong>in</strong>mal beson<strong>de</strong>rs fundiert und erst recht ke<strong>in</strong> seriöses Spiegelbild <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Entwicklung.Wer wür<strong>de</strong> sich schon, wenn er auf die Spiele <strong>de</strong>r 2. Bun<strong>de</strong>sliga wettet, von <strong>de</strong>n Ergebnissen<strong>de</strong>r <strong>1.</strong> Bun<strong>de</strong>sliga abhängig machen? Bei <strong>de</strong>r nahezu irrational-religiösen Vorliebe <strong>de</strong>rBörsenfritzen für Indizes wun<strong>de</strong>rn wir uns auch nicht, wenn sich die tägliche Aus<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>rIndizes <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Medien ("..knackt er die 11000er Marke?..."; "...Dow Jones zeigt sich erholt...";"...ist lustlos..."; "...signalisiert gutes Klima...") als munter salba<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Quelle <strong>de</strong>s angewandtenWarenfetischismus erweist. Dubioser als e<strong>in</strong> x-beliebiger Börsenbericht im Fernsehen kann dieAus<strong>de</strong>utung tierischer E<strong>in</strong>gewei<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Vogelflugs durch die dafür bestallten Seher und Auguren<strong>in</strong> grauer Vorzeit auch nicht gewesen se<strong>in</strong>.55. Läßt sich das Gute am <strong>Kapital</strong>ismus nicht bewahren, wenn man gerechte Löhne e<strong>in</strong>führtund die Auswüchse beschnei<strong>de</strong>t? Was ist überhaupt von <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach "gerechterBezahlung" vor <strong>de</strong>m H<strong>in</strong>tergrund von M.s Werttheorie zu halten?Die Vorstellung, durch gerechte Löhne und entsprechen<strong>de</strong> gesetzliche Regelungen <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismuszu zähmen und se<strong>in</strong>e Stärken für <strong>de</strong>n Aufbau e<strong>in</strong>er befrie<strong>de</strong>ten kapitalistischen Gesellschaftzu nutzen... e<strong>in</strong> beliebter Traum. Wir hätten nichts dagegen, wenn viel mehr Menschenviel energischer bemüht wären, diesen Traum zu verwirklichen. Man kann dabei e<strong>in</strong>e Mengeüber <strong>de</strong>n Klassenkampf lernen.M. reitet so lange im <strong>1.</strong> Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" auf <strong>de</strong>m Mehrwert-Thema herum, weil unbed<strong>in</strong>gt<strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n soll, dass die Ausbeutung eben nicht aus <strong>de</strong>r ungerechten Verteilung von Profitenund Löhnen resultiert, obwohl diese Verteilung nach allen uns bekannten moralischen Wertsystemenzweifellos ungerecht ist. Ausbeutung <strong>de</strong>r Arbeitskraft ist für M. nicht <strong>de</strong>shalb Ausbeutung,weil zuwenig Lohn gezahlt wird. Und sie hört nicht auf, e<strong>in</strong> Interesse <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten zuse<strong>in</strong>, wenn mehr Lohn gezahlt wird. Im Gegenteil... dann wür<strong>de</strong> sogar die Verschärfung <strong>de</strong>rAusbeutung zu e<strong>in</strong>em neuen existentiellen Zwang.M. weist immer wie<strong>de</strong>r darauf h<strong>in</strong>, dass es e<strong>in</strong>e exakte Berechnung <strong>de</strong>s Lohns als Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraftgar nicht gibt. Deshalb ist ja auch die For<strong>de</strong>rung nach e<strong>in</strong>em "gerechten Lohn" ökonomischabsurd, wenn sie im Lohnkampf auch propagandistisch sehr wirksam ist. Denn die For<strong>de</strong>rungunterstellt, es gäbe e<strong>in</strong>e berechenbare Lohnhöhe, <strong>de</strong>ren Zahlung am En<strong>de</strong> für e<strong>in</strong>e ArtGleichstand zwischen <strong>Kapital</strong> und Arbeit und e<strong>in</strong> En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r "Ausbeutung" sorgt.Auch wenn die Gewerkschaften e<strong>in</strong>e solche Stärke erreichen sollten, um die 30 Stun<strong>de</strong>n Wochemit 20% Lohnerhöhung durchzusetzen, wäre das zwar e<strong>in</strong> schwerer Schlag gegen die Unternehmerund es wür<strong>de</strong> sich die Verteilung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Mehrwerts, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st vorübergehend,klar verschieben und dafür <strong>de</strong>r Klassenkampf erheblich verschärfen. Aber die Aneignung<strong>de</strong>s Mehrwerts durch die Eigentümer <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, <strong>de</strong>r Zwang zur ständigen <strong>Kapital</strong>verwertung,die Orientierung auf Aktienkurse und Rendite: All das wür<strong>de</strong> sich dadurch noch nicht än<strong>de</strong>rn,weil ja das zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>verhältnis und die darauf sich grün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Eigentumsverhältnissefortbestehen. Sorry, aber wir wer<strong>de</strong>n später noch sehen, dass dieser "Zwang289


zur Verwertung" e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Produktionsweise e<strong>in</strong>gebauter Mechanismus ist, <strong>de</strong>r sozusagen ihrHerz darstellt. Wer daran rüttelt, stellt die "Wer-Wen" Frage und muß sich auf e<strong>in</strong>e Menge gefaßtmachen; nicht nur auf Protestnoten <strong>de</strong>s Unternehmerverbands und gehässige Wahlkampagnen.Auch wenn alle <strong>Kapital</strong>isten und ihre Manager über Nacht durch göttliche E<strong>in</strong>gebung e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nfür Gerechtigkeit entwickeln wie Salomon <strong>in</strong> Bestform: Wür<strong>de</strong> sich die Ausrichtung <strong>de</strong>r Produktionan <strong>de</strong>n Profit<strong>in</strong>teressen <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten dadurch än<strong>de</strong>rn können? Vielleicht gäbe es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ersolch fabulösen Lage mit plötzlich lauter ehrlichen, von ihren Gewissen geplagten Unternehmernund Managern schlagartig mehr Spen<strong>de</strong>n, mehr Stiftungen, ke<strong>in</strong>e Steuerbetrüger und Bilanzfälschermehr - kurioser Traum. Aber wie lange? Denn selbst göttliche E<strong>in</strong>gebung alle<strong>in</strong> wür<strong>de</strong>nicht die kapitalistische Produktionsweise und ihre Zwangsgesetze <strong>de</strong>r Verwertung aufheben. ImGegenteil: Die Macht dieser Gesetze ist unerbittlich und sie wirken unabhängig vom Wollen undWünschen <strong>de</strong>r Akteure. Sie wür<strong>de</strong>n auch <strong>de</strong>n durch göttliches Wun<strong>de</strong>r jäh entstan<strong>de</strong>nen Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>nflugs wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong> das Reservat <strong>de</strong>r frommen Sonntagsre<strong>de</strong>n zurücktreiben.E<strong>in</strong>zelne <strong>Kapital</strong>isten und Manager mögen ehrliche Menschen se<strong>in</strong> und viele s<strong>in</strong>d es auch. AlsGesellschaftsklasse, die davon lebt, sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gegenseitigen Konkurrenz die Butter vom Brot zunehmen, wo <strong>de</strong>r Gew<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren ist, f<strong>in</strong><strong>de</strong>t die Hoffnung auf moralischeBesserung <strong>de</strong>s Systems ke<strong>in</strong>e Basis.Deswegen s<strong>in</strong>d alle Versuche, e<strong>in</strong>en auf <strong>de</strong>r Überzeugungsarbeit, auf missionarischer Bekehrungaufbauen<strong>de</strong>n "christlichen" o<strong>de</strong>r "islamischen" o<strong>de</strong>r "ethischen <strong>Kapital</strong>ismus" o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichenzu schaffen, zum Scheitern verurteilt - sofern sie überhaupt ernst geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d und nicht nur alsPlacebo bei kritischer Unruhe <strong>de</strong>r öffentlichen Debatte verordnet wer<strong>de</strong>n. Sie s<strong>in</strong>d nicht <strong>de</strong>shalbzum Scheitern verurteilt, weil "<strong>de</strong>r Mensch an sich" schlecht ist, son<strong>de</strong>rn weil die kapitalistischeProduktionsweise solche Verhältnisse be<strong>in</strong>haltet, die aus <strong>de</strong>m Universum menschlicher Eigenschaftenvornehmlich jene honoriert, die auch e<strong>in</strong>en guten Raubritter o<strong>de</strong>r erfolgreichen Piratenauszeichnen. Die miese Moral ist ebenso soziales Produkt <strong>de</strong>r Produktionsweise wie <strong>de</strong>r Klassenkampf.Aber: <strong>Das</strong> hat nichts mit Entschuldigungen zu tun. Denn je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne Manager, je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelneAktionär und Kouponschnei<strong>de</strong>r ist für das, was er tut, genauso verantwortlich, wie wir es fürunsere eigene Entscheidung s<strong>in</strong>d, uns antikapitalistisch zu organisieren o<strong>de</strong>r nicht.56. Gibt es bestimmte "bürgerliche Tugen<strong>de</strong>n" wie Sparsamkeit o<strong>de</strong>r Enthaltsamkeit, gibt esso etwas wie e<strong>in</strong>e "bürgerliche Ethik", die <strong>de</strong>n Aufstieg <strong>de</strong>r Bourgoisie erklärt?Warum wird e<strong>in</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Mehrwerts <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verwertungsprozess zurückgeführt? Weil <strong>de</strong>r erzeugteMehrwert über die Bedürfnisse <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>isten h<strong>in</strong>ausgeht? O<strong>de</strong>r kann <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Hals nicht vollbekommen? Ist das pure Habgier, womöglich mit Sparsamkeit o<strong>de</strong>r Geiz verknüpft? Alles dasund viel mehr. E<strong>in</strong>ige Kulturphilosophen br<strong>in</strong>gen die Entstehung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus mit e<strong>in</strong>er"protestantischen Ethik" <strong>de</strong>r Sparsamkeit, <strong>de</strong>s Bedürfnisverzichts und <strong>de</strong>r Arbeitsamkeit <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung.Jedoch kann man <strong>de</strong>m nur etwas abgew<strong>in</strong>nen, wenn man sich ganz auf das äußereBild, auf das Selbstbild <strong>de</strong>s Bürgertums verläßt. Im Predigen und Zitieren <strong>de</strong>r Bibel waren dieFabrikanten immer gut: Sparsam, ehrlich und fleißig se<strong>in</strong>! So wünscht man sich die "eigenen"Arbeiter. So will man selbst gesehen wer<strong>de</strong>n. So rechtfertigt man das eigene Wohlleben gegenüber<strong>de</strong>r Armut. Mit <strong>de</strong>r persönlichen Sparsamkeit und Ehrbarkeit kann es jedoch nicht so weither gewesen se<strong>in</strong>, wenn man sich <strong>de</strong>n wachsen<strong>de</strong>n Wohlstand <strong>de</strong>r neuen Klasse besieht, <strong>de</strong>rganz <strong>de</strong>r feudalen Lebensweise nachempfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>.290


Wie will man die um sich greifen<strong>de</strong> Prunksucht <strong>de</strong>r Fabrikanten und die schnell wachsen<strong>de</strong> Vergnügungs<strong>in</strong>dustrie<strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts mit <strong>de</strong>r Ethik <strong>de</strong>s Bedürfnisverzichts <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang br<strong>in</strong>gen?Die Fabrikantenvilla und <strong>de</strong>r Landsitz <strong>de</strong>s Fabrikanten wur<strong>de</strong>n zu e<strong>in</strong>er eigenständigenHerausfor<strong>de</strong>rung an die Architektur. Und das Vergnügen? Überall entstan<strong>de</strong>n kostspielige Etablissements,ganz auf die Bedürfnisse <strong>de</strong>r (männlichen) herrschen<strong>de</strong>n Klasse zugeschnitten. Nurwaren diese Spielcas<strong>in</strong>os und E<strong>de</strong>lbor<strong>de</strong>lle für Gentlemen als E<strong>in</strong>richtungen <strong>de</strong>r Doppelmoralwohl verborgen, im Unterschied zu <strong>de</strong>n elen<strong>de</strong>n Spelunken und Straßenstrichs für die nie<strong>de</strong>renKlassen, die aller Welt sichtbar waren und über die sich dann so vortrefflich moralisieren ließ.Mag die "protestantische Ethik" o<strong>de</strong>r st<strong>in</strong>knormaler Geiz <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Anfangsphase <strong>de</strong>n Aufstieg <strong>de</strong>rProduktionsweise geför<strong>de</strong>rt haben. E<strong>in</strong> kollektives Merkmal <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse war das nicht,vor allem nicht im historischen Verlauf, <strong>de</strong>n M. so charakterisiert: "In <strong>de</strong>n historischen Anfängen<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise - und je<strong>de</strong>r kapitalistische Parvenü (= Emporkömml<strong>in</strong>g)macht dies historische Stadium <strong>in</strong>dividuell durch - herrschen Bereicherungstrieb und Geiz als absoluteLei<strong>de</strong>nschaften vor." Er fügt dann jedoch h<strong>in</strong>zu: "Der Fortschritt <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionschafft nicht nur e<strong>in</strong>e Welt von Genüssen. Er öffnet mit <strong>de</strong>r Spekulation und <strong>de</strong>m Kreditwesentausend Quellen plötzlicher Bereicherung. Auf e<strong>in</strong>er gewissen Entwicklungshöhe wir<strong>de</strong><strong>in</strong> konventioneller Grad von Verschwendung, die zugleich Schaustellung <strong>de</strong>s Reichtums unddaher Kreditmittel ist, sogar zu e<strong>in</strong>er Geschäftsnotwendigkeit <strong>de</strong>s 'unglücklichen' <strong>Kapital</strong>isten.Der Luxus geht <strong>in</strong> die Repräsentationskosten <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s e<strong>in</strong>." (MEW 23, S.620) Und es dauertnicht lange, da "die Herrn <strong>Kapital</strong>isten", e<strong>in</strong>stens Propagandisten e<strong>in</strong>es sparsamen und enthaltsamenLebens, sich "seit lange <strong>in</strong> Lebe- und Weltmänner verwan<strong>de</strong>lt" zeigen (ebd., S.624).Die kapitalistische Produktionsweise herrscht heute <strong>in</strong> fast allen Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Welt, <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nenGesellschaften und Kulturen, e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> ganz unterschiedliche Traditionen, umgebenvon zahllosen Religionen und Wertsystemen. Dennoch gilt <strong>in</strong> allen das Gesetz <strong>de</strong>r Verwertung,angetrieben durch die Konkurrenz. Wenn General Motors, Toyota o<strong>de</strong>r Daimler e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>ereno<strong>de</strong>r gar ke<strong>in</strong>en Strich am G vermel<strong>de</strong>n sollten: Die Investoren klagen dann auf amerikanisch,japanisch o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch. Und weil es auch arabische und koreanische und mexicanische Investorengibt, wird auch arabisch, koreanisch und spanisch geklagt. Aber <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>r vielsprachigenKlage ist immer <strong>de</strong>rselbe: "Wir wollen unsern Strich am G zurück!" Mit welcher Ethik auch immer.57. Gibt es e<strong>in</strong> Gesetz <strong>de</strong>r absoluten Verelendung?E<strong>in</strong> solches Gesetz wur<strong>de</strong> von M. nicht formuliert, spukt aber durch die marxistische Literatur.Bei M. gibt es das von uns behan<strong>de</strong>lte absolute und allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation.Also nicht die "Verelendung", son<strong>de</strong>rn das Gesetz ist absolut, und zwar <strong>in</strong> <strong>de</strong>m vonuns dargelegten S<strong>in</strong>ne: Se<strong>in</strong>e Wirkung ist nach unserer Auffassung ebenso unbestreitbar wie diezahllosen "modifzieren<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>", von <strong>de</strong>nen M. bereits spricht.<strong>Das</strong> Gesetz e<strong>in</strong>er "absoluten Verelendung <strong>de</strong>r Arbeiterklasse", durch das sich über e<strong>in</strong>en längerenZeitraum unweigerlich die Lebensverhältnisse <strong>de</strong>r Arbeiterklasse verschlechtern, wur<strong>de</strong> vonM. we<strong>de</strong>r aufgestellt noch läßt es sich aus M.s Formulierung ableiten. Er schreibt zwar: "Es folgtdaher, daß im Maße wie <strong>Kapital</strong> akkumuliert, die Lage <strong>de</strong>s Arbeiters, welches immer se<strong>in</strong>e Zahlung,hoch o<strong>de</strong>r niedrig, sich verschlechtern muß." (MEW 23, S.675) Doch das ist nur e<strong>in</strong> Glied<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kette von Argumenten, mit <strong>de</strong>nen die Wirkungsweise <strong>de</strong>r Akkumulation unter <strong>de</strong>n klassischenBed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Jahre 1846 bis 1866 beschrieben wird. Und selbst hier wird we<strong>de</strong>r vone<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ken <strong>de</strong>r Löhne o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichen gesprochen; ausdrücklich gibt es sogar <strong>de</strong>n Vorbehalt291


"...welches immer se<strong>in</strong>e Zahlung, hoch o<strong>de</strong>r niedrig...". Die Verschlechterung bezieht sich aufdie "Lage <strong>de</strong>s Arbeiters" als Objekt <strong>de</strong>r kapitalistischen Verwertung: Ebenfalls unter <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungene<strong>in</strong>es nicht regulierten Arbeitsmarkts bei gleichzeitiger scharfer Konkurrenz zwischen<strong>de</strong>n Arbeitskräften.E<strong>in</strong> "Gesetz <strong>de</strong>r absoluten Verelendung" ist e<strong>in</strong>e nachträgliche Konstruktion, die offenbar aus<strong>de</strong>n 1940er Jahren stammt und sich dann <strong>in</strong> diversen Lehrbüchern <strong>de</strong>s Staatsmarxismus als <strong>pol</strong>itischeInterpretation breitgemacht hat. Noch als Folge davon f<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir <strong>in</strong> <strong>de</strong>r MEW 23 rund e<strong>in</strong>dutzend E<strong>in</strong>träge im Sachregister unter "Verelendung", obwohl das Wort selbst im Text garnicht vorkommt. 523523Lediglich im Band 3 <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" wird <strong>de</strong>r Begriff verwen<strong>de</strong>t, allerd<strong>in</strong>g <strong>in</strong> ganz an<strong>de</strong>rem Zusammenhang. Da schreibt M. im E<strong>in</strong>leitungskapitelzur Grundrente, wie die <strong>Kapital</strong>isierung <strong>de</strong>r Landwirtschaft das kapitalistische Grun<strong>de</strong>igentum von allen Verbrämungen befreitund auf re<strong>in</strong>es Privateigentum zurückgeführt habe, und fügt h<strong>in</strong>zu: "Wie alle ihre an<strong>de</strong>rn historischen Fortschritte, erkaufte sie auch diesenzunächst durch die völlige Verelendung <strong>de</strong>r unmittelbaren Produzenten." (MEW 25, S.631) Wie gesagt: An an<strong>de</strong>ren Stellen taucht dasWort Verelendung nicht auf – und schon gar nicht als Gesetz.292


Biografische AnmerkungenWalter Benjam<strong>in</strong> (1892-1940)Walter Benjam<strong>in</strong>, geboren 1892 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, war Journalist, Wissenschaftler, Schriftsteller, Kunstkritikerund Übersetzer mit breit gefächerten Interessen. Er publizierte zu Themen aus Theologie,Philosophie, Kunst und Geschichte und suchte nach neuen Formen <strong>de</strong>r Verarbeitung und Darstellung.Se<strong>in</strong>e Habilitationsschrift, Voraussetzung für e<strong>in</strong>e aka<strong>de</strong>mische Karriere, wur<strong>de</strong> 1925 von <strong>de</strong>rFrankfurter Universität abgelehnt. Begründung: Se<strong>in</strong>e Lebens- und Arbeitsweise erfülle nicht dieaka<strong>de</strong>mischen Normen.Ab 1924 befaßte sich Benjam<strong>in</strong> zunehmend mit marxistischer Theorie. Von 1926 bis 1927 hielter sich <strong>in</strong> Moskau auf. Seit 1929 verband ihn e<strong>in</strong>e enge Freundschaft mit Bertolt Brecht.1933 rettete sich Benjam<strong>in</strong> vor <strong>de</strong>n Nazis <strong>in</strong>s Pariser Exil. Dort, <strong>in</strong> bitterer Armut lebend, setzte erdie Arbeit an se<strong>in</strong>em unvollen<strong>de</strong>t gebliebenen Passagen-Werk fort. In neuen Formen <strong>de</strong>r Darstellungund Vermittlung sollte sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e materialistische Kulturgeschichte <strong>de</strong>r bürgerlichenWarengesellschaft <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts entfalten, repräsentiert duch die Architektur und sozialenFunktionen <strong>de</strong>r Pariser E<strong>in</strong>kaufspassagen.Als die Nazis Frankreich überfielen und Paris besetzten, mußte Walter Benjam<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Fluchtfortsetzen, die im französischen Grenzort Port Bou am fehlen<strong>de</strong>n spanischen Visum endgültigscheiterte. Am 26.9.1940 begeht Benjam<strong>in</strong> Selbstmord, um sich <strong>de</strong>r Auslieferung an die Gestapozu entziehen.Thomas Joseph Dunn<strong>in</strong>g (1799-1873)Dunn<strong>in</strong>g war Funktionär <strong>de</strong>r frühen englischen Gewerkschaftsbewegung und Publizist. Die e<strong>in</strong>zigeauff<strong>in</strong>dbare Spur zeigt uns Dunn<strong>in</strong>g als Sekretär <strong>de</strong>r "London Consolidated Society ofBookb<strong>in</strong><strong>de</strong>rs", <strong>de</strong>r <strong>in</strong> Streikkämpfen engagiert war und sich schon früh für e<strong>in</strong>e übergreifen<strong>de</strong>nationale Gewerkschaftsbewegung stark machte.Dunn<strong>in</strong>g ist uns heute nur noch durch das wun<strong>de</strong>rbare Zitat aus se<strong>in</strong>er Schrift "Tra<strong>de</strong>s’ Unionsand strikes: their philosophy and <strong>in</strong>tention" (London 1860, Seite 35f) bekannt, mit <strong>de</strong>m M. se<strong>in</strong>Kapitel zur ursprünglichen Akkumulation <strong>in</strong> England, also zur blutigen Vorgeschichte <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus,illustriert.Obwohl M. für das Zitat korrekt <strong>de</strong>n Autor nachweist, wird es oft fälschlicherweise als Marx-Zitat verwen<strong>de</strong>t.He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e (1797 - 1856)He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e wur<strong>de</strong> 1797 <strong>in</strong> Düsseldorf als Sohn <strong>de</strong>s jüdischen Tuchhändlers Samson He<strong>in</strong>egeboren. Nach e<strong>in</strong>em <strong>de</strong>primieren<strong>de</strong>n Bankpraktikum <strong>in</strong> Frankfurt wur<strong>de</strong> He<strong>in</strong>e 1816 nachHamburg geschickt, um im Bankhaus se<strong>in</strong>es Onkels Salomon He<strong>in</strong>e das Bankgewerbe zu erlernen.<strong>Das</strong> g<strong>in</strong>g gründlich daneben. 524 Als letzten Versuch, se<strong>in</strong>en Neffen Harry mit <strong>de</strong>n Gepflo-524Onkel Salomons (angebliche) Feststellung über se<strong>in</strong>en Neffen: "Hätt’ er gelernt was Rechtes, müsst er nicht schreiben Bücher" er<strong>in</strong>nertan e<strong>in</strong>en (angeblichen) Ausspruch von Frau Marx senior, <strong>de</strong>n M. gerne zum besten gab: "Wenn <strong>de</strong>r Karl viel <strong>Kapital</strong> gemacht hätte, stattüber '<strong>Kapital</strong>' zu schreiben, wäre es viel besser gewesen."293


genheiten <strong>de</strong>s Geschäftslebens vertraut zu machen, richtete ihm <strong>de</strong>r Onkel sogar e<strong>in</strong> eigenesGeschäft für Tuchwaren <strong>in</strong> Hamburg e<strong>in</strong>.Aber statt sich <strong>in</strong>s Hauptbuch zu vertiefen, war <strong>de</strong>r Inhaber unrettbar <strong>de</strong>r Dichtkunst und se<strong>in</strong>erCous<strong>in</strong>e Amalie verfallen, die nichts von ihm wissen wollte. Am En<strong>de</strong> verfielen auch die Wechselund Harry He<strong>in</strong>e & Co., Hamburg, g<strong>in</strong>gen bankrott.Von <strong>de</strong>n Hamburger Jahren blieb He<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>e lebenslange herzliche Abneigung gegen alles, wasnach Geschäftstüchtigkeit roch. Von se<strong>in</strong>er unerwi<strong>de</strong>rten Liebe blieb e<strong>in</strong> bis an <strong>de</strong>n Rand gefülltesReservoir an Liebesschmerz. Der Vorrat reichte, um mit frühen Gedichten 1821 auf sich aufmerksamzu machen und Jahre später (1827) auch se<strong>in</strong>en ersten Bestseller zu lan<strong>de</strong>n, das Buch<strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r.Nach se<strong>in</strong>er gescheiterten Karriere als Geschäftsmann f<strong>in</strong>anziert ihm Onkel Salomon ab 1819 e<strong>in</strong>Jurastudium <strong>in</strong> Bonn, Gött<strong>in</strong>gen und Berl<strong>in</strong>, das er 1825 mit <strong>de</strong>m Doktortitel abschließt. He<strong>in</strong>ehofft auf e<strong>in</strong>e juristische Karriere; se<strong>in</strong>e Neigung zu Austern und Champagner erfor<strong>de</strong>rt Barschaft.Doch auch se<strong>in</strong> Wechsel zum Christentum mit protestantischer Taufe br<strong>in</strong>gt ihm we<strong>de</strong>re<strong>in</strong>e Professur noch an<strong>de</strong>re Ehrungen e<strong>in</strong>. Letztlich e<strong>in</strong> Glück für die Literatur. He<strong>in</strong>es Entscheidung,se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt als frei schaffen<strong>de</strong>r Schriftsteller zu verdienen, folgt ebenso <strong>de</strong>rNeigung wie <strong>de</strong>r Not.Mit se<strong>in</strong>en Reisebil<strong>de</strong>rn (1826, 1827, 1830) hatte er bereits e<strong>in</strong> neues literarisches Genre begrün<strong>de</strong>t.Die geschickte Mischung aus journalistischem Bericht, aus Kunstkritik und Gedichten,aus Märchen und Sagen und viel <strong>pol</strong>itischer Satire f<strong>in</strong><strong>de</strong>n e<strong>in</strong> großes und begeistertes Publikum.Trotz <strong>de</strong>s Erfolgs lei<strong>de</strong>t He<strong>in</strong>e unter <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Verhältnissen, beson<strong>de</strong>rs unter <strong>de</strong>r Zensur. Ergeht 1831 nach Paris, um als Korrespon<strong>de</strong>nt für <strong>de</strong>utsche und französische Zeitungen zu arbeiten.Zwei Jahre später wird er <strong>in</strong> Paris durch das Verbot se<strong>in</strong>er Bücher <strong>in</strong> Preußen überrascht.1835 wer<strong>de</strong>n He<strong>in</strong>es Schriften auch <strong>in</strong> allen an<strong>de</strong>ren Staaten <strong>de</strong>s Deutschen Bun<strong>de</strong>s verboten.So wird Paris zu se<strong>in</strong>em Exil.Die Verhältnisse machen He<strong>in</strong>e, <strong>de</strong>n Sprachkünstler, zu e<strong>in</strong>em gefürchteten <strong>pol</strong>itischen Autor.Mit <strong>de</strong>n großen Versepen Deutschland, e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>termärchen (1844) und Atta Troll, e<strong>in</strong> Sommernachtstraum(1843) und mit se<strong>in</strong>en Zeitgedichten greift er <strong>in</strong> die <strong>pol</strong>itischen Debatten e<strong>in</strong>. ImJahre 1843 lernt <strong>de</strong>r <strong>in</strong>zwischen 46jährige He<strong>in</strong>e <strong>de</strong>n 25jährigen Karl Marx <strong>in</strong> Paris kennen. Bei<strong>de</strong>begegnen sich mit Respekt, arbeiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Projekten zusammen, verkehren auch privatmite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r. Zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nigen Freundschaft kommt es zwischen diesen bei<strong>de</strong>n so unterschiedlichenPersönlichkeiten freilich nicht.Seit 1845 verschlechtert sich He<strong>in</strong>es Gesundheitszustand. 525 Im Mai 1848 bricht er im Louvre zusammen.Es wird e<strong>in</strong>e Rückenmarkschw<strong>in</strong>dsucht diagnostiziert. He<strong>in</strong>e selbst glaubt an e<strong>in</strong>e Syphiliserkrankungund hat vermutlich recht. Bis zu se<strong>in</strong>em Tod im Februar 1856 ist He<strong>in</strong>e bettlägerig.Er bezeichnet die letzten acht Jahre se<strong>in</strong>es Lebens als se<strong>in</strong>e "Matratzengruft". In dieserZeit entstehen weitere Arbeiten voller Humor und Selbstironie, Verzweiflung und Zorn.Wer von He<strong>in</strong>e noch nichts gelesen hat, hat bisher viel versäumt. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>n großen <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>er Arbeitengibt es im Internet <strong>in</strong> guter Edition.525Am 14. Januar 1848 schreibt Friedrich Engels an M., <strong>de</strong>r <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> Brüssel Zuflucht suchen mußte, über He<strong>in</strong>es Erkrankung:"He<strong>in</strong>e ist am Kaputtgehen. Vor 14 Tagen war ich bei ihm, da lag er im Bett und hatte e<strong>in</strong>en Nervenanfall gehabt. Gestern war er auf,aber höchst elend. Er kann ke<strong>in</strong>e drei Schritt mehr gehen, er schleicht, an <strong>de</strong>n Mauern sich stützend, von Fauteuil bis ans Bett und viceversa. Dazu Lärm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hause, <strong>de</strong>r ihn verrückt macht, Schre<strong>in</strong>ern, Hämmern usw. Geistig ist er auch etwas ermattet." (MEW 27,S.110)294


http://www.zeno.org/Literatur/M/He<strong>in</strong>e,+He<strong>in</strong>richJenny Marx (1814-1881)Jenny Marx wur<strong>de</strong> am 12. Februar 1814 als Johanna Bertha Julie von Westphalen <strong>in</strong> Salzwe<strong>de</strong>lgeboren. Ihr Vater gehörte zum Kle<strong>in</strong>a<strong>de</strong>l und wur<strong>de</strong> als Beamter <strong>de</strong>s preußischen Staats nachTrier versetzt. Dort lernt Jenny, wie sie genannt wird, schon als junges Mädchen <strong>de</strong>n vier Jahrejüngeren Karl Marx kennen, mit <strong>de</strong>m sie sich 1836 verlobt. Wie ihr Verlobter <strong>in</strong>teressiert sichJenny seit ihrer Jugendzeit für soziale und <strong>pol</strong>itische Zeitfragen. Als sie schließlich 1843 gegen<strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand von Jennys Familie heiraten, beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong> hartes Leben, angefüllt mit <strong>pol</strong>itischerVerfolgung und materiellen Entbehrungen.Jenny Marx br<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Jahren 1844 bis 1857 sieben K<strong>in</strong><strong>de</strong>r zur Welt und muß <strong>de</strong>n frühen Todvon vier ihrer K<strong>in</strong><strong>de</strong>r erlei<strong>de</strong>n. Beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Tod ihres Sohnes Edgar 1855 im Alter von acht Jahrenstürzt sie <strong>in</strong> schwere Depressionen. Sie erkrankt 1860 an <strong>de</strong>n Pocken. 1867 wird bei JennyMarx e<strong>in</strong>e Krebserkrankung diagnostiziert. Nach jahrelangem Lei<strong>de</strong>n stirbt sie 1881 im Alter von67 Jahren <strong>in</strong> London.Über verschie<strong>de</strong>ne Stationen <strong>de</strong>s Exils folgt Jenny <strong>de</strong>m Gatten mit vier K<strong>in</strong><strong>de</strong>rn 1850 nach London,wo sie bis 1856 unter ärmlichen Bed<strong>in</strong>gungen praktisch nur von <strong>de</strong>n Zuwendungen <strong>de</strong>sFreun<strong>de</strong>s Friedrich Engels leben, <strong>de</strong>r selbst zu diesem Zeitpunkt nur über ger<strong>in</strong>ge E<strong>in</strong>künfte verfügt.Erst durch e<strong>in</strong>e Erbschaft Jennys 1856 und durch M.s Honorare als Journalist verbessernsich auch die Wohn- und Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Familie Marx. 526 Jenny kommentiert das sarkastischals ihren gradl<strong>in</strong>igen Weg <strong>in</strong> die Bürgerlichkeit.Jenny Marx kann als e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>r wenigen Menschen M.s Handschrift entziffern und erstellt für ihrenMann Re<strong>in</strong>schriften se<strong>in</strong>er zahlreichen Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften. Allen Zeugnissenzufolge hat sie nicht nur abgeschrieben, son<strong>de</strong>rn auch mit ihren kritischen Anmerkungeneigenen Anteil genommen. Sie erledigt e<strong>in</strong>en großen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nz mit Verlegern und<strong>pol</strong>itischen Gefährten, vor allem mit <strong>de</strong>nen, die M. nicht lei<strong>de</strong>n kann - und <strong>de</strong>ren Zahl ist groß.In diesen Jahren bezeichnet sich Jenny <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n gegenüber häufig als M.s "Sekretär". Wirdürfen wohl annehmen, dass dar<strong>in</strong> nicht nur Stolz auf diese Arbeit, son<strong>de</strong>rn auch e<strong>in</strong> bittererUnterton mitschw<strong>in</strong>gt, <strong>de</strong>r nicht nur <strong>de</strong>m egozentrischen Gatten gilt, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n gesellschaftlichenVerhältnissen, die Frauen nur wenig Entfaltung ließen.<strong>Das</strong> Leben als M.s Ehefrau war ganz sicher alles an<strong>de</strong>re als e<strong>in</strong>fach. Dennoch hat sie trotz allerEntbehrungen und Belastungen zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st nicht an M.s großer Begabung gezweifelt. Damit erweistsie sich als <strong>de</strong>utlich klüger als die meisten <strong>de</strong>r <strong>in</strong>tellektuellen Zeitgenossen. <strong>Das</strong>s trotz dieserBegabung <strong>de</strong>r Familie daraus ke<strong>in</strong> zuverlässiges E<strong>in</strong>kommen erwuchs, war nicht M. anzulas-526M.s Familienleben ist immer wie<strong>de</strong>r Stoff für zahllose Bücher und Beiträge <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Medien. Vermutlich nur <strong>de</strong>shalb, weil man dann nichtüber die Merkwürdigkeiten <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise schreiben muß. Lang und breit wird <strong>in</strong> diesen Homestories zur Marx Familydie Egozentrik <strong>de</strong>s Hausherrn angeprangert. Und natürlich wer<strong>de</strong>n se<strong>in</strong>e lei<strong>de</strong>r so schlecht dokumentierten Eskapa<strong>de</strong>n durchgehecheltund wichtige Fragen ventiliert: Verwen<strong>de</strong>te man bei Marxens Silbergeschirr? Lebte M., <strong>de</strong>r Vorkämpfer <strong>de</strong>s Proletariats, nicht irgendwiest<strong>in</strong>kbürgerlich? Darf man als erklärter Kommunist e<strong>in</strong>e Haushälter<strong>in</strong> a) haben und b) mit ihr schlafen? Da fühlt man sich nur anTucholskys Frage er<strong>in</strong>nert: Wann darf man eigentlich Kommunist se<strong>in</strong>?* Und dann die <strong>in</strong>timen Details: Warum ist M. nicht häufiger zumFriseur gegangen? Wo genau saßen bei ihm die Furunkeln? Hatte er Mundgeruch? usw.Im im großen und reichhaltigen Angebot an menscheln<strong>de</strong>r Marx-Literatur kann sich je<strong>de</strong>r nach Bedarf bedienen, nur zu. Klüger wird mandadurch nicht.* "Wenn e<strong>in</strong> Kommunist arm ist, dann sagen die Leute, er sei neidisch. Gehört er <strong>de</strong>m mittleren Bürgertum an, dann sagen die Leute, ersei e<strong>in</strong> Idiot, <strong>de</strong>nn er han<strong>de</strong>le gegen se<strong>in</strong>e eignen Interessen. Ist er aber reich, dann sagen sie, se<strong>in</strong>e Lebensführung stehe nicht mit se<strong>in</strong>enPr<strong>in</strong>zipien im E<strong>in</strong>klang. Worauf <strong>de</strong>nn zu fragen wäre: Wann darf man eigentlich Kommunist se<strong>in</strong> ?" (Peter Panter alias Kurt Tucholsky, <strong>in</strong>:Die Weltbühne, 3.1<strong>1.</strong>1931, Nr.44)295


ten. Er hätte wohl nicht gezögert, e<strong>in</strong>e gut dotierte Professorenstelle an e<strong>in</strong>er Universität zuübernehmen. Wenn man ihm jemals e<strong>in</strong>e angeboten hätte.M. war sich <strong>de</strong>r Opfer und Lei<strong>de</strong>n bewußt, die Jenny für ihre Liebe zu e<strong>in</strong>em cholerischen un<strong>de</strong>gozentrischen Genie ertragen mußte. Bevor se<strong>in</strong>e Tochter Laura <strong>de</strong>n französischen SozialistenPaul Lafargue heiratete, kehrte M. <strong>de</strong>n besorgten Vater heraus, drückt damit aber auch die eigenenSchuldgefühle aus. Er schreibt:"Vor <strong>de</strong>r endgültigen Regelung Ihrer Beziehungen zu Laura muß ich völlige Klarheit über ihreökonomischen Verhältnisse haben" und fährt dann fort: "Sie wissen, dass ich me<strong>in</strong> ganzes Vermögen<strong>de</strong>m revolutionären Kampf geopfert habe. Ich bedaure es nicht. Im Gegenteil. Wenn ichme<strong>in</strong> Leben noch e<strong>in</strong>mal beg<strong>in</strong>nen müßte, ich täte dasselbe. Nur wür<strong>de</strong> ich nicht heiraten. Soweites <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Macht steht, will ich me<strong>in</strong>e Tochter vor <strong>de</strong>n Klippen bewahren, an <strong>de</strong>nen dasLeben ihrer Mutter zerschellt ist." 527William Petty (1623-1687)Der Ökonom William Petty, <strong>de</strong>n M. wie<strong>de</strong>rholt für die Kühnheit se<strong>in</strong>er Gedanken lobt, war imbürgerlichen Leben e<strong>in</strong> ebenso kühner Abenteurer, <strong>de</strong>r vom e<strong>in</strong>fachen Schmuggel über dienormale Piraterie bis zum organisierten Landraub <strong>in</strong> Irland so ziemlich je<strong>de</strong>s e<strong>in</strong>trägliche Geschäftse<strong>in</strong>er Zeit betrieben hat. Im Unterschied zu an<strong>de</strong>ren verfügte er auch über die <strong>pol</strong>itischeGeschmeidigkeit, um se<strong>in</strong>e Schätze zu bewahren und se<strong>in</strong>e späteren Lebensjahre als e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>rreichsten Männer se<strong>in</strong>er Zeit zu genießen.Wegen se<strong>in</strong>er erfolgreichen Landräuberei <strong>in</strong> Irland wur<strong>de</strong> er von weniger erfolgreichen Landräubernverklagt - erfolglos. Wirksamer war Pettys Verteidigung, die mit <strong>de</strong>n Worten überliefert ist,er wer<strong>de</strong> Zeugen beibr<strong>in</strong>gen, "die durch e<strong>in</strong> 6 Zoll dickes Brett h<strong>in</strong>durchschwören." Für se<strong>in</strong>eErhebung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n A<strong>de</strong>lsstand wählte sich Petty als Familienmotto "virtute, non verbis", also:Durch Tugend, nicht durch Worte. Der Schmuggler, Pirat, Landräuber, Intrigant, Wissenschaftlerund Mathematiker Petty starb 1687 als schwerreicher Baronet.Petty verschaffte sich nach sechs abenteuerlichen Jahren auf See e<strong>in</strong>e umfassen<strong>de</strong> aka<strong>de</strong>mischeAusbildung, zunächst auf <strong>de</strong>m Jesuitencollege im französischen Caen, dann <strong>in</strong> Oxford. Wissenschaftlichtrat er als erfolgreicher Mediz<strong>in</strong>er und Mathematiker hervor, bevor er sich, schon reicherLandbesitzer, ernsthaft ökonomischen Fragen zuwen<strong>de</strong>te.Se<strong>in</strong>er Zeit und sozialen Stellung als Grundbesitzer entsprechend ist Petty <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em ökonomischenDenken noch stark auf die Rolle <strong>de</strong>r Landwirtschaft ausgerichtet. Er sagt vom stofflichenReichtum <strong>de</strong>r Gesellschaft: Die Arbeit ist se<strong>in</strong> Vater, die Er<strong>de</strong> se<strong>in</strong>e Mutter. Angetrieben von <strong>de</strong>mWunsch, <strong>de</strong>n Wert von Grundbesitz exakt zu ermitteln, entwickelt er e<strong>in</strong>e Arbeitswerttheorieund e<strong>in</strong>e Theorie über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s Mehrwerts. Als Mathematiker nutzt er erstmals statistischeVerfahren, z.B. zur Berechnung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit.Für M. markiert Petty <strong>de</strong>n Übergang zur klassischen <strong>pol</strong>itischen Ökonomie und Engels bezeichnetihn als Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen <strong>pol</strong>itischen Ökonomie.Petty ist e<strong>in</strong> schlagen<strong>de</strong>s Beispiel, dass unmoralischer Lebenswan<strong>de</strong>l nicht vor guten wissenschaftlichenLeistungen schützt. Vielleicht wur<strong>de</strong>n sie geför<strong>de</strong>rt durch se<strong>in</strong>e Lei<strong>de</strong>nschaft für dieMathematik. Vielleicht aber auch durch se<strong>in</strong>en ebenso lei<strong>de</strong>nschaftlichen Skeptizismus (und Zynismus<strong>in</strong> allen religiösen Fragen). Es wird von ihm berichtet, er habe verlangt, <strong>de</strong>n Jahrestag <strong>de</strong>r527MEW 31, S.518f296


von ihm mitbegrün<strong>de</strong>ten Royal Society auf <strong>de</strong>n Tag <strong>de</strong>s heiligen "ungläubigen" Thomas zu legen,<strong>de</strong>r als S<strong>in</strong>nbild <strong>de</strong>s Zweifels gilt.David Ricardo (1772-1823)Der Sohn e<strong>in</strong>es jüdischen Londoner Börsenmaklers verläßt mit 14 Jahren die Schule, um <strong>de</strong>m Vaterim Geschäft zu helfen. Er erweist sich als außeror<strong>de</strong>ntlich geschäftstüchtig und löst sich mitse<strong>in</strong>er Volljährigkeit aus <strong>de</strong>n familiären Fesseln.Als <strong>de</strong>r geschickteste Spekulant an <strong>de</strong>r Londoner Börse ist er schon mit 25 Jahren e<strong>in</strong>er <strong>de</strong>rreichsten Männer <strong>de</strong>r Stadt. Se<strong>in</strong>e Heirat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e christliche Familie und se<strong>in</strong> Reichtum, aber auchse<strong>in</strong> persönliches Ansehen <strong>in</strong> Börsenkreisen, verschaffen ihm e<strong>in</strong>e gehobene gesellschaftlicheStellung.Nicht mehr durch berufliche Pflichten e<strong>in</strong>geengt, zieht er sich mehr und mehr aus <strong>de</strong>m Geschäftslebenzurück und widmet sich <strong>in</strong>tensiv <strong>de</strong>r Mathematik, aber auch, mit eigenem Laboratorium,<strong>de</strong>r Physik, Chemie und Geologie. Alles an<strong>de</strong>re als e<strong>in</strong> Amateur auf diesen Gebieten,wird er Mitbegrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Geologischen Gesellschaft.Angeregt durch Adam Smith wen<strong>de</strong>t er sich seit 1799 auch theoretisch <strong>de</strong>r Ökonomie zu. Se<strong>in</strong>eerste Arbeit 1810 befaßt sich wegen <strong>de</strong>r damals auftreten<strong>de</strong>n Gel<strong>de</strong>ntwertung mit <strong>de</strong>r Geldwertstabilität("Der hohe Preis <strong>de</strong>r E<strong>de</strong>lmetalle, e<strong>in</strong> Beweis für die Entwertung <strong>de</strong>r Banknoten";High Price of Bullion, a Proof of the Depreciation of Bank Notes). Ironischerweise wur<strong>de</strong> gera<strong>de</strong>diese Arbeit, <strong>de</strong>ren Schlußfolgerungen sich später auch praktisch als falsch herausstellten, begeistertaufgenommen. Sie machte Ricardo zu e<strong>in</strong>em <strong>de</strong>r "Wirtschaftsweisen" se<strong>in</strong>er Zeit.Sechs Jahre vor se<strong>in</strong>em Tod ersche<strong>in</strong>t Ricardos Hauptwerk "Grundsätze <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomieund <strong>de</strong>r Besteuerung" (Pr<strong>in</strong>ciples of Political Economy and Taxation), das M. 35 Jahre später<strong>in</strong> <strong>de</strong>n höchsten Tönen lobt und <strong>de</strong>m er wichtige Anregungen verdankt.Aber die Resonanz auf Ricardos Meisterwerk ist gemischt. Se<strong>in</strong> Stern s<strong>in</strong>kt bereits. Als entschie<strong>de</strong>nerVertreter <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Bourgeoisie br<strong>in</strong>gt er es zwar bis <strong>in</strong>s Parlament. Doch se<strong>in</strong>e realistischeBehandlung <strong>de</strong>r neuen Klassenverhältnisse entspricht schon bald nicht mehr <strong>de</strong>m <strong>pol</strong>itökonomischenMa<strong>in</strong>stream se<strong>in</strong>er Zeit.Ricardo stirbt 1823, erst 51 Jahre alt. Es dauert nicht lange, da wird <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>stige i<strong>de</strong>ologischeSuperstar auf <strong>de</strong>n Krabbeltisch veralteter Theorien verbannt, von wo ihn M. auf produktive Weiseerlöst hat.Adam Smith (1723-1790)Adam Smith wur<strong>de</strong> 1723 <strong>in</strong> Schottland geboren. Mit 14 Jahren besuchte er die Universität vonGlasgow, wechselte dann für sechs Jahre auf die Universität von Oxford. Wegen <strong>de</strong>s miserablenZustands <strong>de</strong>r Universität <strong>in</strong> jenen Jahren bereitet er sich hauptsächlich durch Selbststudium aufdie Exam<strong>in</strong>a vor. Nach se<strong>in</strong>em Examen 1746 kehrte er nach Schottland zurück und hielt <strong>in</strong> Ed<strong>in</strong>burghöffentliche Vorlesungen über Literatur und Kunst. Der Erfolg <strong>de</strong>r Vorlesungen verschaffteihm neben e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>kommen auch e<strong>in</strong>e Professur für Logik an <strong>de</strong>r Universität Glasgow. Zusätzlichübernahm er <strong>de</strong>n Lehrstuhl für Ethik und Moralphilosophie und befaßte sich ab 1751 mitRechtswissenschaften und Politik.1763 erhält er e<strong>in</strong> lukratives Angebot: Wegen <strong>de</strong>r Zusage e<strong>in</strong>er Leibrente begleitet er die Söhne<strong>de</strong>s Herzogs von Buccleugh auf e<strong>in</strong>e zweijährige Frankreichreise. Dabei beg<strong>in</strong>nt er die Arbeit anse<strong>in</strong>em ökonomischen Hauptwerk – aus Langeweile sozusagen. Nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> se<strong>in</strong>er Tätigkeitals Hauslehrer 1766 gibt im die Leibrente <strong>de</strong>s Herzogs die gewünschte f<strong>in</strong>anzielle Unabhängig-297


keit. Zurückgezogen lebend befaßt er sich mit <strong>de</strong>r Fertigstellung se<strong>in</strong>es Buches über <strong>de</strong>n "Wohlstand<strong>de</strong>r Nationen" (An Inquiry <strong>in</strong>to the Nature and Causes of the Wealth of Nations).Von 1773 an lebt er <strong>in</strong> London, zunächst, um die letzten Korrekturen an se<strong>in</strong>em Werk fertigzustellen.Aber angeregt durch die Bekanntschaft mit <strong>de</strong>n führen<strong>de</strong>n Intellektuellen und KünstlernEnglands, führen die Korrekturen zu e<strong>in</strong>er vollständigen Überarbeitung. <strong>Das</strong> Werk wird 1776 <strong>in</strong>London mit großem Erfolg veröffentlicht.Schon <strong>de</strong>r erste Satz ist Programm: "Die jährliche Arbeit e<strong>in</strong>es Volkes ist die Quelle, aus <strong>de</strong>r esursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen D<strong>in</strong>gen <strong>de</strong>s Lebens versorgt wird, die esim Jahr über verbraucht."Smith kehrt nach Ersche<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>es Hauptwerks als weith<strong>in</strong> bekannter Mann nach Schottlandzurück. Durch se<strong>in</strong>e Ernennung zum Zollkommissar und Aufseher über die Salzsteuer wird erauch zum wohlhaben<strong>de</strong>n Mann. Er stirbt 1790 <strong>in</strong> Ed<strong>in</strong>burgh.Adam Smith war e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>drucken<strong>de</strong> und von <strong>de</strong>n Zeitgenossen bewun<strong>de</strong>rte Gestalt <strong>in</strong> <strong>de</strong>rschottisch-englischen Gesellschaft <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Die Herausstellung <strong>de</strong>r Arbeit als Quelle<strong>de</strong>s Reichtums war e<strong>in</strong>e schlagkräftige Waffe und machte ihn zum Chefi<strong>de</strong>ologen im Kampf <strong>de</strong>rjungen (arbeiten<strong>de</strong>n) Bourgeoisie gegen die feudalen Überreste und Privilegien <strong>de</strong>s (nicht arbeiten<strong>de</strong>n)A<strong>de</strong>ls.Smith' Stern verblaßte, nach<strong>de</strong>m sich die Bourgeoisie etabliert und als Fabrikbourgoisie die mo<strong>de</strong>rneArbeiterklasse hervorgebracht hatte. Nun war die "Arbeit als Quelle <strong>de</strong>s Reichtums", dasHerzstück se<strong>in</strong>er Theorie, mißverständlich und unerwünscht und wur<strong>de</strong> aus Smith' Werk verbannt.Smith wur<strong>de</strong> zu e<strong>in</strong>em Klassiker im schlechten S<strong>in</strong>ne, ähnlich wie Marx. Vor allem die Neoliberalenberufen sich auf Smith als Stammvater <strong>de</strong>s Liberalismus und nutzen se<strong>in</strong> Werk als Ste<strong>in</strong>bruchfür kontextfreie Zitate. Der Ökonom Galbraith formulierte das so: "Zusammen mit <strong>de</strong>m '<strong>Kapital</strong>'und <strong>de</strong>r 'Bibel' ist <strong>de</strong>r 'Wohlstand <strong>de</strong>r Nationen' e<strong>in</strong>es <strong>de</strong>r drei Bücher, auf die sich die Menschennach Belieben berufen dürfen, ohne das zw<strong>in</strong>gen<strong>de</strong> Gefühl, sie sollten sie gelesen haben."Paul M. Sweezy (1910-2004)Paul Marlor Sweezy wur<strong>de</strong> 1910 <strong>in</strong> New York als Sohn e<strong>in</strong>es Bankmanagers geboren. Er absolviertee<strong>in</strong>e aka<strong>de</strong>mische Karriere, die ihn nach e<strong>in</strong>em ersten Abschluß 1931 von <strong>de</strong>r HarvardUniversity an die London School of Economics brachte. Dort kam er mit marxistisch orientiertenWissenschaftlern <strong>in</strong> Kontakt; <strong>in</strong> <strong>de</strong>r damaligen Zeit für je<strong>de</strong>n aufgeschlossen jungen Aka<strong>de</strong>mikernahezu unvermeidlich.Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr an die Harvard University schrieb er 1933 se<strong>in</strong>e Doktorarbeit über Mono<strong>pol</strong>und Konkurrenz im englischen Kohlehan<strong>de</strong>l 1550-1800. Gleichzeitig hielt er Sem<strong>in</strong>are zurWirtschaftstheorie mit Marx als beson<strong>de</strong>rem Schwerpunkt. In diesem Zusammenhang entstandse<strong>in</strong>e zentrale Arbeit The Theory of Capitalist Development, die 1942 <strong>in</strong> <strong>de</strong>n USA und danach <strong>in</strong>e<strong>in</strong>gen dutzend Län<strong>de</strong>rn erschien und zahlreiche Auflagen erlebte; 1958 erschien die Arbeitauch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r BRD unter <strong>de</strong>m Titel "Theorie <strong>de</strong>r kapitalistischen Entwicklung". Beim ersten Marx-Revival <strong>in</strong> West<strong>de</strong>utschland <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 60er Jahren war es Sweezy's Buch, das von Zehntausen<strong>de</strong>ngelesen wur<strong>de</strong> und sie an die marxistische <strong>pol</strong>itische Ökonomie heranführte.Im II. Weltkrieg arbeitete Sweezy für die Forschungs- und Analyseabteilung <strong>de</strong>s Office of StrategicServices (OSS – Büro für Strategische Dienste), e<strong>in</strong>em Vorläufer <strong>de</strong>r Central Intelligence298


Agency (CIA). Zusammen mit an<strong>de</strong>ren bekannten Ökonomen und Wirtschaftshistorikern sorgteer dafür, dass wichtige Unterlagen über die Beteiligung von <strong>de</strong>utschen Konzernen an <strong>de</strong>n Verbrechen<strong>de</strong>r Nazis gesichert wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren gründliche Auswertung nach Kriegsen<strong>de</strong> aber <strong>de</strong>mbeg<strong>in</strong>nen<strong>de</strong>n Kalten Krieg zum Opfer fiel.Im Herbst 1945 kehrte Sweezy <strong>in</strong> die USA zurück, wo sich die relativ günstigen Zeiten für marxistischeWissenschaftler schlagartig än<strong>de</strong>rten; se<strong>in</strong>e Bewerbung um e<strong>in</strong>e Professur wur<strong>de</strong> abgelehnt.Die beg<strong>in</strong>nen<strong>de</strong> Hexenjagd auf alle L<strong>in</strong>ken, die vom US-Senator McCarthy organisiertwur<strong>de</strong>, führte Sweezy zu <strong>de</strong>m Entschluß, <strong>de</strong>r Universität für immer <strong>de</strong>n Rücken zu kehren. Nach<strong>de</strong>m Tod se<strong>in</strong>es Vaters machte ihn <strong>de</strong>ssen Vermögen zwar nicht zu e<strong>in</strong>em Krösus, aber für dieZukunft zu e<strong>in</strong>em f<strong>in</strong>anziell unabhängigen Wissenschaftler.Es beg<strong>in</strong>nt für Sweezy bis zu se<strong>in</strong>em Tod e<strong>in</strong>e wirklich fruchtbare Phase <strong>de</strong>r wissenschaftlichenArbeit. Die Liste se<strong>in</strong>er Beiträge zur marxistischen Theorie und Praxis ist lang. Zahlreiche wichtige<strong>in</strong>ternationale Debatten wur<strong>de</strong>n durch ihn und die von ihm stark geprägte Zeitschrift MonthlyReview angeregt. Diese Zeitschrift grün<strong>de</strong>te Sweezy zusammen mit an<strong>de</strong>ren L<strong>in</strong>ken im Jahre1949, mitten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r durch McCarthy entfachten Anti-Kommunisten-Hysterie. Bis heute istMonthly Review e<strong>in</strong>es <strong>de</strong>r wichtigen Sprachrohre <strong>de</strong>r sozialistischen Theorie und Praxis geblieben.Paul M. Sweezy starb am 27. Februar 2004. In e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er letzten Interviews (1999) schreibter <strong>de</strong>r "l<strong>in</strong>ken Debatte" folgen<strong>de</strong>n Satz <strong>in</strong>s Stammbuch, <strong>de</strong>n auch wir beherzigen sollten:"Me<strong>in</strong> Haupte<strong>in</strong>wand gegen die heutige, am Marxismus orientierte geistige Bewegung <strong>in</strong> <strong>de</strong>nUSA ist ihr ›Aka<strong>de</strong>mismus‹, wenn ich es mal so nennen darf. Diese Bewegung existiert faktischalle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r aka<strong>de</strong>mischen Sphäre, und sie teilt daher alle Schwächen, die dieser Sphäre geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong>anhaften – <strong>in</strong>sbeson<strong>de</strong>re die diszipl<strong>in</strong>äre Zersplitterung. In gewissem S<strong>in</strong>ne machen die(aka<strong>de</strong>mischen) Marxisten genau dasselbe wie ihre (nichtmarxistischen) Kollegen, nur eben mite<strong>in</strong>em marxistischen Touch. Und so verfangen sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vielzahl von <strong>in</strong>tellektuellen Spitzf<strong>in</strong>digkeitenund Sche<strong>in</strong><strong>de</strong>batten. Auch die marxistischen Ökonomen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen – weil diebürgerliche Ökonomie weitgehend mathematisch formalisiert ist – <strong>de</strong>r Ökonometrie verfallen,anstatt sich e<strong>in</strong>er alternativen, an <strong>de</strong>n historischen Gegebenheiten ansetzen<strong>de</strong>n, sozialwissenschaftlichgehaltvollen Interpretation <strong>de</strong>r Probleme zuzuwen<strong>de</strong>n."Eugen Varga (1879-1964)Der <strong>in</strong> Ungarn geborene marxistische Ökonom arbeitet nach <strong>de</strong>m Abschluß se<strong>in</strong>es Studiums 528als Wirtschaftsredakteur für die Presse <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratischen Partei Ungarns. 1918, nach <strong>de</strong>rbürgerlichen Umwälzung <strong>in</strong> Ungarn, wird Varga Universitätsprofessor. In <strong>de</strong>r ungarischen Räterepublikim März 1919 wird er Volkskommissar und Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s obersten Wirtschaftsrats.Nach <strong>de</strong>m Sturz <strong>de</strong>r Räterepublik im August 1919 lan<strong>de</strong>t Varga im österreichischen Internierungslager.Dort faßt er se<strong>in</strong>e Erfahrungen als Volkskommissar <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeit Diewirtschafts<strong>pol</strong>itiscben Probleme <strong>de</strong>r proletarischen Diktatur zusammen. 529528Varga schrieb se<strong>in</strong>e Doktorarbeit über "Antonomien bei Kant", <strong>de</strong>r wir wenigstens die folgen<strong>de</strong> Anekdote für Philosophen verdanken.Vargas Sohn kommt von <strong>de</strong>r Schule nach Hause und s<strong>in</strong>gt: "Der Eskimo lebt irgendwo, <strong>de</strong>nn irgendwo muß er ja leben. Lebt er nicht wo,<strong>de</strong>r Eskimo, so möchte es ke<strong>in</strong>en Eskimo geben. Stumpfs<strong>in</strong>n, Stumpfs<strong>in</strong>n, du me<strong>in</strong> Vergnügen". Varga hat se<strong>in</strong>en Sohn für dieses Liedausdrücklich gelobt, da er damit selbständig die <strong>in</strong>nere Struktur <strong>de</strong>s Kantschen ontologischen Gottesbeweises angewen<strong>de</strong>t habe.529Damit wur<strong>de</strong> Varga zum ersten und fast schon e<strong>in</strong>zigen Autor, <strong>de</strong>r sich praktisch-theoretisch mit <strong>de</strong>r Ökonomie <strong>de</strong>r Übergangszeit nache<strong>in</strong>er sozialistischen Revolution beschäftigte und <strong>de</strong>r (was zur Ignoranz gegenüber se<strong>in</strong>em Lebenswerk wesentlich beitrug) die wichtigeRolle <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Marktes für <strong>de</strong>n Sozialismus herausstellte. Die Arbeit ist <strong>in</strong> <strong>de</strong>n dreibändigen ausgewählten Werken enthalten.299


Als Vertreter <strong>de</strong>r KP Ungarns wird Varga 1920 Mitglied im Exekutivkomitee <strong>de</strong>r KommunistischenInternationale (KI), <strong>de</strong>m er bis 1931 angehört. Von 1927 bis 1947 ist er Leiter <strong>de</strong>s MoskauerInstituts für Weltwirtschaft und Welt<strong>pol</strong>itik. Von 1922 bis 1939 ersche<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>e berühmtenvierteljährlichen Berichte zur Lage <strong>de</strong>r Weltwirtschaft. Sie sollen die Politik <strong>de</strong>r KI auf die realenökonomischen Verhältnisse ausrichten. Der Erfolg ist beschränkt.<strong>E<strong>in</strong>e</strong>n wissenschaftlichen Triumpf errang Varga mit se<strong>in</strong>en Analysen und Prognosen zum Verlauf<strong>de</strong>r Weltwirtschaftskrise <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Jahren 1929 bis 1931, <strong>de</strong>ren Tiefe er im Unterschied zu allenKonjunkturforschungs<strong>in</strong>stituten <strong>de</strong>r Zeit viel früher und vor allem viel fundierter vorhersagte.Se<strong>in</strong>e umfangreichen Analysen zur Weltwirtschaftskrise wur<strong>de</strong>n Grundlage se<strong>in</strong>er Theorie von<strong>de</strong>r allgeme<strong>in</strong>en Krise <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus. Sie wur<strong>de</strong> zwar als Schlagwort, aber nicht <strong>in</strong> ihrer tatsächlichenBe<strong>de</strong>utung von <strong>de</strong>r KI <strong>pol</strong>itisch adaptiert und lebte auch nach <strong>de</strong>r Auflösung <strong>de</strong>r KIzum<strong>in</strong><strong>de</strong>st propagandistische weiter. 530Als Sachverständiger <strong>de</strong>r UdSSR nahm Varga an <strong>de</strong>r Weltwirtschaftskonferenz <strong>de</strong>s Völkerbunds1927 und an <strong>de</strong>r Potsdamer Konferenz 1945 teil, auf <strong>de</strong>r die vier Siegermächte über die ZukunftEuropas nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage Hitler-Deutschlands verhan<strong>de</strong>lten.In se<strong>in</strong>en Analyse <strong>de</strong>s neuen, keynesianisch geprägten <strong>Kapital</strong>ismus nach <strong>de</strong>m 2. Weltkrieg erkenntVarga, dass <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ismus als ökonomisches System e<strong>in</strong>e neue Stabilität gew<strong>in</strong>nenwür<strong>de</strong> und korrigiert se<strong>in</strong>e eigene Konzeption von <strong>de</strong>r Allgeme<strong>in</strong>en Krise. <strong>Das</strong> brachte ihm <strong>in</strong>Lehrbüchern <strong>de</strong>r UdSSR vorübergehend die E<strong>in</strong>ordnung als "bürgerlicher Ökonom" e<strong>in</strong>.Vargas E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Apparat <strong>de</strong>r KI h<strong>in</strong>terließ auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Analysen<strong>de</strong>utliche Spuren. Vor allem aber verh<strong>in</strong><strong>de</strong>rte sie viel zu lange e<strong>in</strong>e unbefangene Beschäftigungmit se<strong>in</strong>en Beiträgen, die ihn trotz allem als kenntnsreichen und durchaus kreativen Anwen<strong>de</strong>r<strong>de</strong>r marxistischen <strong>pol</strong>itischen Ökonomie auszeichnen. Und auch se<strong>in</strong>e Fehler s<strong>in</strong>d immerh<strong>in</strong> von<strong>de</strong>r lehrreichen Art.Lei<strong>de</strong>r s<strong>in</strong>d Vargas auf <strong>de</strong>utsch veröffentlichten Arbeiten nur noch antiquarisch zu bekommen.Empfehlenswert: Die dreibändige Ausgabe, erschienen im Pahl-Rugenste<strong>in</strong> Verlag (Köln, 1982)sowie die fünfbändige Ausgabe se<strong>in</strong>er Vierteljahresberichte für die KI im Verlag <strong>Das</strong> europäischeBuch (Berl<strong>in</strong> 1977).Zu dieser Schrift gibt es e<strong>in</strong>e vielsagen<strong>de</strong> Anekdote. Varga besucht nach se<strong>in</strong>er Entlassung aus <strong>de</strong>m Internierungslager als großer Freud-Verehrer <strong>de</strong>n Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Psychoanalyse. Freud rühmt sich sogar, Vargas Arbeit zu <strong>de</strong>n ökonomischen Problemen <strong>de</strong>r proletarischenDiktatur gelesen zu haben. Varga freut sich. Freud fährt fort: "Ich kann mir gar nicht vorstellen, Herr Professor Varga, dass sie <strong>de</strong>r Autor<strong>de</strong>s Buches s<strong>in</strong>d. Sie machen so gar nicht <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>es Sadisten." Zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st hat Freud die Tragweite <strong>de</strong>r Probleme, mit <strong>de</strong>nen sichVarga <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Schrift ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzte, vollkommen korrekt erkannt, wenn wir auch mit se<strong>in</strong>er Bewertung nicht übere<strong>in</strong>stimmen. Denn wersich Gedanken darüber macht, wie man im Jubel e<strong>in</strong>es revolutionären Sieges das schlagartige Abs<strong>in</strong>ken <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität verh<strong>in</strong><strong>de</strong>rnkann, tendiert wohl eher zur Selbstquälerei.530In <strong>de</strong>n Beratungen <strong>de</strong>r Kommunistischen Parteien nach <strong>de</strong>r Auflösung <strong>de</strong>r Kommunistischen Internationale (KI) tauchte das verkürzteKonzept von <strong>de</strong>r "allgeme<strong>in</strong>en Krise <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus" als "Epoche <strong>de</strong>s weltweiten Übergangs vom <strong>Kapital</strong>ismus zum Sozialismus" wie<strong>de</strong>rauf. Was aber für Varga ursprünglich e<strong>in</strong> empirisches und daher beständig zu überprüfen<strong>de</strong>s Konstrukt war und von <strong>de</strong>r KI bereits zu e<strong>in</strong>empropagandistischen Konzept verkürzt wur<strong>de</strong>, lebte jetzt nur noch als <strong>pol</strong>itische Formel weiter. Man versuchte, damit e<strong>in</strong>e größer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>Vielfalt von Parteien, die unter kommunistischer o<strong>de</strong>r sozialistischer Flagge segelten, zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st <strong>de</strong>m Ansche<strong>in</strong> nach zusammenzuhalten.300


Texte für die ZwischenlektüreKarl Marx: Aus <strong>de</strong>m Vorwort "Zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie"; vgl. MEW 13, S.8 ff.In <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige,von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse e<strong>in</strong>, Produktionsverhältnisse, die e<strong>in</strong>er bestimmtenEntwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnissebil<strong>de</strong>t die ökonomische Struktur <strong>de</strong>r Gesellschaft, die reale Basis, worauf siche<strong>in</strong> juristischer und <strong>pol</strong>itischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtse<strong>in</strong>sformenentsprechen.Die Produktionsweise <strong>de</strong>s materiellen Lebens bed<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>n sozialen, <strong>pol</strong>itischen und geistigen Lebensprozeßüberhaupt. Es ist nicht das Bewußtse<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Menschen, das ihr Se<strong>in</strong>, son<strong>de</strong>rn umgekehrtihr gesellschaftliches Se<strong>in</strong>, das ihr Bewußtse<strong>in</strong> bestimmt. Auf e<strong>in</strong>er gewissen Stufe ihrerEntwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rspruch mit <strong>de</strong>nvorhan<strong>de</strong>nen Produktionsverhältnissen o<strong>de</strong>r, was nur e<strong>in</strong> juristischer Ausdruck dafür ist, mit <strong>de</strong>nEigentumsverhältnissen, <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>ren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen<strong>de</strong>r Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse <strong>in</strong> Fesseln <strong>de</strong>rselben um. Es tritt dann e<strong>in</strong>e Epochesozialer Revolution e<strong>in</strong>.Mit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r ökonomischen Grundlage wälzt sich <strong>de</strong>r ganze ungeheure Überbaulangsamer o<strong>de</strong>r rascher um. In <strong>de</strong>r Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterschei<strong>de</strong>nzwischen <strong>de</strong>r materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatieren<strong>de</strong>n Umwälzung <strong>in</strong><strong>de</strong>n ökonomischen Produktionsbed<strong>in</strong>gungen und <strong>de</strong>n juristischen, <strong>pol</strong>itischen, religiösen, künstlerischeno<strong>de</strong>r philosophischen, kurz, i<strong>de</strong>ologischen Formen, wor<strong>in</strong> sich die Menschen diesesKonflikts bewußt wer<strong>de</strong>n und ihn ausfechten. Sowenig man das, was e<strong>in</strong> Individuum ist, nach<strong>de</strong>m beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man e<strong>in</strong>e solche Umwälzungsepocheaus ihrem Bewußtse<strong>in</strong> beurteilen, son<strong>de</strong>rn muß vielmehr dies Bewußtse<strong>in</strong> aus <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsprüchen<strong>de</strong>s materiellen Lebens, aus <strong>de</strong>m vorhan<strong>de</strong>nen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräftenund Produktionsverhältnissen erklären.<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt s<strong>in</strong>d, für die sieweit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellenExistenzbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>rselben im Schoß <strong>de</strong>r alten Gesellschaft selbst ausgebrütetwor<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, <strong>de</strong>nngenauer betrachtet wird sich stets f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, daß die Aufgabe selbst nur entspr<strong>in</strong>gt, wo die materiellenBed<strong>in</strong>gungen ihrer Lösung schon vorhan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r wenigstens im Prozeß ihres Wer<strong>de</strong>ns begriffens<strong>in</strong>d. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und mo<strong>de</strong>rn bürgerliche Produktionsweisenals progressive Epochen <strong>de</strong>r ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnetwer<strong>de</strong>n.Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse s<strong>in</strong>d die letzte antagonistische Form <strong>de</strong>s gesellschaftlichenProduktionsprozesses, antagonistisch nicht im S<strong>in</strong>n von <strong>in</strong>dividuellem Antagonismus, son<strong>de</strong>rne<strong>in</strong>es aus <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Individuen hervorwachsen<strong>de</strong>n Antagonismus,aber die im Schoß <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft sich entwickeln<strong>de</strong>n Produktivkräfteschaffen zugleich die materiellen Bed<strong>in</strong>gungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformationschließt daher die Vorgeschichte <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft ab.301


Friedrich Engels: Aus: Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühr<strong>in</strong>gs Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft; MEW 20, S.136-140Die <strong>pol</strong>itische Ökonomie, im weitesten S<strong>in</strong>ne, ist die Wissenschaft von <strong>de</strong>n Gesetzen, welche dieProduktion und <strong>de</strong>n Austausch <strong>de</strong>s materiellen Lebensunterhalts <strong>in</strong> <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaftbeherrschen. (...)Die Bed<strong>in</strong>gungen, unter <strong>de</strong>nen die Menschen produzieren und austauschen, wechseln von Landzu Land, und <strong>in</strong> je<strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r von Generation zu Generation. Die <strong>pol</strong>itische Ökonomiekann also nicht dieselbe se<strong>in</strong> für alle Län<strong>de</strong>r und für alle geschichtlichen Epochen. Vom Bogenund Pfeil, vom Ste<strong>in</strong>messer und nur ausnahmsweise vorkommen<strong>de</strong>n Tauschverkehr <strong>de</strong>s Wil<strong>de</strong>n,bis zur tausendpferdigen Dampfmasch<strong>in</strong>e, zum mechanischen Webstuhl, <strong>de</strong>n Eisenbahnen und<strong>de</strong>r Bank von England ist e<strong>in</strong> ungeheurer Abstand. Die Feuerlän<strong>de</strong>r br<strong>in</strong>gen es nicht zur Massenproduktionund zum Welthan<strong>de</strong>l, ebensowenig wie zur Wechselreiterei o<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>em Börsenkrach.Wer die <strong>pol</strong>itische Ökonomie Feuerlands unter dieselben Gesetze br<strong>in</strong>gen wollte mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>sheutigen Englands, wür<strong>de</strong> damit augensche<strong>in</strong>lich nichts zutage för<strong>de</strong>rn als <strong>de</strong>n allerbanalstenGeme<strong>in</strong>platz. Die <strong>pol</strong>itische Ökonomie ist somit wesentlich e<strong>in</strong>e historische Wissenschaft. Siebehan<strong>de</strong>lt e<strong>in</strong>en geschichtlichen, das heißt e<strong>in</strong>en stets wechseln<strong>de</strong>n Stoff; sie untersucht zunächstdie beson<strong>de</strong>rn Gesetze je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Entwicklungsstufe <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>s Austauschesund wird erst am Schluß dieser Untersuchung die wenigen, für Produktion und Austauschüberhaupt gelten<strong>de</strong>n, ganz allgeme<strong>in</strong>en Gesetze aufstellen können. Wobei es sich jedochvon selbst versteht, daß die für bestimmte Produktionsweisen und Austauschformen gültigenGesetze auch Gültigkeit haben für alle Geschichtsperio<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen jene Produktionsweisen undAustauschformen geme<strong>in</strong>sam s<strong>in</strong>d. So z.B. tritt mit <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>s Metallgel<strong>de</strong>s e<strong>in</strong>e Reihevon Gesetzen <strong>in</strong> Wirksamkeit, die für alle Län<strong>de</strong>r und Geschichtsabschnitte gültig bleibt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nenMetallgeld <strong>de</strong>n Austausch vermittelt.Mit <strong>de</strong>r Art und Weise <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>s Austausches e<strong>in</strong>er bestimmten geschichtlichenGesellschaft und mit <strong>de</strong>n geschichtlichen Vorbed<strong>in</strong>gungen dieser Gesellschaft ist auch gleichzeitiggegeben die Art und Weise <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r Produkte. In <strong>de</strong>r Stamm- o<strong>de</strong>r Dorfgeme<strong>in</strong><strong>de</strong>mit geme<strong>in</strong>samem Grun<strong>de</strong>igentum, mit <strong>de</strong>r, o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>ren sehr erkennbaren Überresten alleKulturvölker <strong>in</strong> die Geschichte e<strong>in</strong>treten, versieht sich e<strong>in</strong>e ziemlich gleichmäßige Verteilung <strong>de</strong>rProdukte ganz von selbst; wo größere Ungleichheit <strong>de</strong>r Verteilung unter <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>tritt,da ist sie auch schon e<strong>in</strong> Anzeichen <strong>de</strong>r beg<strong>in</strong>nen<strong>de</strong>n Auflösung <strong>de</strong>r Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>. – Der große wie<strong>de</strong>r kle<strong>in</strong>e Ackerbau lassen je nach <strong>de</strong>n geschichtlichen Vorbed<strong>in</strong>gungen, aus <strong>de</strong>nen sie sichentwickelt haben, sehr verschiedne Verteilungsformen zu. Aber es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß <strong>de</strong>rgroße stets e<strong>in</strong>e ganz andre Verteilung bed<strong>in</strong>gt als <strong>de</strong>r kle<strong>in</strong>e; daß <strong>de</strong>r große e<strong>in</strong>en Klassengegensatz– Sklavenhalter und Sklaven, Grundherren und Fronbauern, <strong>Kapital</strong>isten und Lohnarbeiter– voraussetzt o<strong>de</strong>r erzeugt, während beim kle<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> Klassenunterschied <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Ackerbauproduktiontätigen Individuen ke<strong>in</strong>eswegs bed<strong>in</strong>gt ist und im Gegenteil durch se<strong>in</strong> bloßes<strong>Das</strong>e<strong>in</strong> <strong>de</strong>n beg<strong>in</strong>nen<strong>de</strong>n Verfall <strong>de</strong>r Parzellenwirtschaft anzeigt. – Die E<strong>in</strong>führung und Verbreitung<strong>de</strong>s Metallgel<strong>de</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lan<strong>de</strong>, wo bisher ausschließlich o<strong>de</strong>r vorwiegend Naturalwirtschaftgalt, ist stets mit e<strong>in</strong>er langsamern o<strong>de</strong>r schnellern Umwälzung <strong>de</strong>r bisherigen Verteilungverbun<strong>de</strong>n, und zwar so, daß die Ungleichheit <strong>de</strong>r Verteilung unter <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen, also <strong>de</strong>r Gegensatzvon reich und arm, mehr und mehr gesteigert wird. – Der lokale, zünftige Handwerksbetrieb<strong>de</strong>s Mittelalters machte große <strong>Kapital</strong>isten und lebenslängliche Lohnarbeiter ebenso unmöglich,wie die mo<strong>de</strong>rne große Industrie, die heutige Kreditausbildung und die <strong>de</strong>r Entwicklungbei<strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong> Austauschform, die freie Konkurrenz, sie mit Notwendigkeit erzeugen.302


Mit <strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Verteilung aber treten die Klassenunterschie<strong>de</strong> auf. Die Gesellschaftteilt sich <strong>in</strong> bevorzugte und benachteiligte, ausbeuten<strong>de</strong> und ausgebeutete, herrschen<strong>de</strong>und beherrschte Klassen, und <strong>de</strong>r Staat, zu <strong>de</strong>m sich die naturwüchsigen Gruppen gleichstämmigerGeme<strong>in</strong><strong>de</strong>n zunächst nur behufs <strong>de</strong>r Wahrnehmung geme<strong>in</strong>samer Interessen (Berieselungim Orient z.B.) und wegen <strong>de</strong>s Schutzes nach außen fortentwickelt hatten, erhält von nun anebensosehr <strong>de</strong>n Zweck, die Lebens- und Herrschaftsbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n gegen diebeherrschte Klasse mit Gewalt aufrechtzuerhalten.Die Verteilung ist <strong>in</strong><strong>de</strong>s nicht e<strong>in</strong> bloßes passives Erzeugnis <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>s Austausches;sie wirkt ebensosehr zurück auf bei<strong>de</strong>. Je<strong>de</strong> neue Produktionsweise o<strong>de</strong>r Austauschform wird imAnfang gehemmt nicht nur durch die alten Formen und die ihnen entsprechen<strong>de</strong>n <strong>pol</strong>itischenE<strong>in</strong>richtungen, son<strong>de</strong>rn auch durch die alte Verteilungsweise. Sie muß sich die ihr entsprechen<strong>de</strong>Verteilung erst <strong>in</strong> langem Kampf err<strong>in</strong>gen. Aber je beweglicher, je mehr <strong>de</strong>r Ausbildung undEntwicklung fähig e<strong>in</strong>e gegebne Produktions- und Austauschweise ist, <strong>de</strong>sto rascher erreichtauch die Verteilung e<strong>in</strong>e Stufe, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sie ihrer Mutter über <strong>de</strong>n Kopf wächst, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sie mit <strong>de</strong>rbisherigen Art <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>s Austausches <strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rstreit gerät. Die alten naturwüchsigenGeme<strong>in</strong>wesen, von <strong>de</strong>nen schon die Re<strong>de</strong> war, können Jahrtausen<strong>de</strong> bestehn, wie bei In<strong>de</strong>rnund Slawen noch heute, ehe <strong>de</strong>r Verkehr mit <strong>de</strong>r Außenwelt <strong>in</strong> ihrem Innern die Vermögensunterschie<strong>de</strong>erzeugt, <strong>in</strong>folge <strong>de</strong>ren ihre Auflösung e<strong>in</strong>tritt. Die mo<strong>de</strong>rne kapitalistischeProduktion dagegen, die kaum dreihun<strong>de</strong>rt Jahre alt und erst seit E<strong>in</strong>führung <strong>de</strong>r großen Industrie,also seit hun<strong>de</strong>rt Jahren, herrschend gewor<strong>de</strong>n ist, hat <strong>in</strong> dieser kurzen Zeit Gegensätze <strong>de</strong>rVerteilung fertiggebracht – Konzentration <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ien <strong>in</strong> wenigen Hän<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>erseits, Konzentration<strong>de</strong>r besitzlosen Massen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n großen Städten andrerseits –, an <strong>de</strong>nen sie notwendigzugrun<strong>de</strong> geht.Der Zusammenhang <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>smaligen Verteilung mit <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>smaligen materiellen Existenzbed<strong>in</strong>gungene<strong>in</strong>er Gesellschaft liegt sosehr <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Sache, daß er sich im Volks<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt regelmäßigwi<strong>de</strong>rspiegelt. Solange e<strong>in</strong>e Produktionsweise sich im aufsteigen<strong>de</strong>n Ast ihrer Entwicklungbef<strong>in</strong><strong>de</strong>t, solange Jubeln ihr sogar diejenigen entgegen, die bei <strong>de</strong>r ihr entsprechen<strong>de</strong>n Verteilungsweise<strong>de</strong>n kürzern ziehn. So die englischen Arbeiter beim Aufkommen <strong>de</strong>r großen Industrie.Selbst solange diese Produktionsweise die gesellschaftlich-normale bleibt, herrscht imganzen Zufrie<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>r Verteilung, und erhebt sich E<strong>in</strong>spruch – dann aus <strong>de</strong>m Schoß <strong>de</strong>rherrschen<strong>de</strong>n Klasse selbst (Sa<strong>in</strong>t-Simon, Fourier, Owen) und f<strong>in</strong><strong>de</strong>t bei <strong>de</strong>r ausgebeuteten Masseerst recht ke<strong>in</strong>en Anklang. Erst wenn die fragliche Produktionsweise e<strong>in</strong> gut Stück ihres absteigen<strong>de</strong>nAsts h<strong>in</strong>ter sich, wenn sie sich halb überlebt hat, wenn die Bed<strong>in</strong>gungen ihres <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>sgroßenteils verschwun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d und ihr Nachfolger bereits an die Tür klopft – erst dann ersche<strong>in</strong>tdie immer ungleicher wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Verteilung als ungerecht, erst dann wird von <strong>de</strong>n überlebtenTatsachen an die sogenannte ewige Gerechtigkeit appelliert. Dieser Appell an die Moralund das Recht hilft uns wissenschaftlich ke<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>gerbreit weiter; die ökonomische Wissenschaftkann <strong>in</strong> <strong>de</strong>r sittlichen Entrüstung, und wäre sie noch so gerechtfertigt, ke<strong>in</strong>en Beweisgrundsehn, son<strong>de</strong>rn nur e<strong>in</strong> Symptom. Ihre Aufgabe ist vielmehr, die neu hervortreten<strong>de</strong>n gesellschaftlichenMißstän<strong>de</strong> als notwendige Folgen <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Produktionsweise, aber auchgleichzeitig als Anzeichen ihrer here<strong>in</strong>brechen<strong>de</strong>n Auflösung nachzuweisen, und <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>rsich auflösen<strong>de</strong>n ökonomischen Bewegungsform die Elemente <strong>de</strong>r zukünftigen, jene Mißstän<strong>de</strong>beseitigen<strong>de</strong>n, neuen Organisation <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>s Austausches aufzu<strong>de</strong>cken. Der Zorn,<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Poeten macht, ist bei <strong>de</strong>r Schil<strong>de</strong>rung dieser Mißstän<strong>de</strong> ganz am Platz, o<strong>de</strong>r auch beimAngriff gegen die, diese Mißstän<strong>de</strong> leugnen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r beschönigen<strong>de</strong>n Harmoniker im Dienst <strong>de</strong>r303


herrschen<strong>de</strong>n Klasse; wie wenig er aber für <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>smaligen Fall beweist, geht schon daraushervor, daß man <strong>in</strong> je<strong>de</strong>r Epoche <strong>de</strong>r ganzen bisherigen Geschichte Stoff genug für ihn f<strong>in</strong><strong>de</strong>t.Die <strong>pol</strong>itische Ökonomie als die Wissenschaft von <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen und Formen, unter <strong>de</strong>nendie verschiednen menschlichen Gesellschaften produziert und ausgetauscht und unter <strong>de</strong>nensich <strong>de</strong>mgemäß je<strong>de</strong>smal die Produkte verteilt haben – die <strong>pol</strong>itische Ökonomie <strong>in</strong> dieser Aus<strong>de</strong>hnungsoll jedoch erst geschaffen wer<strong>de</strong>n. Was wir von ökonomischer Wissenschaft bis jetztbesitzen, beschränkt sich fast ausschließlich auf die Genesis und Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktionsweise: es beg<strong>in</strong>nt mit <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r Reste <strong>de</strong>r feudalen Produktions- und Austauschformen,weist die Notwendigkeit ihrer Ersetzung durch kapitalistische Formen nach, entwickeltdann die Gesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise und ihrer entsprechen<strong>de</strong>n Austauschformennach <strong>de</strong>r positiven Seite h<strong>in</strong>, d.h. nach <strong>de</strong>r Seite, wonach sie die allgeme<strong>in</strong>en Gesellschaftszweckeför<strong>de</strong>rn, und schließt ab mit <strong>de</strong>r sozialistischen Kritik <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise,d.h. mit <strong>de</strong>r Darstellung ihrer Gesetze nach <strong>de</strong>r negativen Seite h<strong>in</strong>, mit <strong>de</strong>m Nachweis,daß diese Produktionsweise durch ihre eigne Entwicklung <strong>de</strong>m Punkt zutreibt, wo sie sichselbst unmöglich macht. Diese Kritik weist nach, daß die kapitalistischen Produktions- und Austauschformenmehr und mehr e<strong>in</strong>e unerträgliche Fessel wer<strong>de</strong>n für die Produktion selbst; daß<strong>de</strong>r durch jene Formen mit Notwendigkeit bed<strong>in</strong>gte Verteilungsmodus e<strong>in</strong>e Klassenlage von täglichsich steigern<strong>de</strong>r Unerträglichkeit erzeugt hat, <strong>de</strong>n sich täglich verschärfen<strong>de</strong>n Gegensatz vonimmer wenigem, aber immer reicheren <strong>Kapital</strong>isten und von immer zahlreicheren und im ganzenund großen immer schlechter gestellten besitzlosen Lohnarbeitern; und endlich, daß die <strong>in</strong>nerhalb<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise erzeugten, massenhaften Produktivkräfte, die von jenernicht mehr zu bändigen s<strong>in</strong>d, nur <strong>de</strong>r Besitzergreifung harren durch e<strong>in</strong>e zum planmäßigenZusammenwirken organisierte Gesellschaft, um allen Gesellschaftsglie<strong>de</strong>rn die Mittel zur Existenzund zu freier Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu sichern, und zwar <strong>in</strong> stets wachsen<strong>de</strong>m Maß.Karl Marx: Aus: E<strong>in</strong>leitung [zur Kritik <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie]; MEW 13, S.631 ff.Wenn wir e<strong>in</strong> gegebnes Land <strong>pol</strong>itisch-ökonomisch betrachten, so beg<strong>in</strong>nen wir mit se<strong>in</strong>er Bevölkerung,ihrer Verteilung <strong>in</strong> Klassen, Stadt, Land, See, <strong>de</strong>n verschiednen Produktionszweigen,Aus- und E<strong>in</strong>fuhr, jährlicher Produktion und Konsumtion, Warenpreisen etc.Es sche<strong>in</strong>t das Richtige zu se<strong>in</strong>, mit <strong>de</strong>m Realen und Konkreten, <strong>de</strong>r wirklichen Voraussetzung zubeg<strong>in</strong>nen, also z.B. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Ökonomie mit <strong>de</strong>r Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt<strong>de</strong>s ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. In<strong>de</strong>s zeigt sich dies bei näherer Betrachtung[als] falsch. Die Bevölkerung ist e<strong>in</strong>e Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus <strong>de</strong>nen sie besteht,weglasse. Diese Klassen s<strong>in</strong>d wie<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne,auf <strong>de</strong>nen sie beruhn, z.B. Lohnarbeit, <strong>Kapital</strong> etc. Diese unterstellen Austausch, <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit,Preise etc. <strong>Kapital</strong> z.B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. F<strong>in</strong>ge ich alsomit <strong>de</strong>r Bevölkerung an, so wäre das e<strong>in</strong>e chaotische Vorstellung <strong>de</strong>s Ganzen und durch nähereBestimmung wür<strong>de</strong> ich analytisch immer mehr auf e<strong>in</strong>fachere Begriffe kommen; von <strong>de</strong>m vorgestelltenKonkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>fachsten Bestimmungen angelangtwäre. Von da wäre nun die Reise wie<strong>de</strong>r rückwärts anzutreten, bis ich endlich wie<strong>de</strong>rbei <strong>de</strong>r Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei e<strong>in</strong>er chaotischen Vorstellung e<strong>in</strong>esGanzen, son<strong>de</strong>rn als e<strong>in</strong>er reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen. Der ersteWeg ist <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n die Ökonomie <strong>in</strong> ihrer Entstehung geschichtlich genommen hat. Die Ökonomen<strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts z.B. fangen immer mit <strong>de</strong>m lebendigen Ganzen, <strong>de</strong>r Bevölkerung,<strong>de</strong>r Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie en<strong>de</strong>n aber immer damit, daß sie durch Analyse304


e<strong>in</strong>ige bestimmen<strong>de</strong> abstrakte, allgeme<strong>in</strong>e Beziehungen, wie <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit, Geld, Wert etc.herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Sobald diese e<strong>in</strong>zelnen Momente mehr o<strong>de</strong>r weniger fixiert und abstrahiert waren,begannen die ökonomischen Systeme, die von <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>fachen, wie Arbeit, <strong>Teil</strong>ung <strong>de</strong>r Arbeit,Bedürfnis, Tauschwert, aufsteigen bis zum Staat, Austausch <strong>de</strong>r Nationen und Weltmarkt.<strong>Das</strong> letztre ist offenbar die wissenschaftlich richtige Metho<strong>de</strong>. <strong>Das</strong> Konkrete ist konkret, weil esdie Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also E<strong>in</strong>heit <strong>de</strong>s Mannigfaltigen. Im Denken ersche<strong>in</strong>tes daher als Prozeß <strong>de</strong>r Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleiches <strong>de</strong>r wirkliche Ausgangspunkt und daher auch <strong>de</strong>r Ausgangspunkt <strong>de</strong>r Anschauung und<strong>de</strong>r Vorstellung ist. Im ersten Weg wur<strong>de</strong> die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt;im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion <strong>de</strong>s Konkreten imWeg <strong>de</strong>s Denkens.Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat <strong>de</strong>s sich <strong>in</strong> sich zusammenfassen<strong>de</strong>n, <strong>in</strong>sich vertiefen<strong>de</strong>n und aus sich selbst sich bewegen<strong>de</strong>n Denkens zu fassen, während die Metho<strong>de</strong>,vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkreteanzueignen, es als e<strong>in</strong> geistig Konkretes zu reproduzieren. (...) <strong>Das</strong> Ganze, wie es im Kopfeals Gedankenganzes ersche<strong>in</strong>t, ist e<strong>in</strong> Produkt <strong>de</strong>s <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Kopfes, <strong>de</strong>r sich die Welt <strong>in</strong> <strong>de</strong>rihm e<strong>in</strong>zig möglichen Weise aneignet, e<strong>in</strong>er Weise, die verschie<strong>de</strong>n ist von <strong>de</strong>r künstlerischen,religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. <strong>Das</strong> reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb<strong>de</strong>s Kopfes <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Selbständigkeit bestehn; solange sich <strong>de</strong>r Kopf nämlich nur spekulativverhält, nur theoretisch. Auch bei <strong>de</strong>r theoretischen Metho<strong>de</strong> daher muß das Subjekt, dieGesellschaft, als Voraussetzung stets <strong>de</strong>r Vorstellung vorschweben.(...)Arbeit sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e ganz e<strong>in</strong>fache Kategorie. Auch die Vorstellung <strong>de</strong>rselben <strong>in</strong> dieser Allgeme<strong>in</strong>heit– als Arbeit überhaupt – ist uralt. Dennoch, ökonomisch <strong>in</strong> dieser E<strong>in</strong>fachheit gefaßt, ist'Arbeit' e<strong>in</strong>e ebenso mo<strong>de</strong>rne Kategorie wie die Verhältnisse, die diese e<strong>in</strong>fache Abstraktion erzeugen.(...)Die Gleichgültigkeit gegen e<strong>in</strong>e bestimmte Art <strong>de</strong>r Arbeit setzt e<strong>in</strong>e sehr entwickelte Totalitätwirklicher Arbeitsarten voraus, von <strong>de</strong>nen ke<strong>in</strong>e mehr die alles beherrschen<strong>de</strong> ist. So entstehndie allgeme<strong>in</strong>sten Abstraktionen überhaupt nur bei <strong>de</strong>r reichsten konkreten Entwicklung, wo e<strong>in</strong>esvielen geme<strong>in</strong>sam ersche<strong>in</strong>t, allen geme<strong>in</strong>. Dann hört es auf, nur <strong>in</strong> besondrer Form gedachtwer<strong>de</strong>n zu können. Andrerseits ist diese Abstraktion <strong>de</strong>r Arbeit überhaupt nicht nur das geistigeResultat e<strong>in</strong>er konkreten Totalität von Arbeiten. Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeitentspricht e<strong>in</strong>er Gesellschaftsform, wor<strong>in</strong> die Individuen mit Leichtigkeit aus e<strong>in</strong>er Arbeit <strong>in</strong> dieandre übergehn und die bestimmte Art <strong>de</strong>r Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist. Die Arbeitist hier nicht nur <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Kategorie, son<strong>de</strong>rn <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wirklichkeit als Mittel zum Schaffen <strong>de</strong>sReichtums überhaupt gewor<strong>de</strong>n und hat aufgehört, als Bestimmung mit <strong>de</strong>n Individuen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erBeson<strong>de</strong>rheit verwachsen zu se<strong>in</strong>.(...)Dies Beispiel <strong>de</strong>r Arbeit zeigt schlagend, wie selbst die abstraktesten Kategorien, trotz ihrer Gültigkeit– eben wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen, doch <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bestimmtheit dieser Abstraktionselbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse s<strong>in</strong>d und ihre Vollgültigkeit nurfür und <strong>in</strong>nerhalb dieser Verhältnisse besitzen.(...)Wie überhaupt bei je<strong>de</strong>r historischen, sozialen Wissenschaft, ist bei <strong>de</strong>m Gange <strong>de</strong>r ökonomischenKategorien immer festzuhalten, daß, wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wirklichkeit, so im Kopf, das Subjekt, hierdie mo<strong>de</strong>rne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>sformen,Existenzbestimmungen, oft nur e<strong>in</strong>zelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts,ausdrücken, und daß sie daher auch wissenschaftlich ke<strong>in</strong>eswegs da erst anfängt, wo nun305


von ihr als solcher die Re<strong>de</strong> ist. Dies ist festzuhalten, weil es gleich über die E<strong>in</strong>teilung Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>szur Hand gibt. Z.B. nichts sche<strong>in</strong>t naturgemäßer, als mit <strong>de</strong>r Grundrente zu beg<strong>in</strong>nen,<strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong>igentum, da es an die Er<strong>de</strong>, die Quelle aller Produktion und allen <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>s, gebun<strong>de</strong>nist, und an die erste Produktionsform aller e<strong>in</strong>igermaßen befestigten Gesellschaften – dieAgrikultur. Aber nichts wäre falscher. In allen Gesellschaftsformen ist es e<strong>in</strong>e bestimmte Produktion,die allen übrigen, und <strong>de</strong>ren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und E<strong>in</strong>fluß anweist.Es ist e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Beleuchtung, wor<strong>in</strong> alle übrigen Farben getaucht s<strong>in</strong>d und [die] sie<strong>in</strong> ihrer Beson<strong>de</strong>rheit modifiziert. Es ist e<strong>in</strong> besondrer Äther, <strong>de</strong>r das spezifische Gewicht alles <strong>in</strong>ihm hervorstehen<strong>de</strong>n <strong>Das</strong>e<strong>in</strong>s bestimmt.Paul M. Sweezy: Aus: Paul M. Sweezy: Theorie <strong>de</strong>r kapitalistischen Entwicklung (1942; dt. Frankfurt: SuhrkampVerlag 1970)Lukacs 531 sagt über Marx' Metho<strong>de</strong>, sie sei "<strong>in</strong> ihrem <strong>in</strong>nersten Wesen historisch". <strong>Das</strong> ist sicherlichrichtig, und ke<strong>in</strong>e Diskussion <strong>de</strong>s Problems, die das zu betonen vergißt, kann für befriedigendgelten.Für Marx besteht die soziale Wirklichkeit nicht so sehr aus e<strong>in</strong>er spezifischen Auswahl von Beziehungen,noch weniger aus e<strong>in</strong>em Konglomerat von D<strong>in</strong>gen. Sie ist <strong>de</strong>r Prozess <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung,<strong>de</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er spezifischen Auswahl von Beziehungen wesensmäßig vorhan<strong>de</strong>n ist. Mit an<strong>de</strong>renWorten: Die soziale Realität ist <strong>de</strong>r historische Prozess, e<strong>in</strong> Prozess, <strong>de</strong>r im Pr<strong>in</strong>zip ke<strong>in</strong>e Endlichkeitund ke<strong>in</strong>e Haltepunkte kennt. Soziale Systeme durchlaufen wie Individuen e<strong>in</strong>en Lebenszyklusund treten von <strong>de</strong>r Szene ab, wenn sie aus Entwicklungsformen <strong>de</strong>r Produktionskräfte zu ihrenFesseln wer<strong>de</strong>n. Der Prozess <strong>de</strong>r sozialen Verän<strong>de</strong>rung ist aber nicht re<strong>in</strong> mechanisch, er istdas Produkt menschlichen Han<strong>de</strong>lns, freilich e<strong>in</strong>es Han<strong>de</strong>lns, das durch die Art <strong>de</strong>r Gesellschaft,<strong>in</strong> <strong>de</strong>r es se<strong>in</strong>e Wurzeln hat, bestimmt begrenzt ist. Marx schreibt dazu: "Die Menschen machenihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten,son<strong>de</strong>rn unter unmittelbar vorgefun<strong>de</strong>nen, gegebenen und überlieferten Umstän<strong>de</strong>n." DieGesellschaft verän<strong>de</strong>rt sich und kann <strong>in</strong>nerhalb bestimmter Grenzen verän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.Konsequente Anhänglichkeit an diese Position führt zu e<strong>in</strong>em konsequenten historischen Zugangzu <strong>de</strong>n Sozialwissenschaften. Dieser erlaubt - und das ist nur e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>rer Aspekt <strong>de</strong>rselbenSache - e<strong>in</strong>e kritische Annäherung an je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>r Gesellschaft mit E<strong>in</strong>schluß <strong>de</strong>r gegenwärtigen.Man kann die Be<strong>de</strong>utung dieses Punktes schwerlich überschätzen. Es ist e<strong>in</strong> Merkmal <strong>de</strong>snicht-marxistischen Denkens, dass es <strong>de</strong>n Übergangscharakter aller früheren sozialen Ordnungenbegreifen kann, während ihm dieselbe kritische Fähigkeit mangelt, wenn es sich um das kapitalistischeSystem selbst han<strong>de</strong>lt. Dies trifft zweifellos bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad auf alle historischenEpochen zu, doch gibt es, wie wir später sehen wer<strong>de</strong>n, beson<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong>, warum esmit beson<strong>de</strong>rer Intensität auf unsere eigene zutrifft. Für <strong>de</strong>n typisch mo<strong>de</strong>rnen Denker hat es,wie Marx es formulierte, "e<strong>in</strong>e Geschichte gegeben, aber es gibt ke<strong>in</strong>e mehr." (…) Auf <strong>de</strong>r an-531Georg Lukacs (1885-1971) war e<strong>in</strong> ungarischer marxistischer Philosoph und Literaturwissenschaftler. Er hatte großen Anteil an <strong>de</strong>rHerausbildung e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>flußreichen l<strong>in</strong>ken Strömung unter <strong>de</strong>n europäischen Intellektuellen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1920er Jahren, nicht zuletzt <strong>de</strong>shalb,weil Lukacs sich niemals so recht mit <strong>de</strong>m offiziellen "Marxismus" <strong>de</strong>r kommunistischen Parteien anfreun<strong>de</strong>n konnte. <strong>Das</strong> hielt ihn nichtdavon ab, <strong>de</strong>ren Politik aktiv zu unterstützen. Während se<strong>in</strong>es Exils <strong>in</strong> <strong>de</strong>r UdSSR entg<strong>in</strong>g er nur durch öffentliche Selbstkritik <strong>de</strong>n Stal<strong>in</strong>'schenMordaktionen. Nach 1946 war er aktiver kommunistischer Politiker <strong>in</strong> Ungarn. Er nahm an <strong>de</strong>n Bestrebungen teil, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1950erJahren <strong>de</strong>n Sozialismus Stal<strong>in</strong>'scher Prägung zu überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Er wur<strong>de</strong> dafür 1956 verhaftet und aller Ämter enthoben. Der Ruf e<strong>in</strong>eskommunistischen Dissi<strong>de</strong>nten trug zu se<strong>in</strong>er schnell wachsen<strong>de</strong>n Popularität <strong>in</strong> Deutschland bei, als <strong>in</strong> <strong>de</strong>n 1960er Jahren e<strong>in</strong>e Art Revival<strong>de</strong>r marxistischen Theorie e<strong>in</strong>setzte. Lesenswert s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e Arbeiten, vor allem Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong>, allemal, wenn auchgewiß nicht e<strong>in</strong>fach.306


<strong>de</strong>ren Seite <strong>in</strong>terpretieren die Marxisten konsequent zeitgenössische Ereignisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em welthistorischenZusammenhang. Der Unterschied ist zweifellos nicht e<strong>in</strong>e Frage <strong>de</strong>r Intelligenz, son<strong>de</strong>rne<strong>in</strong>e Frage <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> und Betrachtungsweise.Die meisten Menschen nehmen <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>ismus als gegeben h<strong>in</strong>, genauso wie sie das Sonnensystemals gegeben annehmen. <strong>Das</strong> mögliche Vergehen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismus, das heute oft zugestan<strong>de</strong>nwird, wird weitgehend <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gleichen Art gesehen wie das mögliche Erkalten <strong>de</strong>r Sonne,d.h. se<strong>in</strong>e Relevanz für zeitgenössische Ereignisse wird bestritten. Von diesem Gesichtspunktaus kann man verstehen und kritisieren, was <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>s Rahmens <strong>de</strong>s Systems geschieht,man kann aber we<strong>de</strong>r verstehen noch werten, was <strong>de</strong>m System selbst geschieht. Die letztereTatsache nimmt ziemlich häufig die Form an, dass e<strong>in</strong>fach geleugnet wird, man könne s<strong>in</strong>nvollüber soziale Systeme re<strong>de</strong>n. Aber große historische Ereignisse betreffen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Regel ganze sozialeSysteme. Aus all <strong>de</strong>m folgt, daß sie für <strong>de</strong>n typisch mo<strong>de</strong>rnen Geist Katastrophencharakterannehmen, mit allem, was dar<strong>in</strong> an emotionalem Schock und <strong>in</strong>tellektueller Verwirrung enthaltenist.Für <strong>de</strong>n Marxisten ist <strong>de</strong>r spezifisch historische (d.h. vorübergehen<strong>de</strong>) Charakter <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>ismuse<strong>in</strong>e Hauptprämisse. Auf Grund dieser Tatsache kann <strong>de</strong>r Marxist sozusagen außerhalb <strong>de</strong>sSystems stehen und es als Ganzes kritisieren. Da aber menschliches Han<strong>de</strong>ln selbst für die Verän<strong>de</strong>rungenverantwortlich ist, die das System durchmacht und durchmachen wird, ist e<strong>in</strong>e kritischeHeltung nicht nur <strong>in</strong>tellektuell, son<strong>de</strong>rn auch moralisch möglich – während z.B. e<strong>in</strong>e kritischeHaltung gegenüber <strong>de</strong>m Sonnensystem, welcher Art auch immer se<strong>in</strong>e Unzulänglichkeitense<strong>in</strong> mögen, nicht möglich ist - und sie ist auch von praktischer Be<strong>de</strong>utung.Friedrich Engels: Aus: Ergänzung und Nachtrag zum III. Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>s", 1895 (MEW Bd. 25, S. 906 ff.)Wir alle wissen, daß <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r Gesellschaft die Produkte von <strong>de</strong>n Produzenten selbstverbraucht wer<strong>de</strong>n und daß diese Produzenten <strong>in</strong> mehr o<strong>de</strong>r m<strong>in</strong><strong>de</strong>r kommunistisch organisiertenGeme<strong>in</strong><strong>de</strong>n naturwüchsig organisiert s<strong>in</strong>d; daß <strong>de</strong>r Austausch <strong>de</strong>s Überschusses dieser Produktemit Frem<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r die Verwandlung <strong>de</strong>r Produkte <strong>in</strong> Waren e<strong>in</strong>leitet, späteren Datums ist,zuerst nur zwischen e<strong>in</strong>zelnen stammesfrem<strong>de</strong>n Geme<strong>in</strong><strong>de</strong>n stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t, später aber auch <strong>in</strong>nerhalb<strong>de</strong>r Geme<strong>in</strong><strong>de</strong> zur Geltung kommt und wesentlich zu <strong>de</strong>ren Auflösung <strong>in</strong> größere o<strong>de</strong>rkle<strong>in</strong>ere Familiengruppen beiträgt. Aber selbst nach dieser Auflösung bleiben die austauschen<strong>de</strong>nFamilienhäupter arbeiten<strong>de</strong> Bauern, die fast ihren ganzen Bedarf mit Hilfe ihrer Familie auf<strong>de</strong>m eignen Hof produzieren und nur e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r benötigten Gegenstän<strong>de</strong> gegenüberschüssiges eignes Produkt von außen e<strong>in</strong>tauschen. Die Familie treibt nicht bloß Ackerbauund Viehzucht, sie verarbeitet auch <strong>de</strong>ren Produkte zu fertigen Verbrauchsartikeln, mahlt stellenweisenoch selbst mit <strong>de</strong>r Handmühle, bäckt Brot, sp<strong>in</strong>nt, färbt, verwebt Flachs und Wolle,gerbt Le<strong>de</strong>r, errichtet und repariert hölzerne Gebäu<strong>de</strong>, stellt Werkzeuge und Geräte her, schre<strong>in</strong>ertund schmie<strong>de</strong>t nicht selten; so daß die Familie o<strong>de</strong>r Familiengruppe <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hauptsache sichselbst genügt.<strong>Das</strong> Wenige nun, was e<strong>in</strong>e solche Familie von an<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>zutauschen o<strong>de</strong>r zu kaufen hat, bestandselbst bis <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Anfang <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>in</strong> Deutschland vorwiegend aus Gegenstän<strong>de</strong>nhandwerksmäßiger Produktion, also aus solchen D<strong>in</strong>gen, <strong>de</strong>ren Herstellungsart <strong>de</strong>m Bauerke<strong>in</strong>eswegs fremd war und die er nur <strong>de</strong>shalb nicht selbst produzierte, weil ihm entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rRohstoff nicht zugänglich o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gekaufte Artikel viel besser o<strong>de</strong>r sehr viel wohlfeiler war.Dem Bauer <strong>de</strong>s Mittelalters war also die für die Herstellung <strong>de</strong>r von ihm e<strong>in</strong>getauschten Gegen-307


stän<strong>de</strong> erfor<strong>de</strong>rliche Arbeitszeit ziemlich genau bekannt. Der Schmied, <strong>de</strong>r Wagner <strong>de</strong>s Dorfs arbeitetenja unter se<strong>in</strong>en Augen; ebenso <strong>de</strong>r Schnei<strong>de</strong>r und Schuhmacher, <strong>de</strong>r noch zu me<strong>in</strong>erJugendzeit bei unsern rhe<strong>in</strong>ischen Bauern <strong>de</strong>r Reihe nach e<strong>in</strong>kehrte und die selbstverfertigtenStoffe zu Klei<strong>de</strong>rn und Schuhen verarbeitete. Der Bauer sowohl wie die Leute, von <strong>de</strong>nen erkaufte, waren selbst Arbeiter, die ausgetauschten Artikel waren die eignen Produkte e<strong>in</strong>es je<strong>de</strong>n.Was hatten sie bei <strong>de</strong>r Herstellung dieser Produkte aufgewandt? Arbeit und nur Arbeit: für<strong>de</strong>n Ersatz <strong>de</strong>r Werkzeuge, für Erzeugung <strong>de</strong>s Rohstoffs, für se<strong>in</strong>e Verarbeitung haben sie nichtsausgegeben als ihre eigne Arbeitskraft; wie also können sie diese ihre Produkte mit <strong>de</strong>nen andrerarbeiten<strong>de</strong>n Produzenten austauschen an<strong>de</strong>rs als im Verhältnis <strong>de</strong>r darauf verwandten Arbeit?Da war nicht nur die auf diese Produkte verwandte Arbeitszeit <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zige geeignete Maßstabfür die quantitative Bestimmung <strong>de</strong>r auszutauschen<strong>de</strong>n Größen; da war überhaupt ke<strong>in</strong>andrer möglich. O<strong>de</strong>r glaubt man, <strong>de</strong>r Bauer und <strong>de</strong>r Handwerker seien so dumm gewesen, dasProdukt zehnstündiger Arbeit <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>en für das e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Arbeitsstun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn h<strong>in</strong>zugeben?Für die ganze Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r bäuerlichen Naturalwirtschaft ist ke<strong>in</strong> andrer Austausch möglichals <strong>de</strong>rjenige, wo die ausgetauschten Warenquanta die Ten<strong>de</strong>nz haben, sich mehr und mehrnach <strong>de</strong>n <strong>in</strong> ihnen verkörperten Arbeitsmengen abzumessen. Von <strong>de</strong>m Augenblick an, wo dasGeld <strong>in</strong> diese Wirtschaftsweise e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gt, wird die Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Anpassung an das Wertgesetz (<strong>in</strong><strong>de</strong>r Marxschen Formulierung, nota bene!) e<strong>in</strong>erseits noch ausgesprochener, andrerseits aberwird sie auch schon durch die E<strong>in</strong>griffe <strong>de</strong>s Wucherkapitals und <strong>de</strong>r fiskalischen Aussaugungdurchbrochen, die Perio<strong>de</strong>n, für die die Preise im Durchschnitt sich <strong>de</strong>n Werten bis auf e<strong>in</strong>e zuvernachlässigen<strong>de</strong> Größe nähern, wer<strong>de</strong>n schon länger.<strong>Das</strong> gleiche gilt für <strong>de</strong>n Austausch zwischen Bauernprodukten und <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r städtischenHandwerker. Anfangs f<strong>in</strong><strong>de</strong>t dieser direkt statt, ohne Vermittlung <strong>de</strong>s Kaufmanns, an <strong>de</strong>nMarkttagen <strong>de</strong>r Städte, wo <strong>de</strong>r Bauer verkauft und se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>käufe macht. Auch hier s<strong>in</strong>d nichtnur <strong>de</strong>m Bauer die Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Handwerkers bekannt, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Handwerkerauch die <strong>de</strong>s Bauern. Denn er ist selbst noch e<strong>in</strong> Stück Bauer, er hat nicht nur Küchen- undObstgarten, son<strong>de</strong>rn auch sehr oft e<strong>in</strong> Stückchen Feld, e<strong>in</strong>e o<strong>de</strong>r zwei Kühe, Schwe<strong>in</strong>e, Fe<strong>de</strong>rviehusw. Die Leute im Mittelalter waren so imstan<strong>de</strong>, je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn die Produktionskostenan Rohstoff, Hilfsstoff, Arbeitszeit mit ziemlicher Genauigkeit nachzurechnen – wenigstens, wasArtikel täglichen allgeme<strong>in</strong>en Gebrauchs betraf.Wie war aber für diesen Austausch nach <strong>de</strong>m Maßstab <strong>de</strong>s Arbeitsquantums dies letztere, wennauch nur <strong>in</strong>direkt und relativ, zu berechnen für Produkte, die e<strong>in</strong>e längere, <strong>in</strong> unregelmäßigenZwischenräumen unterbrochne, <strong>in</strong> ihrem Ertrag unsichre Arbeit erheischten, z.B. Korn o<strong>de</strong>rVieh? Und das obendre<strong>in</strong> bei Leuten, die nicht rechnen konnten? Offenbar nur durch e<strong>in</strong>enlangwierigen, oft im Dunkeln h<strong>in</strong> und her tasten<strong>de</strong>n Prozeß <strong>de</strong>r Annäherung im Zickzack, wobeiman, wie sonst auch, erst durch <strong>de</strong>n Scha<strong>de</strong>n klug wur<strong>de</strong>. Aber die Notwendigkeit für je<strong>de</strong>n, imganzen und großen auf se<strong>in</strong>e Kosten zu kommen, half immer wie<strong>de</strong>r <strong>in</strong> die korrekte Richtung,und die ger<strong>in</strong>ge Anzahl <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verkehr kommen<strong>de</strong>n Arten von Gegenstän<strong>de</strong>n, sowie die oftwährend Jahrhun<strong>de</strong>rten stabile Art ihrer Produktion, erleichterte die Erreichung <strong>de</strong>s Ziels. Unddaß es ke<strong>in</strong>eswegs so lange dauerte, bis die relative Wertgröße dieser Produkte ziemlich annäherndfestgestellt war, beweist alle<strong>in</strong> die Tatsache, daß die Ware, bei <strong>de</strong>r dies wegen <strong>de</strong>r langenProduktionszeit <strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelnen Stücks am schwierigsten sche<strong>in</strong>t, das Vieh, die erste ziemlich allgeme<strong>in</strong>anerkannte Geldware wur<strong>de</strong>. Um dies fertigzubr<strong>in</strong>gen, mußte <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>s Viehs, se<strong>in</strong>Austauschverhältnis zu e<strong>in</strong>er ganzen Reihe von an<strong>de</strong>rn Waren, schon e<strong>in</strong>e relativ ungewöhnliche,auf <strong>de</strong>m Gebiet zahlreicher Stämme wi<strong>de</strong>rspruchslos anerkannte Feststellung erlangt haben.Und die Leute von damals waren sicher gescheit genug – die Viehzüchter sowohl wie ihre308


Kun<strong>de</strong>n –, um nicht die von ihnen aufgewandte Arbeitszeit im Austausch ohne Äquivalent wegzuschenken.Im Gegenteil: je näher die Leute <strong>de</strong>m Urzustand <strong>de</strong>r Warenproduktion stehn – Russenund Orientalen z.B. –, <strong>de</strong>sto mehr Zeit verschwen<strong>de</strong>n sie noch heute, um durch langes, zähesSchachern <strong>de</strong>n vollen Entgelt ihrer auf e<strong>in</strong> Produkt verwandten Arbeitszeit herauszuschlagen.Ausgehend von dieser Wertbestimmung durch die Arbeitszeit, entwickelte sich nun die ganzeWarenproduktion und mit ihr die mannigfachen Beziehungen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die verschiednen Seiten<strong>de</strong>s Wertgesetzes sich geltend machen, wie sie im ersten Abschnitt <strong>de</strong>s ersten Buchs <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>"dargelegt s<strong>in</strong>d; also namentlich die Bed<strong>in</strong>gungen, unter <strong>de</strong>nen alle<strong>in</strong> die Arbeit wertbil<strong>de</strong>ndist. Und zwar s<strong>in</strong>d dies Bed<strong>in</strong>gungen, die sich durchsetzen, ohne <strong>de</strong>n Beteiligten zum Bewußtse<strong>in</strong>zu kommen, und die selbst erst durch mühsame theoretische Untersuchung aus <strong>de</strong>r alltäglichenPraxis abstrahiert wer<strong>de</strong>n können, die also nach Art von Naturgesetzen wirken, wie diesMarx auch als notwendig aus <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Warenproduktion folgend nachgewiesen hat. Derwichtigste und e<strong>in</strong>schnei<strong>de</strong>ndste Fortschritt war <strong>de</strong>r Übergang zum Metallgeld, <strong>de</strong>r aber auchdie Folge hatte, daß nun die Wertbestimmung durch die Arbeitszeit nicht länger auf <strong>de</strong>r Oberfläche<strong>de</strong>s Warenaustausches sichtbar erschien. <strong>Das</strong> Geld wur<strong>de</strong> für die praktische Auffassung<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Wertmesser, und dies um so mehr, je mannigfaltiger die <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lkommen<strong>de</strong>n Waren wur<strong>de</strong>n, je mehr sie entlegnen Län<strong>de</strong>rn entstammten, je weniger also die zuihrer Herstellung nötige Arbeitszeit sich kontrollieren ließ. Kam doch das Geld anfänglich selbstmeist aus <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong>; auch als E<strong>de</strong>lmetall im Lan<strong>de</strong> gewonnen wur<strong>de</strong>, war <strong>de</strong>r Bauer undHandwerker teils nicht imstan<strong>de</strong>, die darauf verwandte Arbeit annähernd abzuschätzen, teilswar ihm selbst schon das Bewußtse<strong>in</strong> von <strong>de</strong>r wertmessen<strong>de</strong>n Eigenschaft <strong>de</strong>r Arbeit durch dieGewohnheit <strong>de</strong>s Geldrechnens ziemlich verdunkelt; das Geld begann <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Volksvorstellung <strong>de</strong>nabsoluten Wert zu repräsentieren.Karl Marx: Aus: <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>. Bd.1 (MEW 23, S.85 ff.)<strong>E<strong>in</strong>e</strong> Ware sche<strong>in</strong>t auf <strong>de</strong>n ersten Blick e<strong>in</strong> selbstverständliches, triviales D<strong>in</strong>g. Ihre Analyse ergibt,daß sie e<strong>in</strong> sehr vertracktes D<strong>in</strong>g ist, voll metaphysischer Spitzf<strong>in</strong>digkeit und theologischer Mucken.Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter <strong>de</strong>m Gesichtspunktbetrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt o<strong>de</strong>rdiese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist s<strong>in</strong>nenklar, daß <strong>de</strong>rMensch durch se<strong>in</strong>e Tätigkeit die Formen <strong>de</strong>r Naturstoffe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ihm nützlichen Weise verän<strong>de</strong>rt.Die Form <strong>de</strong>s Holzes z.B. wird verän<strong>de</strong>rt, wenn man aus ihm e<strong>in</strong>en Tisch macht. Nichts<strong>de</strong>stowenigerbleibt <strong>de</strong>r Tisch Holz, e<strong>in</strong> ord<strong>in</strong>äres s<strong>in</strong>nliches D<strong>in</strong>g. Aber sobald er als Ware auftritt,verwan<strong>de</strong>lt er sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nlich übers<strong>in</strong>nliches D<strong>in</strong>g. Er steht nicht nur mit se<strong>in</strong>en Füßen auf<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf <strong>de</strong>n Kopf und entwickeltaus se<strong>in</strong>em Holzkopf Grillen, viel wun<strong>de</strong>rlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.532532Die viel zitierte Sache mit <strong>de</strong>m übers<strong>in</strong>nlichen und tanzen<strong>de</strong>n Tisch ist e<strong>in</strong>e für M.s Zeitgenossen sofort verständliche Anspielung aufbeliebte "Experimente" <strong>de</strong>r Spiritisten. In ihren Seancen gelang es bisweilen, <strong>de</strong>n von ihnen besetzten Tisch durch Druck vieler aufgelegterHän<strong>de</strong> (und natürlich mit Hilfe <strong>de</strong>r beschworenen Geister und e<strong>in</strong>iger medialer Kniebewegungen) <strong>in</strong> Unruhe zu versetzen. Sehr gerne wur<strong>de</strong>nfür solche Experimente im privaten Kreis daher dreibe<strong>in</strong>ige Tische verwen<strong>de</strong>t. Aber wackeln<strong>de</strong> Tische s<strong>in</strong>d nicht alles. Geschichten vonregelrecht tanzen<strong>de</strong>n und sogar schweben<strong>de</strong>n Tischen je<strong>de</strong>r Bauart gaben <strong>de</strong>n privaten Wackeleien <strong>de</strong>r Amateure erst die richtige Würze.Dem gelangweilten Kle<strong>in</strong>bürger, <strong>de</strong>r nach Unterhaltung gierte, kam die spiritistische Mo<strong>de</strong> gera<strong>de</strong> recht, um die Unterhaltung im Salon e<strong>in</strong>309


Der mystische Charakter <strong>de</strong>r Ware entspr<strong>in</strong>gt also nicht aus ihrem Gebrauchswert. Er entspr<strong>in</strong>gtebensowenig aus <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r Wertbestimmungen. Denn erstens, wie verschie<strong>de</strong>n die nützlichenArbeiten o<strong>de</strong>r produktiven Tätigkeiten se<strong>in</strong> mögen, es ist e<strong>in</strong>e physiologische Wahrheit,daß sie Funktionen <strong>de</strong>s menschlichen Organismus s<strong>in</strong>d und daß je<strong>de</strong> solche Funktion, welchesimmer ihr Inhalt und ihre Form, wesentlich Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel,S<strong>in</strong>nesorgan usw. ist. Was zweitens <strong>de</strong>r Bestimmung <strong>de</strong>r Wertgröße zugrun<strong>de</strong> liegt, die Zeitdauerjener Verausgabung o<strong>de</strong>r die Quantität <strong>de</strong>r Arbeit, so ist die Quantität sogar s<strong>in</strong>nfällig von <strong>de</strong>rQualität <strong>de</strong>r Arbeit unterscheidbar. In allen Zustän<strong>de</strong>n mußte die Arbeitszeit, welche die Produktion<strong>de</strong>r Lebensmittel kostet, <strong>de</strong>n Menschen <strong>in</strong>teressieren, obgleich nicht gleichmäßig auf verschie<strong>de</strong>nenEntwicklungsstufen. Endlich, sobald die Menschen <strong>in</strong> irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>er Weise füre<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rarbeiten, erhält ihre Arbeit auch e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Form.Woher entspr<strong>in</strong>gt also <strong>de</strong>r rätselhafte Charakter <strong>de</strong>s Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt?Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit <strong>de</strong>r menschlichen Arbeiten erhält diesachliche Form <strong>de</strong>r gleichen Wertgegenständlichkeit <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte, das Maß <strong>de</strong>r Verausgabungmenschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form <strong>de</strong>r Wertgröße <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte,endlich die Verhältnisse <strong>de</strong>r Produzenten, wor<strong>in</strong> jene gesellschaftlichen Bestimmungenihrer Arbeiten betätigt wer<strong>de</strong>n, erhalten die Form e<strong>in</strong>es gesellschaftlichen Verhältnisses<strong>de</strong>r Arbeitsprodukte.<strong>Das</strong> Geheimnisvolle <strong>de</strong>r Warenform besteht also e<strong>in</strong>fach dar<strong>in</strong>, daß sie <strong>de</strong>n Menschen die gesellschaftlichenCharaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere <strong>de</strong>r Arbeitsprodukteselbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser D<strong>in</strong>ge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftlicheVerhältnis <strong>de</strong>r Produzenten zur Gesamtarbeit als e<strong>in</strong> außer ihnen existieren<strong>de</strong>s gesellschaftlichesVerhältnis von Gegenstän<strong>de</strong>n. Durch dies Quidproquo (= Verwechslung) wer<strong>de</strong>ndie Arbeitsprodukte Waren, s<strong>in</strong>nlich übers<strong>in</strong>nliche o<strong>de</strong>r gesellschaftliche D<strong>in</strong>ge. So stellt sich <strong>de</strong>rLichte<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>gs auf <strong>de</strong>n Sehnerv nicht als subjektiver Reiz <strong>de</strong>s Sehnervs selbst, son<strong>de</strong>rnals gegenständliche Form e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>gs außerhalb <strong>de</strong>s Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklichLicht von e<strong>in</strong>em D<strong>in</strong>g, <strong>de</strong>m äußeren Gegenstand, auf e<strong>in</strong> andres D<strong>in</strong>g, das Auge, geworfen. Esist e<strong>in</strong> physisches Verhältnis zwischen physischen D<strong>in</strong>gen. Dagegen hat die Warenform und dasWertverhältnis <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte, wor<strong>in</strong> sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und <strong>de</strong>ndaraus entspr<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>n d<strong>in</strong>glichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmtegesellschaftliche Verhältnis <strong>de</strong>r Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorischeForm e<strong>in</strong>es Verhältnisses von D<strong>in</strong>gen annimmt. Um daher e<strong>in</strong>e Analogie zu f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, müssenwir <strong>in</strong> die Nebelregion <strong>de</strong>r religiösen Welt flüchten. Hier sche<strong>in</strong>en die Produkte <strong>de</strong>s menschlichenKopfes mit eignem Leben begabte, untere<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r und mit <strong>de</strong>n Menschen <strong>in</strong> Verhältnisstehen<strong>de</strong> selbständige Gestalten. So <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Warenwelt die Produkte <strong>de</strong>r menschlichen Hand.Dies nenne ich <strong>de</strong>n Fetischismus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziertwer<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r daher von <strong>de</strong>r Warenproduktion unzertrennlich ist.wenig aufzufrischen. Irgendjemand kannte da immer jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r das Phänomen <strong>de</strong>r Levitation e<strong>in</strong>es Möbels selbst be<strong>in</strong>ahe gesehenhätte, ganz sicher aber aus vertrauenswürdiger Quelle davon gehört hatte.<strong>Das</strong> "spiritistische Medium" war En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>träglichen Beruf gewor<strong>de</strong>n; es gab unter ihnen bereits Superstars,die SAT1 gerne erfun<strong>de</strong>n hätte. Der Erfolg wur<strong>de</strong> kaum dadurch bee<strong>in</strong>trächtigt, dass alle namhaften Medien, die sich <strong>de</strong>r Überprüfungstellten, <strong>de</strong>s Betrugs überführt wur<strong>de</strong>n.Doch man sollte nicht die Nase rümpfen über die drolligen Sp<strong>in</strong>ner im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Dergleichen f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich zu unserer Zeit nicht ebenselten, und nicht nur als abstruse Uri-Geller-Show. Er<strong>in</strong>nern uns nicht auch viele <strong>de</strong>r sogenannten Wirtschaftsprognosen mehr an okkulteBeschwörungen als an rationale Wissenschaft?310


Dieser Fetischcharakter <strong>de</strong>r Warenwelt entspr<strong>in</strong>gt, wie die vorhergehen<strong>de</strong> Analyse bereits gezeigthat, aus <strong>de</strong>m eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>r Arbeit, welche Waren produziert.Gebrauchsgegenstän<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n überhaupt nur Waren, weil sie Produkte vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängigbetriebner Privatarbeiten s<strong>in</strong>d. Der Komplex dieser Privatarbeiten bil<strong>de</strong>t die gesellschaftlicheGesamtarbeit. Da die Produzenten erst <strong>in</strong> gesellschaftlichen Kontakt treten durch <strong>de</strong>n Austauschihrer Arbeitsprodukte, ersche<strong>in</strong>en auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeitenerst <strong>in</strong>nerhalb dieses Austausches. O<strong>de</strong>r die Privatarbeiten betätigen sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat erstals Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, wor<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Austausch dieArbeitsprodukte und vermittelst <strong>de</strong>rselben die Produ zenten versetzt. Den letzteren ersche<strong>in</strong>endaher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie s<strong>in</strong>d, d.h. nicht alsunmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse <strong>de</strong>r Personen <strong>in</strong> ihren Arbeiten selbst, son<strong>de</strong>rn vielmehrals sachliche Verhältnisse <strong>de</strong>r Personen und gesellschaftliche Verhältnisse <strong>de</strong>r Sachen.Erst <strong>in</strong>nerhalb ihres Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte e<strong>in</strong>e von ihrer s<strong>in</strong>nlich verschiednenGebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit. DieseSpaltung <strong>de</strong>s Arbeitsprodukts <strong>in</strong> nützliches D<strong>in</strong>g und Wertd<strong>in</strong>g betätigt sich nur praktisch, sobald<strong>de</strong>r Austausch bereits h<strong>in</strong>reichen<strong>de</strong> Aus<strong>de</strong>hnung und Wichtigkeit gewonnen hat, damitnützliche D<strong>in</strong>ge für <strong>de</strong>n Austausch produziert wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Wertcharakter <strong>de</strong>r Sachen also schonbei ihrer Produktion selbst <strong>in</strong> Betracht kommt. Von diesem Augenblick erhalten die Privatarbeiten<strong>de</strong>r Produzenten tatsächlich e<strong>in</strong>en doppelten gesellschaftlichen Charakter. Sie müssen e<strong>in</strong>erseitsals bestimmte nützliche Arbeiten e<strong>in</strong> bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis befriedigenund sich so als Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesamtarbeit, <strong>de</strong>s naturwüchsigen Systems <strong>de</strong>r gesellschaftlichen <strong>Teil</strong>ung<strong>de</strong>r Arbeit, bewähren. Sie befriedigen andrerseits nur die mannigfachen Bedürfnisse ihrereignen Produzenten, sofern je<strong>de</strong> besondre nützliche Privatarbeit mit je<strong>de</strong>r andren nützlichen ArtPrivatarbeit austauschbar ist, also ihr gleichgilt. Die Gleichheit toto coelo (völlig) verschiedner Arbeitenkann nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit bestehn, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Reduktionauf <strong>de</strong>n geme<strong>in</strong>samen Charakter, <strong>de</strong>n sie als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, abstraktmenschliche Arbeit, besitzen. <strong>Das</strong> Gehirn <strong>de</strong>r Privatproduzenten spiegelt diesen doppelten gesellschaftlichenCharakter ihrer Privatarbeiten nur wi<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Formen, welche im praktischenVerkehr, im Produktenaustausch ersche<strong>in</strong>en - <strong>de</strong>n gesellschaftlich nützlichen Charakter ihrer Privatarbeitenalso <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form, daß das Arbeitsprodukt nützlich se<strong>in</strong> muß, und zwar für andre -<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Charakter <strong>de</strong>r Gleichheit <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nartigen Arbeiten <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>sgeme<strong>in</strong>samen Wertcharakters dieser materiell verschiednen D<strong>in</strong>ge, <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte.Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufe<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als Werte, weil diese Sachenihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. In<strong>de</strong>msie ihre verschie<strong>de</strong>nartigen Produkte e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sieihre verschiednen Arbeiten e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sietun es. Es steht daher <strong>de</strong>m Werte nicht auf <strong>de</strong>r Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwan<strong>de</strong>ltvielmehr je<strong>de</strong>s Arbeitsprodukt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen<strong>de</strong>n S<strong>in</strong>n <strong>de</strong>r Hieroglyphe zu entziffern, h<strong>in</strong>ter das Geheimnis ihres eignen gesellschaftlichenProdukts zu kommen, <strong>de</strong>nn die Bestimmung <strong>de</strong>r Gebrauchsgegenstän<strong>de</strong> als Werte ist ihrgesellschaftliches Produkt so gut wie die Sprache. Die späte wissenschaftliche Ent<strong>de</strong>ckung, daßdie Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloß sachliche Ausdrücke <strong>de</strong>r <strong>in</strong> ihrer Produktion verausgabtenmenschlichen Arbeit s<strong>in</strong>d, macht Epoche <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Entwicklungsgeschichte <strong>de</strong>r Menschheit,aber verscheucht ke<strong>in</strong>eswegs <strong>de</strong>n gegenständlichen Sche<strong>in</strong> <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Charaktere <strong>de</strong>rArbeit. Was nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist, daß näm-311


lich <strong>de</strong>r spezifisch gesellschaftliche Charakter <strong>de</strong>r vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r unabhängigen Privatarbeiten <strong>in</strong>ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form <strong>de</strong>s Wertcharakters <strong>de</strong>r Arbeitsprodukteannimmt, ersche<strong>in</strong>t, vor wie nach jener Ent<strong>de</strong>ckung, <strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Verhältnissen <strong>de</strong>r WarenproduktionBefangenen ebenso endgültig, als daß die wissenschaftliche Zersetzung <strong>de</strong>r Luft <strong>in</strong>ihre Elemente die Luftform als e<strong>in</strong>e physikalische Körperform fortbestehn läßt.Karl Marx: Aus: MEW 23, S.174fWer<strong>de</strong>n Waren o<strong>de</strong>r Waren und Geld von gleichem Tauschwert, also Äquivalente ausgetauscht,so zieht offenbar ke<strong>in</strong>er mehr Wert aus <strong>de</strong>r Zirkulation heraus, als er <strong>in</strong> sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirft. Es f<strong>in</strong><strong>de</strong>tdann ke<strong>in</strong>e Bildung von Mehrwert statt. In se<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Form aber bed<strong>in</strong>gt <strong>de</strong>r Zirkulationsprozeß<strong>de</strong>r Waren Austausch von Äquivalenten. Jedoch gehn die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wirklichkeit nicht re<strong>in</strong>zu. Unterstellen wir daher Austausch von Nicht-Äquivalenten.Je<strong>de</strong>nfalls steht auf <strong>de</strong>m Warenmarkt nur Warenbesitzer <strong>de</strong>m Warenbesitzer gegenüber, unddie Macht, die diese Personen über e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r ausüben, ist nur die Macht ihrer Waren. Die stofflicheVerschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Waren ist das stoffliche Motiv <strong>de</strong>s Austausches und macht die Warenbesitzerwechselseitig vone<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abhängig, <strong>in</strong><strong>de</strong>m ke<strong>in</strong>er von ihnen <strong>de</strong>n Gegenstand se<strong>in</strong>eseignen Bedürfnisses und je<strong>de</strong>r von ihnen <strong>de</strong>n Gegenstand <strong>de</strong>s Bedürfnisses <strong>de</strong>s andren <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erHand hält. Außer dieser stofflichen Verschie<strong>de</strong>nheit ihrer Gebrauchswerte besteht nur noch e<strong>in</strong>Unterschied unter <strong>de</strong>n Waren, <strong>de</strong>r Unterschied zwischen ihrer Naturalform und ihrer verwan<strong>de</strong>ltenForm, zwischen Ware und Geld. Und so unterschei<strong>de</strong>n sich die Warenbesitzer nur als Verkäufer,Besitzer von Ware, und als Käufer, Besitzer von Geld.Gesetzt nun, es sei durch irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> unerklärliches Privilegium <strong>de</strong>m Verkäufer gegeben, die Wareüber ihrem Werte zu verkaufen, zu 110, wenn sie 100 wert ist, also mit e<strong>in</strong>em nom<strong>in</strong>ellen Preisaufschlagevon 10%. Der Verkäufer kassiert also e<strong>in</strong>en Mehrwert von 10 e<strong>in</strong>. Aber nach<strong>de</strong>m erVerkäufer war, wird er Käufer. E<strong>in</strong> dritter Warenbesitzer begegnet ihm jetzt als Verkäufer undgenießt se<strong>in</strong>erseits das Privilegium, die Ware 10% zu teuer zu verkaufen. Unser Mann hat alsVerkäufer 10 gewonnen, um als Käufer 10 zu verlieren. <strong>Das</strong> Ganze kommt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Tat daraufh<strong>in</strong>aus, daß alle Warenbesitzer ihre Waren e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r 10% über <strong>de</strong>m Wert verkaufen, was durchausdasselbe ist, als ob sie die Waren zu ihren Werten verkauften. E<strong>in</strong> solcher allgeme<strong>in</strong>er nom<strong>in</strong>ellerPreisaufschlag <strong>de</strong>r Waren br<strong>in</strong>gt dieselbe Wirkung hervor, als ob die Warenwerte z.B. <strong>in</strong>Silber statt <strong>in</strong> Gold geschätzt wür<strong>de</strong>n. Die Geldnamen, d.h. die Preise <strong>de</strong>r Waren wür<strong>de</strong>n anschwellen,aber ihre Wertverhältnisse unverän<strong>de</strong>rt bleiben.Unterstellen wir umgekehrt, es sei das Privilegium <strong>de</strong>s Käufers, die Waren unter ihrem Wert zukaufen. Hier ist es nicht e<strong>in</strong>mal nötig zu er<strong>in</strong>nern, daß <strong>de</strong>r Käufer wie<strong>de</strong>r Verkäufer wird. Er warVerkäufer, bevor er Käufer ward. Er hat bereits 10% als Verkäufer verloren, bevor er 10% alsKäufer gew<strong>in</strong>nt. Alles bleibt wie<strong>de</strong>r beim alten.Die Bildung von Mehrwert und daher die Verwandlung von Geld <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>, kann also we<strong>de</strong>rdadurch erklärt wer<strong>de</strong>n, daß die Verkäufer die Waren über ihrem Werte verkaufen, noch dadurch,daß die Käufer sie unter ihrem Werte kaufen.<strong>Das</strong> Problem wird <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise dadurch vere<strong>in</strong>facht, daß man frem<strong>de</strong> Beziehungen e<strong>in</strong>schmuggelt,also etwa mit Oberst Torrens sagt:"Die effektive Nachfrage besteht <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Vermögen und <strong>de</strong>r Neigung (!) <strong>de</strong>r Konsumenten, seies durch unmittelbaren o<strong>de</strong>r vermittelten Austausch, für Waren e<strong>in</strong>e gewisse größere Portionvon allen Ingredienzien <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s zu geben, als ihre Produktion kostet."312


In <strong>de</strong>r Zirkulation stehn sich Produzenten und Konsumenten nur als Verkäufer und Käufer gegenüber.Behaupten, <strong>de</strong>r Mehrwert für <strong>de</strong>n Produzenten entspr<strong>in</strong>ge daraus, daß die Konsumentendie Ware über <strong>de</strong>n Wert zahlen, heißt nur <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>fachen Satz maskieren: Der Warenbesitzerbesitzt als Verkäufer das Privilegium, zu teuer zu verkaufen. Der Verkäufer hat die Ware selbstproduziert o<strong>de</strong>r vertritt ihren Produzenten, aber <strong>de</strong>r Käufer hat nicht m<strong>in</strong><strong>de</strong>r die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gel<strong>de</strong>dargestellte Ware selbst produziert o<strong>de</strong>r vertritt ihren Produzenten. Es steht also Produzent <strong>de</strong>mProduzenten gegenüber. Was sie unterschei<strong>de</strong>t, ist, daß <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e kauft und <strong>de</strong>r andre verkauft.Es br<strong>in</strong>gt uns ke<strong>in</strong>en Schritt weiter, daß <strong>de</strong>r Warenbesitzer unter <strong>de</strong>m Namen Produzent die Wareüber ihrem Werte verkauft und unter <strong>de</strong>m Namen Konsument sie zu teuer zahlt.Die konsequenten Vertreter <strong>de</strong>r Illusion, daß <strong>de</strong>r Mehrwert aus e<strong>in</strong>em nom<strong>in</strong>ellen Preiszuschlagentspr<strong>in</strong>gt o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Privilegium <strong>de</strong>s Verkäufers, die Ware zu teuer zu verkaufen, unterstellendaher e<strong>in</strong>e Klasse, die nur kauft, ohne zu verkaufen, also auch nur konsumiert ohne zu produzieren.Die Existenz e<strong>in</strong>er solchen Klasse ist von unsrem bisher erreichten Standpunkt, <strong>de</strong>m<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>fachen Zirkulation, noch unerklärlich. Aber greifen wir vor. <strong>Das</strong> Geld, womit e<strong>in</strong>e solcheKlasse beständig kauft, muß ihr beständig, ohne Austausch, umsonst, auf beliebige Rechts- undGewaltstitel h<strong>in</strong>, von <strong>de</strong>n Warenbesitzern selbst zufließen. Dieser Klasse die Waren über <strong>de</strong>mWert verkaufen, heißt nur, umsonst weggegebenes Geld sich zum <strong>Teil</strong> wie<strong>de</strong>r zurückschw<strong>in</strong><strong>de</strong>ln.So zahlten die kle<strong>in</strong>asiatischen Städte jährlichen Geldtribut an das alte Rom. Mit diesemGeld kaufte Rom Waren von ihnen und kaufte sie zu teuer. Die Kle<strong>in</strong>asiaten prellten die Römer,<strong>in</strong><strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Eroberern e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Tributs wie<strong>de</strong>r abluchsten auf <strong>de</strong>m Wege <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls.Aber <strong>de</strong>nnoch blieben die Kle<strong>in</strong>asiaten die Geprellten. Ihre Waren wur<strong>de</strong>n ihnen nach wie vormit ihrem eignen Gel<strong>de</strong> gezahlt. Es ist dies ke<strong>in</strong>e Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bereicherung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bildungvon Mehrwert.Halten wir uns also <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Schranken <strong>de</strong>s Warenaustausches, wo Verkäufer Käufer undKäufer Verkäufer s<strong>in</strong>d. Unsre Verlegenheit stammt vielleicht daher, daß wir die Personen nur alspersonifizierte Kategorien, nicht <strong>in</strong>dividuell, gefaßt haben.Warenbesitzer A mag so pfiffig se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e Kollegen B o<strong>de</strong>r C übers Ohr zu hauen, während sietrotz <strong>de</strong>s besten Willens die Revanche schuldig bleiben. A verkauft We<strong>in</strong> zum Wert von 40 Pfd.St. an B und erwirbt im Austausch Getrei<strong>de</strong> zum Wert von 50 Pfd. St. A hat se<strong>in</strong>e 40 Pfd. St. <strong>in</strong>50 Pfd. St. verwan<strong>de</strong>lt, mehr Geld aus weniger Geld gemacht und se<strong>in</strong>e Ware <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>lt.Sehn wir näher zu. Vor <strong>de</strong>m Austausch hatten wir für 40 Pfd. St. We<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand vonA und für 50 Pfd. St. Getrei<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand von B, Gesamtwert von 90 Pfd. St. Nach <strong>de</strong>m Austauschhaben wir <strong>de</strong>nselben Gesamtwert von 90 Pfd. St. Der zirkulieren<strong>de</strong> Wert hat sich um ke<strong>in</strong>Atom vergrößert, se<strong>in</strong>e Verteilung zwischen A und B hat sich verän<strong>de</strong>rt. Auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite ersche<strong>in</strong>tals Mehrwert, was auf <strong>de</strong>r andren M<strong>in</strong><strong>de</strong>rwert ist, auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite als Plus, was auf<strong>de</strong>r andren als M<strong>in</strong>us. Derselbe Wechsel hätte sich ereignet, wenn A, ohne die verhüllen<strong>de</strong> Form<strong>de</strong>s Austausches, <strong>de</strong>m B 10 Pfd. St. direkt gestohlen hätte. Die Summe <strong>de</strong>r zirkulieren<strong>de</strong>n Wertekann offenbar durch ke<strong>in</strong>en Wechsel <strong>in</strong> ihrer Verteilung vermehrt wer<strong>de</strong>n, sowenig wie e<strong>in</strong> Ju<strong>de</strong>die Masse <strong>de</strong>r edlen Metalle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lan<strong>de</strong> dadurch vermehrt, daß er e<strong>in</strong>en Farth<strong>in</strong>g aus <strong>de</strong>rZeit <strong>de</strong>r König<strong>in</strong> Anna für e<strong>in</strong>e Gu<strong>in</strong>ee verkauft. Die Gesamtheit <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse e<strong>in</strong>esLan<strong>de</strong>s kann sich nicht selbst übervorteilen.Man mag sich also drehen und wen<strong>de</strong>n, wie man will, das Fazit bleibt dasselbe. Wer<strong>de</strong>n Äquivalenteausgetauscht, so entsteht ke<strong>in</strong> Mehrwert, und wer<strong>de</strong>n Nicht-Äquivalente ausgetauscht, soentsteht auch ke<strong>in</strong> Mehrwert. Die Zirkulation o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Warenaustausch schafft ke<strong>in</strong>en Wert.313


Jürgen Kuczynski: Asche Aus: Jürgen Kuczynski: Zur Philosophie <strong>de</strong>s Huhnes. Statistische und an<strong>de</strong>re Merkwürdigkeiten;Berl<strong>in</strong> (DDR) 1989<strong>1.</strong> Tatbestand und Frage:In Luxemburg gibt es ke<strong>in</strong>e Krematorien. Als Ausweg benutzen Luxemburger die Krematorien <strong>in</strong>Metz und Strasbourg. Von dort wird die Asche wie<strong>de</strong>r nach Luxemburg zurückgeführt. Jedochwird an <strong>de</strong>r Luxemburger Grenze dann auf die Asche e<strong>in</strong>e Wertzuwachssteuer erhoben.Frage: Ist diese Wertzuwachssteuer berechtigt? Kann man behaupten, daß die Asche e<strong>in</strong>enWertzuwachs gegenüber <strong>de</strong>r Leiche darstellt?2. Vom ökonomischen Standpunkt:Ich glaube, vom Standpunkt <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie ist die Wertzuwachssteuer voll berechtigt.Denn: Zweifellos fand sowohl auf <strong>de</strong>m Transport als auch im Krematorium e<strong>in</strong>e Übertragungvon c (fixes <strong>Kapital</strong>), zum Beispiel durch Abnutzung <strong>de</strong>r Eisenbahn wie auch <strong>de</strong>rKrematoriumse<strong>in</strong>richtungen, statt. Noch viel größer wohl war die Übertragung von, wie Marx esnennt, lebendiger Arbeit auf die Leiche, <strong>in</strong>sbeson<strong>de</strong>re während ihres Transformationsprozesses.Wenn man also davon ausgeht, daß <strong>in</strong> <strong>de</strong>r letzten Zeit allgeme<strong>in</strong> im Welthan<strong>de</strong>l die protektionistischenTen<strong>de</strong>nzen zugenommen haben, und wenn man sich darüber klar ist, daß <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>rEWG die Han<strong>de</strong>lskonkurrenz wesentlich <strong>in</strong>tensiver gewor<strong>de</strong>n ist und daß das ganz beson<strong>de</strong>rs für<strong>de</strong>n Agrarsektor gilt, und wenn man sich historisch überlegt, daß <strong>de</strong>r Prozeß <strong>de</strong>r Chemisierung<strong>de</strong>r Landwirtschaft schon <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Antike die Verwendung von Asche mit e<strong>in</strong>schloß, dann wird e<strong>in</strong>emdiese Wertzuwachssteuer an <strong>de</strong>r Luxemburger Grenze vom ökonomischen Standpunkt ausdurchaus verständlich se<strong>in</strong>.3. Vom moralisch-<strong>pol</strong>itischen Standpunkt:Man muß das Ganze aber auch vom moralisch-<strong>pol</strong>itischen Standpunkt aus betrachten. Bekanntlichist Luxemburg e<strong>in</strong>e Feste <strong>de</strong>s westeuropäischen Mono<strong>pol</strong>kapitals. Zahlreiche große Mono<strong>pol</strong>ehaben <strong>in</strong> Luxemburg, zum <strong>Teil</strong> aus steuerlichen Grün<strong>de</strong>n, ihren Sitz. Be<strong>de</strong>nkt man nun, daßWerktätige natürlich nicht die Kosten e<strong>in</strong>er Verbrennung <strong>in</strong> relativ so großer Entfernung wieMetz o<strong>de</strong>r Strasbourg aufbr<strong>in</strong>gen können, dann ist es ganz offenbar, daß nur auf die Asche vonMono<strong>pol</strong>isten und ihnen Nahestehen<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>e Wertzuwachssteuer erhoben wird. Es ergibt sichdaraus nun die Frage:S<strong>in</strong>d Mono<strong>pol</strong>isten, vom moralisch-<strong>pol</strong>itischen Standpunkt aus untersucht, als Asche wertvollerals im normalen Leichenzustand?Zweifellos nimmt e<strong>in</strong> Mono<strong>pol</strong>ist als Asche weniger Raum e<strong>in</strong> als im normalen Totenzustand.Aber dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> moralisch-<strong>pol</strong>itisches Kriterium zu sehen ersche<strong>in</strong>t mir kle<strong>in</strong>bürgerlich. Ganz offenbarmuß man hier noch weiterforschen, um diese Seite <strong>de</strong>r Problematik tiefgründiger zu klären.4. SchlußfolgerungAuch wenn <strong>de</strong>r ganze Systemzusammenhang noch nicht bis <strong>in</strong>s letzte durchdacht ist, kann mandoch, vor allem unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itökonomischen Erwägungen, sagen:Die luxemburgische Wertzuwachssteuer auf Krematoriumsprodukte sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> <strong>de</strong>r gegenwärtigenhistorischen Situation vollauf gerechtfertigt.314


Karl Marx: Aus: MEW 23, S.741-744Man hat gesehn, wie Geld <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>lt, durch <strong>Kapital</strong> Mehrwert und aus Mehrwertmehr <strong>Kapital</strong> gemacht wird. In<strong>de</strong>s setzt die Akkumulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s <strong>de</strong>n Mehrwert, <strong>de</strong>rMehrwert die kapitalistische Produktion, dieser aber das Vorhan<strong>de</strong>nse<strong>in</strong> größerer Massen von<strong>Kapital</strong> und Arbeitskraft <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n von Warenproduzenten voraus. Diese ganze Bewegungsche<strong>in</strong>t sich also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fehlerhaften Kreislauf herumzudrehn, aus <strong>de</strong>m wir nur h<strong>in</strong>auskommen,<strong>in</strong><strong>de</strong>m wir e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation vorausgehen<strong>de</strong> 'ursprüngliche' Akkumulation('previous accumulation' bei Adam Smith) unterstellen, e<strong>in</strong>e Akkumulation, welche nichtdas Resultat <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise ist, son<strong>de</strong>rn ihr Ausgangspunkt.Diese ursprüngliche Akkumulation spielt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>pol</strong>itischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rollewie <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>nfall <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Theologie. Adam biß <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Apfel, und damit kam über das Menschengeschlechtdie Sün<strong>de</strong>. Ihr Ursprung wird erklärt, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er als Anekdote <strong>de</strong>r Vergangenheiterzählt wird. In e<strong>in</strong>er längst verfloßnen Zeit gab es auf <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite e<strong>in</strong>e fleißige, <strong>in</strong>telligenteund vor allem sparsame Elite und auf <strong>de</strong>r andren faulenzen<strong>de</strong>, ihr alles und mehr verjubeln<strong>de</strong>Lumpen. Die Legen<strong>de</strong> vom theologischen Sün<strong>de</strong>nfall erzählt uns allerd<strong>in</strong>gs, wie <strong>de</strong>r Mensch dazuverdammt wor<strong>de</strong>n sei, se<strong>in</strong> Brot im Schweiß se<strong>in</strong>es Angesichts zu essen; die Historie vomökonomischen Sün<strong>de</strong>nfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das ke<strong>in</strong>eswegs nötig haben.<strong>E<strong>in</strong>e</strong>rlei. So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlichnichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sün<strong>de</strong>nfall datiert die Armut <strong>de</strong>rgroßen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst,und <strong>de</strong>r Reichtum <strong>de</strong>r wenigen, <strong>de</strong>r fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zuarbeiten. Solche fa<strong>de</strong> K<strong>in</strong><strong>de</strong>rei kaut Herr Thiers 533 z.B. noch mit staatsfeierlichem Ernst, zur Verteidigung<strong>de</strong>r propriété (= <strong>de</strong>s Eigentums), <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>st so geistreichen Franzosen vor. Aber sobalddie Eigentumsfrage <strong>in</strong>s Spiel kommt, wird es heilige Pflicht, <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>r K<strong>in</strong><strong>de</strong>rfibel als<strong>de</strong>n allen Altersklassen und Entwicklungsstufen alle<strong>in</strong> gerechten festzuhalten. In <strong>de</strong>r wirklichenGeschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle.In <strong>de</strong>r sanften <strong>pol</strong>itischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und "Arbeit" warenvon jeher die e<strong>in</strong>zigen Bereicherungsmittel, natürlich mit je<strong>de</strong>smaliger Ausnahme von "diesemJahr". In <strong>de</strong>r Tat s<strong>in</strong>d die Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch.533Geme<strong>in</strong>t ist Louis-Adolphe Thiers, <strong>de</strong>r als Historiker und Politiker se<strong>in</strong> Auskommen fand. Höhepunkt se<strong>in</strong>es unrühmlichen Wirkens warse<strong>in</strong>e Amtszeit als Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r französischen Republik. Den Posten erhielt er, als Na<strong>pol</strong>eon III nach se<strong>in</strong>er Nie<strong>de</strong>rlage im <strong>de</strong>utschfranzösischenKrieg 1870 abgesetzt wur<strong>de</strong>. Aber im Frühjahr 1871 wur<strong>de</strong> Thiers durch <strong>de</strong>n Aufstand <strong>de</strong>r Bürger von Paris und durch dieAusrufung <strong>de</strong>r Pariser Kommune selbst aus Paris vertrieben. Von Versaille aus schloß er mit <strong>de</strong>m Kriegsgegner Bismarck e<strong>in</strong> Klassenbündnisauf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sverrats. Die geme<strong>in</strong>same Angst vor <strong>de</strong>m Aufstand <strong>de</strong>r Arbeiter von Paris vere<strong>in</strong>te die "Erbfe<strong>in</strong><strong>de</strong>". Bismarckließ die französischen Kriegsgefangenen unter <strong>de</strong>r Voraussetzung frei, dass Thiers mit ihnen Paris vom "sozialistischen Pöbel" säubert.<strong>Das</strong> wur<strong>de</strong> mit kaum vorstellbarer Brutalität umgesetzt. Etwa 30.000 Pariser Bürger wur<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>r Verteidigung von Paris von <strong>de</strong>utschenund französischen Soldaten ermor<strong>de</strong>t und bei Massenexekutionen h<strong>in</strong>gerichtet. 40.000 wur<strong>de</strong>n <strong>in</strong>haftiert, die meisten von ihnen<strong>de</strong>portiert.M. hat die ruhmreichen 72 Tage von Paris, die erste revolutionäre Erhebung mit sozialistischem Programm, anhand von Zeitungsberichten(die Zeitungen waren damals etwas besser) und privaten Korrespon<strong>de</strong>nzen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeit "Der Bürgerkrieg <strong>in</strong> Frankreich" vom Mai 1871analysiert (MEW 17, S.319-365). <strong>Das</strong> war e<strong>in</strong>e im Auftrag <strong>de</strong>r <strong>1.</strong> Internationalen Arbeiterassoziation geschriebene Stellungnahme, dieauch 140 Jahre später immer noch aufregend und anregend ist. Wer Paris besucht, sollte zur Er<strong>in</strong>nerung an die mutigen Kämpfer <strong>de</strong>r PariserKommune die Ge<strong>de</strong>nkstätte auf <strong>de</strong>m Friedhof Pere Lachaise besuchen, auf <strong>de</strong>m die letzten Gefechte stattfan<strong>de</strong>n. Auch wer mit sozialistischerRevolution nichts am Hut hat, sollte e<strong>in</strong>e Nelke spendieren: Ohne <strong>de</strong>n Schock, <strong>de</strong>n die Pariser Kommune allen bürgerlichen Regierungenversetzte, wären "Bismarck'sche Reformen" und an<strong>de</strong>re Maßnahmen eben nicht erfolgt.315


Geld und Ware s<strong>in</strong>d nicht von vornhere<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>, sowenig wie Produktions- und Lebensmittel.Sie bedürfen <strong>de</strong>r Verwandlung <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>. Diese Verwandlung selbst aber kann nur unter bestimmtenUmstän<strong>de</strong>n vorgehn, die sich dah<strong>in</strong> zusammenspitzen: Zweierlei sehr verschiedne Sortenvon Warenbesitzern müssen sich gegenüber und <strong>in</strong> Kontakt treten, e<strong>in</strong>erseits Eigner vonGeld, Produktions- und Lebensmitteln, <strong>de</strong>nen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zuverwerten durch Ankauf frem<strong>de</strong>r Arbeitskraft; andrerseits freie Arbeiter, Verkäufer <strong>de</strong>r eignenArbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Doppels<strong>in</strong>n, daß we<strong>de</strong>r sieselbst unmittelbar zu <strong>de</strong>n Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigne usw., noch auchdie Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaften<strong>de</strong>n Bauer usw., sie davonvielmehr frei, los und ledig s<strong>in</strong>d. Mit dieser Polarisation <strong>de</strong>s Warenmarkts s<strong>in</strong>d die Grundbed<strong>in</strong>gungen<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion gegeben. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong>verhältnis setzt die Scheidung zwischen<strong>de</strong>n Arbeitern und <strong>de</strong>m Eigentum an <strong>de</strong>n Verwirklichungsbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Arbeit voraus.Sobald die kapitalistische Produktion e<strong>in</strong>mal auf eignen Füßen steht, erhält sie nicht nur jeneScheidung, son<strong>de</strong>rn reproduziert sie auf stets wachsen<strong>de</strong>r Stufenleiter. Der Prozeß, <strong>de</strong>r das <strong>Kapital</strong>verhältnisschafft, kann also nichts andres se<strong>in</strong> als <strong>de</strong>r Scheidungsprozeß <strong>de</strong>s Arbeiters vomEigentum an se<strong>in</strong>en Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen, e<strong>in</strong> Prozeß, <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>erseits die gesellschaftlichen Lebens-und Produktionsmittel <strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> verwan<strong>de</strong>lt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten <strong>in</strong>Lohnarbeiter. Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als <strong>de</strong>r historische Scheidungsprozeßvon Produzent und Produktionsmittel. Er ersche<strong>in</strong>t als "ursprünglich", weil er die Vorgeschichte<strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und <strong>de</strong>r ihm entsprechen<strong>de</strong>n Produktionsweise bil<strong>de</strong>t.Die ökonomische Struktur <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus <strong>de</strong>r ökonomischenStruktur <strong>de</strong>r feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt.Der unmittelbare Produzent, <strong>de</strong>r Arbeiter, konnte erst dann über se<strong>in</strong>e Person verfügen, nach<strong>de</strong>mer aufgehört hatte, an die Scholle gefesselt und e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>rn Person leibeigen o<strong>de</strong>r hörigzu se<strong>in</strong>. Um freier Verkäufer von Arbeitskraft zu wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r se<strong>in</strong>e Ware überall h<strong>in</strong>trägt, wo siee<strong>in</strong>en Markt f<strong>in</strong><strong>de</strong>t, mußte er ferner <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Zünfte, ihren Lehrl<strong>in</strong>gs- und Gesellenordnungenund hemmen<strong>de</strong>n Arbeitsvorschriften entronnen se<strong>in</strong>. Somit ersche<strong>in</strong>t die geschichtlicheBewegung, die die Produzenten <strong>in</strong> Lohnarbeiter verwan<strong>de</strong>lt, e<strong>in</strong>erseits als ihre Befreiung vonDienstbar keit und Zunftzwang; und diese Seite alle<strong>in</strong> existiert für unsre bürgerlichen Geschichtschreiber.Andrerseits aber wer<strong>de</strong>n diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nach<strong>de</strong>m ihnenalle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen E<strong>in</strong>richtungen gebotnen Garantienihrer Existenz geraubt s<strong>in</strong>d. Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist <strong>in</strong> die Annalen<strong>de</strong>r Menschheit e<strong>in</strong>geschrieben mit Zügen von Blut und Feuer. (...)Historisch epochemachend <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r ursprünglichen Akkumulation s<strong>in</strong>d alle Umwälzungen,die <strong>de</strong>r sich bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>istenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente,wor<strong>in</strong> große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissenund als vogelfreie Proletarier auf <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt geschleu<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Die Expropriation <strong>de</strong>sländlichen Produzenten, <strong>de</strong>s Bauern, von Grund und Bo<strong>de</strong>n bil<strong>de</strong>t die Grundlage <strong>de</strong>s ganzenProzesses. Ihre Geschichte nimmt <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn verschie<strong>de</strong>ne Färbung an und durchläuftdie verschie<strong>de</strong>nen Phasen <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>ner Reihenfolge und <strong>in</strong> verschie<strong>de</strong>nen Geschichtsepochen.Nur <strong>in</strong> England, das wir daher als Beispiel nehmen, besitzt sie klassische Form. 534534M. untersucht <strong>in</strong> <strong>de</strong>n weiteren Kapiteln die "klassische Form" <strong>de</strong>r sogenannten ursprünglichen Akkumulation für England. Wer genauerwissen will, warum M. von "Blut und Feuer" spricht, sollte im "<strong>Kapital</strong>" nachlesen (MEW 23, S.744-791). Horror garantiert.316


Friedrich Engels: Aus Engels' E<strong>in</strong>leitung zur Ausgabe von Marx' "Lohnarbeit und Kapitel" von 1891; MEW 23,S.85 ff.Me<strong>in</strong>e Än<strong>de</strong>rungen (am Orig<strong>in</strong>altext <strong>de</strong>r Schrift) drehen sich alle um e<strong>in</strong>en Punkt. Nach <strong>de</strong>m Orig<strong>in</strong>alverkauft <strong>de</strong>r Arbeiter für <strong>de</strong>n Arbeitslohn <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten se<strong>in</strong>e Arbeit; nach <strong>de</strong>m jetzigenText se<strong>in</strong>e Arbeitskraft. Und wegen dieser Än<strong>de</strong>rung b<strong>in</strong> ich Auskunft schuldig. Auskunft <strong>de</strong>nArbeitern, damit sie sehn, daß hier ke<strong>in</strong>e bloße Wortklauberei vorliegt, son<strong>de</strong>rn vielmehr e<strong>in</strong>er<strong>de</strong>r wichtigsten Punkte <strong>de</strong>r ganzen <strong>pol</strong>itischen Ökonomie. (...)Die klassische <strong>pol</strong>itische Ökonomie übernahm aus <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Praxis die landläufige Vorstellung<strong>de</strong>s Fabrikanten, als kaufe und bezahle er die Arbeit se<strong>in</strong>er Arbeiter. Diese Vorstellung hattefür <strong>de</strong>n Geschäftsgebrauch, die Buchführung und Preiskalkulation <strong>de</strong>s Fabrikanten ganz gutausgereicht. Naiverweise übertragen <strong>in</strong> die <strong>pol</strong>itische Ökonomie, richtete sie hier gar wun<strong>de</strong>rsameIrrungen und Wirrungen an.Die Ökonomie f<strong>in</strong><strong>de</strong>t die Tatsache vor, daß die Preise aller Waren, darunter auch <strong>de</strong>r Preis <strong>de</strong>rWare, die sie 'Arbeit' nennt, fortwährend wechseln; daß sie steigen und fallen <strong>in</strong>folge von sehrmannigfaltigen Umstän<strong>de</strong>n, die häufig mit <strong>de</strong>r Herstellung <strong>de</strong>r Ware selbst <strong>in</strong> gar ke<strong>in</strong>em Zusammenhangstehn, so daß die Preise <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Regel durch <strong>de</strong>n puren Zufall bestimmt sche<strong>in</strong>en.Sobald nun die Ökonomie als Wissenschaft auftrat, war e<strong>in</strong>e ihrer ersten Aufgaben, das Gesetzzu suchen, das sich h<strong>in</strong>ter diesem, sche<strong>in</strong>bar die Warenpreise beherrschen<strong>de</strong>n Zufall verbarg unddas <strong>in</strong> Wirklichkeit diesen Zufall selbst beherrschte. Innerhalb <strong>de</strong>r fortwähren<strong>de</strong>n, bald nachoben, bald nach unten schwanken<strong>de</strong>n und schw<strong>in</strong>gen<strong>de</strong>n Warenpreise suchte sie nach <strong>de</strong>m festenZentralpunkt, um <strong>de</strong>n herum diese Schwankungen und Schw<strong>in</strong>gungen sich vollziehn. Mite<strong>in</strong>em Worte: Sie g<strong>in</strong>g von <strong>de</strong>n Warenpreisen aus, um als <strong>de</strong>ren regeln<strong>de</strong>s Gesetz <strong>de</strong>n Warenwertzu suchen, aus <strong>de</strong>m sich alle Preisschwankungen erklären, auf <strong>de</strong>n sie schließlich alle wie<strong>de</strong>rzurückführen sollten.Die klassische Ökonomie fand nun, daß <strong>de</strong>r Wert e<strong>in</strong>er Ware bestimmt wer<strong>de</strong> durch die <strong>in</strong> ihrstecken<strong>de</strong>, zu ihrer Produktion erheischte Arbeit. Mit dieser Erklärung begnügte sie sich. Undauch wir können e<strong>in</strong>stweilen hierbei stehnbleiben. Nur um Mißverständnissen vorzubeugen, willich daran er<strong>in</strong>nern, daß diese Erklärung heutzutage völlig ungenügend gewor<strong>de</strong>n ist. Marx hatzuerst die wertbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Eigenschaft <strong>de</strong>r Arbeit gründlich untersucht und dabei gefun<strong>de</strong>n, daßnicht je<strong>de</strong> sche<strong>in</strong>bar o<strong>de</strong>r auch wirklich zur Produktion e<strong>in</strong>er Ware notwendige Arbeit dieser Wareunter allen Umstän<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>e Wertgröße zusetzt, die <strong>de</strong>r verbrauchten Arbeitsmenge entspricht.Wenn wir also heute kurzweg mit Ökonomen wie Ricardo sagen, <strong>de</strong>r Wert e<strong>in</strong>er Warebestimme sich durch die zu ihrer Produktion notwendige Arbeit, so unterstellen wir dabei stetsdie von Marx gemachten Vorbehalte. Dies genügt hier; das Weitre f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich bei Marx <strong>in</strong> 'ZurKritik <strong>de</strong>r Politischen Oekonomie', 1859, und im ersten Band <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>".Sobald aber die Ökonomen diese Wertbestimmung durch die Arbeit anwandten auf die Ware'Arbeit', gerieten sie von e<strong>in</strong>em Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn. Wie wird <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r 'Arbeit' bestimmt?Durch die <strong>in</strong> ihr stecken<strong>de</strong> notwendige Arbeit. Wieviel Arbeit aber steckt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeite<strong>in</strong>es Arbeiters für e<strong>in</strong>en Tag, e<strong>in</strong>e Woche, e<strong>in</strong>en Monat, e<strong>in</strong> Jahr? Die Arbeit e<strong>in</strong>es Tags, e<strong>in</strong>erWoche, e<strong>in</strong>es Monats, e<strong>in</strong>es Jahrs. Wenn die Arbeit das Maß aller Werte ist, so können wir <strong>de</strong>n'Wert <strong>de</strong>r Arbeit' eben nur ausdrücken <strong>in</strong> Arbeit. Wir wissen aber absolut nichts über <strong>de</strong>n Werte<strong>in</strong>er Stun<strong>de</strong> Arbeit, wenn wir nur wissen, daß er gleich e<strong>in</strong>er Stun<strong>de</strong> Arbeit ist. Damit s<strong>in</strong>d wiralso ke<strong>in</strong> Haarbreit näher am Ziel; wir drehen uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fort im Kreise.317


Die klassische Ökonomie versuchte es also mit e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>rn Wendung; sie sagte: Der Wert e<strong>in</strong>erWare ist gleich ihren Produktionskosten. Aber was s<strong>in</strong>d die Produktionskosten <strong>de</strong>r Arbeit? Umdiese Frage zu beantworten, müssen die Ökonomen <strong>de</strong>r Logik e<strong>in</strong> bißchen Gewalt antun. Statt<strong>de</strong>r Produktionskosten <strong>de</strong>r Arbeit selbst, die lei<strong>de</strong>r nicht zu ermitteln s<strong>in</strong>d, untersuchen sie nun,was die Produktionskosten <strong>de</strong>s Arbeiters s<strong>in</strong>d. Und diese lassen sich ermitteln. Sie wechseln jenach Zeit und Umstän<strong>de</strong>n, aber für e<strong>in</strong>en gegebnen Gesellschaftszustand, e<strong>in</strong>e gegebne Lokalität,e<strong>in</strong>en gegebnen Produktionszweig s<strong>in</strong>d sie ebenfalls gegeben, wenigstens <strong>in</strong>nerhalb ziemlichenger Grenzen. Wir leben heute unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion, wo e<strong>in</strong>egroße, stets wachsen<strong>de</strong> Klasse <strong>de</strong>r Bevölkerung nur leben kann, wenn sie für die Besitzer <strong>de</strong>rProduktionsmittel <strong>de</strong>r Werkzeuge, Masch<strong>in</strong>en, Rohstoffe und Lebensmittel – gegen Arbeitslohnarbeitet. Auf Grundlage dieser Produktionsweise bestehen die Produktionskosten <strong>de</strong>s Arbeiters<strong>in</strong> <strong>de</strong>rjenigen Summe von Lebensmitteln – o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Geldpreis –, die durchschnittlich nötigs<strong>in</strong>d, ihn arbeitsfähig zu machen, arbeitsfähig zu erhalten und ihn bei se<strong>in</strong>em Abgang durch Alter,Krankheit o<strong>de</strong>r Tod durch e<strong>in</strong>en neuen Arbeiter zu ersetzen, also die Arbeiterklasse <strong>in</strong> <strong>de</strong>rbenötigten Stärke fortzupflanzen. Nehmen wir an, <strong>de</strong>r Geldpreis dieser Lebensmittel sei imDurchschnitt drei Mark täglich.Unser Arbeiter erhält also von <strong>de</strong>m ihn beschäftigen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten e<strong>in</strong>en Lohn von drei Marktäglich. Der <strong>Kapital</strong>ist läßt ihn dafür, sage zwölf Stun<strong>de</strong>n täglich, arbeiten. Und zwar kalkuliertdieser <strong>Kapital</strong>ist etwa folgen<strong>de</strong>rmaßen:Nehmen wir an, unser Arbeiter – Masch<strong>in</strong>enschlosser – habe e<strong>in</strong> Stück e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e zu arbeiten,das er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tage fertig macht. Der Rohstoff – Eisen und Mess<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>de</strong>r nötigen vorgearbeitetenForm – koste 20 M. Der Verbrauch an Kohlen <strong>de</strong>r Dampfmasch<strong>in</strong>e, <strong>de</strong>r Verschleißdieser selben Dampfmasch<strong>in</strong>e, <strong>de</strong>r Drehbank und <strong>de</strong>r übrigen Werkzeuge, womit unser Arbeiterarbeitet, stelle dar, für e<strong>in</strong>en Tag und auf se<strong>in</strong>en Anteil berechnet, e<strong>in</strong>en Wert von 1 M. Der Arbeitslohnfür e<strong>in</strong>en Tag ist nach unsrer Annahme 3 M. Macht zusammen für unser Masch<strong>in</strong>enstück24 M. Der <strong>Kapital</strong>ist rechnet aber heraus, daß er dafür im Durchschnitt e<strong>in</strong>en Preis von 27M. von se<strong>in</strong>en Kun<strong>de</strong>n erhält, also 3 M. über se<strong>in</strong>e ausgelegten Kosten.Woher kommen diese 3 M., die <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist e<strong>in</strong>steckt? Nach <strong>de</strong>r Behauptung <strong>de</strong>r klassischenÖkonomie wer<strong>de</strong>n die Waren im Durchschnitt zu ihren Werten, d.h. zu Preisen verkauft, die <strong>de</strong>n<strong>in</strong> diesen Waren enthaltnen notwendigen Arbeitsmengen entsprechen. Der Durchschnittspreisunsres Masch<strong>in</strong>enteils – 27 M. – wäre also gleich se<strong>in</strong>em Wert, gleich <strong>de</strong>r <strong>in</strong> ihm stecken<strong>de</strong>n Arbeit.Aber von diesen 27 M. waren 21 M. bereits vorhandne Werte, ehe unser Masch<strong>in</strong>enschlosserzu arbeiten anf<strong>in</strong>g. 20 M. steckten im Rohstoff, 1 M. <strong>in</strong> Kohlen, die während <strong>de</strong>r Arbeit verbrannt,o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>en und Werkzeugen, die dabei gebraucht und <strong>in</strong> ihrer Leistungsfähigkeitbis zum Wert dieses Betrags geschmälert wur<strong>de</strong>n. Bleiben 6 M., die <strong>de</strong>m Wert <strong>de</strong>s Rohstoffs zugesetztwor<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d. Diese sechs Mark können aber nach <strong>de</strong>r Annahme unsrer Ökonomenselbst nur herstammen aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Rohstoff durch unsern Arbeiter zugesetzten Arbeit. Se<strong>in</strong>ezwölfstündige Arbeit hat danach e<strong>in</strong>en neuen Wert von sechs Mark geschaffen. Der Wert se<strong>in</strong>erzwölfstündigen Arbeit wäre also gleich sechs Mark. Und damit hätten wir also endlich ent<strong>de</strong>ckt,was <strong>de</strong>r 'Wert <strong>de</strong>r Arbeit' ist."Halt da!"ruft unser Masch<strong>in</strong>enschlosser. "Sechs Mark? Ich habe aber nur drei Mark erhalten!Me<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong>ist schwört Ste<strong>in</strong> und Be<strong>in</strong>, <strong>de</strong>r Wert me<strong>in</strong>er zwölfstündigen Arbeit sei nur dreiMark, und wenn ich sechs verlange, so lacht er mich aus. Wie reimt sich das?"Kamen wir vorh<strong>in</strong> mit unserm Wert <strong>de</strong>r Arbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zirkel ohne Ausweg, so s<strong>in</strong>d wir jetzt <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em unlöslichen Wi<strong>de</strong>rspruch erst recht festgeritten. Wir suchten <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>r Arbeit und318


fan<strong>de</strong>n mehr, als wir brauchen können. Für <strong>de</strong>n Arbeiter ist <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r zwölfstündigen Arbeitdrei Mark, für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten sechs Mark, wovon er drei <strong>de</strong>m Arbeiter als Lohn zahlt und dreiselbst <strong>in</strong> die Tasche steckt. Also hätte die Arbeit nicht e<strong>in</strong>en, son<strong>de</strong>rn zwei Werte, und sehrverschiedne obendre<strong>in</strong>!Der Wi<strong>de</strong>rspruch wird noch wi<strong>de</strong>rs<strong>in</strong>niger, sobald wir die <strong>in</strong> Geld ausgedrückten Werte auf Arbeitszeitreduzieren. In <strong>de</strong>n zwölf Stun<strong>de</strong>n Arbeit wird e<strong>in</strong> Neuwert von sechs Mark geschaffen.Also <strong>in</strong> sechs Stun<strong>de</strong>n drei Mark – die Summe, die <strong>de</strong>r Arbeiter für zwölfstündige Arbeit erhält.Für zwölfstündige Arbeit erhält <strong>de</strong>r Arbeiter als gleichen Gegenwert das Produkt von sechsStun<strong>de</strong>n Arbeit. Entwe<strong>de</strong>r also hat die Arbeit zwei Werte, wovon <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>e doppelt so groß wie<strong>de</strong>r andre, o<strong>de</strong>r zwölf s<strong>in</strong>d gleich sechs! In bei<strong>de</strong>n Fällen kommt re<strong>in</strong>er Wi<strong>de</strong>rs<strong>in</strong>n heraus.Wir mögen uns drehen und wen<strong>de</strong>n, wie wir wollen, wir kommen nicht heraus aus diesem Wi<strong>de</strong>rspruch,solange wir vom Kauf und Verkauf <strong>de</strong>r Arbeit und vom Wert <strong>de</strong>r Arbeit sprechen.Und so g<strong>in</strong>g es <strong>de</strong>n Ökonomen auch. Der letzte Ausläufer <strong>de</strong>r klassischen Ökonomie, dieRicardosche Schule, g<strong>in</strong>g großenteils an <strong>de</strong>r Unlösbarkeit dieses Wi<strong>de</strong>rspruchs zugrun<strong>de</strong>. Dieklassische Ökonomie hatte sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sackgasse festgerannt. Der Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Weg aus dieserSackgasse fand, war Karl Marx.Was die Ökonomen als die Produktionskosten '<strong>de</strong>r Arbeit' angesehn hatten, waren die Produktionskostennicht <strong>de</strong>r Arbeit, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s lebendigen Arbeiters selbst. Und was dieser Arbeiter<strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten verkaufte, war nicht se<strong>in</strong>e Arbeit. "Sobald se<strong>in</strong>e Arbeit wirklich beg<strong>in</strong>nt", sagtMarx, "hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht mehr von ihm verkauft wer<strong>de</strong>n."Er könnte also höchstens se<strong>in</strong>e künftige Arbeit verkaufen, d.h. die Verpflichtung übernehmen,e<strong>in</strong>e bestimmte Arbeitsleistung zu bestimmter Zeit auszuführen. Damit aber verkauft ernicht Arbeit 535 (die doch erst geschehen se<strong>in</strong> müßte), son<strong>de</strong>rn er stellt <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten auf bestimmteZeit (im Taglohn) o<strong>de</strong>r zum Zweck e<strong>in</strong>er bestimmten Arbeitsleistung (im Stücklohn) se<strong>in</strong>eArbeitskraft gegen e<strong>in</strong>e bestimmte Zahlung zur Verfügung: Er vermietet resp. verkauft se<strong>in</strong>eArbeitskraft. Diese Arbeitskraft ist aber mit se<strong>in</strong>er Person verwachsen und von ihr untrennbar.Ihre Produktionskosten fallen daher mit se<strong>in</strong>en Produktionskosten zusammen; was die Ökonomendie Produktionskosten <strong>de</strong>r Arbeit nannten, s<strong>in</strong>d eben die <strong>de</strong>s Arbeiters und damit die <strong>de</strong>rArbeitskraft. Und so können wir auch von <strong>de</strong>n Produktionskosten <strong>de</strong>r Arbeitskraft auf <strong>de</strong>n Wert<strong>de</strong>r Arbeitskraft zurückgehn und die Menge von gesellschaftlich notwendiger Arbeit bestimmen,die zur Herstellung e<strong>in</strong>er Arbeitskraft von bestimmter Qualität erfor<strong>de</strong>rlich ist, wie dies Marx imAbschnitt vom Kauf und Verkauf <strong>de</strong>r Arbeitskraft getan hat ("<strong>Kapital</strong>", Band I, Kapitel 4, 3. Abteilung).Was geschieht nun, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten se<strong>in</strong>e Arbeitskraft verkauft, d.h. gegene<strong>in</strong>en vorausbedungnen Lohn – Taglohn o<strong>de</strong>r Stücklohn – zur Verfügung gestellt hat? Der<strong>Kapital</strong>ist führt <strong>de</strong>n Arbeiter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Werkstatt o<strong>de</strong>r Fabrik, wo sich bereits alle zur Arbeit erfor<strong>de</strong>rlichenGegenstän<strong>de</strong>, Rohstoffe, Hülfsstoffe (Kohlen, Farbstoffe etc.), Werkzeuge, Masch<strong>in</strong>en,vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Hier fängt <strong>de</strong>r Arbeiter an zu schanzen. Se<strong>in</strong> Tageslohn sei wie oben 3 Mark – wobeies nichts ausmacht, ob er sie im Taglohn o<strong>de</strong>r im Stücklohn verdient. Wir nehmen auch hierwie<strong>de</strong>r an, daß <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>in</strong> zwölf Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n vernutzten Rohstoffen durch se<strong>in</strong>e Arbeit e<strong>in</strong>enNeuwert von sechs Mark zusetzt, welchen Neuwert <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist beim Verkauf <strong>de</strong>s fertigen535Übrigens spüren wir hier e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> 120 Jahren längst vollzogene Verschiebung <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Wortbe<strong>de</strong>utung. Zu Engels Zeiten war Arbeit nochgleich <strong>de</strong>m Ergebnis <strong>de</strong>r Arbeit. <strong>Das</strong> ist noch die Perspektive <strong>de</strong>s selbständigen Produzenten, für <strong>de</strong>n Arbeitszeit und Arbeit im S<strong>in</strong>ne vonArbeitsprodukt dasselbe war.Für uns heute hat Arbeit sofort die Be<strong>de</strong>utung von Lohnarbeit: Man geht zur Arbeit, man hat Arbeit. Arbeit gleich Job usw.319


Werkstücks realisiert. Er zahlt davon <strong>de</strong>m Arbeiter se<strong>in</strong>e 3 Mark, die an<strong>de</strong>rn 3 Mark aber behälter selbst. Wenn nun <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>in</strong> zwölf Stun<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>en Wert von sechs Mark schafft, so <strong>in</strong>sechs Stun<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>en Wert von 3 Mark. Er hat also <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten <strong>de</strong>n Gegenwert <strong>de</strong>r im Arbeitslohnerhaltnen drei Mark schon wie<strong>de</strong>r vergütet, nach<strong>de</strong>m er für ihn sechs Stun<strong>de</strong>n gearbeitet.Nach sechs Stun<strong>de</strong>n Arbeit s<strong>in</strong>d bei<strong>de</strong> quitt, ke<strong>in</strong>er ist <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>en Heller schuldig."Halt da!" ruft jetzt <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist. "Ich habe <strong>de</strong>n Arbeiter für e<strong>in</strong>en ganzen Tag, für zwölf Stun<strong>de</strong>ngemietet. Sechs Stun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d aber nur e<strong>in</strong> halber Tag. Also flott fortgeschanzt, bis die an<strong>de</strong>rnsechs Stun<strong>de</strong>n auch um s<strong>in</strong>d – erst dann s<strong>in</strong>d wir quitt!" Und <strong>de</strong>r Arbeiter hat sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>rTat se<strong>in</strong>em 'freiwillig' e<strong>in</strong>gegangnen Kontrakt zu fügen, wonach er sich verpflichtet, für e<strong>in</strong> Arbeitsprodukt,das sechs Arbeitsstun<strong>de</strong>n kostet, zwölf ganze Stun<strong>de</strong>n zu arbeiten.Beim Stücklohn ist es gera<strong>de</strong>so. Nehmen wir an, unser Arbeiter schafft <strong>in</strong> 12 Stun<strong>de</strong>n 12 StückWare. Davon kostet je<strong>de</strong>s an Rohstoff und Verschleiß 2 M. und wird verkauft zu 21/ 2 M. So wird<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist, bei sonst <strong>de</strong>nselben Voraussetzungen wie vorh<strong>in</strong>, <strong>de</strong>m Arbeiter 25 Pf. per Stückgeben; macht auf 12 Stück 3 M., die zu verdienen <strong>de</strong>r Arbeiter zwölf Stun<strong>de</strong>n braucht. Der <strong>Kapital</strong>isterhält für die 12 Stück 30 M.; ab für Rohstoff und Verschleiß 24 M., bleiben 6 M., wovoner 3 M. Arbeitslohn zahlt und drei e<strong>in</strong>steckt. Ganz wie oben. Auch hier arbeitet <strong>de</strong>r Arbeitersechs Stun<strong>de</strong>n für sich, d.h. zum Ersatz se<strong>in</strong>es Lohns (<strong>in</strong> je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r zwölf Stun<strong>de</strong>n 1/ 2 Stun<strong>de</strong>),und sechs Stun<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten.Die Schwierigkeit, an <strong>de</strong>r die besten Ökonomen scheiterten, solange sie vom Wert <strong>de</strong>r 'Arbeit'ausg<strong>in</strong>gen, verschw<strong>in</strong><strong>de</strong>t, sobald wir statt <strong>de</strong>ssen vom Wert <strong>de</strong>r 'Arbeitskraft' ausgehn. Die Arbeitskraftist e<strong>in</strong>e Ware <strong>in</strong> unsrer heutigen kapitalistischen Gesellschaft, e<strong>in</strong>e Ware wie je<strong>de</strong> andre,aber doch e<strong>in</strong>e ganz besondre Ware. Sie hat nämlich die besondre Eigenschaft, wertschaffen<strong>de</strong>Kraft, Quelle von Wert zu se<strong>in</strong>, und zwar, bei geeigneter Behandlung, Quelle von mehrWert, als sie selbst besitzt. Bei <strong>de</strong>m heutigen Stand <strong>de</strong>r Produktion produziert die menschlicheArbeitskraft nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tag e<strong>in</strong>en größern Wert, als sie selbst besitzt und kostet; mit je<strong>de</strong>rneuen wissenschaftlichen Ent<strong>de</strong>ckung, mit je<strong>de</strong>r neuen technischen Erf<strong>in</strong>dung steigert sichdieser Überschuß ihres Tagesprodukts über ihre Tageskosten, verkürzt sich also <strong>de</strong>rjenige <strong>Teil</strong><strong>de</strong>s Arbeitstags, wor<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>de</strong>n Ersatz se<strong>in</strong>es Tageslohns herausarbeitet, und verlängertsich also an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>rjenige <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Arbeitstags, wor<strong>in</strong> er <strong>de</strong>m <strong>Kapital</strong>isten se<strong>in</strong>e Arbeitschenken muß, ohne dafür bezahlt zu wer<strong>de</strong>n.Und dies ist die wirtschaftliche Verfassung unsrer ganzen heutigen Gesellschaft: Die arbeiten<strong>de</strong>Klasse alle<strong>in</strong> ist es, die alle Werte produziert. Denn Wert ist nur e<strong>in</strong> andrer Ausdruck für Arbeit,<strong>de</strong>rjenige Ausdruck, wodurch <strong>in</strong> unsrer heutigen kapitalistischen Gesellschaft die Menge <strong>de</strong>r <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er bestimmten Ware stecken<strong>de</strong>n, gesellschaftlich notwendigen Arbeit bezeichnet wird. Diesevon <strong>de</strong>n Arbeitern produzierten Werte gehören aber nicht <strong>de</strong>n Arbeitern. Sie gehören <strong>de</strong>n Eigentümern<strong>de</strong>r Rohstoffe, <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>en und Werkzeuge und <strong>de</strong>r Vorschußmittel, die diesenEigentümern erlauben, die Arbeitskraft <strong>de</strong>r Arbeiterklasse zu kaufen. Von <strong>de</strong>r ganzen, von ihrerzeugten Produktenmasse erhält also die Arbeiterklasse nur e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> für sich zurück. Und, wiewir eben gesehn, wird <strong>de</strong>r andre <strong>Teil</strong>, <strong>de</strong>n die <strong>Kapital</strong>istenklasse für sich behält und höchstensnoch mit <strong>de</strong>r Grun<strong>de</strong>igentümerklasse zu teilen hat, mit je<strong>de</strong>r neuen Erf<strong>in</strong>dung und Ent<strong>de</strong>ckunggrößer, während <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeiterklasse zufallen<strong>de</strong> <strong>Teil</strong> (auf die Kopfzahl berechnet) entwe<strong>de</strong>rnur sehr langsam und unbe<strong>de</strong>utend o<strong>de</strong>r auch gar nicht steigt und unter Umstän<strong>de</strong>n sogar fallenkann.Aber diese stets rascher e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r verdrängen<strong>de</strong>n Erf<strong>in</strong>dungen und Ent<strong>de</strong>ckungen, diese sich <strong>in</strong>bisher unerhörtem Maße Tag auf Tag steigern<strong>de</strong> Ergiebigkeit <strong>de</strong>r menschlichen Arbeit schafft320


zuletzt e<strong>in</strong>en Konflikt, wor<strong>in</strong> die heutige kapitalistische Wirtschaft zugrun<strong>de</strong> gehn muß. 536 Auf<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Seite unermeßliche Reichtümer und e<strong>in</strong>en Überfluß von Produkten, <strong>de</strong>n die Abnehmernicht bewältigen können. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn die große Masse <strong>de</strong>r Gesellschaft proletarisiert, <strong>in</strong>Lohnarbeiter verwan<strong>de</strong>lt, und eben dadurch unfähig gemacht, jenen Überfluß von Produktensich anzueignen. Die Spaltung <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, übermäßig reiche, und e<strong>in</strong>e große,besitzlose Lohnarbeiterklasse bewirkt, daß diese Gesellschaft <strong>in</strong> ihrem eignen Überfluß erstickt,während die große Mehrzahl ihrer Glie<strong>de</strong>r kaum, o<strong>de</strong>r nicht e<strong>in</strong>mal, vor <strong>de</strong>m äußersten Mangelgeschützt ist. Dieser Zustand wird mit je<strong>de</strong>m Tag wi<strong>de</strong>rs<strong>in</strong>niger und – unnötiger. Er muß beseitigtwer<strong>de</strong>n, er kann beseitigt wer<strong>de</strong>n. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> neue Gesellschaftsordnung ist möglich, wor<strong>in</strong> dieheutigen Klassenunterschie<strong>de</strong> verschwun<strong>de</strong>n s<strong>in</strong>d, und wo – vielleicht nach e<strong>in</strong>er kurzen, etwasknappen, aber je<strong>de</strong>nfalls moralisch sehr nützlichen Übergangszeit – durch planmäßige Ausnutzungund Weiterbildung <strong>de</strong>r schon vorhandnen ungeheuren Produktivkräfte aller Gesellschaftsglie<strong>de</strong>r,bei gleicher Arbeitspflicht, auch die Mittel zum Leben, zum Lebensgenuß, zur Ausbildungund Betätigung aller körperlichen und geistigen Fähigkeiten gleichmäßig und <strong>in</strong> stetswachsen<strong>de</strong>r Fülle zur Verfügung stehn.Karl Marx: Aus: MEW Bd.23, S. 246ffArbeitstag I a b c,Arbeitstag II a b c,Arbeitstag III a b c,Der Arbeitstag ist also ke<strong>in</strong>e konstante, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e variable Größe. <strong>E<strong>in</strong>e</strong>r se<strong>in</strong>er <strong>Teil</strong>e ist zwarbestimmt durch die zur beständigen Reproduktion <strong>de</strong>s Arbeiters selbst erheischte Arbeitszeit,aber se<strong>in</strong>e Gesamtgröße wechselt mit <strong>de</strong>r Länge o<strong>de</strong>r Dauer <strong>de</strong>r Mehrarbeit. Der Arbeitstag istdaher bestimmbar, aber an und für sich unbestimmt.Obgleich nun <strong>de</strong>r Arbeitstag ke<strong>in</strong>e feste, son<strong>de</strong>rn e<strong>in</strong>e fließen<strong>de</strong> Größe ist, kann er andrerseitsnur <strong>in</strong>nerhalb gewisser Schranken variieren. Se<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>imalschranke ist jedoch unbestimmbar.Allerd<strong>in</strong>gs, setzen wir die Verlängerungsl<strong>in</strong>ie b c, o<strong>de</strong>r die Mehrarbeit, = 0, so erhalten wir e<strong>in</strong>eM<strong>in</strong>imalschranke, nämlich <strong>de</strong>n <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Tags, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiter notwendig zu se<strong>in</strong>er Selbsterhaltungarbeiten muß. Auf Grundlage <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise kann die notwendigeArbeit aber immer nur e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>es Arbeitstages bil<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Arbeitstag sich also nie auf diesM<strong>in</strong>imum verkürzen. Dagegen besitzt <strong>de</strong>r Arbeitstag e<strong>in</strong>e Maximalschranke. Er ist über e<strong>in</strong>e gewisseGrenze h<strong>in</strong>aus nicht verlängerbar. Diese Maximalschranke ist doppelt bestimmt. E<strong>in</strong>maldurch die physische Schranke <strong>de</strong>r Arbeitskraft. E<strong>in</strong> Mensch kann während <strong>de</strong>s natürlichen Tagsvon 24 Stun<strong>de</strong>n nur e<strong>in</strong> bestimmtes Quantum Lebenskraft verausgaben. So kann e<strong>in</strong> Pferd tagaus,tage<strong>in</strong> nur 8 Stun<strong>de</strong>n arbeiten. Während e<strong>in</strong>es <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>s Tags muß die Kraft ruhen, schlafen,während e<strong>in</strong>es andren <strong>Teil</strong>s hat <strong>de</strong>r Mensch andre physische Bedürfnisse zu befriedigen, sich zunähren, re<strong>in</strong>igen, klei<strong>de</strong>n usw. Außer dieser re<strong>in</strong> physischen Schranke stößt die Verlängrung <strong>de</strong>sArbeitstags auf moralische Schranken. Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger undsozialer Bedürfnisse, <strong>de</strong>ren Umfang und Zahl durch <strong>de</strong>n allgeme<strong>in</strong>en Kulturzustand bestimmts<strong>in</strong>d. Die Variation <strong>de</strong>s Arbeitstags bewegt sich daher <strong>in</strong>nerhalb physischer und sozialer Schran-536Was hat Engels hier übersehen? Denn zugrun<strong>de</strong> gegangen ist diese Produktionsweise schließlich noch nicht. Im Gegenteil... sie sche<strong>in</strong>tdoch alles <strong>in</strong> allem e<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>drucken<strong>de</strong>s Revival erlebt zu haben.321


ken. Bei<strong>de</strong> Schranken s<strong>in</strong>d aber sehr elastischer Natur und erlauben <strong>de</strong>n größten Spielraum. Sof<strong>in</strong><strong>de</strong>n wir Arbeitstage von 8, 10, 12, 14, 16, 18 Stun<strong>de</strong>n, also von <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nsten Länge.Der <strong>Kapital</strong>ist hat die Arbeitskraft zu ihrem Tageswert gekauft. Ihm gehört ihr Gebrauchswertwährend e<strong>in</strong>es Arbeitstags. Er hat also das Recht erlangt, <strong>de</strong>n Arbeiter während e<strong>in</strong>es Tags fürsich arbeiten zu lassen. Aber was ist e<strong>in</strong> Arbeitstag? Je<strong>de</strong>nfalls weniger als e<strong>in</strong> natürlicher Lebenstag.Um wieviel? Der <strong>Kapital</strong>ist hat se<strong>in</strong>e eigne Ansicht über dies ultima Thule, die notwendigeSchranke <strong>de</strong>s Arbeitstags. Als <strong>Kapital</strong>ist ist er nur personifiziertes <strong>Kapital</strong>. Se<strong>in</strong>e Seele ist die<strong>Kapital</strong>seele. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> hat aber e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Lebenstrieb, <strong>de</strong>n Trieb, sich zu verwerten,Mehrwert zu schaffen, mit se<strong>in</strong>em konstanten <strong>Teil</strong>, <strong>de</strong>n Produktionsmitteln, die größtmöglicheMasse Mehrarbeit e<strong>in</strong>zusaugen. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebtdurch E<strong>in</strong>saugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon e<strong>in</strong>saugt. DieZeit, während <strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während <strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist die von ihmgekaufte Arbeitskraft konsumiert. Konsumiert <strong>de</strong>r Arbeiter se<strong>in</strong>e disponible Zeit für sich selbst,so bestiehlt er <strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>isten.Der <strong>Kapital</strong>ist beruft sich also auf das Gesetz <strong>de</strong>s Warenaustausches. Er, wie je<strong>de</strong>r andre Käufer,sucht<strong>de</strong>n größtmöglichen Nutzen aus <strong>de</strong>m Gebrauchswert se<strong>in</strong>er Ware herauszuschlagen. Plötzlichaber erhebt sich die Stimme <strong>de</strong>s Arbeiters, die im Sturm und Drang <strong>de</strong>s Produktionsprozessesverstummt war:Die Ware, die ich dir verkauft habe, unterschei<strong>de</strong>t sich von <strong>de</strong>m andren Warenpöbel dadurch,daß ihr Gebrauch Wert schafft und größren Wert, als sie selbst kostet. Dies war <strong>de</strong>r Grund, warumdu sie kauftest. Was auf <strong>de</strong><strong>in</strong>er Seite als Verwertung von <strong>Kapital</strong> ersche<strong>in</strong>t, ist auf me<strong>in</strong>erSeite überschüssige Verausgabung von Arbeitskraft. Du und ich kennen auf <strong>de</strong>m Marktplatz nure<strong>in</strong> Gesetz, das <strong>de</strong>s Warenaustausches. Und <strong>de</strong>r Konsum <strong>de</strong>r Ware gehört nicht <strong>de</strong>m Verkäufer,<strong>de</strong>r sie veräußert, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Käufer, <strong>de</strong>r sie erwirbt. Dir gehört daher <strong>de</strong>r Gebrauch me<strong>in</strong>ertäglichen Arbeitskraft. Aber vermittelst ihres täglichen Verkaufspreises muß ich sie täglich reproduzierenund daher von neuem verkaufen können. Abgesehn von <strong>de</strong>m natürlichen Verschleißdurch Alter usw., muß ich fähig se<strong>in</strong>, morgen mit <strong>de</strong>mselben Normalzustand von Kraft, Gesundheitund Frische zu arbeiten, wie heute. Du predigst mir beständig das Evangelium <strong>de</strong>r 'Sparsamkeit'und 'Enthaltung'. Nun gut! Ich will wie e<strong>in</strong> vernünftiger, sparsamer Wirt me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigesVermögen, die Arbeitskraft, haushalten und mich je<strong>de</strong>r tollen Verschwendung <strong>de</strong>rselben enthalten.Ich will täglich nur soviel von ihr flüssig machen, <strong>in</strong> Bewegung, <strong>in</strong> Arbeit umsetzen, als sichmit ihrer Normaldauer und gesun<strong>de</strong>n Entwicklung verträgt. Durch maßlose Verlängrung <strong>de</strong>s Arbeitstagskannst du <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tage e<strong>in</strong> größres Quantum me<strong>in</strong>er Arbeitskraft flüssig machen, alsich <strong>in</strong> drei Tagen ersetzen kann. Was du so an Arbeit gew<strong>in</strong>nst, verliere ich an Arbeitssubstanz.Die Benutzung me<strong>in</strong>er Arbeitskraft und die Beraubung <strong>de</strong>rselben s<strong>in</strong>d ganz verschiedne D<strong>in</strong>ge.Wenn die Durchschnittsperio<strong>de</strong>, die e<strong>in</strong> Durchschnittsarbeiter bei vernünftigem Arbeitsmaß lebenkann, 30 Jahre beträgt, ist <strong>de</strong>r Wert me<strong>in</strong>er Arbeitskraft, <strong>de</strong>n du mir e<strong>in</strong>en Tag <strong>in</strong> <strong>de</strong>n andrenzahlst, 1/365x30 o<strong>de</strong>r 1/10950 ihres Gesamtwerts. Konsumierst du sie aber <strong>in</strong> 10 Jahren, sozahlst du mir täglich 1/10950 statt 1/3650 ihres Gesamtwerts, also nur 1/3 ihres Tageswerts,und stiehlst mir daher täglich 2/3 <strong>de</strong>s Werts me<strong>in</strong>er Ware. Du zahlst mir e<strong>in</strong>tägige Arbeitskraft,wo du dreitägige verbrauchst. <strong>Das</strong> ist wi<strong>de</strong>r unsren Vertrag und das Gesetz <strong>de</strong>s Warenaustausches.Ich verlange also e<strong>in</strong>en Arbeitstag von normaler Länge, und ich verlange ihn ohne Appellan <strong>de</strong><strong>in</strong> Herz, <strong>de</strong>nn <strong>in</strong> Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf. Du magst e<strong>in</strong> Musterbürger se<strong>in</strong>,vielleicht Mitglied <strong>de</strong>s Vere<strong>in</strong>s zur Abschaffung <strong>de</strong>r Tierquälerei und obendre<strong>in</strong> im Geruch <strong>de</strong>rHeiligkeit stehn, aber <strong>de</strong>m D<strong>in</strong>g, das du mir gegenüber repräsentierst, schlägt ke<strong>in</strong> Herz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er322


Brust. Was dar<strong>in</strong> zu pochen sche<strong>in</strong>t, ist me<strong>in</strong> eigner Herzschlag. Ich verlange <strong>de</strong>n Normalarbeitstag,weil ich <strong>de</strong>n Wert me<strong>in</strong>er Ware verlange, wie je<strong>de</strong>r andre Verkäufer.Man sieht: Von ganz elastischen Schranken abgesehn, ergibt sich aus <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Warenaustauschesselbst ke<strong>in</strong>e Grenze <strong>de</strong>s Arbeitstags, also ke<strong>in</strong>e Grenze <strong>de</strong>r Mehrarbeit. Der <strong>Kapital</strong>istbehauptet se<strong>in</strong> Recht als Käufer, wenn er <strong>de</strong>n Arbeitstag so lang als möglich und womöglich ause<strong>in</strong>em Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur <strong>de</strong>r verkauftenWare e<strong>in</strong>e Schranke ihres Konsums durch <strong>de</strong>n Käufer e<strong>in</strong>, und <strong>de</strong>r Arbeiter behauptet se<strong>in</strong>Recht als Verkäufer, wenn er <strong>de</strong>n Arbeitstag auf e<strong>in</strong>e bestimmte Normalgröße beschränken will.Es f<strong>in</strong><strong>de</strong>t hier also e<strong>in</strong>e Ant<strong>in</strong>omie statt, Recht wi<strong>de</strong>r Recht, bei<strong>de</strong> gleichmäßig durch das Gesetz<strong>de</strong>s Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entschei<strong>de</strong>t die Gewalt. Und sostellt sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion die Normierung <strong>de</strong>s Arbeitstags alsKampf um die Schranken <strong>de</strong>s Arbeitstags dar – e<strong>in</strong> Kampf zwischen <strong>de</strong>m Gesamtkapitalisten,d.h. <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>isten, und <strong>de</strong>m Gesamtarbeiter, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeiterklasse.Karl Marx: Aus: MEW 23, S.654ffDer Konkurrenzkampf wird durch Verwohlfeilerung <strong>de</strong>r Waren geführt. Die Wohlfeilheit <strong>de</strong>rWaren hängt, caeteris paribus, von <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit, diese aber von <strong>de</strong>r Stufenleiter<strong>de</strong>r Produktion ab. Die größeren <strong>Kapital</strong>e schlagen daher die kle<strong>in</strong>eren. Man er<strong>in</strong>nert sich ferner,daß mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise <strong>de</strong>r M<strong>in</strong>imalumfang <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen<strong>Kapital</strong>s wächst, das erheischt ist, um e<strong>in</strong> Geschäft unter se<strong>in</strong>en normalen Bed<strong>in</strong>gungen zubetreiben. Die kle<strong>in</strong>eren <strong>Kapital</strong>e drängen sich daher <strong>in</strong> Produktionssphären, <strong>de</strong>ren sich die großeIndustrie nur noch sporadisch o<strong>de</strong>r unvollkommen bemächtigt hat. Die Konkurrenz rast hierim direkten Verhältnis zur Anzahl und im umgekehrten Verhältnis zur Größe <strong>de</strong>r rivalisieren<strong>de</strong>n<strong>Kapital</strong>e. Sie en<strong>de</strong>t stets mit Untergang vieler kle<strong>in</strong>eren <strong>Kapital</strong>isten, <strong>de</strong>ren <strong>Kapital</strong>e teils <strong>in</strong> dieHand <strong>de</strong>s Siegers übergehn, teils untergehn. Abgesehn hiervon bil<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktion e<strong>in</strong>e ganz neue Macht, das Kreditwesen, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen verstohlen,als bescheidne Beihilfe <strong>de</strong>r Akkumulation, sich e<strong>in</strong>schleicht, durch unsichtbare Fä<strong>de</strong>n die überdie Oberfläche <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>in</strong> größern o<strong>de</strong>r kle<strong>in</strong>ern Massen zersplitterten Geldmittel <strong>in</strong> dieHän<strong>de</strong> <strong>in</strong>dividueller o<strong>de</strong>r assoziierter <strong>Kapital</strong>isten zieht, aber bald e<strong>in</strong>e neue und furchtbare Waffeim Konkurrenzkampf wird und sich schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ungeheuren sozialen Mechanismus zurZentralisation <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e verwan<strong>de</strong>lt.Im Maß wie die kapitalistische Produktion und Akkumulation, im selben Maß entwickeln sichKonkurrenz und Kredit, die bei<strong>de</strong>n mächtigsten Hebel <strong>de</strong>r Zentralisation. Daneben vermehrt <strong>de</strong>rFortschritt <strong>de</strong>r Akkumulation <strong>de</strong>n zentralisierbaren Stoff, d.h. die E<strong>in</strong>zelkapitale, während dieAusweitung <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion, hier das gesellschaftliche Bedürfnis, dort die technischenMittel jener gewaltigen <strong>in</strong>dustriellen Unternehmungen schafft, <strong>de</strong>ren Durchführung ane<strong>in</strong>e vorgängige Zentralisation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s gebun<strong>de</strong>n ist. Heutzutage ist also die gegenseitigeAttraktionskraft <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>zelkapitale und die Ten<strong>de</strong>nz zur Zentralisation stärker als je zuvor. Wennaber auch die relative Aus<strong>de</strong>hnung und Energie <strong>de</strong>r zentralisieren<strong>de</strong>n Bewegung <strong>in</strong> gewissemGrad bestimmt ist durch die schon erreichte Größe <strong>de</strong>s kapitalistischen Reichtums und die Überlegenheit<strong>de</strong>s ökonomischen Mechanismus, so hängt doch <strong>de</strong>r Fortschritt <strong>de</strong>r Zentralisation ke<strong>in</strong>eswegsab von <strong>de</strong>m positiven Größenwachstum <strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>s. Und dies speziellunterschei<strong>de</strong>t die Zentralisation von <strong>de</strong>r Konzentration, die nur e<strong>in</strong> andrer Ausdruck für dieReproduktion auf erweiterter Stufenleiter ist. Die Zentralisation kann erfolgen durch bloße verän<strong>de</strong>rteVerteilung schon bestehen<strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>e, durch e<strong>in</strong>fache Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r quantitativen323


Gruppierung <strong>de</strong>r Bestandteile <strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>s. <strong>Das</strong> <strong>Kapital</strong> kann hier zu gewaltigenMassen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand anwachsen, weil es dort vielen e<strong>in</strong>zelnen Hän<strong>de</strong>n entzogen wird. Ine<strong>in</strong>em gegebnen Geschäftszweig hätte die Zentralisation ihre äußerste Grenze erreicht, wennalle dar<strong>in</strong> angelegten <strong>Kapital</strong>e zu e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zelkapital verschmolzen wären. 537 In e<strong>in</strong>er gegebnenGesellschaft wäre diese Grenze erreicht erst <strong>in</strong> <strong>de</strong>m Augenblick, wo das gesamte gesellschaftliche<strong>Kapital</strong> vere<strong>in</strong>igt wäre <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Hand, sei es e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen <strong>Kapital</strong>isten, sei es e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen<strong>Kapital</strong>istengesellschaft.Die Zentralisation ergänzt das Werk <strong>de</strong>r Akkumulation, <strong>in</strong><strong>de</strong>m sie die <strong>in</strong>dustriellen <strong>Kapital</strong>isten<strong>in</strong>stand setzt, die Stufenleiter ihrer Operationen auszu<strong>de</strong>hnen. Sei dies letztre Resultat nun Folge<strong>de</strong>r Akkumulation o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Zentralisation; vollziehe sich die Zentralisation auf <strong>de</strong>m gewaltsamenWeg <strong>de</strong>r Annexion – wo gewisse <strong>Kapital</strong>e so überwiegen<strong>de</strong> Gravitationszentren für andre wer<strong>de</strong>n,daß sie <strong>de</strong>ren <strong>in</strong>dividuelle Kohäsion brechen und dann die vere<strong>in</strong>zelten Bruchstücke an sichziehn – o<strong>de</strong>r geschehe die Verschmelzung e<strong>in</strong>er Menge bereits gebil<strong>de</strong>ter, resp. <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Bildungbegriffner <strong>Kapital</strong>e vermittelst <strong>de</strong>s glatteren Verfahrens <strong>de</strong>r Bildung von Aktiengesellschaften –die ökonomische Wirkung bleibt dieselbe. 538 Die gewachsne Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Etablissementsbil<strong>de</strong>t überall <strong>de</strong>n Ausgangspunkt für e<strong>in</strong>e umfassen<strong>de</strong>re Organisation <strong>de</strong>r Gesamtarbeitvieler, für e<strong>in</strong>e breitre Entwicklung ihrer materiellen Triebkräfte, d.h. für die fortschreiten<strong>de</strong>Umwandlung vere<strong>in</strong>zelter und gewohnheitsmäßig betriebner Produktionsprozesse <strong>in</strong> gesellschaftlichkomb<strong>in</strong>ierte und wissenschaftlich disponierte Produktionsprozesse.Es ist aber klar, daß die Akkumulation, die allmähliche Vermehrung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s durch die aus<strong>de</strong>r Kreisform <strong>in</strong> die Spirale übergehen<strong>de</strong> Reproduktion e<strong>in</strong> gar langsames Verfahren ist, im Vergleichmit <strong>de</strong>r Zentralisation, die nur die quantitative Gruppierung <strong>de</strong>r <strong>in</strong>tegrieren<strong>de</strong>n <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>sgesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>s zu än<strong>de</strong>rn braucht. Die Welt wäre noch ohne Eisenbahnen, hätte siesolange warten müssen, bis die Akkumulation e<strong>in</strong>ige E<strong>in</strong>zelkapitale dah<strong>in</strong> gebracht hätte, <strong>de</strong>mBau e<strong>in</strong>er Eisenbahn gewachsen zu se<strong>in</strong>. Die Zentralisation dagegen hat dies, vermittelst <strong>de</strong>r Aktiengesellschaften,im Handumdrehn fertiggebracht. Und während die Zentralisation so die Wirkungen<strong>de</strong>r Akkumulation steigert und beschleunigt, erweitert und beschleunigt sie gleichzeitigdie Umwälzungen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r technischen Zusammensetzung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, die <strong>de</strong>ssen konstanten <strong>Teil</strong>vermehren auf Kosten se<strong>in</strong>es variablen <strong>Teil</strong>s und damit die relative Nachfrage nach Arbeit verm<strong>in</strong><strong>de</strong>rn.Die durch die Zentralisation über Nacht zusammengeschweißten <strong>Kapital</strong>massen reproduzierenund vermehren sich wie die andren, nur rascher, und wer<strong>de</strong>n damit zu neuen mächtigen Hebeln<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Akkumulation. Spricht man also vom Fortschritt <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Akkumulation,so s<strong>in</strong>d dar<strong>in</strong> – heutzutage – die Wirkungen <strong>de</strong>r Zentralisation stillschweigend e<strong>in</strong>begriffen.Die im Lauf <strong>de</strong>r normalen Akkumulation gebil<strong>de</strong>ten Zusatzkapitale dienen vorzugsweise als Vehikelzur Exploitation neuer Erf<strong>in</strong>dungen und Ent<strong>de</strong>ckungen, überhaupt <strong>in</strong>dustrieller Vervoll-537An dieser Stelle fügte Friedrich Engels zur 4. Auflage <strong>de</strong>s "<strong>Kapital</strong>" folgen<strong>de</strong> Fußnote e<strong>in</strong>:"Die neuesten englischen und amerikanischen 'Trusts' streben dies Ziel bereits an, <strong>in</strong><strong>de</strong>m sie versuchen, wenigstens sämtliche Großbetriebee<strong>in</strong>es Geschäftszweigs zu e<strong>in</strong>er großen Aktiengesellschaft mit praktischem Mono<strong>pol</strong> zu vere<strong>in</strong>igen." (MEW 23, S.655 Fußnote)Wir schnuppern hier bereits an e<strong>in</strong>er neuen Stufe <strong>de</strong>r Entwicklung: Individuelle <strong>Kapital</strong>e, heute als transnationale Konzerne bezeichnet,verän<strong>de</strong>rn durch schiere Größe die Marktgesetze und das Akkumulationsregime.538Heute spricht man verharmlosend von "Mergers and Acquisitions", etwas weniger harmlos von "fe<strong>in</strong>dlicher Übernahme". Tatsächlichist es e<strong>in</strong>e Art fortdauern<strong>de</strong>r Wirtschaftskrieg mit Ruhepausen, bei <strong>de</strong>m (manchmal) auch tote Soldaten und Zivilisten gezählt wer<strong>de</strong>n können.Aber immer geht es um vernichtete Arbeitsplätze und an <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>r Gesellschaft gedrängte o<strong>de</strong>r <strong>in</strong>s Elend gestürzte ehemalige"Mit"-Arbeiter.324


kommnungen. Aber auch das alte <strong>Kapital</strong> erreicht mit <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>n Moment se<strong>in</strong>er Erneuerungan Haupt und Glie<strong>de</strong>rn, wo es sich häutet und ebenfalls wie<strong>de</strong>rgeboren wird <strong>in</strong> <strong>de</strong>r vervollkommnetentechnischen Gestalt, wor<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Masse Arbeit genügte, e<strong>in</strong>e größere MasseMasch<strong>in</strong>erie und Rohstoffe <strong>in</strong> Bewegung zu setzen. Die hieraus notwendig folgen<strong>de</strong> absoluteAbnahme <strong>de</strong>r Nachfrage nach Arbeit wird selbstre<strong>de</strong>nd um so größer, je mehr die diesen Erneuerungsprozeßdurchmachen<strong>de</strong>n <strong>Kapital</strong>e bereits zu Massen angehäuft s<strong>in</strong>d vermöge <strong>de</strong>rzentralisieren<strong>de</strong>n Bewegung.<strong>E<strong>in</strong>e</strong>rseits attrahiert also das im Fortgang <strong>de</strong>r Akkumulation gebil<strong>de</strong>te Zuschußkapital, verhältnismäßigzu se<strong>in</strong>er Größe, weniger und weniger Arbeiter. Andrerseits repelliert das periodisch <strong>in</strong>neuer Zusammensetzung reproduzierte alte <strong>Kapital</strong> mehr und mehr früher von ihm beschäftigteArbeiter. 539Karl Marx: Aus: MEW 23, S.673ffJe größer <strong>de</strong>r gesellschaftliche Reichtum, das funktionieren<strong>de</strong> <strong>Kapital</strong>, Umfang und Energie se<strong>in</strong>esWachstums, also auch die absolute Größe <strong>de</strong>s Proletariats und die Produktivkraft se<strong>in</strong>er Arbeit,<strong>de</strong>sto größer die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselbenUrsachen entwickelt wie die Expansivkraft <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Die verhältnismäßige Größe <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellenReservearmee wächst also mit <strong>de</strong>n Potenzen <strong>de</strong>s Reichtums. Je größer aber diese Reservearmeeim Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, <strong>de</strong>sto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung,<strong>de</strong>ren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich dieLazarusschichte <strong>de</strong>r Arbeiterklasse und die <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee, <strong>de</strong>sto größer <strong>de</strong>r offiziellePauperismus. Dies ist das absolute, allgeme<strong>in</strong>e Gesetz <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation. Es wirdgleich allen andren Gesetzen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Verwirklichung durch mannigfache Umstän<strong>de</strong> modifiziert,<strong>de</strong>ren Analyse nicht hierher gehört.Man begreift die Narrheit <strong>de</strong>r ökonomischen Weisheit, die <strong>de</strong>n Arbeitern predigt, ihre Zahl <strong>de</strong>nVerwertungsbedürfnissen <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s anzupassen. Der Mechanismus <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionund Akkumulation paßt diese Zahl beständig diesen Verwertungsbedürfnissen an. ErstesWort dieser Anpassung ist die Schöpfung e<strong>in</strong>er relativen Übervölkerung o<strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustriellen Reservearmee,letztes Wort das Elend stets wachsen<strong>de</strong>r Schichten <strong>de</strong>r aktiven Arbeiterarmee und dastote Gewicht <strong>de</strong>s Pauperismus.<strong>Das</strong> Gesetz, wonach e<strong>in</strong>e immer wachsen<strong>de</strong> Masse von Produktionsmitteln, dank <strong>de</strong>m Fortschritt<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit, mit e<strong>in</strong>er progressiv abnehmen<strong>de</strong>n Ausgabevon Menschenkraft <strong>in</strong> Bewegung gesetzt wer<strong>de</strong>n kann – dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischerGrundlage, wo nicht <strong>de</strong>r Arbeiter die Arbeitsmittel, son<strong>de</strong>rn die Arbeitsmittel <strong>de</strong>n Arbeiteranwen<strong>de</strong>n, dar<strong>in</strong> aus, daß, je höher die Produktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit, <strong>de</strong>sto größer <strong>de</strong>r Druck<strong>de</strong>r Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, <strong>de</strong>sto prekärer also ihre Existenzbed<strong>in</strong>gung: Verkauf<strong>de</strong>r eignen Kraft zur Vermehrung <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Reichtums o<strong>de</strong>r zur Selbstverwertung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s.Rascheres Wachstum <strong>de</strong>r Produktionsmittel und <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit als <strong>de</strong>r produktivenBevölkerung drückt sich kapitalistisch also umgekehrt dar<strong>in</strong> aus, daß die Arbeiterbevölkerungstets rascher wächst als das Verwertungsbedürfnis <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s.539attrahieren be<strong>de</strong>utet anziehen o<strong>de</strong>r b<strong>in</strong><strong>de</strong>n; repellieren be<strong>de</strong>utet zurückweisen o<strong>de</strong>r abweisen. Hier greift M. das Ergebnis se<strong>in</strong>er Analysezum relativen Mehrwert wie<strong>de</strong>r auf. Was als "weniger attrahiert" und "repelliert mehr und mehr" auftaucht, haben wir <strong>in</strong> Bezug auf<strong>de</strong>n Gesamtarbeiter als beständigen Wechsel von Freisetzung und Aus<strong>de</strong>hnung von Arbeitskraft bereits kennengelernt.325


Wir sahen im vierten Abschnitt bei Analyse <strong>de</strong>r Produktion <strong>de</strong>s relativen Mehrwerts: <strong>in</strong>nerhalb<strong>de</strong>s kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Metho<strong>de</strong>n zur Steigerung <strong>de</strong>r gesellschaftlichenProduktivkraft <strong>de</strong>r Arbeit auf Kosten <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung <strong>de</strong>rProduktion schlagen um <strong>in</strong> Beherrschungs- und Exploitationsmittel <strong>de</strong>s Produzenten, verstümmeln<strong>de</strong>n Arbeiter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong>menschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel <strong>de</strong>r Masch<strong>in</strong>e, vernichtenmit <strong>de</strong>r Qual se<strong>in</strong>er Arbeit ihren Inhalt, entfrem<strong>de</strong>n ihm die geistigen Potenzen <strong>de</strong>s Arbeitsprozessesim selben Maße, wor<strong>in</strong> letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz e<strong>in</strong>verleibtwird; sie verunstalten die Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>ren er arbeitet, unterwerfen ihn während<strong>de</strong>s Arbeitsprozesses <strong>de</strong>r kle<strong>in</strong>lichst gehässigen Despotie, verwan<strong>de</strong>ln se<strong>in</strong>e Lebenszeit <strong>in</strong>Arbeitszeit, schleu<strong>de</strong>rn se<strong>in</strong> Weib und K<strong>in</strong>d unter das Juggernaut-Rad 540 <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s. Aber alleMetho<strong>de</strong>n zur Produktion <strong>de</strong>s Mehrwerts s<strong>in</strong>d zugleich Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Akkumulation, und je<strong>de</strong>Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Metho<strong>de</strong>n. Es folgtdaher, daß im Maße wie <strong>Kapital</strong> akkumuliert, die Lage <strong>de</strong>s Arbeiters, welches immer se<strong>in</strong>e Zahlung,hoch o<strong>de</strong>r niedrig, sich verschlechtern muß. <strong>Das</strong> Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerungo<strong>de</strong>r <strong>in</strong>dustrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie <strong>de</strong>r Akkumulation <strong>in</strong>Gleichgewicht hält, schmie<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Arbeiter fester an das <strong>Kapital</strong> als <strong>de</strong>n Prometheus die Keile<strong>de</strong>s Hephästos 541 an <strong>de</strong>n Felsen. Es bed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e <strong>de</strong>r Akkumulation von <strong>Kapital</strong> entsprechen<strong>de</strong>Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf <strong>de</strong>m e<strong>in</strong>en Pol ist also zugleichAkkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischerDegradation auf <strong>de</strong>m Gegen<strong>pol</strong>, d.h. auf Seite <strong>de</strong>r Klasse, die ihr eignes Produkt als <strong>Kapital</strong> produziert.Dieser antagonistische Charakter <strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation ist <strong>in</strong> verschiednen Formenvon <strong>pol</strong>itischen Ökonomen ausgesprochen, obgleich sie zum <strong>Teil</strong> zwar analoge, aber <strong>de</strong>nnochwesentlich verschie<strong>de</strong>ne Ersche<strong>in</strong>ungen vorkapitalistischer Produktionsweisen damit zusammenwerfen.Karl Marx / Friedrich Engels: Aus: MEW 4, S.467ffDie Produktions- und Verkehrsmittel, auf <strong>de</strong>ren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbil<strong>de</strong>te,wur<strong>de</strong>n <strong>in</strong> <strong>de</strong>r feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf e<strong>in</strong>er gewissen Stufe <strong>de</strong>r Entwicklung dieserProduktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, wor<strong>in</strong> die feudale Gesellschaftproduzierte und austauschte, die feudale Organisation <strong>de</strong>r Agrikultur und Manufaktur, mit e<strong>in</strong>emWort die feudalen Eigentumsverhältnisse <strong>de</strong>n schon entwickelten Produktivkräften nicht540Juggernaut-Rad: Anspielung auf e<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>duistischen Prozessionskult, bei <strong>de</strong>m sich angeblich Pilger <strong>in</strong> religiöser Raserei unter die Rä<strong>de</strong>rtonnenschwerer Wagen warfen, auf <strong>de</strong>nen e<strong>in</strong> Bildnis <strong>de</strong>s Wischnu-Juggernaut montiert war.541Wie<strong>de</strong>r mal e<strong>in</strong> Beispiel für M.s humanistische Bildung: Prometheus stiehlt <strong>in</strong> <strong>de</strong>r griechischen Mythologie <strong>de</strong>n Göttern das Feuer, umes <strong>de</strong>n Menschen zu schenken. Zeus, <strong>de</strong>r kle<strong>in</strong>liche Tyrann, bestrafte zunächst die Menschen mit Krankheit und Seuchen; die berühmteBüchse <strong>de</strong>r Pandora wur<strong>de</strong> zu diesem Zweck geöffnet.Prometheus wird zur Strafe im Kaukasus an e<strong>in</strong>en Felsen geschmie<strong>de</strong>t. Dabei bedient sich Zeus e<strong>in</strong>iger Donnerkeile, für die Hephaistos,<strong>de</strong>r Gott <strong>de</strong>s Feuers und <strong>de</strong>r Schmie<strong>de</strong>, als olympischer Zulieferer zuständig ist. Dem Prometheus rupft täglich e<strong>in</strong> Adler die Leber aus <strong>de</strong>mLeib, die bis zum nächsten Adlerbesuch immer wie<strong>de</strong>r nachwächst. Erst Superheld Herakles befreit Prometheus von göttlicher Folter undbewährt sich dabei als Trickbetrüger. Weil nämlich Zeus geschworen hat, Prometheus solle ewig am Felsen angeschmie<strong>de</strong>t se<strong>in</strong>, trägtPrometheus nach se<strong>in</strong>er Freisetzung e<strong>in</strong>en <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r Kette mit e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Felsstück ständig bei sich. Pfiffig? Offenbar s<strong>in</strong>d die Vollgötternoch dämlicher als die Halbgötter.326


mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu för<strong>de</strong>rn. Sie verwan<strong>de</strong>lten sich <strong>in</strong> ebenso vieleFesseln. Sie mußten gesprengt wer<strong>de</strong>n, sie wur<strong>de</strong>n gesprengt.An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit <strong>de</strong>r ihr angemessenen gesellschaftlichen und <strong>pol</strong>itischenKonstitution, mit <strong>de</strong>r ökonomischen und <strong>pol</strong>itischen Herrschaft <strong>de</strong>r Bourgeoisklasse.Unter unsern Augen geht e<strong>in</strong>e ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse,die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die mo<strong>de</strong>rne bürgerliche Gesellschaft,die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht <strong>de</strong>m Hexenmeister,<strong>de</strong>r die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.Seit Dezennien ist die Geschichte <strong>de</strong>r Industrie und <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls nur die Geschichte <strong>de</strong>r Empörung<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Produktivkräfte gegen die mo<strong>de</strong>rnen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse,welche die Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Bourgeoisie und ihrer Herrschaft s<strong>in</strong>d.Es genügt, die Han<strong>de</strong>lskrisen zu nennen, welche <strong>in</strong> ihrer periodischen Wie<strong>de</strong>rkehr immer drohen<strong>de</strong>rdie Existenz <strong>de</strong>r ganzen bürgerlichen Gesellschaft <strong>in</strong> Frage stellen. In <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>lskrisenwird e<strong>in</strong> großer <strong>Teil</strong> nicht nur <strong>de</strong>r erzeugten Produkte, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r bereits geschaffenen Produktivkräfteregelmäßig vernichtet. In <strong>de</strong>n Krisen bricht e<strong>in</strong>e gesellschaftliche Epi<strong>de</strong>mie aus, welcheallen früheren Epochen als e<strong>in</strong> Wi<strong>de</strong>rs<strong>in</strong>n erschienen wäre – die Epi<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Überproduktion.Die Gesellschaft f<strong>in</strong><strong>de</strong>t sich plötzlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; e<strong>in</strong>eHungersnot, e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er Vernichtungskrieg sche<strong>in</strong>en ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zuhaben; die Industrie, <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l sche<strong>in</strong>en vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuvielLebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Han<strong>de</strong>l besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügungstehen, dienen nicht mehr zur Beför<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; imGegenteil, sie s<strong>in</strong>d zu gewaltig für diese Verhältnisse gewor<strong>de</strong>n, sie wer<strong>de</strong>n von ihnen gehemmt;und sobald sie dies Hemmnis überw<strong>in</strong><strong>de</strong>n, br<strong>in</strong>gen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft<strong>in</strong> Unordnung, gefähr<strong>de</strong>n sie die Existenz <strong>de</strong>s bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichenVerhältnisse s<strong>in</strong>d zu eng gewor<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurchüberw<strong>in</strong><strong>de</strong>t die Bourgeoisie die Krisen? <strong>E<strong>in</strong>e</strong>rseits durch die erzwungene Vernichtung e<strong>in</strong>erMasse von Produktivkräften; an<strong>de</strong>rseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichereAusbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigereKrisen vorbereitet und die Mittel, <strong>de</strong>n Krisen vorzubeugen, verm<strong>in</strong><strong>de</strong>rt.Die Waffen, womit die Bourgeoisie <strong>de</strong>n Feudalismus zu Bo<strong>de</strong>n geschlagen hat, richten sich jetztgegen die Bourgeoisie selbst.Karl Marx: Aus: MEW 24, S.351ffDer unmittelbare Produktionsprozeß <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s ist se<strong>in</strong> Arbeits- und Verwertungsprozeß, <strong>de</strong>rProzeß, <strong>de</strong>ssen Resultat das Warenprodukt und <strong>de</strong>ssen bestimmen<strong>de</strong>s Motiv die Produktion vonMehrwert.Der Reproduktionsprozeß <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s umfaßt ebensowohl diesen unmittelbaren Produktionsprozeßwie die bei<strong>de</strong>n Phasen <strong>de</strong>s eigentlichen Zirkulationsprozesses, d.h. <strong>de</strong>n gesamten Kreislauf,<strong>de</strong>r als periodischer Prozeß – Prozeß, <strong>de</strong>r sich <strong>in</strong> bestimmten Perio<strong>de</strong>n stets von neuemwie<strong>de</strong>rholt – <strong>de</strong>n Umschlag <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s bil<strong>de</strong>t.Ob wir nun <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form G... G' o<strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form P... P betrachten, <strong>de</strong>r unmittelbareProduktionsprozeß P bil<strong>de</strong>t stets selbst nur e<strong>in</strong> Glied dieses Kreislaufs. In <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>en Form ersche<strong>in</strong>ter als Vermittlung <strong>de</strong>s Zirkulationsprozesses, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r andren Form ersche<strong>in</strong>t <strong>de</strong>r Zirkulationsprozeßals se<strong>in</strong>e Vermittlung. Se<strong>in</strong>e beständige Erneuerung, die beständige Wie<strong>de</strong>rdarstel-327


lung <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s als produktives <strong>Kapital</strong> ist bei<strong>de</strong>mal bed<strong>in</strong>gt durch se<strong>in</strong>e Verwandlungen imZirkulationsprozeß. Andrerseits ist <strong>de</strong>r beständig erneuerte Produktionsprozeß die Bed<strong>in</strong>gung<strong>de</strong>r Verwandlungen, die das <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre stets von neuem durchmacht, se<strong>in</strong>erabwechseln<strong>de</strong>n Darstellung als Geldkapital und Warenkapital.Je<strong>de</strong>s e<strong>in</strong>zelne <strong>Kapital</strong> bil<strong>de</strong>t jedoch nur e<strong>in</strong> verselbständigtes, sozusagen mit <strong>in</strong>dividuellem Lebenbegabtes Bruchstück <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Gesamtkapitals, wie je<strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelne <strong>Kapital</strong>ist nure<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles Element <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istenklasse. Die Bewegung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>sbesteht aus <strong>de</strong>r Totalität <strong>de</strong>r Bewegungen se<strong>in</strong>er verselbständigten Bruchstücke, <strong>de</strong>r Umschläge<strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e. Wie die Metamorphose <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen Ware e<strong>in</strong> Glied <strong>de</strong>rMetamorphosenreihe <strong>de</strong>r Warenwelt – <strong>de</strong>r Warenzirkulation – ist, so die Metamorphose <strong>de</strong>s <strong>in</strong>dividuellen<strong>Kapital</strong>s, se<strong>in</strong> Umschlag, e<strong>in</strong> Glied im Kreislauf <strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>s.Dieser Gesamtprozeß umschließt ebensowohl die produktive Konsumtion (<strong>de</strong>n unmittelbarenProduktionsprozeß) nebst <strong>de</strong>n Formverwandlungen (stofflich betrachtet, Austauschen), die ihnvermitteln, wie die <strong>in</strong>dividuelle Konsumtion mit <strong>de</strong>n sie vermitteln<strong>de</strong>n Formverwandlungen o<strong>de</strong>rAustauschen. Sie umschließt e<strong>in</strong>erseits <strong>de</strong>n Umsatz von variablem <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> Arbeitskraft unddaher die E<strong>in</strong>verleibung <strong>de</strong>r Arbeitskraft <strong>in</strong> <strong>de</strong>n kapitalistischen Produktionsprozeß. Hier tritt <strong>de</strong>rArbeiter als Verkäufer se<strong>in</strong>er Ware, <strong>de</strong>r Arbeitskraft, auf und <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>ist als Käufer <strong>de</strong>rselben.Andrerseits aber ist im Verkauf <strong>de</strong>r Waren e<strong>in</strong>geschlossen <strong>de</strong>r Kauf <strong>de</strong>rselben durch die Arbeiterklasse,also <strong>de</strong>ren <strong>in</strong>dividuelle Konsumtion. Hier tritt die Arbeiterklasse als Käufer auf und die<strong>Kapital</strong>isten als Warenverkäufer an die Arbeiter.Die Zirkulation <strong>de</strong>s Warenkapitals schließt die Zirkulation <strong>de</strong>s Mehrwerts e<strong>in</strong>, also auch die Käufeund Verkäufe, wodurch die <strong>Kapital</strong>isten ihre <strong>in</strong>dividuelle Konsumtion, die Konsumtion <strong>de</strong>sMehrwerts vermitteln.Der Kreislauf <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e <strong>in</strong> ihrer Zusammenfassung zum gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>,also <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Totalität betrachtet, umfaßt also nicht nur die Zirkulation <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s, son<strong>de</strong>rnauch die allgeme<strong>in</strong>e Warenzirkulation. Die letztre kann primitiv nur aus zwei Bestandteilenbestehn: <strong>1.</strong> <strong>de</strong>m eignen Kreislauf <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s und 2. <strong>de</strong>m Kreislauf <strong>de</strong>r Waren, die <strong>in</strong> die <strong>in</strong>dividuelleKonsumtion e<strong>in</strong>gehn, also <strong>de</strong>r Waren, wor<strong>in</strong> <strong>de</strong>r Arbeiter se<strong>in</strong>en Lohn und <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>istse<strong>in</strong>en Mehrwert (o<strong>de</strong>r <strong>Teil</strong> se<strong>in</strong>es Mehrwerts) verausgabt. Allerd<strong>in</strong>gs umfaßt <strong>de</strong>r Kreislauf <strong>de</strong>s<strong>Kapital</strong>s auch die Zirkulation <strong>de</strong>s Mehrwerts, soweit dieser <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>s Warenkapitals bil<strong>de</strong>t, un<strong>de</strong>benso die Verwandlung von variablem <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> Arbeitskraft, die Zahlung <strong>de</strong>s Arbeitslohns.Aber die Verausgabung dieses Mehrwerts und Arbeitlohns <strong>in</strong> Waren bil<strong>de</strong>t ke<strong>in</strong> Glied <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>zirkulation,obwohl wenigstens die Verausgabung <strong>de</strong>s Arbeitslohns diese Zirkulation bed<strong>in</strong>gt.Im I. Buch wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r kapitalistische Produktionsprozeß sowohl als vere<strong>in</strong>zelter Vorgang wie alsReproduktionsprozeß analysiert: die Produktion <strong>de</strong>s Mehrwerts und die Produktion <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>sselbst. Der Form- und Stoffwechsel, <strong>de</strong>n das <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre durchmacht,wur<strong>de</strong> unterstellt, ohne weiter dabei zu verweilen. Es wur<strong>de</strong> also unterstellt, daß <strong>de</strong>r <strong>Kapital</strong>iste<strong>in</strong>erseits das Produkt zu se<strong>in</strong>em Wert verkauft, andrerseits <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Zirkulationssphäredie sachlichen Produktionsmittel vorf<strong>in</strong><strong>de</strong>t, um <strong>de</strong>n Prozeß von neuem zu beg<strong>in</strong>nen o<strong>de</strong>rkont<strong>in</strong>uierlich fortzuführen. Der e<strong>in</strong>zige Akt <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Zirkulationssphäre, wobei wir uns dortaufzuhalten hatten, war <strong>de</strong>r Kauf und Verkauf <strong>de</strong>r Arbeitskraft als Grundbed<strong>in</strong>gung <strong>de</strong>r kapitalistischenProduktion.Im ersten Abschnitt dieses II. Buchs wur<strong>de</strong>n die verschiednen Formen betrachtet, die das <strong>Kapital</strong><strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kreislauf annimmt, und die verschiednen Formen dieses Kreislaufs selbst. Zu <strong>de</strong>r im I.Buch betrachteten Arbeitszeit kommt jetzt die Zirkulationszeit h<strong>in</strong>zu.328


Im zweiten Abschnitt wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kreislauf als periodischer, d.h. als Umschlag betrachtet. Es wur<strong>de</strong>e<strong>in</strong>erseits gezeigt, wie die verschiednen Bestandteile <strong>de</strong>s <strong>Kapital</strong>s (fixes und zirkulieren<strong>de</strong>s)<strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>r Formen <strong>in</strong> verschiednen Zeiträumen vollbr<strong>in</strong>gen und <strong>in</strong> verschiedner Weise; eswur<strong>de</strong>n andrerseits die Umstän<strong>de</strong> untersucht, wodurch verschiedne Länge <strong>de</strong>r Arbeitsperio<strong>de</strong>und Zirkulationsperio<strong>de</strong> bed<strong>in</strong>gt wird. Es zeigte sich <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>fluß <strong>de</strong>r Kreislaufsperio<strong>de</strong> und <strong>de</strong>sverschiednen Verhältnisses ihrer Bestandteile auf <strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>s Produktionsprozesses selbstwie auf die Jahresrate <strong>de</strong>s Mehrwerts. In <strong>de</strong>r Tat, wenn im ersten Abschnitt hauptsächlich betrachtetwur<strong>de</strong>n die sukzessiven Formen, die das <strong>Kapital</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kreislauf beständig annimmtund abstreift, so im zweiten Abschnitt, wie <strong>in</strong>nerhalb dieses Flusses und Sukzession von Formene<strong>in</strong> <strong>Kapital</strong> von gegebner Größe sich gleichzeitig, wenn auch <strong>in</strong> wechseln<strong>de</strong>m Umfang, <strong>in</strong> dieverschiednen Formen von produktivem <strong>Kapital</strong>, Geldkapital und Warenkapital teilt, so daß sienicht nur mite<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r abwechseln, son<strong>de</strong>rn verschiedne <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>s gesamten <strong>Kapital</strong>werts beständig<strong>in</strong> diesen verschiednen Zustän<strong>de</strong>n sich nebene<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r bef<strong>in</strong><strong>de</strong>n und fungieren. <strong>Das</strong>Geldkapital namentlich stellte sich dar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Eigentümlichkeit, die sich nicht <strong>in</strong> Buch I zeigte.Es wur<strong>de</strong>n bestimmte Gesetze gefun<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>nen verschie<strong>de</strong>n große Bestandteile e<strong>in</strong>esgegebnen <strong>Kapital</strong>s, je nach <strong>de</strong>n Bed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>s Umschlags, beständig <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Form von Geldkapitalvorgeschossen und erneuert wer<strong>de</strong>n müssen, um e<strong>in</strong> produktives <strong>Kapital</strong> von gegebnemUmfang beständig <strong>in</strong> Funktion zu halten.Es han<strong>de</strong>lte sich aber im ersten wie im zweiten Abschnitt immer nur um e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles <strong>Kapital</strong>,um die Bewegung e<strong>in</strong>es verselbständigten <strong>Teil</strong>s <strong>de</strong>s gesellschaftlichen <strong>Kapital</strong>s.Die Kreisläufe <strong>de</strong>r <strong>in</strong>dividuellen <strong>Kapital</strong>e verschl<strong>in</strong>gen sich aber <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r, setzen sich vorausund bed<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r und bil<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> <strong>in</strong> dieser Verschl<strong>in</strong>gung die Bewegung <strong>de</strong>s gesellschaftlichenGesamtkapitals.Alle Rechte am vorliegen<strong>de</strong>n Text vorbehalten.© Franz-Josef Land, Am Stadtgarten 29, 44575 Castrop-Rauxelwww.<strong>pol</strong>-<strong>oek</strong>.<strong>de</strong>329

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