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EIN JAHR IN NIGERIA AFRIKA

aus der Sicht eines achtjährigen Jungen - basierend auf Tatsachen - spannend erzählt

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<strong>E<strong>IN</strong></strong> <strong>JAHR</strong> <strong>IN</strong> <strong>NIGERIA</strong><br />

<strong>AFRIKA</strong><br />

aus der Sicht eines achtjährigen Buben<br />

BERUHEND AUF TATSACHEN<br />

AUTOR<strong>IN</strong><br />

Margrit Gut<br />

VERLAG<br />

GUT


<strong>E<strong>IN</strong></strong> <strong>JAHR</strong> <strong>IN</strong> <strong>NIGERIA</strong><br />

<strong>AFRIKA</strong><br />

aus der Sicht eines achtjährigen Buben.<br />

BERUHEND AUF TATSACHEN<br />

Autorin<br />

VERLAG<br />

Margrit Gut<br />

GUT<br />

1


IMPRESSUM:<br />

Titel: "Ein Jahr in Nigeria, Afrika"<br />

Autorin: Margrit Gut-Russenberger<br />

Copyright: © 2015 Margrit Gut-Russenberger<br />

Verlag: Gut - Grünhalde 4 - CH6204Sempach<br />

Krummenacher Margrit<br />

Layout, Grafik, Fotos:<br />

Margrit Krummenacher - CH6204Sempach<br />

Buchdruck: www.blurb.de<br />

ISBN: 978-3-906345-13-0<br />

2


<strong>IN</strong>HALSVERZEICHNIS<br />

Ein schwarzer Tag_________1<br />

Baden________________8<br />

Damian______________10<br />

India_______________ 13<br />

Wechselhaftes Schulglück________________16<br />

Damians Kuss________________________19<br />

Die charmanteste Lehrerin_____________23<br />

Damian zieht ein____________________25<br />

Prema___________________________27<br />

Verschiedene Angestellte____________28<br />

Auf dem Markt__________________32<br />

Der Busch brennt________________35<br />

Die heiligen Bäume______________37<br />

Im Urwald____________________42<br />

Damians Geschichte____________45<br />

Benin______________________48<br />

Auf Arbeitssuche______________________53<br />

Schlangen__________________________58<br />

Seltsame Gedanken__________________60<br />

Flöhe____________________________64<br />

Der Mann ohne Schatten____________67<br />

Malaria________________________70<br />

Zauber________________________74<br />

Die Beerdigung des Häuptlings_____78<br />

Weihnacht___________________________81<br />

Die Heimkehr________________________89<br />

Das Unglaubliche Ende________________91<br />

Ende_____________________________97<br />

Autorinnenbeschreib_______________98<br />

Buchzusammenfassung____________99<br />

13


<strong>E<strong>IN</strong></strong> SCHWARZER TAG<br />

Ich renne, renne ums Leben. Dort vorn macht<br />

die Strasse einen Bogen – ich kann eine<br />

Abkürzung durch den Busch nehmen.<br />

Verdammt, weiss ich bei der Kreuzung weiter?<br />

Ich muss weiter. Ich muss nach Hause. Bei den<br />

Ananassträuchern geht’s geradeaus und beim<br />

grossen Mangobaum muss ich rechts.<br />

Was ist meinen Eltern nur eingefallen, mich in<br />

eine Schule zu stecken mit lauter schwarzen,<br />

fremden Gesichtern, die mich anstarrten, als<br />

käme ich vom Mond? Wie sollte ich da etwas<br />

lernen können? Und alles war schmutzig,<br />

staubig, die Tür offen, ein Kommen und Gehen.<br />

Wahrscheinlich waren sechs Klassen in einem<br />

Raum. Ich wusste überhaupt nicht mehr,<br />

worauf ich achten sollte.<br />

Die Lehrer und Lehrerinnen hielten Stecken<br />

hinter dem Rücken. Plötzlich und unerwartet<br />

sausten diese Stecken nach vorn über nackte<br />

Beine und Nacken. Und dann diese idiotischen<br />

Schuluniformen!<br />

Kein Mensch hat es bemerkt, dass ich<br />

wegschlich. Ausser, jemand hätte sich mein<br />

weisses Gesicht gemerkt. Vielleicht verfolgen<br />

sie mich schon? Da kauert doch ein<br />

verkrüppelter Mann und macht sein<br />

heimliches Geschäft am Wegrand!<br />

Abscheulich.<br />

241 1


Wenigstens wird der mich nicht verfolgen<br />

können. Und jene Frau mit dem Korb mit dem<br />

Korb auf dem Kopf und dem Baby auf dem<br />

Rücken schon gar nicht.<br />

Wo ist die grosse Richter-Villa, die in der Nähe<br />

unseres Hauses steht? Jenseits der Autobahn.<br />

Kein Problem für mich. Die Schwarzen<br />

überqueren die Autobahnen ja auch zu Fuss,<br />

als seien es Feldstrassen. Ein Auto bremst<br />

kreischend. Ein schwarzer Fahrer verwirft die<br />

Hände und spricht aufgeregt fremd. Und – da<br />

steigt Papa aus…<br />

Ich weigere mich, mitzufahren.<br />

Ich werde nicht wieder zur Schule gehen. Ich<br />

will nicht ins Auto einsteigen, ausser sie<br />

bringen mich nach Hause.<br />

Papa versucht, mich zu beruhigen. Er werde<br />

erst einmal nach Hause fahren. Das ist ein<br />

Wort. Nur mal heim. Wenigstens in das<br />

provisorische Heim. Zu Hause bin ich in der<br />

Schweiz.<br />

Im Wohnraum ist das Baby im Laufgitter. Und<br />

das schwarze Kindermädchen mit der<br />

Igelifrisur rumort herum. Wo ist Mama? Der<br />

Igel sagt etwas von „market“. Ach ja, Mama<br />

wollte einkaufen gehen. Papa muss wieder ins<br />

Geschäft. Soll er ruhig gehen. Hier ist alles in<br />

Ordnung. Ich kann mich gut beschäftigen.<br />

Erst einmal lege ich mich aufs Sofa und<br />

beobachte Eidechsen, die an der Decke<br />

2<br />

3252


spazieren. Wo kommen immer wieder die<br />

kleinen Mücken und Fliegen her? Die<br />

Moskitogitter vor den Fenstern scheinen nicht<br />

das zu bringen, was sie sollten. Die Eidechsen<br />

haben immer Nahrung.<br />

Vermutlich ist der schwache Punkt die<br />

Eingangstüre. Im offenen Vorraum hat es<br />

Mücken.<br />

Ich hole die Spraydose und behandle den<br />

Eingang. „Igel“ schaut mir nur nach und sagt<br />

nichts.<br />

Hier zu Hause kann ich mich wenigstens<br />

nützlich machen. Schulen sind nichts wert. Die<br />

hier schon gar nicht. War das ein Tumult in<br />

dieser provisorischen Halle von einer Schule!<br />

Soll sich da einer zurechtfinden! Und wenn ich<br />

auch hie und da ein Wort verstehe – mit dem,<br />

was an der Wandtafel stand, konnte ich<br />

wirklich nichts anfangen.<br />

Wie es wohl den andern geht? Wir hatten es<br />

so gut hier, bevor diese Schule zur Sprache<br />

kam.<br />

Die Zwillinge hat man in einen Kindergarten<br />

gebracht, Bob und Margret sind in der Schule<br />

wie ich vorher, im gleichen Schulgelände, aber<br />

in andern Häusern oder Hütten. Ob die es<br />

dort aushielten, oder ob sie wegrannten wie<br />

ich und sich dabei verirrten?<br />

War wohl nicht die tollste Idee meiner Eltern,<br />

463 3


uns in diesem schwarzen Afrika einfach<br />

auszusetzen!<br />

Es wäre besser gewesen, weiter im Busch zu<br />

„arbeiten“ mit Bob, wie im vergangenen<br />

Monat, als wir eine Buschhütte bauten und<br />

eine Feuerstelle, wo wir Suppen kochten wie<br />

die Eingeborenen.<br />

Bis sie diese idiotische Schule ausfindig<br />

machten.<br />

Ein Auto fährt vors Haus. Mama steigt aus. Ich<br />

verschwinde hinter einer Säule. Sie wird mich<br />

schelten. Mama öffnet die Tür und steht starr.<br />

„Wer ist hier?“ Es ist doch unmöglich, dass sie<br />

mich sehen kann!<br />

Wem gehört die kleine, weisse Hand, hinter<br />

der Säule? Ich gebe es auf.<br />

„Mama, ich hielt es in der Schule nicht mehr<br />

aus! Es war ein Heidenspektakel auf Igbo und<br />

Englisch und beides verstehe ich nicht und sie<br />

sind böse, alle wollten mich berühren und und<br />

schlagen und an den Haaren ziehen!“<br />

„Das verstehe ich.“<br />

„Das verstehe ich nicht!“<br />

„Oh, doch, dein blondes Haar und deine weisse<br />

Haut sind so verschieden von den schwarzen<br />

Krausköpfen! Für sie ist es fast so, als ob du<br />

vom Mond kämst. So unglaublich anders, dass<br />

man es gar nicht fassen kann, ausser, man<br />

fasse dich an. Und wenn Hunderte dies tun<br />

wollen, dann reicht es nicht<br />

4<br />

5474


für eine feine Berührung, dann muss man<br />

über viele andere hinweg nach deinem Haar<br />

fassen und deine Arme schlagend berühren.“<br />

„Oh Mama, ich halte das nicht aus!“<br />

„Na ja, dann kommt eben morgen jemand mit<br />

dir. Hören wir erst mal, was die andern zu<br />

erzählen haben.“<br />

Jemand pocht an die Fensterlamellen (schmale<br />

Scheibenstreifen, die sich überlappen wie<br />

Lamellenstoren), welch komischen Scheiben<br />

dazu da sind, den Staub vom Harmattan<br />

hereinzulassen – wozu denn sonst – und ruft<br />

nach Madam oder Master. Mama geht hinaus,<br />

spricht mit einem Mann, verabschiedet sich<br />

wieder und kommt herein.<br />

„Es war ein Abgesandter von deiner Schule.<br />

Sie suchen dich.“<br />

„Es ist nicht meine Schule und ich gehe nicht<br />

mehr hin. Auf keinen Fall! Sprich nicht mehr<br />

davon!“<br />

Können Eltern so unbarmherzig sein?<br />

Verstehen sie mich denn nicht?<br />

Bob und Margret werden heimgebracht von<br />

Papa’s schwarzem Chauffeur. Sie zeigen keine<br />

Anzeichen von Panik (meine Hoffnung auf ein<br />

Jahr ohne Schule schwindet). Margret schreit<br />

schon an der Tür: „Oh Mama, bist du dumm!<br />

Du meinst immer, Englisch sei eine Sprache, in<br />

die man unsere Schweizer Worte übersetzen<br />

685 5


müsse. Aber das ist nicht so. Englisch muss<br />

man einfach reden!“ Und Bob ist begeistert<br />

von den Sets in Mathematik und zeigt<br />

glücklich ein von Staub und Schweiss und<br />

Bleistift verschmiertes Heft mit<br />

„Rundummeln“ (Kreisen) und Zahlen drin.<br />

Mama murmelt etwas von Mengenlehre. Und<br />

Bob fügt bei, er sei nicht ganz sicher, ob die<br />

Lehrerin das Ganze wirklich cheque, sie habe<br />

etwas zu verwirrt rumgezeigt und<br />

rumgequasselt, wie diese Sets sich zueinander<br />

verhalten.<br />

„Du gehst also morgen wieder?“ frage ich<br />

traurig.<br />

„Natürlich. Ich will wissen, wie das nun<br />

wirklich ist mit diesen Teil-Sets und ob das<br />

Fräulein es auch richtig geschnallt hat.“<br />

Oh Gott, wie kommen die dort zurecht, wo für<br />

mich nur Wirr-Warr und Bedrohung war?<br />

„Haben diese Ungeheuer euch denn nicht an<br />

den Haaren gerissen?“ „Nein, aber sie wollten<br />

mir alle die Hand geben. War das mühsam!“<br />

Ein Blick auf Margrets kurzes, schwarzes<br />

Haar macht mich neidisch. Sie fährt fort zu<br />

erzählen von einem Jungen, der Otschanabuka<br />

heisse und sie heiraten wolle (da sei sie<br />

aber noch nicht ganz sicher), jedenfalls sei er<br />

ihr Freund und werde sie in Zukunft vor<br />

Aufdringlichkeiten beschützen. Ob es das<br />

wirklich gibt, einen schwarzen Freund?<br />

6<br />

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BADEN<br />

Nach dem Mittagessen gehen wir baden. Beim<br />

Hotel Presidential hat es einen<br />

Swimmingpool, den wir benützen dürfen. Das<br />

Wasser ist zwar nicht klar, der Boden des<br />

Bassins unergründlich, aber es ist so heiss,<br />

dass wir nicht lange der Schweizer<br />

Wasserqualität nachtrauern.<br />

Der Zutritt zu diesem Swimmingpool ist streng<br />

bewacht. Die vielen Kinder hier sind also alle<br />

hochwohlgeboren und reich. Aber auch hier,<br />

wie in der Schule sind sie ungezogen und<br />

frech. Wir sind nicht das erste Mal hier und<br />

wissen, dass wir immer zu zweit aufeinander<br />

aufpassen müssen. Damit wir nicht ersäuft<br />

werden.<br />

Unsere Gesichter scheinen allen andern ein<br />

Ärgernis oder sonstwie reizvoll zu sein.<br />

Jedenfalls stürzen sich immer wieder Rudel<br />

von Schwarzen auf uns, um uns unters Wasser<br />

zu drücken. Mama ist unbelehrbar; immer<br />

noch behauptet sie, das Ganze sei nicht böse<br />

gemeint, sondern eine Art Spiel, in dem sie<br />

uns berühren können. Gut, dass wir<br />

schwimmen und tauchen können.<br />

Jetzt haben sie es auf Madilin abgesehen,<br />

deren helles Haar wie ein Kranz um sie<br />

schwimmt. Gottlob trägt sie Schwimm-<br />

Manschetten, sie können sie also „nur“<br />

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quälen, bespritzen und rasch unters Wasser<br />

drücken, dann schnellt sie wieder empor. Sie<br />

fürchtet sich nicht, ja sie spritzt auch. Aber ich<br />

kann dem nicht zuschauen. Ich muss Mama<br />

rufen, die etwas abseits die Kleine wickelt.<br />

Unter dem Bassin-Rand greife ich ein weiches<br />

Tier. Ich nehme es sachte in die Hände und<br />

trage es hinaus – ein Vogel? Schlapp und<br />

ängstlich schaut er mich an. Ich trage ihn<br />

vorsichtig zu Mama. Es sei eine Fledermaus.<br />

Ich bette sie vorsichtig ins Gebüsch. Vielleicht<br />

ist es eine sehr junge. Wir haben hier abends<br />

schon riesige Fledermäuse gesehen.<br />

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DAMIAN<br />

Mama sucht einen Hausboy, sorry, einen<br />

Steward. Der „Igel“ ist nur so lange bei uns,<br />

als ihre Herrschaft in den Ferien ist. Nachher<br />

brauchen wir jemanden, der auf Baby<br />

aufpasst, wenn Mama einkaufen geht. Sie hat<br />

zwar bereits begonnen, nach Igbo-Art die<br />

Kleine auf den Rücken zu binden, weil die<br />

Wege durch den Busch und der Markt nicht<br />

geeignet sind für Kinderwagen. Aber es gibt<br />

hier viel Mehrarbeit. Zum Beispiel müssen die<br />

Windeln hier gebügelt werden wegen der<br />

Mücken, die ihre Eier in die aufgehängte<br />

Wäsche legen. Und die dann später<br />

ausschlüpfen und sich in die Haut einnisten.<br />

Und jedes Wasser muss gekocht und filtriert<br />

werden, bevor es getrunken werden darf. Papa<br />

hat uns schon zu Hause in der Schweiz erklärt,<br />

dass das Wasser in Nigeria winzig kleine,<br />

feindliche Soldaten enthalte, die zuerst<br />

getötet werden müssen, damit sie nicht uns<br />

umbringen. Als wir in Lagos ankamen, heulte<br />

Bob, weil er keine Soldaten sehe, und wie<br />

sollte man gegen sie kämpfen, wenn man sie<br />

nicht sieht? Papa hat dann erklärt, was<br />

mikroskopisch kleine Erreger sind. Dass sie<br />

zum Beispiel Amöben heissen. Na ja,<br />

ungeheuer ist das schon, mit diesen<br />

unsichtbaren Feinden. Warum trinkt „Igel“<br />

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das Wasser vom Wasserhahn, ohne es vorher<br />

abzukochen?<br />

Sie lebt quicklebendig weiter!<br />

Morgen soll sich ein Hausboy vorstellen<br />

kommen. Ein Freund des Bruders unseres<br />

Nachbar-Chauffeurs sei ein<br />

vertrauenswürdiger Steward und suche eine<br />

neue Stelle.<br />

Jemand klopft an die Scheiben. Eine Nachbarin<br />

ruft Mama. Sie habe einen Hausboy für uns.<br />

Wir eilen alle ans Fenster. Ein langer, junger,<br />

sehr schwarzer Mann steht am Türpfosten.<br />

Wir schreien ins Haus:<br />

„Mama, wir haben einen Hausboy!“ Mama<br />

ist ärgerlich, weil sie beim Kochen gestört<br />

wird und weil sie schon einen Hausboy in<br />

Aussicht hat. Vielleicht auch, weil wir alle an<br />

den Lamellenstoren kleben, sie querstellen<br />

und sensationslüstern dem Kommenden<br />

entgegensehen. Mama erklärt der Nachbarin<br />

kurz die Sachlage und will wieder in die<br />

Küche. Der lange Junge bewegt sich. Er geht<br />

auf Mama zu. Er könne kochen, putzen,<br />

bügeln, alles was Madam ihm befehle, werde<br />

er so machen, wie sie es wolle.<br />

Seine Augen blitzen in unsere Richtung,<br />

während er sagt, er habe Kinder gern. Er<br />

selbst sei achtzehn jährig und heisse Damian.<br />

Mama erklärt ihm die Sache mit Nachbar-<br />

Chauffeur-Bruders Freund, aber Damian bittet<br />

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darum, einen Tag zur Probe kommen zu<br />

dürfen.<br />

Mama sagt abschliessend, er möge morgen<br />

wieder kommen und sich den andern Steward<br />

ansehen. „Gut, morgen um 15 Uhr bin ich<br />

wieder hier.“<br />

Vielleicht wäre der gar nicht schlecht.<br />

Eigentlich merkwürdig, dass ich das alles<br />

verstanden habe. Es war ja Englisch! Hat<br />

Margret etwa doch recht, dass es nicht so<br />

schwierig sei? Aber dass ich selbst je Englisch<br />

sprechen werde, wird nie geschehen!<br />

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<strong>IN</strong>DIA<br />

Mama kommt mit zur Schule. Wie ausgewählt<br />

freundlich doch die Lehrer sein können! Na ja,<br />

jeder von ihnen hat einen Stuhl geschenkt<br />

bekommen von uns. Das heisst, Mama hat die<br />

Stühle schenken müssen, weil die<br />

Schulvorsteherin gesagt hat, es sei<br />

andernfalls kein freier Platz mehr in der<br />

Schule. Schade, dass sie diese Stühle hat<br />

spendieren können. Manchmal hat Armut<br />

auch ihre Vorteile. Mama ist ein bisschen<br />

leichtsinnig. Als am Morgen früh sich<br />

sämtliche Schüler draussen versammelten und<br />

die Vaterlandshymne singen mussten, lächelte<br />

sie auf den Stockzähnen. Ich kenne das bei ihr.<br />

Merkt sie denn nicht, wie todernst oder<br />

lebenswichtig dieses Lied ist? Wann immer<br />

man es hört, muss man aufstehen und ernst<br />

dreinschauen. Und als nachher aus jeder<br />

Klasse ein Schüler „News“ erzählen musste,<br />

irgendeine wichtige Neuigkeit Nigerias oder<br />

der ganzen Welt – schliesslich haben hier<br />

nicht alle Leute Zeitungen, Radios und<br />

Fernseher wie wir – da lachte sie sogar einmal<br />

laut. Dabei erzählt man doch diese News auch,<br />

damit man lernt, Reden zu halten. Und kein<br />

Redner wird gerne ausgelacht. Ich habe sie in<br />

die Rippen gepufft<br />

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und gesagt, sie dürfe nicht lachen. Aber sie<br />

wusste es besser und meinte, die Igbos lieben<br />

Humor. Später habe ich sie gefragt, welche<br />

Neuigkeit sie so lustig gefunden habe. Da<br />

meinte sie, weil jede Einfuhr von Alkohol aus<br />

dem Ausland ab sofort verboten sei, dürfe<br />

doch nun auch der Gouverneur, der<br />

momentane Militärchef des Landes, keinen<br />

Champagner mehr trinken, sondern nur noch<br />

Palmwein.<br />

Ich kenne zwar den Unterschied zwischen<br />

Champagner und Palmwein nicht, aber ich<br />

weiss, wie man Palmwein anzapft! Bin ich<br />

doch selbst hinaufgeklettert und habe Saft<br />

einer Palme in die Flasche tropfen sehen! Es<br />

geht gut heute, weil Mama neben mir sitzt.<br />

„Du bist nicht der einzige Fremde hier,“<br />

flüstert sie mir zu und zeigt auf den Kopf vor<br />

uns. Es ist ein schwarzer Kopf wie alle<br />

anderen, aber das Haar ist glatt und glänzend.<br />

Wie er sich einmal umdreht, ist es ein<br />

Mädchen. Da sehe ich das Fremde: Ein grosser,<br />

roter Punkt auf der Mitte der Stirn. Heute<br />

kann ich ruhig alles um mich herum<br />

beobachten, denn Mama passt auf mich auf.<br />

Ich bringe die Augen nicht von dem Mädchen<br />

vor mir weg. Sie muss schon längere Zeit hier<br />

an der Schule sein, denn sie fühlt sich<br />

offensichtlich nicht fremd wie ich. Obschon sie<br />

es natürlich ist.<br />

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Ich mag sie und ich nenne sie für mich India.<br />

Sie ist gekennzeichnet. Eigentlich bin ich es<br />

auch mit meiner weissen Haut. In der Schweiz<br />

bin ich nicht fremd.<br />

Aber habe ich mich dort nicht auch schon<br />

einsam gefühlt? Jeder ist anders. Nur – wenn<br />

die anderen haufenweise auftreten, wird es<br />

beängstigend.<br />

In der Pause, während Mama mit der Lehrerin<br />

plaudert, beobachte ich India. Sie steht<br />

alleine. Aber sie sieht weder ängstlich noch<br />

ausgestossen aus. Eher irgendwie würdig.<br />

Vielleicht ist die Welt, aus der sie kommt,<br />

weniger verschieden von der hiesigen als das<br />

bei mir der Fall ist. Vielleicht versteht sie die<br />

Schwarzen besser als ich.<br />

Der Gedanke an den morgigen Tag ohne Mama<br />

hat seine Schrecken verloren.<br />

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WECHSELHAFTES SCHULGLÜCK<br />

Heute ist Bob verstört. Wir treffen uns wie<br />

verabredet auf dem Parkplatz. „Ich werde<br />

nicht mehr in die Schule gehen,“ behauptet er<br />

(habe ich auch schon gesagt, nützte aber<br />

nichts!). „Stimmt etwas mit den Sets nicht?“<br />

fragt Mama ängstlich. Sie hat nämlich zu ihrer<br />

Zeit noch keine Mengenlehre genossen und<br />

könnte ihm also nicht helfen. „Nein, nein, die<br />

wären genial, wenn nur die Lehrerin selbst das<br />

Ganze begreifen würde! Aber da sie es eben<br />

nicht versteht, wollte sie sich schadlos halten<br />

in Igbo. Mama, stell dir vor, wir müssen Igbo<br />

lernen, weil das die wichtigste Sprache der<br />

Welt ist! Und da ich das nicht will und nie<br />

begreifen werde, hat sie mich geschlagen!<br />

Dreimal ! Über die nackten Knie und dabei<br />

geschrien (nicht gesagt – geschrien!), Igbo sei<br />

wichtiger als Mathematik.“<br />

Mama runzelt die Stirn. Und es ist bereits<br />

klar, welchen Wichtigkeiten sie den Vorrang<br />

gibt. Aber, ich fürchte, dass auch Bob<br />

vergebens gegen die Schule rebelliert. „Wir<br />

werden unseren kommenden Houseboy fragen,<br />

was er dazu meint. Er kennt die hiesigen<br />

Gepflogenheiten und weiss vielleicht Rat.“<br />

Ach ja, es erwartet uns zu Hause eine<br />

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eine familiäre Sensation: Ein Mann, der<br />

wäscht, das Baby wickelt und kocht!<br />

Aber zuhause ist kein Steward Anwärter.<br />

Mama geht zu Nachbars Boysquarter<br />

(Angestelltengebäude) und fragt den<br />

Chauffeur, wo denn der versprochene Boy<br />

geblieben sei. „Der Freund meines Bruders hat<br />

sich heute eben eines anderen besonnen“,<br />

erklärt jener lässig.<br />

Um drei Uhr steht Damian wieder an den<br />

Türpfosten gelehnt. Wir haben hinter den<br />

Scheiben auf ihn gewartet und verkünden nun<br />

die Neuigkeit durchs ganze Haus. Diesmal ist<br />

Mama kein bisschen verärgert. Im Gegenteil.<br />

Sie atmet auf. Sie geht hinaus und sagt,<br />

Damian könne probeweise einen halben Tag<br />

lang kommen.<br />

Etwas langsam ist er in seinen Bewegungen;<br />

nur das Aufblitzen des Weiss’ seiner Augen<br />

zeigt, dass er sehr aufmerksam ist. Was es zu<br />

tun gebe, fragt er. Ein Berg Wäsche steht zum<br />

Bügeln bereit.<br />

Wir müssen Hausaufgaben machen. Mein<br />

englischer Text ist eigentlich gar nicht so<br />

schwer. Sobald ich das Zeug richtig ausspreche<br />

(Mama korrigiert manchmal), verstehe ich es<br />

sogar.<br />

Bob spielt mit den Sets. Er macht Teilmengen<br />

und kombiniert und vergleicht und jubelt<br />

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über neue Erkenntnisse.<br />

Und Margret kämpft doch tatsächlich mit<br />

Igbo. Diese Mühe werde ich mir bestimmt nie<br />

nehmen!<br />

Die Zwillinge kreischen draussen in einem<br />

trockenen Entwässerungsgraben. Sie haben<br />

Frösche gefunden.<br />

Damian bügelt stundenlang langsam. Seine<br />

Augen beobachten uns der Reihe nach. Aber<br />

helfen kann er uns nicht bei den Aufgaben.<br />

Wenn wir ihn etwas fragen, antwortet er:<br />

„Wer von uns muss das wissen?“ Mama fragt<br />

ihn nach einer Lösung von Bobs Problem mit<br />

der Lehrerin. Damian wird so aufgeregt ob<br />

seiner Wichtigkeit – man stelle sich vor, die<br />

Madam fragt ihn um seinen Rat! - dass er mit<br />

dem Eisen das Kabel durchbrennt und<br />

aufschreit. Wie er sich wieder beruhigt hat,<br />

meint er in vielen gewundenen Sätzen, dass er<br />

eine solche Lehrerin nicht verstehen könne, da<br />

man doch Bobs Intelligenz schon vom weitem<br />

sehe. Ich grinse Bob an und zweifle an<br />

Damians Intelligenz.<br />

Da gebe es nur eine Lösung, meint er<br />

schliesslich, nämlich dass Master mit zur<br />

Schule gehe. Nein, Madams Besuch würde<br />

nichts nützen Schön. Dann kommt also morgen<br />

Papa mit zur Schule.<br />

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DAMIANS KUSS<br />

Wir müssen zu Bett gehen. Damian will uns<br />

helfen, uns auszuziehen. Spinnt der wohl?<br />

Aber zusehen muss er, er lässt sich nicht<br />

verscheuchen. Vielleicht könnte er doch da<br />

und dort Hand anlegen. Zum Beispiel beim<br />

ordentlichen Hinlegen der Kleider (da haben<br />

wir wirklich nichts einzuwenden). Und dann<br />

geht er von Zimmer zu Zimmer und staunt:<br />

"Für jedes Kind ein eigenes Bett, eigene<br />

Leintücher, eigene Kissen!“ Was hat er denn<br />

sonst gemeint?!<br />

Mama stellt Damian an als Hausboy. Beim<br />

Morgenessen meint Madilin, Damian tauge<br />

nichts. Mama ist nicht einverstanden.<br />

"Damian ist guten Willens.“ „Ja ja, er will<br />

immer meine Haare anfassen und mich<br />

küssen.“<br />

Stille.<br />

Damian steht in der Küche auf dem<br />

Wachposten am Türangel. Von ihm wird<br />

gesprochen. Ob sie ihn wegschicken wollen?<br />

Madilin beklagt sich. Verstehen die denn das<br />

nicht? So langes, blondes Haar muss man doch<br />

anfassen! Und küssen möchte man sie auch<br />

und verehren. Heilige sehen so wie Madelin<br />

aus auf den Bildchen des irischen Missionars.<br />

Mama ist sichtlich in der Klemme. Sie liebt<br />

20 22 19 19


Rassismus nicht und fragt langsam: „Warum<br />

sollte er dich eigentlich nicht küssen?“<br />

Madilin erwidert empört: „Glaubst du, ich<br />

wolle schwarz werden?“ Schallendes<br />

Gelächter. Auch in der Küche, obschon Damian<br />

sicher nicht Schweizerdeutsch versteht. Aber<br />

das Gespräch verläuft sichtlich zu seinen<br />

Gunsten.<br />

Mama macht den Vorschlag, Madilin solle<br />

Damian auffordern oder wenigstens erlauben,<br />

sie zu küssen. Dabei solle sie sich die Stelle<br />

gut merken und nachher im Spiegel<br />

kontrollieren, ob Damians Schwärze abgefärbt<br />

habe. Madilin ist einverstanden. Sie geht zu<br />

Damian, der bereits herein gekommen ist, als<br />

ob er verstanden hätte, was hier verhandelt<br />

wird, sie zeigt auf ihre rechte, von Konfitüre<br />

verschmierte Wange und sagt: „ Kiss me<br />

here!“ Damian kniet vor unser allen Augen<br />

vor Madilin nieder und küsst sie andächtig<br />

auf die gewünschte Stelle. Seine Ehrfurcht<br />

wäre ein Foto wert. Aber kaum haben seine<br />

Lippen sie berührt, wendet sie sich ab und<br />

verschwindet im Badezimmer. Gleich darauf<br />

ist sie wieder beim Essen und sagt beiläufig:<br />

„Macht nichts, hat nur ein klein wenig<br />

gefärbt.“<br />

Alle lachen wir wieder, und ich muss beifügen,<br />

dass Konfitüre gut abwaschbar ist.<br />

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DIE CHARMANTESTE LEHRER<strong>IN</strong><br />

Papa kommt mit zur Schule. Er hat seine ganz<br />

grosse Photoausrüstung umhängen. Wozu? Na,<br />

er könne doch nicht in Bobs Klasse gehen und<br />

sagen, die Lehrerin sei ein ekelhaftes Biest und<br />

sie solle gefälligst seinen Sohn anders<br />

behandeln. Er werde im Gegenteil gehen und<br />

sagen, sie sei die charmanteste Lehrerin der<br />

Gegend (egal wie fürchterlich sie auch<br />

aussehen möge), und er sei stolz, dass Bob bei<br />

ihr Unterricht geniessen dürfe, und ob er ein<br />

Bild von ihr machen und es später zu Hause in<br />

der Schweiz herumzeigen dürfe, da die ja dort<br />

keine Ahnung hätten, welch hübsche<br />

Nigerianerinnen es gebe? Das werde Eindruck<br />

machen.<br />

Wir werden ja sehen!<br />

Papa verschwindet mit Bob in einem<br />

Schulgebäude, und ich gehe ergeben in<br />

„meine“ Klasse. Ich werde die Stunden hinter<br />

mich bringen, werde dasitzen und nichts<br />

verstehen. Ich werde India beobachten. Die ist<br />

hübsch.<br />

Der heutige Schulschluss bringt wieder<br />

traurige und glückliche Gesichter. Meins ist<br />

ungerührt. Bob strahlt. Die Lehrerin sei wie<br />

umgewandelt und eigentlich auch recht<br />

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hübsch (jedenfalls nach Papas Meinung). Auch<br />

sei er in ihren Augen plötzlich etwas wert<br />

geworden. Sogar ohne gutes Igbo.<br />

Hingegen ist es jetzt John, der weint. Im<br />

Kindergarten habe ihm einer eine Popo<br />

(Papaya) an den Kopf geworfen, die grösser<br />

gewesen sei als sein Kopf.<br />

Damian mischt sich ein. Er will John’s Kummer<br />

wissen. Dann sagt er ganz eifrig, John werde<br />

doch die Popo sofort zurückgeschossen<br />

haben!?<br />

John ist perplex. Popo’s sind aber zum Essen!<br />

Nun stutzt Damian seinerseits. Natürlich sind<br />

Popo’s zum Essen da und er wäre glücklich, er<br />

hätte eine so grosse wie beschrieben. Aber<br />

wenn man sie an den Kopf geworfen<br />

bekommt, ist es doch wahrhaftig etwas<br />

anderes!<br />

24<br />

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24


DAMIAN ZIEHT <strong>E<strong>IN</strong></strong><br />

Damian hat seine Habseligkeiten mitgebracht:<br />

- eine Bastmatte (sein Bett)<br />

- eine lange Hose (er trägt eine kurze)<br />

- ein Hemd (er ist oben ohne)<br />

- ein Foto von sich<br />

Mama zeigt ihm einen kleinen Raum im<br />

Boysquarter, in dem er schlafen könne und die<br />

gemeinsame Dusche und Küche. Wenn man<br />

sein Gesicht beschreiben müsste, würde man<br />

sagen: Dankbar und demütig. Ich kann in der<br />

Zwischenzeit schwarze Gesichter einordnen.<br />

Fahrer Albert ist eingebildet und hochmütig;<br />

er mag Weisse nicht leiden, nur ihr Geld –<br />

Damian ist einfach und bescheiden. Weisse<br />

sind für ihn wie Engel. Wie er nun noch ein<br />

Bettgestell bekommt mit einer Matratze und<br />

einem Leintuch, wo Mama seine Initialen<br />

hineingestickt hat: DE, Damian Eke, kämpft er<br />

mit den Tränen vor Freude und fragt, ob er<br />

meiner Mama Mom sagen dürfe.<br />

Welche Folgen das haben würde, dass Damian<br />

sich nun als mein Pflegebruder fühlte, begriff<br />

ich erst später, als er sich 20 Kobo’s aus<br />

meinem Kässeli genommen hatte. Er bestritt<br />

diese Tat nicht, aber er bestritt,<br />

28 25 25


dass es sich um einen Diebstahl handle. Er<br />

dürfe doch seinem Bruder etwas entlehnen!<br />

Ich begreife Damian, dass er meiner Mutter<br />

Mom sagen will. Wenn sie in den<br />

nigerianischen Batiktüchern daherkommt, das<br />

Baby auf dem Rücken, den Einkaufskorb auf<br />

dem Kopf, notgedrungen würdig, aber<br />

manchmal barfuss, obschon sie von uns streng<br />

irgendeine Fussbekleidung verlangt (wegen<br />

der Schlangen und Skorpionen), muss man<br />

wirklich das Gesicht anschauen, um sie als<br />

Weisse zu erkennen.<br />

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26


PREMA<br />

Ich habe India angesprochen. Ich habe<br />

versucht, englisch zu sprechen. Dabei habe ich<br />

gemerkt, dass auch sie Sprachschwierigkeiten<br />

hat. Ich habe sie gebeten, sich neben mich zu<br />

setzen. Sie hat meine Wörter und Bewegungen<br />

der Hände verstanden und hat eingewilligt.<br />

Merkwürdig, wie heimatlich es sich anmutet,<br />

eine Inderin neben mir zu wissen. Wenn der<br />

Lehrer mich aufruft, erschrecke ich nicht mehr.<br />

Ein Blick auf ihr ruhig sicheres Gesicht, ein<br />

Zeichen von ihr, ein zugeflüstertes Wort,<br />

helfen mir, mich sicher zu fühlen. Ich will jetzt<br />

lernen.<br />

Sie heisst natürlich nicht India, sie heisst<br />

Prema. Aber für mich heisst sie weiterhin<br />

India. Wahrscheinlich ist ihre Familie sehr<br />

reich. Ein Chauffeur bringt und holt jeweils<br />

India und ihre grosse Schwester. Oder ist es<br />

etwa wie bei uns? Als Bob letzthin fragte, ob<br />

wir reich seien, hat Mama erklärt, dass wir im<br />

Vergleich zu vielen Schwarzen reich scheinen,<br />

aber zuhause in der Schweiz seien wir ganz<br />

gewöhnliche Bürger.<br />

Ich möchte India sehen ohne diese blöde<br />

Schuluniform. Trägt sie wohl indische<br />

Wickelkleider oder afrikanische?<br />

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VERSCHIEDENE ANGESTELLTE<br />

Wenn die Schule langsam erträglich wurde, so<br />

wurde der Schulweg immer schwerer. Papa<br />

hatte einen neuen Chauffeur angestellt,<br />

Albert. Es war etwas schief in diesem Gesicht<br />

oder in seinem Blick. Aber – es kann ja einer<br />

auch recht sein, obschon er einen Tic hat! Nun,<br />

ich glaube, er hasste uns. Immer wieder kamen<br />

wir wegen ihm zu spät in die Schule, obschon<br />

(oder weil) er wusste, dass wir zur Strafe den<br />

Schulhof reinigen mussten. Er tat, als müsse<br />

er für Papa etwas wichtiges erledigen, hielt<br />

aber nur in der Nähe eines Marktstandes,<br />

stieg aus, sprach lange und ausgiebig und<br />

wenn er endlich wieder einstieg, fuhr er nicht<br />

ab, sondern kaute genüsslich irgendwelche<br />

Süssigkeiten, wo er doch genau wusste, wie<br />

gerne wir auch welche hätten! Und kam dann<br />

grinsend zu spät zur Schule mit uns.<br />

Er hatte kein Gefühl fürs Auto, fürs Gänge<br />

Schalten, für den Verkehr. Er liess den Motor<br />

manchmal so aufheulen, dass wir Angst<br />

bekamen, der Motor müsse in tausend Stücke<br />

zerbersten. Wir baten Papa, einen anderen<br />

Chauffeur anzustellen. Aber er sagte, nach<br />

vier Fahrern, von denen einer schlechter als<br />

der andere gewesen sei, möge er nicht noch<br />

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einmal wechseln. Da war der Nachtwächter<br />

Reginald schon viel sympathischer. Er war ein<br />

älterer Herr und kam jeden Abend gegen sechs<br />

Uhr mit einem Mückenwedel (Eselshaare<br />

zusammengebunden), einer Bastmatte, mit<br />

der Bibel, einer Steinschleuder und einer<br />

Taschenlampe „bewaffnet“ und richtete sich<br />

vor der Haustür sein Nachtlager. Er hatte mit<br />

den Nachtwächtern der Nachbarschaft ein<br />

Pfiff-Zeichen vereinbart, sobald einer etwas<br />

ausserordentliches beobachtete. Ich habe<br />

manchmal nachts dieses Pfeifen gehört, in<br />

verschiedenen Stärken und Tonlagen, aber es<br />

war nie sehr alarmierend. Wahrscheinlich<br />

waren Tiere aus dem Busch aufgetaucht.<br />

Es kam manchmal vor, dass Reginald schlief,<br />

wenn wir vor dem Zubettgehen nach ihm<br />

schauten. Aber er drehte nachts regelmässige<br />

Runden ums Haus, wobei er mit einem Stock<br />

auf den Boden klopfte, damit sich die<br />

Schlangen entfernten. Diese Rundgänge<br />

wirkten beruhigend.<br />

Reginald wusste nicht nur, was draussen vor<br />

sich ging – er war auch über das, was im Haus<br />

geschah, immer auf dem Laufenden. Wir sind<br />

keine leise Familie. Vom kleinen Baby, das<br />

nicht etwa leise wimmert, bis zum lautstarken<br />

Papa, der seine Befehle nicht flüstert, äussern<br />

wir uns alle deutlich. Ich<br />

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habe selber erfahren, dass man eine Sprache<br />

nicht in allen Details verstehen muss, um das,<br />

was gesprochen wird, zu begreifen. Und<br />

Reginald sass oder lag direkt neben den<br />

vordern Fenstern, die nachts immer<br />

quergestellt waren, damit neben Staub auch<br />

etwas Kühlung hereinkam. So wusste er von<br />

jedem Weinen, Schlafengehen, Essen und<br />

Jubeln.<br />

Reginald und Damian waren beide Igbo’s. Aber<br />

sie sprachen trotzdem nicht die gleiche<br />

Sprache und mussten sich auf englisch<br />

verständigen (Papa wusste, dass es in diesem<br />

Land hunderte von verschiedenen<br />

Eingeborenensprachen gibt). So konnten auch<br />

wir verstehen, was die beiden miteinander<br />

sprachen.<br />

Ein Hausboy ist mehr wert als ein<br />

Nachtwächter, hat auch mehr Lohn, denn er<br />

muss mehr können, als bloss in der Nacht<br />

nicht schlafen. Er muss mit den Küchengeräten<br />

zurechtkommen, auf ausländische Art kochen,<br />

waschen, putzen. Aber da Damian viel jünger<br />

war als Reginald und kein bisschen<br />

eingebildet auf seine sozial höhere Stellung,<br />

konnte es Reginald wagen, Damian von seinen<br />

Erfahrungen mit Weissen zu erzählen und ihm<br />

sogar Anweisungen zu geben. Einmal<br />

verhandelten sie stundenlang miteinander.<br />

Reginald erklärte umständlich,<br />

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dass diese Familie hier gut sei. Wir hätten Wissen,<br />

das Damian in seinem ganzen Leben nie begreifen<br />

werde, und dass er deshalb unbedingt gehorchen<br />

müsse, auch wenn er nicht verstehe, weshalb das<br />

Wasser gekocht und filtriert werde, bevor wir es<br />

trinken, auch wenn es noch so klar aussehe.<br />

Damian klagte, dass ich ihn angelogen hätte.<br />

Habe ich ihm doch von Eis und Schnee erzählt und<br />

anhand des Eises im Tiefkühler erklärt, wie die<br />

Temperaturen in der Schweiz im Winter seien.<br />

Aber so gescheit sei er immerhin, dass er wisse,<br />

dass man erfrieren würde, wenn dies so wäre.<br />

Reginald verteidigte mich. Es könne doch sein,<br />

dass wir Apparate hätten, die nicht kühlen wie<br />

hier, sondern wärmen….<br />

Natürlich musste ich das alles Prema erzählen.<br />

Und wie reagierte sie darauf? Sie war etwas<br />

verwirrt und fragte mich schliesslich, wie es nun<br />

tatsächlich sei mit diesen Wärmeapparaten!<br />

34 31 31


AUF DEM MARKT<br />

Heute waren wir im Markt. Schon von weitem<br />

hörten wir, wie der Ruf „Oniotscha (Weisse)! von<br />

Stand zu Stand weitergegeben wurde. Und überall<br />

rief man uns fröhlich „welcome“ zu. Wenn nur<br />

nicht wir drei Blonden immer wieder angefasst<br />

würden! Wir scheinen wirklich eine Rarität zu<br />

sein.<br />

Die Wassergräben, die kreuz und quer durch den<br />

Markt verlaufen, stinken grässlich. Überall hat es<br />

Bettler. Den einen gibt Mama Geld, den andern<br />

verspricht sie für nächstes mal Kleider, und junge<br />

Männer schimpft sie aus, weil sie zu faul seien zu<br />

arbeiten.<br />

Plötzlich schreit Margret laut. Sie ist in einen<br />

Graben gefallen und steht nun bis zum Bauch im<br />

grausigen Wasser Neben ihr schwimmt faules<br />

Gemüse und eine tote Ratte. Mama zieht Margret<br />

heraus und entkleidet sie bis auf die Unterhose.<br />

Was weiter nicht auffallen würde, wenn ihre Haut<br />

nicht so sehr hell wäre. Die Schwarzen selber<br />

gehen viel oben ohne, Männlein und Weiblein.<br />

Da kommt sogar einer ganz nackt daher, was ich<br />

nun doch ein bisschen stark finde. Reklamiert<br />

denn niemand? Es ist ein schön gewachsener,<br />

junger Mann. Vielleicht zum ersten mal in einer<br />

Stadt? Ich schaue rundherum die Leute an.<br />

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35<br />

32


Keiner scheint den Nackten überhaupt zu<br />

beachten. Nur ein kleines Mädchen stösst ihre<br />

Freundin an, zeigt auf ihn und sagt:<br />

„Bushman“. Die Käufe gehen sehr langsam vor<br />

sich. Tritt man an einen Stand und interessiert<br />

sich für die Preise, weiss man, dass ein<br />

zeitraubender Handel vor einem steht. Ich<br />

kenne das vom Buschmesser her. Ich fragte,<br />

was so ein Bushknife koste, und der Verkäufer<br />

sagte „50 Nairas“, wo ich doch nur zehn dabei<br />

hatte. Als ich weitergehen wollte, meinte er,<br />

für 40 wäre es unter Umständen auch noch<br />

möglich. Ich zeigte ihm meine 10 Nairas, und<br />

er tat entsetzt, dass ich damit an ein so<br />

schönes Messer überhaupt nur denke. Aber<br />

schliesslich würde er es auch für 30 Naira’s<br />

geben, da er dringend Geld brauche. Ich sagte,<br />

dass ich vielleicht bei Mama noch 5 Nairas<br />

Vorschuss bekommen könnte, und schliesslich<br />

war er bereit, den Kauf um 20 N. zu tätigen.<br />

Man darf nicht von Anfang an zeigen, woran<br />

man Interesse hat. Im Gegenteil. Man muss<br />

allerhand Krimskrams in die Hand nehmen<br />

und verhandeln und beiläufig nach dem<br />

Wunschgegenstand fragen, so als ob jener<br />

überhaupt nicht in Frage komme. Nur dann<br />

kann man wirklich tief unten beginnen.<br />

36 33 33


Mitten im Gedränge von Menschen, Früchten,<br />

Stoffen, Mehl und Steintöpfen sehe ich<br />

plötzlich einen Mann am Boden kriechen ohne<br />

Beine und Arme. Er hat Lederstückchen um<br />

winzige Stummeln von Beinchen gebunden und<br />

trägt eine Büchse um den Hals. Es zieht sich<br />

etwas in mir zusammen. Wie ich aufschaue,<br />

sehe ich geradewegs in die Augen von India. Es<br />

ist, als ob ich das Spiegelbild meiner eigenen<br />

Empfindungen darin sehe. Müsste sie nicht an<br />

einen solchen Anblick gewohnt sein? Nein, an<br />

so Unmenschliches gewöhnt man sich nie.<br />

Meine Mutter drückt mir ein Geldstück in die<br />

Hand, und India und ich bücken uns<br />

gleichzeitig zur Bettlerbüchse.<br />

India findet das Handeln und Markten ganz<br />

natürlich und in Ordnung. Ob es nicht<br />

langweilig wäre, die Dinge nach einem<br />

festgesetzten Preis zu kaufen? Und dann müsse<br />

man auch bedenken, dass ein Reicher mehr<br />

zahlen könne als ein Armer. Irgendwie hat sie<br />

da auch recht.<br />

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34


DER BUSCH BRENNT<br />

Wir sehen von weitem eine riesige Rauchwolke<br />

über dem Busch. Ich kenne das bereits: Man<br />

schneidet eine Schneise rund um das Gebiet,<br />

das man abbrennen will, dann zündet man (es<br />

ist Trockenzeit) den Busch an und steht Wache,<br />

weil nun verschiedene Tiere fliehen. Schlangen<br />

werden getötet, Echsen laufen gelassen,<br />

Ratten als Menü Bereicherung geschätzt und<br />

eine Gazelle wäre ein Festbraten. Es wird viel<br />

zu viel getötet Die Schwarzen kennen ja ihre<br />

Tiere nicht alle und wissen nicht, wozu sie gut<br />

sind. Aber schauen gehen wollen wir<br />

trotzdem. In hohen Stiefeln gehen wir zum<br />

Rand des Brandes. Eine reiche Beute liegt<br />

schon da. Margret bekommt eine tote Ratte als<br />

Geschenk in den Arm gelegt. Sie schreit aber<br />

nur auf und wirft sie weg. Der Spender<br />

versteht die Welt nicht mehr, sieht aber so<br />

aus, als ob er erleichtert wäre, das Fleisch für<br />

die Abendsuppe zurück erhalten zu haben.<br />

Mama sagt, man sage, der Boden werde mit<br />

der Asche gedüngt, zweifelt aber an der<br />

absoluten Richtigkeit dieser Düngung. Es<br />

werde neben vielem Getier, das nicht fliehen<br />

könne, auch viel wertvolles verbrannt: Die<br />

Kräuter, die man wie Spinat kochen könnte,<br />

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die Frucht des Rizinusstrauches mit der<br />

bekannt schnellen Wirkung, die Papaja-<br />

Bäume, deren Blätter zähes Fleisch<br />

weichmachen und deren Fruchtkerne für die<br />

Verdauung gut sind. Die Bananenbäume und<br />

Palmen überleben nicht alle diese Brände. Und<br />

immer bestehe die Gefahr eines Grossbrandes.<br />

Es sei ein Jammer.<br />

Aber die Schwarzen jammern nicht. Sie<br />

schreien, johlen, schlagen drein, haben einen<br />

Riesenspass. Wir stehen ein wenig fremd<br />

herum und gehen dann wieder.<br />

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36


DIE HEILIGEN BÄUME<br />

Immer wieder sieht man hohe Bäume den<br />

Busch überragen. Wahrscheinlich haben sie in<br />

ihrer Jugend genügend Wasser erhalten, um<br />

Wurzeln zu treiben bis zu den dauerhaften<br />

Wasserreserven. Bei diesen Bäumen ist man<br />

andächtig, sie sind heilig. Der eine ist der<br />

Baum der Ahnen, der Vorfahren, der andere<br />

ist der Baum der Fruchtbarkeit (Frauen, die<br />

gerne Kinder hätten, suchen ihn auf), ein<br />

anderer ist der Gesundheitsbaum, also für<br />

Kranke. Aber auch wenn man gesund ist, tut<br />

man gut daran, den Baum zu verehren, damit<br />

man nicht krank wird. Auch im Regenwald<br />

trifft man immer wieder solche Bäume an,<br />

obschon man sie nicht von weitem sieht, denn<br />

im Urwald drin hat man ja keinen Überblick.<br />

An einem Sonntag machten wir einen Ausflug<br />

aufs Geratewohl in den südlicheren<br />

Regenwald. Erst einmal hielten wir bei einem<br />

Bambuswald, weil wir Bohnenstangen<br />

brauchten. Die bisher verwendeten Stecken<br />

aus dem Busch hatten immer Wurzeln<br />

getrieben, bevor die Bohnen hätten wachsen<br />

können. Bambus Stangen oder –Rohre würden<br />

wahrscheinlich weniger rasch ausschlagen.<br />

Damian war bei uns. Auf solchen Fahrten<br />

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wollte er stets mitgehen, weniger um des<br />

Reisens willen, als dass er Angst hatte, wir<br />

könnten als unwissende Fremde irgendwelche<br />

Eingeborenen Sitten verletzen und dann<br />

umgebracht werden. Die Bambusrohre waren<br />

zu hart für die Messer, die wir bei uns hatten<br />

(in Zukunft kein Ausflug mehr ohne mein<br />

Buschmesser!). Ein kleines, verkrüppeltes<br />

Männlein erschien zwischen den<br />

Bambusstämmen. Und obschon er<br />

offensichtlich sehr arm war – als einziges<br />

Kleidungsstück hatte er einen alten Lappen an<br />

einer Schnur um die Taille gebunden – hatte er<br />

doch eine Machete bei sich, dieses<br />

Buschmesser ist einfach lebenswichtig.<br />

Damian bat ihn mit den demütigsten<br />

Bewegungen darum, sein Messer benutzen zu<br />

dürfen, und er bekam es auch. So bekamen wir<br />

unsere Bohnenstangen. Der Bambuswald ist<br />

übrigens licht und heiter, die feinen Blättchen<br />

spielen dauernd, auch ohne Wind.<br />

Stimmen wurden laut, Kleider leuchteten auf<br />

und ich erblickte Prema mit ihrer Schwester<br />

und mit ihren Eltern, alle in Wickeltüchern.<br />

Endlich sehe ich India ohne nigerianische<br />

Schuluniform. Wir reden miteinander – sie<br />

wollen zu einem kleinen See in der Nähe – und<br />

ich bewundere den glänzenden indischen Stoff<br />

ihres „Kleides“. Meine Familie will den See<br />

auch sehen, so kann ich mit Prema<br />

38<br />

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weitergehen. Auf dem Boden werden immer<br />

mehr Fussspuren sichtbar von den<br />

verschiedensten Tieren, je näher wir dem<br />

Wasser kommen. Auch viele Menschen müssen<br />

da sein, man hört Gekreisch, Musik, Trommeln,<br />

Rufen.<br />

Aber dann bin ich enttäuscht. Ich habe das Bild<br />

eines Sees vor Augen gehabt mit Sandstrand,<br />

blauem Wasser, in dem der Himmel sich<br />

spiegelt – was ich hier sehe, ist ein grosser,<br />

dreckiger Tümpel. Kühe werden<br />

hineingetrieben und stehen bis zum Bauch im<br />

Wasser, Frauen waschen Tücher, Kinder baden.<br />

Wilde Tiere sieht man natürlich keine (am Tag<br />

und viel andern Besuchern). Die mageren,<br />

knochigen Kühe seien auf dem Weg nach<br />

Süden in die Schlächtereien. Bei ihrem Anblick<br />

wird mir klar, warum Mama das zähe Fleisch<br />

auch im Dampfkochtopf nicht weich bringt.<br />

Jedermann ist fröhlich. Mit kleinen<br />

Zupfinstrumenten, Rasseln und Trommeln wird<br />

musiziert. Ständig kommen Leute mit<br />

Wassereimern, die sie füllen und dann auf dem<br />

Kopf wegtragen. Wozu sie es wohl brauchen?<br />

„Wasser ist Leben“, sagt Prema leise. Daran<br />

habe ich noch nie gedacht.<br />

Die Musizierenden lagern unter einem grossen<br />

Baum. Wir gehen in ihre Nähe, um die<br />

Instrumente näher zu sehen. Der Baum steht in<br />

voller Blüte, ist übersäht mit richtig roten,<br />

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40<br />

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traubenartigen Blumen. Ich schaue hinauf. Nie<br />

habe ich eine solche Farbenpracht gesehen.<br />

Es ist der Baum der Liebenden.<br />

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IM URWALD<br />

Papa drängt weiterzugehen. Wir wollen ja in<br />

den richtigen, dichten Urwald. Die Strassen<br />

sind hügelig, holperig, verlöchert. Einmal<br />

müssen wir anhalten, weil sich eine mehr als<br />

mannsgrosse Schlange (Python) über die<br />

Strasse wälzt. Der Busch wechselt langsam zu<br />

Wald. Das Unterholz der grossen Bäume ist<br />

nicht mehr Schilf, Kräuter und Sträucher,<br />

sondern Schlinggewächs, Lianen, etwas wie<br />

wilde Brombeeren, undurchdringbares<br />

Dunkelgrün. Bei einem kleinen, gerodeten<br />

Platz am Wegrand bitte ich anzuhalten, weil<br />

ich mal verschwinden muss. Auch Bob will<br />

hinaus. Schliesslich müssen alle aufs WC, das<br />

heisst ins Gebüsch. Wir könnten ja hier gleich<br />

Picknicken! Mama und Damian schleppen<br />

Körbe und Taschen herbei. Aber wir haben uns<br />

noch nicht alle gesetzt, da stehen schon ganze<br />

Gruppen von Schwarzen da, die uns<br />

beobachten, die plaudern, lachen und die<br />

Hände ausstrecken, um von unserm fremden<br />

Essen zu versuchen. Mama verteilt allen,<br />

wenn auch wenig, damit es reicht.<br />

Wo ist Bob?<br />

Er wollte ein heimliches Örtchen aufsuchen,<br />

aber jetzt müsste er längst zurück sein. Mama<br />

wird nervös. Sie ruft laut „Bob“! Das finden<br />

die Schwarzen äusserst lustig. Sie rufen in<br />

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allen Tonlagen und Lautstärken „Bob“! sodass<br />

es weithin schallt. Und Bob kommt auf allen<br />

Vieren wieder zum Vorschein aus dem<br />

Dickicht. „Das Zeug ist so verwachsen, dass<br />

man ein Buschmesser braucht, um<br />

durchzukommen“, klagt er. Woher nur all die<br />

Zuschauer kommen, die uns richtiggehend<br />

umkreisen, uns berühren wollen und unser<br />

Essen probieren. Wahrscheinlich haben sie ihre<br />

geheimen Schleichwege, deren Ein- und<br />

Durchgänge sie mit Zweigen vertuschen.<br />

Jetzt tritt ein alter, würdiger Mann zu Papa,<br />

hält ihm die offene Hand hin, in der eine<br />

Kolanuss liegt und sagt etwas<br />

Unverständliches. Es müssen wichtige Worte<br />

sein, denn es ist alles still geworden. Damian<br />

flüstert Papa zu, er müsse für den<br />

Willkommensgruss danken, die Kolanuss<br />

annehmen, brechen und verteilen. Da aber<br />

Papa die hiesige Sitte nicht kennt, vor allem<br />

die Reihenfolge der Verteilung (und auch<br />

Damian kann unmöglich alle Stammes Sitten<br />

kennen), nimmt er die Kolanuss erst einmal<br />

an, dankt für die freundliche Begrüssung auf<br />

englisch und Damian übersetzt auf igbo. Er<br />

bittet, dass der Dorfälteste das Verteilen<br />

selbst übernehmen möge, da wir hier fremd<br />

sind. Und nun stelle man sich vor, was<br />

passiert! Der alte Mann halbiert die Kolanuss,<br />

bricht sie nochmals, gibt einen Viertel Papa<br />

46 43 43


und den andern Viertel mir, dem ältesten<br />

Sohn! Von der andern Hälfte gibt er einen Teil<br />

einem Schwarzen, den Rest isst er selbst. Es<br />

herrscht absolute Ruhe, während wir an<br />

unsern Kolastückchen kauen, und ich fühle<br />

mich sehr wichtig, habe ich doch mehr<br />

Bedeutung in den Augen der Schwarzen als<br />

Mama!<br />

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47<br />

44


DAMIANS GESCHICHTE<br />

Damian hat uns seine Lebensgeschichte<br />

erzählt. Während er jeweils Windeln<br />

glattstrich (und damit sterilisierte) mit dem<br />

heissen Eisen, war er sehr gesprächig. Ich habe<br />

nicht immer aufmerksam zugehört – es waren<br />

manchmal langfädige und langweilige<br />

Beschreibungen und Erklärungen. Wie lange<br />

brauchte er doch, bis er das<br />

Abschiedsgespräch von seinem Vater<br />

wiederholt hatte! In der Höflichkeitsform<br />

hatte er ihm klargelegt, dass er nicht weiter<br />

mit ihm Yam (Wurzelgemüse) anpflanzen<br />

werde, dass er seinen jüngeren Geschwistern<br />

Platz machen wolle beim Essen und beim<br />

Arbeiten, und dass er mit Gottes Hilfe eine<br />

andere Arbeit suchen gehe. Der Vater sagte<br />

zuerst etwas von undankbarer und<br />

rebellischer Jugend, die das Handwerk der<br />

Väter nicht ehrten, aber dann ermahnte er<br />

Damian, immer seiner Familie zu gedenken,<br />

kein Unrecht zu tun und ehrlich zu bleiben.<br />

Es muss ein sehr umständliches Gespräch<br />

gewesen sein!<br />

Interessanter war die Kriegsgeschichte. Als<br />

Damian neun Jahre alt war, gab es Krieg. Ich<br />

glaube, die Ibo’s wollten sich selbständig<br />

machen in einem Biafra Staat. Die andern<br />

Eingeborenen Stämme, die Haussa’s, Joruba’s<br />

48 45 45


etc. bezwangen sie in einem jahrelangen,<br />

grausamen Krieg. Dieser Krieg fand in Busch<br />

und Urwald statt, und jedermann war darin<br />

verwickelt, von den Kindern, die man als<br />

Meldeläufer brauchte, bis zu den Grosseltern,<br />

die als Spione beobachten mussten.<br />

Damian hatte man mit einer Gruppe kleiner<br />

Kinder weitab im Regenwald versteckt. Er<br />

musste für die kleinen sorgen, und manchmal<br />

sahen sie wochenlang keinen Erwachsenen.<br />

Yam und Cassava (beides Wurzelgemüse) der<br />

Umgebung waren bald einmal alle, auch die<br />

Früchte wurden rar. Da sie aber immer wieder<br />

Schiessen und Schreie hörten, wagten sie nicht<br />

allzu weit wegzugehen. Eines Tages standen<br />

Fremde, „Oniotscha’s“ da. Was wollten sie?<br />

Waren sie Freund oder Feind? Kein<br />

Erwachsener konnte ihnen raten. Und obschon<br />

sie wussten, dass sie auch vergiftet werden<br />

könnten, fassten sie dank Hunger Vertrauen<br />

zu den Hellhäutigen, zumindest zu ihrem<br />

Essen, das diese reichlich mitgebracht hatten,<br />

und stopften sich Mund und Bäuche voll.<br />

Nach ein paar Tagen kamen diese Weissen<br />

wieder und überredeten Damian, mit den<br />

Kleinen ihnen nachzukommen zu den<br />

bereitstehenden Auto’s. Er habe diese Weissen<br />

Caritas Leute genannt und sie von Anfang an<br />

gemocht, sagte Damian. Und er möge die<br />

46<br />

49<br />

46


Weissen noch immer, sie seien besser als<br />

Schwarze.<br />

Was wohl unser Fahrer Albert dazu sagen<br />

würde?<br />

Tagelang fuhren sie dann auf schmalen,<br />

holprigen Urwaldwegen, rasteten nur kurz für<br />

Mahlzeiten, fühlten sich aber gut aufgehoben<br />

bei den weissen Müttern und Vätern. Endlich<br />

hiess es, man sei am Ziel<br />

Sie waren in einem Land, wo kein Krieg war.<br />

Sie befanden sich in einem Flüchtlingslager, in<br />

einem Camp. Damian habe viel Ungewohntes<br />

zu hören und zu sehen bekommen, das er zum<br />

Teil bis heute noch nicht verstehe, aber es sei<br />

eine wunderschöne, sorglose Zeit gewesen. Die<br />

Weissen hätten viel besser für die Kleinen<br />

gesorgt als er selbst. Damals habe er auch das<br />

Windel-System kennengelernt, von denen er<br />

hier grad eine bügle. Und schöne Kleider<br />

hätten sie bekommen, und immer genug zu<br />

essen. Sie seien traurig gewesen, als sie<br />

wieder in ihre Heimat zurückkehren mussten,<br />

weil der Krieg zu ende gegangen war.<br />

50 47 47


BEN<strong>IN</strong><br />

Nach dem Krieg kam Damian zu seiner<br />

verheirateten Schwester nach Benin und<br />

durfte noch weiter zur Schule gehen bis zur<br />

sechsten Klasse.<br />

Damian denkt nicht gerne an Benin. Er möchte<br />

niemals mehr dorthin gehen, Benin sei eine<br />

gefährliche Stadt.<br />

Wenn wir von einer Stadt sprechen, denken<br />

wir an Hochhäuser, an breite Strassen,<br />

Trottoirs und Schaufenster. Diese<br />

Vorstellungen dürfen wir bei Benin alle<br />

vergessen.<br />

Als ich einmal mit Papa auf Baustellenbesuche<br />

mitgehen durfte, waren wir auch in Benin. Da<br />

sind einfach viele Hütten aneinandergereiht,<br />

alle ebenerdig. Viel Unrat liegt umher, ganz<br />

anders als bei Urwaldsiedlungen, deren<br />

Umgebung feinsäuberlich gewischt ist, damit<br />

keine wilden Tiere und Schlangen angezogen<br />

werden. Benin ist eine Kloake. Die offenen<br />

Kanalisationsgräben stinken.<br />

Wovor fürchtete Damian sich? Einmal sei ein<br />

Kind verschwunden, als er in Benin war. Die<br />

Mutter habe nicht aufgehört, es zu suchen, bis<br />

sie es in der Hütte eines Medizinmannes<br />

gefunden habe, wo man es gerade haben töten<br />

wollen, weil sein Blut für eine Medizin<br />

48<br />

51<br />

48


gebraucht wurde.<br />

In Benin war es auch, wo ein Lehrer Damian<br />

eines Tages zur Post schickte, um Briefe<br />

abzuholen. Auf dem Weg hielt ihn ein fremder<br />

Mann am Ärmel fest und führte ihm einen<br />

Zaubertrick vor. Er hielt ein kleines Kreuz in<br />

der Hand und befahl Damian, ihm einen Stein<br />

zu geben. Damian ist furchtbar ängstlich von<br />

Natur aus. Er sperrte Mund und Augen auf,<br />

hatte aber auch Angst wegzulaufen, bis der<br />

Fremde ihn anstiess und befahl, sofort einen<br />

Stein aufzuheben. Da bückte Damian sich.<br />

Was anderes hätte er tun sollen?<br />

Nun – an seiner Stelle wäre ich weggerannt!<br />

Was hat einem ein Fremder zu befehlen?<br />

Der Fremde nahm den Stein in die Hand,<br />

murmelte etwas wie ein Gebet, öffnete die<br />

Hand wieder – nun war in beiden Händen ein<br />

Kreuz, der Stein war verschwunden. Ich<br />

behaupte, Damian war zu unaufmerksam vor<br />

lauter Angst. Und man muss zugeben, dass er<br />

manchmal ein bisschen langsam ist von<br />

Begriff. Jedenfalls war er damals wie<br />

verzaubert. Er konnte nicht anders, er musste<br />

hinter dem Fremden hergehen, als dieser ihm<br />

sagte, er solle ihm folgen. Sie kamen zu dem<br />

Ort, wo die Toten begraben sind. Da stand der<br />

Mann still, drehte sich um und sagte: „Nun gib<br />

mir Geld! Wenn Du keines hast, treib welches<br />

auf, mindestens zwanzig Naira’s.<br />

52 49 49


Wie ich den Stein in ein Kreuz verwandelt<br />

habe, werde ich dieses Geld dann verwandeln,<br />

nämlich verdoppeln.“<br />

Natürlich hatte Damian kein Geld. Er stand<br />

ratlos da. Wieder stiess der Fremde ihn an,<br />

schüttelte ihn und hiess ihn Geld auftreiben.<br />

Da rannte Damian los.<br />

„Du wirst aber doch wohl zu deiner Schwester<br />

heimgegangen sein und diesen Mann stehen<br />

gelassen haben, Damian!“<br />

Nein. Damian hatte nur den einen Gedanken,<br />

irgendwo Geld zu bekommen. Er begegnete<br />

einem Nachbarn, der ihn ansprach; Damian<br />

grüsste ihn nicht. Er rannte zur Schule, packte<br />

einen feinen Schüler – man sieht auch in der<br />

Schuluniform sofort, wer reich ist – und flehte<br />

ihn um Geld an. Aber auch dieser hatte kein<br />

Geld bei sich. Damian war so aufgeregt und<br />

Todesangst stand in seinen Augen, dass dieser<br />

Schüler schliesslich nach Hause ging um Geld<br />

zu holen. Damian atmete auf, als er seinen<br />

Kameraden wieder ankommen sah mit<br />

fröhlichem Gesicht. Er nahm die 20 Naira’s<br />

und rannte damit so schnell ihn die Beine<br />

trugen zum Friedhof zurück. Der Fremde war<br />

noch da. Er nahm zufrieden das Geld, legte es<br />

in einen Umschlag, faltete beide Hände drum<br />

und murmelte einen langen Vers. „Damian,<br />

hast du dann auch wirklich diese Hände keine<br />

Sekunde aus den Augen gelassen?“<br />

50<br />

53<br />

50


Er weiss es nicht, weiss nur, dass er<br />

versteinert war vor Angst. Der Fremde gab<br />

ihm schliesslich das Couvert zurück, hob den<br />

Zeigefinger und sagte drohend: „Diesen<br />

Umschlag musst du nun verschlossen lassen<br />

bis abends sechs Uhr! Auf dem Heimweg<br />

gehst du eine Salbe kaufen aus einem blauen<br />

Topf, reibst damit die Hände ein und dann<br />

versteckst du den Umschlag zu Hause. Bis<br />

abends 6 Uhr hat das Geld sich dann<br />

verdoppelt.“ Armer Damian! Er war wie in<br />

einem Bann. Er ging in einen Medizinladen<br />

und bat und bettelte und liess nicht locker, bis<br />

er diese bestimmte Salbe aus einem blauen<br />

Topf bekam, ohne dafür zu bezahlen. Zu<br />

Hause legte er den Umschlag unter die aus<br />

Bast geknüpfte Matte, die ihm als Bett diente.<br />

Seine Schwester war nicht da. Aber eine<br />

Nachbarin schaute in die Hütte hinein und<br />

fragte, was los sei, Damian sei so<br />

merkwürdig, aber er antwortete nicht. Viel<br />

später nahm er eine Kokosschale, ging sie mit<br />

Wasser füllen und schüttete es sich über den<br />

Kopf. Er hatte Kopfschmerzen.<br />

Der Nachbar kam, der ihn vorher auf der<br />

Strasse angesprochen hatte. „Warum hast du<br />

mich vorhin nicht gegrüsst?“<br />

„Ich habe Sie nicht gesehen“.<br />

Damian wollte weiss der Himmel nicht lügen,<br />

aber er konnte einfach nicht anders.<br />

54 51 51


Wieder kam die Nachbarin. Sie war besorgt<br />

und aufgeregt. Man brauchte weder eine<br />

Brille noch eine psychologische Ausbildung<br />

um zu sehen, dass der Junge ganz<br />

durcheinander war und kaum mehr wusste,<br />

wo ihm der Kopf stand.<br />

Aber Damian konnte weder an den Lehrer<br />

denken, der ihn sicher in der Zwischenzeit<br />

vermisste, noch an die Nachbarin, die mehr<br />

und mehr in Aufregung geriet. Er war ganz<br />

erfüllt von dem Erlebnis mit dem Fremden,<br />

dachte an den Umschlag und sagte nichts.<br />

Endlich wurde es Abend, sechs Uhr. Es gab<br />

zwar keine Uhr im Haus, aber Damian merkte<br />

es an den Leuten, die vor Nachteinbruch<br />

heimkamen. Zitternd holte er den Umschlag<br />

hervor, in dem nun 40 Nairas sein sollten und<br />

öffnete ihn – welche Enttäuschung! Rein<br />

nichts war darin. Der fremde Mann hatte ihn<br />

betrogen.<br />

„Benin ist eine böse Stadt“, wiederholt wohl<br />

Damian sein Leben lang. Er mag eine lange<br />

Leitung haben; wenn er aber einmal etwas<br />

gepackt hat, oder wenn er von etwas gepackt<br />

wird, dann dauert das. So wie seine<br />

abgöttische Liebe zu uns Weissen und seine<br />

Angst vor Benin.<br />

52<br />

55<br />

52


AUF ARBEITSSUCHE<br />

Man muss sich daran gewöhnen, Damian<br />

zuzuhören. Erst meint man, es sei furchtbar<br />

langweilig. Aber wenn man versucht, seinen<br />

Gängen zu Verwandten und Fremden durch<br />

Busch und Urwald zu folgen, merkt man, dass<br />

da „action“ drin ist. Todesängste, die man<br />

miterlebt, kleine Seligkeiten, die berühren.<br />

Nach der sechsten Klasse hiess es für Damian<br />

Geld verdienen; der Schulbildung sei nun<br />

genug. Er arbeitete zuerst als Steward bei<br />

einer reichen Haussa Familie, aber da durfte<br />

er sonntags nie zur Kirche gehen, weil sie<br />

Moslems waren. Schliesslich ging er nach<br />

Hause.<br />

Der Vater pflanzte Yam. Er wollte, dass<br />

Damian ihm dabei helfe. Aber Damian wusste,<br />

wie das sein würde. Er würde hart arbeiten<br />

müssen im roten lehmigen Boden, an der<br />

prallen Sonne. Er hatte von klein an helfen<br />

müssen, woher sonst waren seine Hände so<br />

grob und gross (Damian stellte das Bügeleisen<br />

ab und zeigte uns seine grossen, auf der<br />

Innenseite hellen Hände). Er würde nie mehr<br />

einen Kobo oder Rappen haben, nie mehr ein<br />

Buch lesen können, nichts anderes zu essen<br />

bekommen als Yam und Cassava morgens,<br />

mittags, abends, immer dasselbe.<br />

56 53 53


Ausser während der Fastenzeit: da gibt es<br />

diesen Wurzelbrei nur zweimal pro Tag. Gut,<br />

beim Ahnenfest, da gab es auch Palmwein zu<br />

trinken, da wurde ein Tier für das ganze Dorf<br />

geschlachtet. Aber als Angestellter in einem<br />

reichen Hause gäbe es täglich Abfälle, die er<br />

beim grössten Familienfest noch nie gesehen<br />

hatte. Und er würde Geld verdienen und<br />

könnte sogar selber mal ein Fest spendieren.<br />

„Vater, lassen sie es mich noch einmal<br />

versuchen. In einer andern Stadt, im Zentrum<br />

des Ibo Stammes, in Enugu. In der Nähe wohnt<br />

ja auch mein älterer Bruder.<br />

Vielleicht werde ich nie zurückkehren.<br />

Vielleicht werde ich Geld verdienen. Auf<br />

ehrliche Weise, so wahr ich Ihr Sohn bin. Ob es<br />

mir gut oder schlecht gehen wird – ich will es<br />

mit Gott versuchen.“<br />

Sein Bruder riet ihm, vor einem modernen<br />

Einkaufsgeschäft nach Arbeit zu fragen.<br />

So stand er eines Tages vor dem Kingsway,<br />

mitten unter den Bettlern. Aber er bettelte<br />

nicht um Geld. Er suchte einen Job. Erst wagte<br />

er nur schwarze Frauen anzusprechen. Er<br />

merkte sofort an den Kleidern und der<br />

Haltung, an welche Damen er sich zu wenden<br />

hatte. Vor dem Kingsway trifft man nur<br />

Ärmste und Reichste, Bettler und<br />

Angebettelte.<br />

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57<br />

54


Aber die meisten Frauen schüttelten nur den<br />

Kopf. Andere sagten, sie können doch keinen<br />

Steward von der Strasse auflesen, wo man ihm<br />

im Hause so viel anvertrauen muss.<br />

Damian sah auch Weisse. Ein Traum wäre es,<br />

in einer weissen Familie angestellt zu werden.<br />

Schliesslich hatte er sie während des Krieges<br />

kennengelernt als Retter. Er versuchte ganz<br />

leise und schüchtern eine weisse Frau<br />

anzusprechen. Ob sie Arbeit für ihn habe? Sie<br />

lachte gerade heraus und sagte, ob er glaube,<br />

sie stelle Bettler an? Damian liess den Kopf<br />

hängen. Es war hoffnungslos. Am Abend ging<br />

er zu seinem Bruder, zu Fuss zwei Stunden<br />

Weges. Der Bruder munterte den Enttäuschten<br />

auf. Wer wollte gleich den Mut verlieren<br />

wegen einer eingebildeten Weissen? Glaubt<br />

Damian etwa, alle Weissen seien Caritas<br />

Leute? Der Platz vor dem Kingsway sei schon<br />

recht, aber vielleicht müsse er eben tagelang<br />

weiterfragen. Damian hob wieder den Kopf.<br />

Nur – gegen Weisse wollte er kein einziges<br />

böses Wort mehr hören!<br />

Am nächsten Morgen ass er mit der Familie<br />

seines Bruders aus dem grossen, geschnitzten<br />

Topf. Im Schneidersitz sassen sie alle um den<br />

grossen Holzkübel und klaubten sich mit den<br />

Fingern Yambrei heraus, formten ihn zu<br />

Bällchen, tauchten diese in die scharfe Sauce,<br />

und dann in den Mund damit.<br />

58 55 55


Pünktlich um 9 Uhr, als Türe geöffnet wurden,<br />

stand er wieder vor dem Kingsway, in<br />

gebührendem Abstand. Am Tag vorher hatte<br />

er gesehen, wie Bettler Schläge bekommen<br />

hatten, weil sie zu nah am Eingang gestanden<br />

und Käufer belästigt hatten.<br />

„Keine Angst, ich werde nie jemanden<br />

belästigen“, murmelte Damian. Er stand am<br />

Rande des Parkplatzes und betete (nicht<br />

bettelte) um Arbeit für das tägliche Brot, nein<br />

für das tägliche Yam. Er beobachtete die<br />

keifenden Marktweiber, die etwas abseits ihre<br />

Früchte feilhielten. Jede wollte als erste einem<br />

neuen Kunden ihre Ware anbieten. Wie rasch<br />

lagen sie sich in den Haaren! Damian taten die<br />

Babies leid, die, auf den Rücken der Mütter<br />

festgebunden, das ganze Gezeter und<br />

Handgemenge mitmachen mussten. Da<br />

Damian keinen Streit sehen konnte, versuchte<br />

er zu schlichten und brachte so oft die Frauen<br />

wieder zum Kichern. Gelang es ihm nicht, zog<br />

er sich zurück, ausser Hör- und Sichtweite. An<br />

die Reichen hatte er sich heute von neuem zu<br />

halten. Er wusste gut, dass der unbewegte<br />

Gesichtsausdruck, den sie in der Öffentlichkeit<br />

immer tragen, nicht unbedingt<br />

Härte bedeutet. Sie können daneben sehr<br />

liebenswürdig sein. Auch heute sah er wieder<br />

weisse Frauen. Bei diesen kannte er sich<br />

weniger aus in Gestik und Gesichtsausdruck.<br />

56<br />

59<br />

56


Der Gedanke, dass nicht alle gut sein können,<br />

kam ihm vor wie eine Sünde. Falls es aber –<br />

aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, doch auch<br />

böse geben sollte – woran konnte er sie<br />

erkennen?<br />

Er näherte sich einer weissen Frau und sagte<br />

mit leiser Stimme, ob sie einen Job für ihn<br />

habe. Die Dame blieb stehen und schaute ihn<br />

aufmerksam von oben bis unten an. Er sah<br />

nicht wie ein gewöhnlicher Bettler aus, trug er<br />

doch eine saubere Hose und ein Hemd.<br />

„Meine Nachbarin sucht einen Steward“, sagte<br />

sie.<br />

Die Nachbarn waren wir.<br />

Prema sagt, wir hätten Glück mit einem<br />

Houseboy wie Damian, und sie muss es<br />

wissen, denn sie hat Erfahrungen mit<br />

Angestellten, schon von vorher in Indien.<br />

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SCHLANGEN<br />

Wir steigen aus dem Auto und sind froh,<br />

Schule und Albert hinter uns lassen zu<br />

können. Nur noch die Schuluniform ausziehen,<br />

Mittagessen und dann hinaus in die<br />

Buschhütte! Eine Rieseneidechse hat sich<br />

schon bald an unsere Gegenwart gewöhnt<br />

und ging gestern kaum noch träge weg, wenn<br />

wir kamen. Wir würden noch viele Tiere<br />

entdecken. Wir müssen nur immer aufpassen<br />

auf Schlangen und Skorpione.<br />

Damian steht neben der Haustüre und schaut<br />

aufmerksam in einen Blumenstrauch. Er muss<br />

dort etwas sehr wichtiges sehen, sonst käme<br />

er schon lange und nähme uns die<br />

Schultaschen ab. Er winkt uns wegzubleiben,<br />

deshalb müssen wir unbedingt näher gehen.<br />

„Eine sehr giftige Schlange!“ flüstert er<br />

aufgeregt. „Wo?“ Wir sehen nichts. Der<br />

Strauch, der einem Riesenasparagus gleicht,<br />

hat kleine, hellgrüne Blättchen. Doch – da<br />

bewegt sich etwas! Eine feine, exakt gleich<br />

grüne Schlange wie der Strauch, streckt das<br />

züngelnde Köpfchen quer zu den Blättchen.<br />

Damian hat Angst. Er ruft Mom, dass sie uns<br />

in Sicherheit bringt. Wir müssen ins Haus,<br />

aber sofort hängen wir uns von innen an die<br />

Lamellenscheiben. Damian pfeift dem<br />

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58


Steward der Nachbarn. Der kommt mit zwei<br />

Stecken, stöbert die Schlange aus dem Strauch<br />

auf den Boden und schlägt sie dann tot. Wir<br />

sind traurig. Damian sagt, wir müssen die<br />

nächsten Tage sehr aufmerksam sein, denn<br />

wahrscheinlich sei noch eine zweite, gleiche<br />

Schlange in der Nähe.<br />

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SELTSAME GEDANKEN<br />

Die tote Schlange scheint Bob sehr zu<br />

beeindrucken. Während ich an einem Kran<br />

bastle, fragt er, ob ich mir auch schon überlegt<br />

habe wie es wäre, tot zu sein.<br />

Nein, daran habe ich noch nie gedacht.<br />

„Hör endlich auf mit diesen Zahnrädern – die<br />

Übersetzung stimmt ohnehin nicht – und hör<br />

genau zu: Stell dir vor, du wärst jetzt tot. Dein<br />

Körper würde da liegen neben dem Kran, aber<br />

du selbst wärst quicklebendig, würdest<br />

zuschauen, wie Mama dich tot entdeckt,<br />

würdest zu ihr sagen, das sei nur dein Körper,<br />

du selbst seiest ganz in Ordnung, aber Mama<br />

würde weinen und auch die andern…<br />

Lass jetzt diesen blöden Kran und versuch dir<br />

vorzustellen wie das wäre, wenn du tot<br />

wärest!“<br />

Bob mag ja gut sein in Mathematik und<br />

Physik. Aber wenn er so phantasiert, wird er<br />

unerträglich. Nein, ich bin nicht bereit, seinen<br />

Gedanken zu folgen.<br />

Er geht beleidigt hinaus. Mama arbeitet im<br />

Garten, jätet und zupft dabei ganze Berge von<br />

Weihnachtssternen aus, die hier als Unkraut<br />

wachsen und das Gemüse ersticken. Was Bob<br />

jetzt mit ihr verhandeln will?<br />

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63<br />

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64 61 61


„Mama, wenn ich abends ins Bett gehe,<br />

kommt mir jeweils allerhand in den Sinn, was<br />

ich tagsüber falsch gemacht habe.“<br />

Schon will ich hinaus rufen, er solle sich<br />

gefälligst entschuldigen, dass er als erster in<br />

die Badewanne gestiegen sei, wo doch ich es<br />

war, der entdeckt hatte, dass endlich mal<br />

sauberes, nicht rotes Wasser aus dem Hahnen<br />

kommt – aber da merke ich, dass Bob todernst<br />

ist. Was hat er nur für komische Launen?<br />

„Wenn man bedenkt, dass es einmal fertig ist<br />

mit uns und wir auf das ganze Leben<br />

zurückschauen und all das Böse sehen, das<br />

sich da im Verlauf der Jahre angesammelt hat,<br />

da könnte es einem ganz schön mulmig<br />

werden.“<br />

Mama streckt sich. „Du hast recht. Mir geht es<br />

auch so. Immer wieder mache ich Fehler.<br />

Manchmal die gleichen, manchmal neue. Es<br />

könnte einem verleiden. Aber dann danke ich<br />

Gott, dass er mich trotzdem lieb hat.“<br />

Bob wird ganz eifrig. „Dir geht es auch so,<br />

Mom? Da bin ich aber froh. Und du glaubst,<br />

dass wir von ganz oben trotzdem akzeptiert<br />

werden?“<br />

Ich mache mich energisch am Kran zu schaffen.<br />

Bob würde gescheiter überlegen, welche<br />

Grösse Zahnräder an meinem Kran in .<br />

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welcher Distanz montiert werden müssen, als<br />

derartige Gespräche zu führen.<br />

Und dann muss ich eben doch wieder zuhören.<br />

Bob fragt laut und langsam: „Mama, was ist<br />

das Wichtigste im Leben?“<br />

Mir läuft ein Schauer über den Rücken.<br />

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FLÖHE<br />

Endlich wissen wir, woher die Flöhe immer<br />

wieder kommen! Aus der Kirche! In der Nacht<br />

vom Sonntag auf den Montag kann keiner<br />

ruhig schlafen. Das juckt und beisst, aber sie<br />

sind schwer zu finden und zu fangen. Als ich<br />

endlich einen solchen Hüpfer erwischt und<br />

auf dem Fingernagel zerquetscht hatte,<br />

schaute ich ihn unter dem Mikroskop an. Der<br />

hat Riesenscheren vorn wie ein Krebs!<br />

Jeden Sonntag gehen wir in die Kirche des<br />

irischen Missionars. Wir sind die einzigen<br />

Weissen und müssen ganz vorn sitzen und<br />

brav tun. Kirche ist nicht ganz das richtige<br />

Wort. Es handelt sich eher um eine grosse<br />

Hütte. Hinter uns schreien Kinder und Leute<br />

gehen ein und aus, ähnlich wie in der Schule,<br />

aber der Gottesdienst vorn sieht sehr feierlich<br />

aus. Der Priester und seine Gehilfen und<br />

Chorknaben tragen farbige Gewänder.<br />

Als Mom das erstemal zur Kommunion oder<br />

Abendmahl gehen wollte, schickte der<br />

Priester sie zurück – sie dürfe nicht mit<br />

unbedecktem Kopf kommen. Eine schwarze<br />

Frau gab ihr ein Kopftuch.<br />

Die Predigten sind manchmal unverständlich.<br />

Was ist ein Tschutschu? Der Pfarrer sagte,<br />

wenn man an Gott glaube, könne man nicht<br />

auch an Tschutschu glauben.<br />

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Papa sagt, Tschutschu sei böser Zauber, und<br />

er werde uns nächstesmal im Markt die<br />

Tschutschu Stände zeigen. Jetzt haben wir also<br />

Läuse und Flöhe. Gottlob haben wir auch eine<br />

grosse Büchse Puder, mit der Mama jeweils in<br />

den Schlafzimmern umhergeht nach der<br />

Kirche. Aber als ich nachts einmal zur Toilette<br />

wollte, stolperte ich über Damian, der auf<br />

dem nackten Fliesenboden lag und<br />

behauptete, es sei hier kühler als im<br />

Boysquarter (ich glaube ihm dies nicht, viel<br />

eher wollte er näher bei uns sein, um uns<br />

besser behüten zu können. Er lag nämlich an<br />

einem Platz, von dem aus er sämtliche<br />

Schlafzimmertüren im Blickfeld hatte). Als ich<br />

nachdenklich seinen Wuschelkopf anschaute<br />

wurde mir klar, dass der Nachschub von<br />

Ungeziefer gross ist.<br />

Ich erzählte beim Frühstück von meinen<br />

Bedenken und sah, wie Damian an seinem<br />

Guckposten in der Küche erschrak. Mama rief<br />

ihn herbei. Er zitterte vor Angst, er dürfe nun<br />

nicht mehr vor unsern Zimmern schlafen (er<br />

hatte also wieder alles verstanden), aber als<br />

er Läusepulver bekam mit einer genauen<br />

Gebrauchsanweisung, strahlte er wieder und<br />

war sehr dankbar.<br />

Das Haus des Pfarrers ist sehr gemütlich, wir<br />

waren zum Essen dort eingeladen.<br />

68 65 65


Ich fühlte mich wie bei Grossmutter in der<br />

Schweiz: Holzböden, Holztäfer an Decken und<br />

Wänden. Auch das Essen war prima:<br />

Hähnchen vom Grill.<br />

Nur waren in diesem Haus die Flöhe speziell<br />

aufdringlich. Ich bekam grosses Bedauern mit<br />

dem Pfarrer, der jeden Tag zur Kirche gehen<br />

muss. Er bringt doch diese Biester niemals<br />

ganz los. Papa fand nachher, dass so viel Holz<br />

wohl gemütlich sei, dass aber das Ungeziefer<br />

in all den Ritzen und Fugen nicht auszurotten<br />

sei – da seien unsere Steinböden schon<br />

hygienischer.<br />

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69<br />

66


DER MANN OHNE SCHATTEN<br />

Eines Tages stand ein Mann vor der Tür mit<br />

einem riesigen Sack auf dem Kopf und fragte,<br />

ob wir Gläser zu verkaufen hätten. Wir riefen<br />

nach Mom, und plötzlich erschrak ich: Der<br />

Mann hatte keinen Schatten!<br />

Die Sonne schien grausam heiss, es war<br />

Mittag. Bob wollte mir beibringen, es handle<br />

sich vielleicht um einen Jenseitigen, der sich<br />

uns zeigen und verständlich machen könne.<br />

Ich lachte zuerst und entdeckte dann, dass<br />

auch Bob – welch Entsetzen – aber auch ich<br />

selbst, keinen Schatten machten. Ich streckte<br />

einen Arm aus – gottlob entstand ein Schatten<br />

senkrecht darunter. Nun atmeten wir auf und<br />

konnten den Verhandlungen zwischen dem<br />

Fremden und Mama folgen. Er bot zwei Kobo’s<br />

an pro grosse Flasche. Wir rieten Mama,<br />

mindestens 10 Kobo’s zu verlangen und sahen,<br />

wie die Augen des Glashändlers glänzten in<br />

Vorfreude auf das nun folgende markten.<br />

Aber Mama hatte keine Zeit. Sie brachte ein<br />

paar Taschen voll leerer Flaschen, stellte sie<br />

hin und verschwand wieder im Haus.<br />

Sie wollte die Flaschen verschenken! Sie hatte<br />

das Leben hier noch nicht begriffen. Der Mann<br />

will doch mit uns reden! Er kniet langsam<br />

nieder, hebt den Sack mühsam vom<br />

70 67 67


Kopf und stellt ihn auf den Boden. Nun<br />

müssen eben wir zwei, Bob und ich (so kleine<br />

Buben sind wir nicht mehr), mit ihm<br />

verhandeln. Wir stellen Mama’s Flaschen der<br />

Reihe nach auf (auch die Flaschen werfen<br />

keinen Schatten), setzen verschiedene Preise<br />

an und machen auf besonders schöne Formen<br />

aufmerksam. Der Mann setzt sich erst einmal<br />

schmunzelnd auf den Boden, wir setzen uns<br />

ihm gegenüber. Zwischen uns sind die zu<br />

besprechenden Flaschen. Der Mann erzählt<br />

von seinen Kindern, und wie sehr sie Freude<br />

haben würden an einer bauchigen Flasche wie<br />

jene dort, aber 12 Kob0’s seien nun doch<br />

masslos übertrieben. Für sieben würde er sie<br />

nehmen. Nun hebt ein Plaudern und Fälschen<br />

und Lachen an, und nach einer Stunde haben<br />

wir zwei ganze Naira’s verdient und dem<br />

Händler obendrein eine Freude gemacht mit<br />

den kostenlosen, bunten Plastiktüten, in<br />

denen Mom die Flaschen aufbewahrt hatte,<br />

und mit denen wir ohnehin nichts anzufangen<br />

wissen.<br />

Am folgenden Tag müssen wir Kinder alle um<br />

12 Uhr mit Papa hinaus und er erklärt uns,<br />

dass wir hier im Moment die Sonne senkrecht<br />

über uns hätten – wie nie je in der Schweiz –<br />

und er demonstriert anhand von zwei Bällen<br />

den Verlauf der Sonne und der Erde (über den<br />

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71<br />

68


ganzen „Erdball“ hat er vorher ein Netz<br />

gezeichnet). Die Kleinen hüpfen begeistert in<br />

die Luft, weil sie nur so ihren Schatten sehen<br />

können, Bob findet die Sache mit den Längenund<br />

Breitengraden und Wendekreisen höchst<br />

interessant, und ich selbst bin froh, fest auf<br />

der Erde zu stehen im Diesseits.<br />

72 69 69


MALARIA<br />

Langsam fühlte ich mich nun wirklich wohl in<br />

der Schule. Ich glaube, auch Prema war froh<br />

um meine Gesellschaft. Wir verbrachten die<br />

Schulpausen immer gemeinsam, und wir<br />

sassen nebeneinander auf der Schulbank. Die<br />

andern akzeptierten unsere gemeinsame<br />

Fremdheit. Als es nun auf Weihnachten zuging<br />

und Prema keine Ahnung hatte, worum es<br />

dabei ging, erzählte ich ihr viel aus der<br />

Schweiz. Aber wie sollte ich ihr erklären wie<br />

Christbäume aussehen, wo weit und breit<br />

keine Tanne war? „Die wachsen übrigens<br />

langsam, Prema, nicht etwa wie die<br />

Bananenbäume, die jeden Tag bis 20 cm<br />

wachsen. Dazu brauchen sie einen ganzen<br />

Sommer. Im Winter wachsen sie überhaupt<br />

nicht.“<br />

„Ist Winter so etwas wie die Regenzeit?“<br />

„Ja, aber noch viel, viel kälter.“<br />

Wie hatten wir doch gefroren, als die<br />

Temperaturen während der Regenzeit auf 28°<br />

C gefallen waren! Wir hatten wollene Pullover<br />

hervorgesucht und Halstücher, und der<br />

Nachtwächter trug gar eine Kappe wie<br />

Urgrossvaters Schlafmütze.<br />

Es kam mir gar nicht gelegen, als ich Fieber<br />

bekam. Ich wollte gern zur Schule. Wie sich<br />

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doch die Zeiten ändern! Aber es war mir kaum<br />

möglich, mich am Morgen in die Stube aufs<br />

Sofa zu schleppen. Ich konnte die Augen nicht<br />

lange offen behalten; sie schmerzten enorm.<br />

Und wenn ich den Weg zum Klo machen<br />

musste, ging ich den Wänden entlang mich<br />

abstützend. Nach ein paar Tagen hatte ich<br />

schon mehrere Kilo’s an Gewicht verloren.<br />

Meine Eltern kannten keinen Arzt, und von<br />

Medizinmännern hielten sie nicht viel. Am<br />

vierten Tag legte sich Bob neben mich und<br />

sprach bereits wirr im Fieber. Und gerade an<br />

diesem Tag mussten Papa und Mama weg zu<br />

einem wichtigen Essen! Mama gab Damian<br />

Anleitung, wie er uns Essigwickel um die<br />

Beine machen musste. Er war äusserst besorgt<br />

und sprach immer wieder davon, dass Malaria<br />

lebensgefährlich sei. Mama beteuerte ihm,<br />

dass es sich unmöglich um Malaria handeln<br />

könne, da wir doch vorsorglich (vor Malaria<br />

schützende) Medikamente eingenommen<br />

hatten, jeden Tag, seit wir hier sind.<br />

Am andern Morgen kam eine weisse, deutsche<br />

Frau, die bei diesem so wichtigen Essen neben<br />

Mama gesessen hatte, welche ihr von unserer<br />

komischen Krankheit erzählt hatte. Es war<br />

eine ehemalige Krankenschwester, und sie<br />

nahm von uns Blutproben. Damian war<br />

glücklich, dass es sich um eine weisse Frau<br />

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handelte. Er kniete neben dem Sofa, während<br />

sich die Deutsche mit uns beschäftigte und<br />

sagte immer wieder leise: „How I like your<br />

people so much (wie ich doch eure Leute – die<br />

Weissen – so sehr liebe)!“<br />

Am Mittag war die Diagnose da: Malaria!<br />

Also doch.<br />

Auf irgendwelchen Geschäftswegen (per Funk<br />

nach Lagos und von dort per Telefon in die<br />

Schweiz) hatten wir auch schon die<br />

Anweisung bekommen, von den vorsorglichen<br />

Tabletten gegen Malaria das zehnfache<br />

Quantum einzunehmen als Medizin gegen das<br />

akute Fieber.<br />

Nach zwei Tagen fühlten wir uns besser. Aber<br />

wir waren noch völlig schlapp und blödelten<br />

„Bob, du bist noch einmal davongekommen“<br />

und „gleichfalls, Ben, fast wären wir beide<br />

unsichtbar geworden.“<br />

Noch wochenlang konnten wir nicht lange<br />

stehen, ohne dass unsere Beine zu zittern<br />

begannen vor Schwäche.<br />

Als Reginald Fieber bekam, brachte er einen<br />

Freund mit, der ihn als Nachtwächter<br />

vertreten könne. Wir boten ihm unsere<br />

Medikamente an, aber er bedankte sich und<br />

sagte, sein Körper spreche wohl eher auf die<br />

hiesige Medizin an (welch Gebräu der wohl<br />

einnimmt aus dem Tschutschuviertel?).<br />

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Hingegen nahm er sehr gern den<br />

Flickenteppich mit, den uns unsere<br />

Grossmutter nach Nigeria mitgegeben hatte,<br />

und wickelte sich bis über den Kopf darein. Er<br />

brauchte drei Wochen, bis er seinen Dienst<br />

wieder allein versehen konnte.<br />

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ZAUBER<br />

An einem schulfreien Nachmittag kam Papa<br />

wie versprochen mit uns in den Markt in die<br />

Tschutschu Strasse. Überall plärrten aus den<br />

Transistor Radios Weihnachtslieder. Die Sonne<br />

schien glühend heiss. Ein Mann wollte uns den<br />

Weg ins Tschutschu Viertel absperren. Er<br />

sagte, da hinten sei nichts für Weisse und<br />

schon gar nichts für Kinder. Da habe er eher<br />

etwas für uns. Er hob eine grosse Zaine vom<br />

Kopf, stellte sie vor uns und sagte, wir sollen<br />

uns bedienen. Wir standen etwas dumm da,<br />

denn wir wussten nicht, wozu die kleinen<br />

Holz- oder Rindenstücke gebraucht werden<br />

konnten. John nahm eine Handvoll an die<br />

Nase, schnupperte und sagt, es rieche wie in<br />

einer Kirche. Jetzt fiel bei Papa der Groschen:<br />

Weihrauch Harz! Wir durften uns die Taschen<br />

damit vollstopfen. Übrigens verkaufe er dies<br />

Harz an die Jorubas und die Katholiken.<br />

Nun versicherte Papa dem Mann, dass wir<br />

Kinder uns still verhalten würden bei den<br />

Tschutschu’s, und dass wir gar nicht stören<br />

wollen. Endlich hatten wir freie Bahn für<br />

Magie.<br />

Eine merkwürdige Ernsthaftigkeit liegt über<br />

dem Zauberquartier. Nichts von bunter Trickund<br />

Schillerwelt eines Jahrmarktes. Auf den<br />

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Verkaufstischen liegen Köpfe von Mäusen,<br />

Affen, Vögeln, Schlangen. „Felle“ von<br />

Stacheltieren, Giftzähne von Schlangen,<br />

Metallringe, Töpfe. Wir betasten gerade das<br />

Fell eines Affen, als uns ein Mann ins Ohr<br />

flüstert, dies sei ein ganz starker Tschutschu.<br />

Papa sagt, dass gegen Feinde Zauber gekauft<br />

würden in Form eines Tierfelles, und dass man<br />

dann überzeugt sei, der Feind sei nun<br />

machtlos.<br />

Eine junge Frau kauft ein Fläschchen mit einer<br />

gelben Flüssigkeit, in der kleine Gegenstände<br />

herumschwimmen. Die Verkäuferin erklärt, sie<br />

müsse dieses Fläschchen tief ins Gras der<br />

Matratze eingraben, dann helfe es bestimmt.<br />

Papa meint, das sollte wohl gegen Bettnässen<br />

helfen. Bob vermutet, es sollte eher viele<br />

Kinder geben. Und ich meine, dass vielleicht<br />

gar keine Kinder erwünscht sind.<br />

In einem gedeckten Stand, etwas im Dunkeln,<br />

sitzt eine uralte Frau. Sie trägt eine Kette von<br />

verschiedenen Tierzähnen um den Hals.<br />

Während sie eine undurchsichtige Flüssigkeit<br />

in einen ausgehöhlten Kürbis füllt, murmelt<br />

sie Zauberverse. Ich habe mich wohl<br />

getäuscht, als ich meinte, einen Psalm zu<br />

hören. Aber dann macht sie plötzlich ganz<br />

deutlich das Zeichen des Kreuzes nach<br />

katholischer Art. Heide und Christ in einer<br />

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Person? Hat der Pfarrer das gemeint in der<br />

Predigt, als er sagte, man könne nicht<br />

gleichzeitig an Gott und Tschutschu glauben?<br />

Papa interessiert sich für die Haut eines<br />

Gürteltieres, die vom Dach eines<br />

Verkaufsstandes herunterbaumelt, und der<br />

Verkäufer versichert ihm, dass dieser<br />

Tschutschu dem grössten Feind standhalte.<br />

Die Mädchen wollen Armreife. Sie setzen sich<br />

in den Schatten zu einem Händler, der<br />

Elfenbeinschmuck ausgestellt hat. Madilin hat<br />

beim Feilschen die grösste Chance. Der<br />

Verkäufer bewundert ihr blondes Haar und<br />

will sie bereits seinem 16jährigen Sohn<br />

versprechen für eine spätere Heirat. Madilin<br />

lacht von Herzen und profitiert mit dieser<br />

Aussicht beim Heruntermarkten des Preises.<br />

Sie sind sich endlich handelseinig, aber da<br />

plagt den zukünftigen Schwiegervater das<br />

Gewissen, und er flüstert Madilin zu, dass er<br />

wohl von Elfenbein gesprochen habe, dass es<br />

aber Knochen seien, und dass er die Reife<br />

deshalb so günstig habe geben können.<br />

Wir amüsieren uns über solche Gespräche,<br />

aber Mama ist verärgert oder besorgt, ja sie<br />

meint sogar, vielleicht sollte die blonde Hälfte<br />

der Kinder in Zukunft zu Hause gelassen<br />

werden, damit sie nicht plötzlich geraubt<br />

werden und irgendwo versteckt auf<br />

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den Tag ihrer Verheiratung warten müssen.<br />

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DIE BEERDIGUNG DES HÄUPTL<strong>IN</strong>GS<br />

Im Fernsehen wird berichtet, ein traditioneller<br />

Chief, ein grosser Häuptling, sei gestorben. Es<br />

wird befürchtet, dass es eine Beerdigung nach<br />

alter heidnischer Sitte geben werde, nämlich<br />

mit zwölf frisch blutenden Häuptern rund ums<br />

Grab.<br />

Zuerst verstehen wir nicht, was das bedeutet.<br />

Weshalb tut Damian so entsetzt? Diese Rituale<br />

gehen uns doch nichts an?! Reginald sagt, es<br />

gehe alle an. Es würden irgendwo Menschen<br />

gefangen, dann z.B. in einem Kofferraum<br />

versteckt und am Tag der Beerdigung<br />

enthauptet.<br />

Die Söhne unserer Nachbarn, Studenten,<br />

versichern uns aber, dass wir nichts zu<br />

befürchten hätten, denn es können nur<br />

schwarze, männliche Häupter gebraucht<br />

werden. Sie müssen es wissen, denn ihr<br />

eigener Grossvater wurde auf diese Art<br />

beerdigt.<br />

Damian und Reginald haben Angst. Sie gehen<br />

kaum noch vom Haus weg. Papa sagt, die<br />

Strassen der Stadt seien nachts wie<br />

ausgestorben.<br />

Eines abends, beim Nachtessen, fehlt John.<br />

Niemand weiss, wo er ist. „Wer hat ihn zuletzt<br />

gesehen?“<br />

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Madilin hat mit ihm gespielt am Bach unten.<br />

John habe nicht mit ihr heimkommen wollen.<br />

Der Schreck fährt uns in die Glieder. Mama<br />

geht sofort hinaus, um John zu suchen –<br />

Frauenköpfe sind ja nicht gefragt. Papa hält<br />

uns in der Stube zurück. Reginald geht mit<br />

Mama. Wir können es kaum glauben, dass er<br />

es wagt wegzugehen. Er muss uns schon sehr<br />

lieb haben. Mama hat eine Taschenlampe bei<br />

sich; es ist stockdunkel.<br />

Nach einer Viertelstunde kommen sie zurück.<br />

Reginald trägt John auf dem Rücken. Der<br />

wimmert und schluchzt. Nein, es sei ihm<br />

nichts passiert, niemand habe ihn stehlen<br />

wollen. Nur sei es plötzlich nacht geworden.<br />

Der Sonnenuntergang sei so schön gewesen,<br />

und er habe ja gewusst, dass er sofort<br />

heimgehen müsse, aber es sei ihm zu wenig<br />

Zeit geblieben, bis es nacht war, und da habe<br />

er sich verirrt.<br />

Wir bläuen John noch einmal ein, dass hier<br />

zwischen Sonnenuntergang und völliger<br />

Dunkelheit kaum auf hundert gezählt werden<br />

könne, und dass gerade jetzt, wo überall<br />

Menschendiebe lauern, ein Verirren tödlich<br />

ausgehen könne.<br />

Papa fuhr dann zufällig am Totenzug des<br />

Häuptlings vorbei. Das sei eine lustige<br />

Angelegenheit gewesen, berichtet er. Mitten<br />

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auf der Schnellstrasse (will sagen Autobahn)<br />

sei ihm eine johlende Menge<br />

entgegengekommen, sein Fahrer habe zur<br />

Seite fahren müssen, das sei ein Riesen<br />

Klamauk, Trommeln, Singen und Lachen<br />

gewesen, und mitten drin sei schwankend vom<br />

Hüpfen der Träger der Sarg dahergetragen<br />

worden. Das Grab habe er natürlich nicht<br />

gesehen…<br />

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WEIHNACHT<br />

Wir lassen jetzt immer die Klimaanlage<br />

laufen, damit wir eher auf Advent<br />

eingestimmt sind. Damian fragt mich, welche<br />

Geschenke wir wohl bekämen, und ob er auch<br />

etwas wünschen dürfe.<br />

Ich habe India ein Ohrgehänge gekauft,<br />

obschon sie die Weihnachts-Geschenk-Sitte<br />

nicht kennt. Es genügt, dass ich sie kenne und<br />

endlich eine Gelegenheit habe, ihr etwas zu<br />

schenken.<br />

Fahrer Albert hat eine neue Unsitte begonnen:<br />

Jede Nacht lässt er in voller Lautstärke eine<br />

Platte laufen. Leider besitzt er nur eine<br />

einzige, und sein Raum im Boysquarter liegt<br />

genau unsern Fenstern gegenüber. Es hat<br />

keinen Wert, dass wir etwas sagen. Er würde<br />

bestimmt trotzeshalber einmal mehr<br />

aufstehen, um die Platte wiederholen zu<br />

lassen.<br />

Damian hat etwas auf dem Herzen, das ihn<br />

quält. Man sieht es von weitem. Er ist<br />

unaufmerksam und späht auf eine<br />

Gelegenheit, mit Mom zu reden. Seine Augen<br />

blitzen nicht. Sie sind schwer und todernst.<br />

Halb machen wir uns darüber lustig, wie sehr<br />

er sich immer Sorgen macht um uns, halb sind<br />

wir neugierig, was uns seiner Meinung nach<br />

wieder bedrohen soll.<br />

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Endlich erwischt er Mom am Ärmel. „Albert“,<br />

sagt er und schluckt. „Albert macht mir<br />

Sorgen“. Bob und ich verständigen uns, dass<br />

Damian damit nicht der einzige ist, aber wir<br />

dürfen jetzt nicht lachen.<br />

„Er möchte eine neue Fahreruniform“.<br />

Aha, da geht’s lang. Mama sagt, das sei nicht<br />

ihre Angelegenheit. Damian streckt seine<br />

grossen Hände, Innenfläche nach oben, bittend<br />

vor Mama aus. Sie wisse besser mit dem<br />

Master zu reden als er selbst, und sie möge<br />

ihn doch überreden, Albert diesen Anzug zu<br />

kaufen. Mama willigt nicht sofort ein, denn<br />

Albert ist wirklich ein unbeliebter Fahrer. Da<br />

geht der lange Damian mitten im Hausgang<br />

vor ihr auf die Knie und sagt: „Bitte bitte,<br />

Mom, tu mir diesen Gefallen – ich schwöre, es<br />

geht sonst nicht gut aus!“<br />

Wem soll nun hier ein Wunsch erfüllt werden,<br />

Damian oder Albert? Es ist Damian, der da<br />

bittet, und der dann später dankbar sein wird.<br />

Albert würde das Geschenk verbissen als<br />

selbstverständlich hinnehmen. Er kennt weder<br />

bitten noch danken.<br />

Wie oft haben wir während einer Autofahrt<br />

gesehen, dass Albert nicht recht weiter<br />

wusste. Er kurbelte die Scheiben herunter,<br />

forderte (nicht bat) von einem<br />

Vorbeigehenden eine Auskunft und schloss das<br />

Fenster wieder ohne Dank. Wir streckten<br />

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dann hinten die Köpfe aus dem Wagen und<br />

riefen: „Thank you very much“, aber Albert ist<br />

weder schwer- noch überhaupt erziehbar.<br />

Am Tag vor Weihnachten fährt ein fremdes<br />

Auto vors Haus. Der Fahrer bringt eine Flasche<br />

sehr teuren Weines für Master. Mama geht<br />

hinaus, um das Geschenk in Empfang zu<br />

nehmen, und wir Kinder bevölkern die vordere<br />

Fensterfront. Damian eilt auch hinaus und<br />

bittet Mom, die Flasche ja nicht zu berühren.<br />

Mama lacht. „Es wird wohl kein Tschutschu<br />

sein! Du lernst doch im kirchlichen Unterricht,<br />

dass man an Gott, und nicht an Zauber<br />

glauben soll.“<br />

„Damian wird rot“, stellt Bob auf<br />

schweizerdeutsch fest. Wir wollen einwenden,<br />

dass ein Schwarzer nicht rot werden könne,<br />

aber Bob beharrt darauf. „Er schämt sich, als<br />

Christ noch an Zauber zu glauben, aber er hat<br />

Angst.“<br />

Wir kennen den schüchternen Damian nicht<br />

mehr. Er hält Mama am Arm zurück und ruft:<br />

„Schau die Autonummer an, dieser Mann<br />

kommt aus Benin, hör zu, aus Benin!“ Als ob<br />

er direkt aus der Hölle käme. Der fremde<br />

Fahrer bestätigt, aus Benin zu kommen. Der<br />

Wein sei ein Weihnachtsgeschenk seines<br />

Masters Mr Macleen.<br />

Nun ist die Sache für Mama klar. Sie kennt Mr.<br />

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Macleen und es wäre eine Beleidigung, sein<br />

Geschenk nicht anzunehmen. Aber Damian<br />

weint vor Angst, und er beschwört Mama, die<br />

Flasche auf keinen Fall anzufassen – sie<br />

könnte explodieren.<br />

In dem Moment kommt Reginald daher. Der<br />

arme alte Mann hört sich wie ein weiser<br />

Richter beide Seiten an, Damians und Mom’s,<br />

dann fragt er, für wen der Wein bestimmt sei.<br />

Für den Master, sagt der fremde Fahrer. „Hört<br />

doch nicht auf einen Mann aus Benin“, ruft<br />

Damian, „da ist man vor dem Schlimmsten<br />

nicht sicher!“ Wir Kinder drinnen, an den<br />

Fenstern klebend, sind ganz fasziniert von den<br />

Ereignissen da draussen und wissen nicht<br />

mehr, was nun schlimmer sei, Mama’s<br />

Leichtgläubigkeit oder Damians Angst. „Es ist<br />

klar, dass Madam die Flasche nicht annehmen<br />

darf“, sagt Reginald, „unter gar keinen<br />

Umständen, die ist für den Master!“.<br />

Mama ärgert sich. „Ich bin doch Master’s<br />

Frau!“<br />

Reginald ist erstaunt. Ob Mama denn nicht<br />

wisse, dass Frauen nichts zu tun haben in<br />

Männerangelegenheiten?<br />

An der Flasche ist ein Brief angehängt. Mama<br />

versucht schon lange zu lesen, was darauf<br />

geschrieben steht, aber Damian lässt sie nicht<br />

in die Nähe. Nach langem Reden und<br />

beruhigen lässt er sie endlich die Anschrift<br />

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lesen. „Da steht schwarz auf weiss: To Mister<br />

and Missis!“<br />

Reginald ist nun seinerseits einverstanden,<br />

wenn Mama die Flasche annimmt, Damian<br />

jedoch nicht. Wie er nun aber sieht, dass all<br />

sein Betteln und Überzeugen nichts nützt,<br />

wendet er sich rasch um und verschwindet im<br />

Haus. Er kann das Schreckliche nicht<br />

mitansehen, das jetzt dann gleich passieren<br />

wird.<br />

Aber natürlich passiert nichts, der Mann aus<br />

Benin fährt mit einer Dankeskarte für seinen<br />

Master wieder ab, und wir können unsern<br />

Guckposten an der Fensterfront wieder<br />

verlassen.<br />

Für Damian steht fest, dass Mom<br />

misstrauischer werden muss, sonst würde ihr<br />

früher oder später Böses widerfahren. Noch<br />

lange hören wir ihn in der Küche draussen<br />

rumoren und predigen, dass man vor allem<br />

Leuten aus Benin niemals trauen könne.<br />

An Weihnachten blies der Harmattan wie noch<br />

nie. Die Luft war voll von Sand wie Nebel.<br />

Bevor der Tisch gedeckt wurde, musste er<br />

gewaschen werden, weil wir bereits<br />

Zeichnungen in Sand drauf gemacht hatten.<br />

Papa stellte am Radio die Schweizer<br />

Wettervorhersagen ein. Es würde Schnee<br />

geben, hiess es. Wir stritten uns, was nun<br />

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esser sei, Kälte und Schnee oder Wärme und<br />

Sand in der Luft. Wir einigten uns aufs<br />

Skifahren.<br />

Mama schickte uns hinaus, bis drin alles<br />

hergerichtet sei. Wir legten den<br />

Gartenschlauch zum Bananenbaum, der<br />

bereits eine Fruchttraube angesetzt hatte und<br />

wässerten ihn eingehend, nachdem wir den<br />

Salat bespritzt hatten. Dann füllten wir ein<br />

paar Kuhlen des Vorplatzes mit Wasser,<br />

setzten uns ganz still auf die Gartenmauer<br />

und warteten auf die Vögel, die baden<br />

kommen würden. Aber die feuerroten, kleinen<br />

Vögel kamen nicht. Sie schienen den<br />

Harmattan nicht zu mögen.<br />

Mama rief, es sei alles bereit. Wir rannten los<br />

in die Stube, hinter uns schrie das Baby, das<br />

nicht so schnell laufen konnte. Drinnen roch<br />

es richtig nach Weihnachten. Wir wurden<br />

still. Der Christbaum war eindeutig aus<br />

Plastik, das sah man auf den ersten Blick.<br />

Aber der Zweig auf dem Tisch? Ein richtiger,<br />

dunkelgrüner Zweig lag da, und Mama hielt<br />

ein paar Tannennadeln über eine Kerze. Ein<br />

Zweig aus Grossvaters Wald in der Schweiz!<br />

Reginald musste diese Nacht nicht gegen den<br />

Schlaf kämpfen. Er hatte uns gebeten, die<br />

Vorhänge nicht ganz zuzuziehen. So konnte er<br />

auch zusehen. Andächtig hörte er unsere<br />

fremdartigen Weihnachtslieder und nickte<br />

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zur Geschichte von Maria und Josef, als ob er<br />

jedes Wort verstünde.<br />

Damian stand im Hintergrund. Er trug zur<br />

Feier des Tages eine lange, schwarze Hose. So<br />

stand er ganz schwarz, barfuss und mit<br />

blossem Oberkörper da und fand die Feier<br />

auch schön. Von Zeit zu Zeit machte er sich<br />

nützlich, die Kleinste festzuhalten, wenn sie<br />

nicht stillsitzen konnte, aber nicht so sicher<br />

auf den Beinen war. Dann und wann sah man<br />

seine Augen zur Seite blitzen, wo die Päcklein<br />

lagen. Seine Gedanken rasten: Hatte man auch<br />

an ihn gedacht? Bekommt er wohl sein Radio,<br />

das er sich so sehnlichst wünscht? Bitte nur<br />

ein einziges Paket für ihn, mit einem Radio!<br />

Auf die Uhr kann er verzichten. Aber auf die<br />

Musik nicht.<br />

Papa sagt auf schweizerdeutsch, dass nun die<br />

Bescherung drankomme. Reginald und Damian<br />

verstehen wohl schon deutsch? Damian ist mit<br />

drei langen Schritten vor dem Gabentisch, und<br />

draussen wendet sich Reginald einem<br />

Kontrollgang zu. Er hat seine Gratifikation<br />

bereits bekommen.<br />

Wir haben ein Kind mehr als sonst am Tisch,<br />

das sieht jedermann. Wer soll nun beginnen,<br />

der Grösste oder der Kleinste? Papa zieht eine<br />

Schachtel hervor und stellt sie vor Damian.<br />

Der schaut ungläubig auf die grosse Schachtel<br />

und fragt Mama um Erlaubnis, sie<br />

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zu öffnen.<br />

„Mach schon vorwärts“, murrt Bob.<br />

Sorgfältig nimmt Damian das zuoberst<br />

liegende Gilet in die Hände. Um eine solche<br />

Weste hatte er den Master schon immer<br />

beneidet. Und soll die hier nun ihm gehören?<br />

Ein weiteres Päcklein bringt tatsächlich etwas<br />

wie einen Radio hervor. Aber Damian hat<br />

keine Ahnung, welche Knöpfe er in welche<br />

Richtung drehen soll. Er legt sich auf den<br />

Boden und hält den Apparat an die Ohren.<br />

Papa erklärt ihm lange und ausführlich,<br />

spricht von Sendern und Wellenlängen und<br />

Lautstärken, bis John plötzlich die Geduld<br />

verliert und seine Spannung auf die eigenen<br />

Geschenke zu gross wird und er es nicht mehr<br />

aushält und laut zu heulen beginnt.<br />

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DIE HEIMKEHR<br />

Sobald die Flüge gebucht waren, schrieben wir<br />

uns die Tage auf, die noch fehlten bis zu den<br />

Urlaubsferien in der Schweiz. Jeden Tag hakten<br />

wir ab. Damian liebte diese Tabellen nicht.<br />

Worauf sollte er sich freuen, auf unsere<br />

Abwesenheit? Wir aber jubelten jedes Mal,<br />

wenn wieder eine Woche weniger war. Das<br />

einzige, was mir die Freude dämpfte war der<br />

Gedanke, dass ich Prema lange nicht mehr<br />

sehen würde.<br />

Zum Schluss ging es dann sehr rasch. Wir<br />

mussten aussortieren, was nicht<br />

mitgenommen würde, und was hier warten<br />

konnte. Bob zeichnete ein Bild mit einem<br />

Flugzeug, welches hiess „Heim zu den Äpfeln“.<br />

Am letzten Schultag gab mir Prema einen<br />

Brief, den ich erst zu Hause öffnen dürfe. Wir<br />

standen lange wortlos nebeneinander. Was<br />

wäre wichtig gewesen zu sagen?<br />

Zu Hause öffnete ich den Brief sofort. Ich las<br />

(auf Englisch): „Lieber Ben, falls wir uns nicht<br />

mehr sehen werden, schreibe ich Dir hier die<br />

Adresse meiner Familie in Indien.“<br />

Oh Prema, ich werde Dich heiraten! Auch wenn<br />

Du meinst, es sei zu schwierig wegen unserer<br />

verschiedenen Religionen. Mein Vater<br />

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hat Mama auch geheiratet, obschon sie<br />

reformiert war.<br />

Die Abreise kam.<br />

Damian würde in der Zwischenzeit jeden Tag<br />

im Haus zum Rechten sehen und gründlich<br />

putzen.<br />

Es wusste damals noch niemand, dass es der<br />

Abschied war für immer, als wir uns an<br />

Damian hängten und Papa und Mama ihm die<br />

Hand reichten. Alle sprachen von<br />

Wiedersehen.<br />

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DAS UNGLAUBLICHE ENDE<br />

Die ersten Tage zu Hause waren grossartig,<br />

ausgefüllt von morgens bis abends. Wir<br />

veranstalteten einen Markt auf unserm<br />

Parkplatz, wo wir Steine, Stoffe, Schmuck,<br />

kleine mitgebrachte Sachen aus Nigeria<br />

verkauften. Wir lehrten die andern Kinder des<br />

Quartiers verhandeln, markten, feilschen, und<br />

wir verdienten recht schön dabei. Wir<br />

schnitzten und bemalten Holz nach<br />

nigerianischer Art, wir machten Einladungen<br />

und wurden eingeladen.<br />

Ich merke, wie ich das Ende hinauszuschieben<br />

suche, also stürze ich mich am besten mitten<br />

hinein: Bob war noch nachdenklicher<br />

geworden als bisher. Wollten wir mit Mama<br />

einkaufen gehen, sagte er, er habe wichtigeres<br />

zu tun. Kamen wir wieder heim, hatte er das<br />

einemal die ungeraden Zahlen in<br />

verschiedenen Rechnungsoperationen grafisch<br />

dargestellt, oder er empfing Mama mit der<br />

intensiven Frage, ob denn der Bruder des<br />

verlorenen Sohnes der Bibel nicht auch recht<br />

gehabt habe und ob man ihn nicht zu sehr<br />

vergesse in der Freude am wiedergefundenen<br />

Sürmel oder Schnösel.<br />

Vor dem Einschlafen philosophierte er gern.<br />

Wir waren uns beide einig, dass wir hier<br />

94 91 91


sicher seien vor faustgrossen Giftspinnen und<br />

vor aller Art Schlangen. Sicher auch vor in<br />

Polizisten oder Soldaten verkleideten<br />

Strassenräubern und vor allem sicher vor<br />

Idioten wie der Chauffeur Albert.<br />

Bob aber war der Überzeugung, dass man<br />

auch hier nicht todsicher sein könne. Gefahren<br />

lauern überall!<br />

Damian fehlte uns. Er hätte doch liebend gern<br />

unser Zimmer in Ordnung gebracht und unsere<br />

Intelligenz bewundert, mit der wir Lego’s,<br />

Meccano’s und Elektronikbausteine<br />

durcheinander brachten. Unsere Intelligenz<br />

verliess uns immer, sobald wir aufräumen<br />

mussten. Vor allem aber fehlte er uns mit<br />

seiner Anteilnahme. Er hatte immer Zeit für<br />

uns, für unsere Begeisterung, für unseren<br />

Kummer, für unsere neuesten Ideen, die er nie<br />

verstand, aber immer bewunderte.<br />

Zwei Morgen gehen mir nicht aus dem Kopf,<br />

an denen ich Zeit für Bob hätte haben sollen.<br />

Einmal sass Bob am Morgentisch, die Füsse<br />

angezogen auf dem Stuhl, die Arme um die<br />

Knie geschlungen und sagte selig versunken,<br />

er habe etwas Wunderschönes geträumt. Wäre<br />

Damian dagewesen, er hätte nicht geruht, bis<br />

er im Detail erfahren hätte, was Bob geträumt<br />

habe. Ich aber hatte meine Gedanken beim<br />

heutigen Ausflug auf den<br />

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Pilatus, und beim Drachen, den ich mitnehmen<br />

und fliegenlassen wollte! Heute könnte ich mir<br />

die Haare raufen, weil ich so nie erfahren<br />

habe, was Bob geträumt hat.<br />

Anderntags sass er auf der untersten<br />

Treppenstufe neben der Küche und schlotterte,<br />

er habe Fürchterliches geträumt. Und wieder<br />

hatte ich keine Zeit, ihm zuzuhören, hatten wir<br />

doch abgemacht, eine Velotour zu machen.<br />

Wir waren ein Jahr lang nicht mehr Fahrrad<br />

gefahren. Einerseits hatten wir keins in Afrika,<br />

anderseits hätten wir auch kaum Gelegenheit<br />

gehabt zum Fahren, da ja die Strassen so<br />

schlecht waren. Wir würden es heute<br />

geniessen, auf ungelöcherten, asphaltierten<br />

Strassen dahinzuflitzen. Der Velomechaniker<br />

hatte unsere Räder nachgeprüft, und Mama<br />

hatte uns Anleitung gegeben resp. genau<br />

erklärt, bis wohin wir gehen durften. Aber was<br />

sie gesagt hatte, war viel zu wenig weit. Sie<br />

war sich nicht bewusst, wie gross und stark<br />

wir unterdessen geworden waren! Wir<br />

mussten weiterfahren.<br />

Der Weg wurde schmal. Wir fuhren in einen<br />

Wald. Ein Traktor kam uns entgegen – wir<br />

stiegen ab und verdrückten uns ins seitliche<br />

Gebüsch. Vielleicht hatten wir ein schlechtes<br />

Gewissen. Die nächste Strasse nach dem<br />

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Wald, die rechtwinklig abbog - es war ein<br />

Feldweg – fuhren wir steil hinauf. Atemlos und<br />

stolz kamen wir oben bei einem Bauernhof an.<br />

Wie weiter? Ein Blick auf die Uhr zeigte uns,<br />

dass wir sofort heimkehren mussten.<br />

Mittagessen stand bereit.<br />

Genau zu diesem Zeitpunkt schaute Papa bei<br />

einer Besprechung auch auf die Uhr. Er war<br />

unruhig. Irgendetwas stimmte nicht. Er fragte<br />

nach einem Telefon und rief Mama an, ob zu<br />

Hause alles in Ordnung sei, und was die<br />

Kinder machten? Mama war erstaunt. Ja, die<br />

Kleine sei bei ihr, die Zwillinge im Garten<br />

draussen und Margret sei mit einem<br />

Nachbarskind einkaufen gegangen. Die beiden<br />

Grossen seien auf der Velotour und sollten in<br />

einer Viertelstunde zurück sein…<br />

Wir beschlossen, den eben gekommenen Weg<br />

zurückzufahren, weil wir uns nicht genau<br />

auskannten, und weil es eilte, nach Hause zu<br />

gehen. Bob sagte noch freudig lachend: „Hier<br />

können wir einen Fräs hinlegen (rasen)…“<br />

Wir fuhren hinunter.<br />

Bei der Kreuzung, bei der Einmündung in die<br />

Hauptstrasse, bremste ich, stieg vom Rad und<br />

sah ein Auto aus dem Wald kommen. Ich<br />

wollte rufen: „Bob, ein Auto!“ Aber die<br />

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Ereignisse überschlugen sich. Er flitzte an mir<br />

vorbei und direkt und ungebremst unters<br />

Auto.<br />

Wenn immer ich daran denke, versuche ich<br />

auszuweichen. Ich will es nicht noch einmal<br />

erleben! Aber für diese Erzählung muss ich<br />

noch einmal hindurch:<br />

Der Fahrer des Auto’s stieg schimpfend und<br />

fluchend aus. Ich hörte nicht auf ihn. Ich kroch<br />

zu Bob unter den Wagen. Er blutete am<br />

Hinterkopf, aber ich hörte deutlich, wie er<br />

atmete, sicher ausatmete. Der Fahrer schrie<br />

und schickte mich zum Bauernhof hinauf, um<br />

einen Arzt und die Polizei anzurufen, aber ich<br />

wollte bei Bob bleiben. Der Fahrer wurde noch<br />

ungeduldiger, schimpfte und schob mich auf<br />

den Feldweg Richtung Hof.<br />

Schliesslich ging ich widerwillig. Eigentlich<br />

müsste ich bei Bob bleiben!<br />

Die Bauersleute hörten mich wohl an,<br />

machten aber nicht vorwärts. Sie hätten doch<br />

sofort anrufen oder mir die Nummern geben<br />

sollen von Polizei und Arzt! Sie fragten und<br />

fragten und überlegten, ob sie wohl selbst<br />

nachschauen sollten, ob es wirklich so<br />

dringend sei. Was gab es da so lange zu<br />

überlegen?<br />

Schliesslich kam der Fahrer selbst. Er hatte<br />

Bob allein gelassen!!<br />

Ich rannte los zu meinem Bruder. Er lag reglos<br />

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da wie vorher. Aber er konnte ja nur verletzt<br />

sein. Ich hatte ihn atmen gehört! Ich setzte<br />

mich zu ihm. Er sprach nicht mit mir.<br />

Dann waren plötzlich viele Leute da. Ich<br />

musste der Polizei Auskunft geben, wer wir<br />

seien, und wie es passiert sei. Man hiess mich<br />

in ein fremdes Auto steigen und nach Hause<br />

fahren, um meine Eltern zu holen.<br />

Ich lief ins Haus und schrie, es sei etwas<br />

passiert. Ich umfasste meine Mutter um die<br />

Taille und schluchzte, Bob sei verunglückt.<br />

Mama hielt mich fest. Plötzlich stand auch der<br />

Mann in der Stube, mit dem ich gekommen<br />

war. Er bat Mama, mit ihm zu kommen. Ob es<br />

schlimm sei? fragte sie. Er bestätigte es.<br />

Im Hinausgehen fragte sie nach Arzt und<br />

Krankenwagen; der Mann sagte, es sei alles<br />

organisiert. O Gott, nur nicht der schwarze<br />

Wagen!<br />

Es folgten Stunden mit Nachbarskindern, die<br />

mich nicht ablenken konnten. Wie man solche<br />

Stunden nur hinter sich bringt?! Papa kam<br />

nach Hause, ich sagte ein paar Worte und er<br />

fuhr sogleich wieder weg auf die Unfallstelle.<br />

Nachbarn kamen, um sich um die Kleinen zu<br />

kümmern. Ich beschäftigte mich auf dem<br />

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Parkplatz um da zu sein, wenn sie ihn<br />

brachten.<br />

Endlich kam unser Auto. Sie kamen ohne Bob.<br />

Ein Blick auf Papa und Mama genügte um zu<br />

wissen, was wirklich geschehen war. Bob<br />

würde nie mehr kommen.<br />

Ich nahm meinen Kran und ging in den Garten.<br />

Sorgfältig hob ich Steine auf und schob sie<br />

auf einen Haufen. Die Übersetzung (Bob’s<br />

Spezialität) stimmte genau, der Arm hob und<br />

senkte sich so wie ich es wollte. Plötzlich hörte<br />

ich ganz deutlich Bob’s Stimme: „Lass mal den<br />

Kran und stell dir vor, du wärst tot. Dein<br />

Körper läge reglos da, du selbst aber ständest<br />

quicklebendig daneben, nur unsichtbar.“<br />

Mochten die andern drinnen nun weinen – Bob<br />

war bei mir.<br />

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ZUR AUTOR<strong>IN</strong><br />

Margrit Gut-Russenberger ist 1938 geboren<br />

und lebt in der Schweiz.<br />

Sie ist gebürtige Schaffhauserin, lebt aber seit<br />

ihrer Heirat in der Zentralschweiz.<br />

Bis zur Geburt des 1.Kindes arbeitete sie als<br />

Sekundarlehrerin.<br />

Danach war sie die Sekretärin im Geschäft<br />

ihres Mannes.<br />

Um die langen Abende zu füllen, wenn die<br />

Kinder im Bett waren und ihr Mann noch am<br />

Arbeiten, begann sie mit Schreiben.<br />

Als 1975/1976 ihr Mann geschäftlich für ein<br />

Jahr nach Nigeria, Afrika musste, begleitete<br />

sie ihn mit all ihren sechs Kindern, wovon das<br />

jüngste noch so klein war, dass es dort die<br />

ersten Schritte gehen lernte.<br />

Das Buch basiert auf Tatsachen, ist aber aus<br />

der Sichtweise des Ältesten Kindes<br />

geschrieben worden, das damals gerde acht<br />

Jahre alt war.<br />

Margrit Gut-Russenberger ist zwischenzeitlich<br />

pensioniert. Nebst dem Schreiben, stellt sie<br />

Bilder mit Faden, Stoff und Farben her und<br />

erstellt grosse und kleine Skulpturen. Sie ist -<br />

nebst ihren vielen Reisen mit ihrem Mann -<br />

nach wie vor nicht müde geworden, sich all<br />

diesen Künsten zu widmen.<br />

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BUCHZUSAMMENFASSUNG<br />

Nigeria aus den Augen eines Kindes.<br />

Mit dem Houseboy Damian.<br />

Mit dem Fahrer und Nachtwächter.<br />

In der Schule.<br />

Auf dem Markt.<br />

In der Kirche.<br />

Von Schlangen und Läusen.<br />

Von Heimweh Heimkehr und Abschied.<br />

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