Ines Müller: Bildgewaltig! <strong>Die</strong> <strong>Möglichkeiten</strong> <strong>der</strong> <strong>Filmästhetik</strong> <strong>zur</strong> <strong>Emotionalisierung</strong> <strong>der</strong> Zuschauerhang gilt« (2003: 93). <strong>Die</strong>se Überlagerungen führen zu semantischen Schichtungen.Das kann z. B. heißen, dass <strong>der</strong> Betrachter bei einem Bild zunächstvon einem biologischen Code, <strong>der</strong> Lebensbedrohung zum Ausdruck bringt,angesprochen wird, bevor ein kategorialer Code z. B. Verzweiflung signalisiert.<strong>Die</strong>se Überlagerungen von Codes führen oft zu Verstärkungen <strong>der</strong> Emotionenbeim Betrachter, weil sie tiefere Schichten erreichen.Streng genommen sind diese Codes den Bil<strong>der</strong>n jedoch nicht immanent,son<strong>der</strong>n entstehen erst in <strong>der</strong> Interaktion zwischen Bild und Betrachter.Denn erst einmal ist ein Bild neutral, nur eine Ansammlung von Bildpunkteno<strong>der</strong> Pixeln auf einer Matrix. Erst durch die Interaktion, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> Betrachteraufgrund seines Bewusstseins interpretiert und decodiert, bekommen dieBil<strong>der</strong> Bedeutung: »Solche Überlegungen gehen von einem performativenKonzept aus, wonach Bil<strong>der</strong> […] sich zwar mit einer speziellen Appellstrukturan Rezipienten richten, aber erst in <strong>der</strong> Reziprozität <strong>der</strong> ästhetischen Erfahrungihre Bildlichkeit entfalten« (BROSCH 2008: 73). Damit kommt bei <strong>der</strong> Deutungvon Bil<strong>der</strong>n eine stark subjektive, an <strong>der</strong> Lebenswelt des jeweiligen Betrachtersorientierte Komponente ins Spiel. <strong>Die</strong> Wichtigkeit eines Bildes o<strong>der</strong>Films o<strong>der</strong> die Betroffenheit durch diesen Gegenstand ergeben sich also auchaus den persönlichen Erfahrungen und <strong>der</strong> Biografie. Verschiedene Betrachterkönnen so verschiedene Deutungen vornehmen.<strong>Die</strong>ser Aspekt hat eine entscheidende Konsequenz für Bildungsprozesse:Film lässt sich nicht lehren, son<strong>der</strong>n Film muss man, um mit Alan Bergalazu sprechen, begegnen, um aus dieser Begegnung dann entsprechendeSchlüsse zu ziehen. <strong>Die</strong>se Begegnung ist nicht nur theoretischer Natur, son<strong>der</strong>nmuss auch immer praktisch erfolgen, weil nur in <strong>der</strong> eigenen Anwendungdie Möglichkeit besteht, visuelle Entschlüsselung dahingehend zu überprüfen,inwieweit es die eigene Gestaltungs- und Ausdruckskompetenz erweiterthat. <strong>Die</strong> gezogenen Schlüsse sind wie<strong>der</strong>um unterschiedlich, je nach Vorerfahrung,die <strong>der</strong> Betrachter in diese Begegnung mit einbringt. So gesehenwird die Begegnung mit Film zum Prozess, weil sich bei je<strong>der</strong> erneuten Begegnungdie Erfahrungswelt des Betrachters wie<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t hat und dieseVerän<strong>der</strong>ungen Bestandteil <strong>der</strong> Interaktion sind. Für Schule ist diese Herangehensweiseeine Herausfor<strong>der</strong>ung, weil sie ein an<strong>der</strong>es Lehrerbild impliziert.Es ist nicht die Instruktion des Lehrenden, son<strong>der</strong>n die Konstruktion <strong>der</strong> Lernenden,die Lernen in einem in hohem Maße selbst organisierten Prozessermöglicht. Der Lehrende ist somit kein Experte mehr, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Lernbegleiter,<strong>der</strong> die Lernprozesse coacht und Lernarrangements, die Zugänge <strong>zur</strong>Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Film anbieten, bereitstellt.4. Visueller Look<strong>Die</strong> genannten Bildcodes sind dem visuellen Look, also dem Kamerastil sowieLicht und Farbe, immanent. <strong>Die</strong> Kamera entscheidet nicht nur darüber, waswir sehen, son<strong>der</strong>n wie wir gefühlsmäßig darauf reagieren, hilft also, denästhetischen Ansatz eines Films zu verwirklichen. Nach Achim Dunker lässtIMAGE | Ausgabe 17 | 1/2013 56
Ines Müller: Bildgewaltig! <strong>Die</strong> <strong>Möglichkeiten</strong> <strong>der</strong> <strong>Filmästhetik</strong> <strong>zur</strong> <strong>Emotionalisierung</strong> <strong>der</strong> Zuschauersich <strong>der</strong> visuelle Look zum einen in den offensichtlichen Bereich <strong>der</strong> Bildgestaltungeinteilen, hierfür ist <strong>der</strong> Kamerastil verantwortlich. Zum an<strong>der</strong>enexistiert <strong>der</strong> unterschwellige Bereich des Lichts, <strong>der</strong> bereits weniger bewusstwahrgenommen wird und man daher sagen kann, dass die Subtilität <strong>der</strong> Farbenahezu mit unseren Emotionen spielt.Für die Bildgestaltung ist die Kadrage bedeutsam, die den Bildausschnittdurch den Bildrahmen begrenzt, also das Sichtbare vom Nicht-Sichtbaren trennt. Dabei spielt die räumliche Anordnung von Personen undGegenständen innerhalb des Bildes eine Rolle. Weiterhin geht es hier um dieverschiedenen Bildebenen (Vor<strong>der</strong>-, Mittel- und Hintergrund) und dabei auchum die Frage nach <strong>der</strong> Tiefenwirkung des Bildes/Bildraumes durch eine hoheSchärfentiefe o<strong>der</strong> ob <strong>der</strong> Bildraum durch selektive Schärfe eher ‚flach‘ wirkt.Dabei spielt natürlich die Wahl <strong>der</strong> Brennweite – also ob man eher mit demWeitwinkel arbeitet o<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Telebrennweite – eine entscheidende Rollefür die Wirkung des Bildes. O<strong>der</strong> auch, ob beispielsweise eine Begrenzungdes Bildes durch einen sichtbaren Rahmen im Bild (Durchblicke durch Türen,Fenster, Zäune u.a.) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Blick durch einen Vorhang gelenkt wird, wie inAbbildung 2 zu sehen ist.Abb.2:Rahmungen des Bildes, Léon - Der Profi (F/USA 1994, Besson, Kamera: Thierry Arbogast)<strong>Die</strong> Einstellungsgrößen legen die Größe des Bildausschnittes fest und damitdas Größenverhältnis von Personen/Objekten <strong>zur</strong> gesamten Bildfläche. Siesind entscheidend für die emotionale Nähe und Distanz des Zuschauers zuden Figuren und zum Geschehen verantwortlich. <strong>Die</strong> Wahl <strong>der</strong> Einstellungsgrößenberuht auf filmischen Konventionen: Denn <strong>der</strong> Zuschauer muss beispielsweisewissen,dass Gegenstände in Groß- o<strong>der</strong> Detailaufnahme einebeson<strong>der</strong>e Bedeutung o<strong>der</strong> Signalcharakter haben.<strong>Die</strong> Kameraperspektive bezeichnet den Standpunkt <strong>der</strong> Kamera zumGeschehen und wird häufig <strong>zur</strong> narrativen Bedeutungsbildung eingesetzt.Damit ist die Charakterisierung von Personen o<strong>der</strong> Gegenständen durch dieKamerahöhe bzw. den Blickwinkel gemeint, mit dem die Kamera auf diesesieht: Personen werden beispielsweise von oben gefilmt, damit sie einsamo<strong>der</strong> ängstlich wirken, sie werden von unten gefilmt, damit sie dominant o<strong>der</strong>stark wirken. Grundsätzlich dient die Wahl <strong>der</strong> Kameraperspektiven aber auchIMAGE | Ausgabe 17 | 1/2013 57