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Missbildungen bei Wanzen (Heteroptera): Feldstudien ... - Sensigns

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<strong>Missbildungen</strong> <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> (<strong>Heteroptera</strong>): <strong>Feldstudien</strong>über den Einfluss künstlicher radioaktiver Niedrigstrahlungauf den Phänotypusvon Cornelia Hesse-Honegger* und Peter WallimannFeldeggstrasse 21, CH-8008 Zürich(http://www.wissenskunst.ch)


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 1<strong>Missbildungen</strong> <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> (<strong>Heteroptera</strong>): <strong>Feldstudien</strong> über den Einflusskünstlicher radioaktiver Niedrigstrahlung auf den Phänotypusvon Cornelia Hesse-Honegger* 1 ) und Peter Wallimann 2 )Feldeggstrasse 21, CH-8008 Zürich(http://www.wissenskunst.ch)Gewidmet meinem Vater und Mentor Gottfried HoneggerDie Resultate umfangreicher <strong>Feldstudien</strong> über Deformationen <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> (<strong>Heteroptera</strong>) ausWesteuropa werden zusammengefasst. Mehr als 16000 Individuen wurden über zwei Jahrzehntegesammelt und einer äusseren Inspektion unterzogen. Verschiedene Schädigungsformen wurdenbeobachtet und ausführlich dokumentiert. Je nach Nation, Region sowie lokalen Gegebenheitenvariierten Schweregrad und Häufigkeit der Deformationen dramatisch, vor allem im Umfeld vonAtomanlagen in der Schweiz (Aargau), Frankreich (La Hague) und Deutschland (Bayern). DieSchädigungsrate lag <strong>bei</strong> 22% für morphologische Deformationen (MS) und <strong>bei</strong> bis zu 30% für dieSumme aller Schäden (AS). Diese Werte liegen weit über der zu erwartenden Schädigungsrate, welchefür natürliche Populationen im Tierreich <strong>bei</strong> ca. 1% liegt. Bei <strong>Wanzen</strong>, die in intakten Biotopen leben,wurde ein Wert von lediglich 1–3% gefunden. Eine detaillierte statistische Auswertung (Chi-Quadrat-Test), ausgehend von 650 im Umfeld der Atomaufbereitungsanlage La Hague gesammelten <strong>Wanzen</strong> an13 Standorten, zeigte eine signifikante Korrelation (p¼0,003) zwischen Deformation und Windexposition(lokale Topographie). ¾hnliche Resultate wurden in anderen Untersuchungsgebietengefunden. Zurzeit deuten diese Ergebnisse auf eine Korrelation hin zwischen Schädigungsrate undEmission anthropogener Radionuklide wie Tritium ( 3 H), Kohlenstoff-14 ( 14 C) oder Jod-131 ( 131 I),welche kontinuierlich von Atomkraftwerken und Atomaufbereitungsanlagen emittiert werden; fernerdürfte die Anreicherung hoch toxischer, langlebiger Isotope in der Nahrungskette eine Rolle spielen,etwa von Cäsium-137 ( 137 Cs), das in grossen Mengen in Form radioaktiven Fallouts in dieNahrungskette gelangt ist, vor allem als Folge überirdischer Atombombentests und durch dieKatastrophe von Tschernobyl. Die hier präsentierte Ar<strong>bei</strong>t ist ein weiteres Indiz dafür, dass künstlicheradioaktive Niedrigstrahlung, vor allem in Form von heissen a- und b-Teilchen in Aerosolen, einewachsende Belastung für die Biosphäre darstellt, wo<strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> speziell betroffen zu sein scheinen.Diese Insekten kçnnten daher als sensible Bioindikatoren für künftige Studien dienen.1. Einleitung. – 1.1. Rückblick. Während 25 Jahren ar<strong>bei</strong>tete ich 3 ) als WissenschaftlicheIllustratorin in der naturwissenschaftlichen Abteilung des ZoologischenMuseums der Universität Zürich. Professor Hans Burla, damals Direktor, war einer derersten Genetiker, der mit Drosophila subobscura ar<strong>bei</strong>tete. Die Fliegen wurden gezieltmutiert, indem man ihrem Futter die mutagene Verbindung Ethyl-methansulfonat(EMS; 1) <strong>bei</strong>mischte. Burla gab mir den Auftrag, einen der so herangezüchtetenMutanten, quasimodo genannt, zu zeichnen [1]. Diese morphologisch deformierten1) Verantwortlich für alle <strong>Feldstudien</strong> und Aquarelle.2) Adresse: Im oberen Boden 150, CH-8049 Zürich (E-Mail: info@sensigns.ch).3) Die Ich-Form bezieht sich auf C. H.-H., welche alle Forschungsar<strong>bei</strong>ten durchgeführt hat. 2008 Verlag Helvetica Chimica Acta AG, Zürich


2CHEMISTRY & BIODIVERSITYFliegen beeindruckten mich sehr, und ich malte sie auch in meiner Freizeit. Indem ichmehrere Monografien zu Drosophilidae und Leucophenga für Taxonomen illustrierte[2], lernte ich, wie man Fliegen detailgetreu malt [3], entweder den ganzen Kçrperoder Teile davon, und auch, wie man Insekten fängt, systematisch bestimmt und fürSammlungen präpariert.Im Jahr 1963 hatte ich die Gelegenheit, während sechs Monaten am Acquario inNeapel, Italien, <strong>bei</strong> der Illustratorin Ilona Richter zu lernen, wie man lebendigeNudibranchia mit Hilfe einer Binokular-Lupe zeichnet. Meinen Labortisch verdienteich, indem ich eine Monographie über Ostracoden illustrierte [4]. Diese marinenKleinlebewesen begeisterten mich, und als ich am Meeresbiologischen Institut Aragoin Banyuls-sur-Mer, Frankreich, sowie an verschiedenen anderen MeeresbiologischenInstituten im Südpazifik ar<strong>bei</strong>ten konnte, dachte ich, dass ich meine Berufung gefundenhatte. Heirat und die Geburt meiner Kinder jedoch führten mich wieder in die Schweiz,und so suchte ich bald nach neuen Herausforderungen und Tieren, die ich malenkonnte. Im Jahr 1968 stiess ich auf <strong>Wanzen</strong> (<strong>Heteroptera</strong>), deren Schçnheit mich bisheute fasziniert.In den 60er und 70er Jahren gab es noch kaum ein Bewusstsein für çkologischeZusammenhänge, trotz weltweiter industrieller und militärischer Umweltverschmutzung,etwa durch Fallout von Atombombentests 4 ) [5], durch chemische Waffen wieAgent Orange ( ¼ 3,4,5-Trichlorophenoxyessigsäure; 2) in Vietnam [6] oder durchIndustrie-Unfälle wie dem Austreten des Dioxins TCDD (¼2,3,7,8-Tetrachlorodibenzodioxin;3) in Seveso, Italien [7]. Angesichts der zunehmenden Umweltzerstçrungentwickelte ich die Vorstellung, dass mutierte Laborfliegen das materielle Abbildunseres destruktiven Verhaltens der Natur gegenüber darstellten, quasi als Prototypeneiner erschreckenden Zukunft.Später dann, 1985, malte ich eine neue Serie von Laborfliegen. Die Genetiker desZoologischen Instituts mutierten Fliegen nach wie vor, nun allerdings mit Hilfe vonRçntgenstrahlen anstatt Chemikalien. Dann, am 26. April 1986, nachts um 1.24 Uhr,begann eine neue ¾ra für die Menschheit. Während ich mutierte Stubenfliegen (Muscadomestica) malte, ereignete sich die Katastrophe im Atomkraftwerk von Tschernobyl.Grosse Mengen radioaktiven Materials wurde über ganz Europa verteilt (Fig. 1) [8],auch die Schweiz war betroffen (Fig. 2) [9]. Wie so viele Mütter war auch ich besorgt,was ich meinen Kindern zu essen geben sollte. Diese unvergleichbar schreckliche4) Zwischen 1945 und 1996 wurden von den USA, der ehemaligen UdSSR, England, Frankreich undChina insgesamt 2398 Atombomben zur Explosion gebracht, Pakistan und Indien nichteingerechnet [5]. Dies entspricht der Explosionskraft von 520 Mt (Megatonnen) TNT ( ¼2,4,6-Trinitrotoluol), beziehungsweise etwa 40000 Hiroshima-Bomben zu je 13 kt! Zwischen 1945 und1980 wurden die meisten dieser Tests in der Atmosphäre durchgeführt.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 3Fig. 1. Bodenkontamination durch 137 Cs und 134 Cs in Europa als Folge der radioaktiven Wolke ausTschernobyl. Extrapolierte Daten für den Sommer 1986; adaptiert von [8].Situation erzeugte in mir das Bild, dass alle Lebewesen im Fallout-Gebiet derradioaktiven Wolke von Tschernobyl nun in einer vergleichbaren Situation waren wiedie Labortiere, die man zu Forschungszwecken mit Rçntgenstrahlen mutierte. Ich stellte


4CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 2. Durch Regen abgelagertes 137 Cs in der Schweiz infolge der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl.Die Daten beziehen sich auf alle Regenfälle im Zeitraum 25. April–30. Mai 1986. Die radioaktive Wolkeüberquerte die Schweiz am 30. April 1986. Adaptiert von [9].mir vor, dass die kommenden Generationen jener <strong>Wanzen</strong>, die in kontaminiertenGebieten lebten, unter kçrperlichen Schäden leiden kçnnten. Diese bedrückendeVorstellung diskutierte ich mit Professor Ralph Nçthiger, damals Genetiker amZoologischen Institut der Universität Zürich. Nçthiger war allerdings davon überzeugt,dass die Radioaktivität von Tschernobyl viel zu niedrig sei, um einen solchen Effekthervorzurufen.Seine Annahme stimmte mich jedoch nicht zuversichtlich, und so entschied ichmich, die Nachkommen der von Tschernobyl direkt betroffenen <strong>Wanzen</strong> selber zuuntersuchen. Erst jetzt hatte ich meine wahre Bestimmung gefunden: eine lange,spannende Reise sollte beginnen. Zwischen 1987 und 2007 untersuchte ich systematischdie morphologische Erscheinung (Phänotypus) verschiedener <strong>Wanzen</strong>arten (Tab. 1).Die Ar<strong>bei</strong>t begann in Gävle, Schweden (Fig. 1), welches stark von der radioaktivenWolke aus Tschernobyl kontaminiert worden war.Rückblickend kann ich sagen, dass ich in dieser Zeit mehr als 16000 <strong>Wanzen</strong>gesammelt und untersucht habe (Tab. 1 und Fig. 3), und zwar auf allen Kontinentenausser in Australien. Während all der Jahre habe ich über 300 Aquarelle vondeformierten <strong>Wanzen</strong> detail- und massstabgetreu gemalt. Viele dieser Bilder wurden ininternationalen Galerien und Museen ausgestellt. Soviel ich weiss, wurde keinevergleichbare Feldstudie mit <strong>Heteroptera</strong> oder anderen Insektenarten durchgeführt.In der vorliegenden Ar<strong>bei</strong>t werde ich einen kurzen Überblick über meine wichtigsten<strong>Feldstudien</strong> mit <strong>Heteroptera</strong> geben. Da<strong>bei</strong> geht es vor allem darum, eine Antwort aufdie brisante Frage zu finden: Hat künstliche radioaktive Niedrigstrahlung eine negativeAuswirkung auf diese sensiblen Tiere? Sollte die Frage mit ja beantwortet werden,


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 5Tabelle 1. Regionen zur Beurteilung des Phänotyps von <strong>Wanzen</strong> (in chronologischer Reihenfolgeaufgeführt). Für Einzelheiten siehe Experimentelles und Text.Nr. Jahr Ort Nation Untersuchung <strong>Wanzen</strong> a )1 1971 Tema Ghana Referenzbiotop 502 1987 GysingeSchweden Tschernobyl-Fallout 80ÖsterfärneboGävle3 1987 MelanoSchweiz Tschernobyl-Fallout 60Rancate4 1988 GçsgenSchweiz Atomkraftwerk 221Leibstadt5 1989–1998 Sellafield UK Atomwiederaufbereitungsanlage4456 1989–1992 Gockhausen Schweiz Referenzbiotop 313Isérables7 1990 Tschernobyl: Ukraine Tschernobyl-Fallout 55 b )PolesskojePripjatSeljony Mys(ehem. UdSSR)8 1991 Three Mile Island USA Atomkraftwerk 4099 1992–1994 Mouans Sartoux Frankreich Referenzbiotop 11110 1992–1995 Sta. Maria Schweiz Referenzbiotop 27011 1992–2003 Villigen (Nähe PSI) Schweiz Atomforschungsinstitut 186312 1993–1994 TubreItalien Tschernobyl-Fallout 299Bormio13 1994–1996 Kanton Aargau Schweiz Atomkraftwerk 260014 1993 Correns Frankreich – 11815 1994 Bagnols en Forêt Frankreich – 206St. Maxime16 1995 StadeDeutschland Atomkraftwerk 754Krümmel17 1997 Nevada USA Atombombentestgebiet 129218 1997 Weggis Schweiz Referenzbiotop 6819 1998 Hanford USA Atomfabriken 213920 1999 Cape de la Hague Frankreich Atomwiederaufbereitungsanlage650(Normandie)21 2002–2004 Gundremmingen Deutschland Atomkraftwerk 2900(Bayern)22 2004 Cu Chi c ) Vietnam Agent Orange 36023 2005 CarlowIrland Referenzbiotop 131Dundalk24 2005 Golfo Dulce Costa Rica Referenzbiotop 6325 2006–2007 Entlebuch Schweiz Referenzbiotop 910Total 16367a ) Anzahl in diesem Zeitraum untersuchter <strong>Wanzen</strong>. b ) Nur wenige <strong>Wanzen</strong> konnten wegen der lokalhohen radioaktiven Kontamination gesammelt werden. Die erlaubte Aufenthaltszeit lag <strong>bei</strong> 10 min inPripjat sowie <strong>bei</strong> 3 h in Polesskoje und Seljony Mys, je nach Abstand zum havarierten Atomkraftwerk.c ) Einschliesslich anderer, weniger bekannter Gebiete in Vietnam, die ebenfalls mit Agent Orange (2)zwischen 1961 und 1971 besprüht worden waren.


6CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 3. Teil der privaten, zwischen 1971 und 2007 angelegten <strong>Wanzen</strong>sammlung. S.a. Tab. 1.kçnnten <strong>Heteroptera</strong> einen wertvollen Beitrag als mikroskopische Bioindikatorenleisten.1.2. <strong>Heteroptera</strong>. <strong>Wanzen</strong> gehçren zum Stamm der Gliederfüssler (Arthropoda). Essind Insekten der Ordnung Schnabelkerfe (Hemiptera). Von der Unterordnung<strong>Heteroptera</strong> [10] kennt man weltweit ca. 40000 Arten, wo<strong>bei</strong> in Europa ca. 30 Familienbekannt sind. Aus evolutionärer Sicht ist vor allem das Aussenskelett als Erfolg zuwerten, dessen Grçsse (1 – 30 mm) mit der jeweiligen Wirtspflanze korreliert [11]. Fürdie Atmung haben <strong>Wanzen</strong> ein Tracheen-System entwickelt. Ihr Kçrper ist zudem inSegmente aufgeteilt: i) der Kopf; ii) der dreiteilige Halsschild (Pronotum), an dem dieFlügel befestigt sind; iii) das in Segmente aufgeteilte Abdomen (Fig. 4). <strong>Heteroptera</strong>sind mit den Zikaden (Auchenorrhyncha) und den Blattläusen (Sternorrhyncha)verwandt. Die meisten <strong>Wanzen</strong> ernähren sich von Pflanzen, einige Familien wieRaubwanzen (Reduviidae) und Feuerwanzen (Pyrrhocoridae) fressen auch Aas undvermodertes Holz sowie lebende Organismen. Alle drei Unterordnungen haben einenSaugrüssel, der ventral ausgestreckt liegt. Während der Nahrungsaufnahme wird ernach oben gebeugt, und eine Kanüle wird ausgefahren, die in die Pflanze gestochenwird. Die Deckflügel (Hemielytrea) sind in der oberen Hälfte fest und oft farbiggemustert. Der untere Teil (Membran) ist weich und eher transparent. Die <strong>Wanzen</strong>besitzen ferner Drüsen, mit denen sie ein Sekret versprühen kçnnen, das alsVerteidigung dient. Bei den Larven liegen diese Drüsen typischerweise dorsal.<strong>Wanzen</strong> gehçren zu einer Gruppe von Insekten mit einer sogenannten unvollständigenEntwicklung (Hemimetabola). Anders als Käfer und Schmetterlingedurchlaufen sie kein Puppenstadium. Die Larven, die ähnlich aussehen wie dieerwachsenen Tiere (Imago), häuten sich etwa fünfmal. In temperierten Gebieten und


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 7Fig. 4. Dorsale (a) und ventrale (b) Ansichten von ausgewählten <strong>Wanzen</strong>. Vergrçsserung: sieben- bis zehnfach. a) Aquarell einer Lederwanze (Coreusmarginatus; Coreidae) aus Polesskoje, Ukraine (1990). b) Aquarell einer Weichwanze (Miridae) aus Holmrook, in der Nähe der AtomaufbereitungsanlageSellafield, UK (1989). Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.


8CHEMISTRY & BIODIVERSITYje nach Art sind sie vor allem von April bis Oktober aktiv. Einige überleben den Winterversteckt unter Blättern, Rinde oder in der Erde, die einen im Ei-Stadium, andere alsLarven oder Imago.<strong>Wanzen</strong> leben in unterschiedlichen Biotopen. Bei Kälte und Feuchtigkeit bleibensie meist versteckt. Die meisten ernähren sich von Blättern, Blüten oder Früchten. Einefrisch geschlüpfte Wanze, etwa 1 mm lang, beginnt sofort, mit ihrem Rüssel an derWirtspflanze zu saugen. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass <strong>Wanzen</strong> über Generationenam selben Ort leben. Sie fliegen selten, und wenn, dann nur über kurze Distanzen,normalerweise einige Meter.1.3. Radioaktivität. 1.3.1. Arten von Radioaktivität. Es gibt drei verschiedene Artenvon Radioaktivität: a-, b-, und g-Strahlung. Alle gehçren zu der Kategorie derionisierenden Strahlung, d.h. Strahlung, welche die Materie ionisiert [12]. a- und b-Strahlung sind zwei Arten der Partikelstrahlung, die durch den spontanen Zerfallnatürlicher oder künstlicher Radionuklide entsteht, im Gegensatz zu g-Strahlung undRçntgenstrahlung, welche elektromagnetischen Charakter haben. a-Strahlung bestehtaus geladenen Helium-Kernen ( 4 He 2þ ) mit einer Energie von etwa 5 10 6 eV.a-Teilchen dringen nicht tiefer als rund 40 mm in Wasser oder organische Materieein. Im Kçrper freigesetzt, sind a-Teilchen allerdings sehr gefährlich (gefährlicher alsRçntgenstrahlung), denn die Zellen werden lokal und irreversibel geschädigt.b-Strahlung besteht aus energiereichen Elektronen (b ) oder Positronen (b þ ), welcheeinige Millimeter in organisches Material (z.B. Haut) eindringen kçnnen; ihre Energiebeträt 10 3 –10 6 eV, abhängig von der Art des emittierenden Radionuklids. g-Strahlung(z.B. in Form von kosmischer Strahlung) schliesslich <strong>bei</strong>nhaltet verschiedene Formender rein elektromagnetischen Strahlung mit einer Energie oberhalb von ca. 0,210 6 eV. Je nach Wellenlänge dringen g-Strahlen in Tiefen von Zentimetern bis Meternin Materie vor. Beispiele von a-Radionukliden sind die natürlichen Isotope Uran-238( 238 U) und Thorium-232 ( 232 Th) oder das künstliche Isotop Plutonium-238 ( 238 Pu).b-Radionuklide sind z.B. die natürlich vorkommenden Isotope Tritium ( 3 H) undKohlenstoff-14 ( 14 C) oder die künstlichen Isotope Schwefel-35 ( 35 S), Jod-131 ( 131 I) undCäsium-137 ( 137 Cs). Andere Radionuklide wie Kobalt-60 ( 60 Co) erfahren zuerst einenb-Zerfall, gefolgt von Emission von Photonen (g-Strahlung).1.3.2. Akkumulation von Radioaktivität in Pflanzen und Umwelt. FolgendeInformationen beruhen, wenn nicht anders verwiesen, auf den Quellen [13] und [14].Radionuklide werden von Pflanzen durch die Wurzeln oder Blätter aufgenommen. SeitTschernobyl wissen wir, dass Flechten, Pilze und Beeren deutlich hçhere Strahlendosenaufnehmen als die meisten anderen Pflanzen. Wegen der Akkumulationradioaktiven Materials in der Nahrungskette [15] mussten viele Tiere damalsnotgeschlachtet und Pflanzen als ungeniessbar deklariert werden.Die negativ geladenen Zellwände von Wurzeln und die Pflanzenepidermis bindenkationische Radionuklide durch Ionenaustausch, so etwa Strontium-90 ( 90 Sr) 5 ), 137 Cssowie verschiedene Isotope von Barium (Ba) und Ruthenium (Ru), und zwar inunterschiedlichen Mengen [13] (dort auf S. 59). Da<strong>bei</strong> richtet vor allem das5) Etwa 99% des in die Umwelt gelangten 90 Sr, mit einer Halbwertzeit von 29 Jahren, stammt ausAtombombentests. Die restlichen 1% sind vor allem dem Unfall von Tschernobyl zuzuschreiben.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 9anthropogene 137 Cs grossen Schaden an, da Zellen schlecht zwischen Cäsium und demverwandten Kalium ( 40 K) unterscheiden kçnnen (in ionisierter Form). Da dieBetreiber von Atomaufbereitungsanlagen 137 Cs ins Wasser ablassen, findet dieseskünstliche Radionuklid seinen Weg auf Weiden und Wiesen. Es gibt auch einige Pilze,die Cs und Sr akkumulieren, sowie Bäume, deren Blätter Uran, Blei, Cäsium undStrontium akkumulieren, Isotope, welche laufend in die Umwelt und ins Meergelangen [16]. Viele dieser und anderer Isotope besitzen sehr lange Halbwertzeiten.Ein anderer kritischer Punkt ist von Atomkraftwerken ausgestossenes radioaktivesTritium ( 3 H), das über den Kamin, der mit den Druckkammern des Reaktorsverbunden ist, in die Luft gelangt und sich via Aerosole verbreitet. Tritium wird oftauch direkt ins Wasser abgelassen, oder aber es gelangt durch kleine Risse in denRohren atomarer Kühlwassersysteme in die Umwelt [17]. Tritium-Ionen ( 3 H þ )tauschen sich mit Wasser spontan aus unter Freisetzung von Protonen: 3H þ þ1H 2 O . 1 H þ þ 3 H 1 HO. Das so erzeugte tritiumhaltige Wasser wird dann in Zellengeschmuggelt, wodurch Tritium in den Metabolismus von Pflanzen gelangt undirreversibel akkumuliert wird [13] (dort auf S. 57).Radionuklide werden oft via Aerosole transportiert. Typische Aerosole sindKrypton, entweder in Form von 89 Kr ( ! 89 Sr) oder 90 Kr ( ! 90 Rb ! 90 Sr), Xenon( 137 Xe ! 137 Cs), und Radium ( 226 Ra). Letzteres reichert sich vor allem im Klee(Trifolium pratense) an. Aerosole transportieren auch Plutonium (Pu), das sich in derTabakpflanze anreichert; zudem wurde Thorium (Th) in der Rinde von Wurzeln und inder Epidermis von Blättern nachgewiesen.Die künstlichen Plutonium-Nuklide 238–240 Pu wurden von der atomaren WiederaufbereitungsanlageSellafield (UK) über Jahre emittiert und in die Irische Seeabgelassen, wo sie sich in Algen akkumulierten und so in die Nahrungskette gelangten.Künstliches Plutonium wurde auch in Honig nachgewiesen, eine Folge der weltweitenradioaktiven Verseuchung durch Atombombenversuche [5] und der unkontrolliertenDeponierung radioaktiver Abfälle aus Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen[13] (dort auf S. 65–69).Die Radionuklide 134 Cs, 137 Cs und 129 I (abgeleitet von 131 I), mit Halbwertzeiten vonrund 2 Jahren, 30 Jahren und 15,7 Millionen Jahren, wurden in grossen Mengen durchdie Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl emittiert. Diese Isotope sindmassgeblich für die Langzeitverstrahlung der Bçden in der Ukraine, in Weissrussland(frühere UdSSR) und in Europa (Fig. 1) verantwortlich. Auch 20 Jahre nach derKatastrophe findet man deutlich erhçhte Werte für 137 Cs sowohl in europäischenBodenproben als auch in der Nahrungskette.1.3.3. Auswirkungen künstlicher Radioaktivität auf Tiere. Die Auswirkungen vonRçntgenstrahlen auf Säugetiere (inklusive Mensch) sind reichlich dokumentiert [18].Es gibt auch viel Literatur über die Wirkung von Niedrigstrahlung auf Labortiere [19].Nur wenige Ar<strong>bei</strong>ten befassen sich jedoch mit den Folgen künstlicher Radioaktivitätauf in natürlichen Biotopen lebende Organismen.Im Jahr 1998 fanden Saura und Mitar<strong>bei</strong>ter [20] eine ungewçhnlich hoheMutationsrate rezessiver, tçdlicher Erbfaktoren (Letalfaktoren) im O-Chromosomvon Drosophila subobscura, die in Gävle, Schweden (s. Fig. 1) gefangen worden waren,also an einem Ort, der von der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl besonders starkbetroffen gewesen war. Die genetische Last (tçdliche oder bedingt tçdliche Faktoren)


10CHEMISTRY & BIODIVERSITYwar dort wesentlich hçher als in vergleichbaren anderen europäischen Marginalpopulationenvon D. subobscura.In einer Langzeitstudie über Effekt radioaktiver Strahlung auf Tiere haben Møllerund Mitar<strong>bei</strong>ter [21] tausende von Schwalben (Hirundo rustica) untersucht. Sieverglichen Referenzpopulationen mit solchen aus der Tschernobyl-Region und stiessenauf eine bemerkenswerte Korrelation zwischen radioaktiver Kontamination undAnomalien <strong>bei</strong> den Vçgeln. Die natürliche Häufigkeit von Anomalien im Tierreichliegt <strong>bei</strong> ca. 1% [21b]; die Tschernobyl-Schwalben zeigten aber Werte von 33,5% fürNestlinge und von 17,8% für erwachsene Tiere.In einer ausführlichen Studie des Emanuel Institute of Biochemical Physics,Moskau, wurden Mäuse während bestimmten Zeitintervallen niedrigen äusserenStrahlendosen von 137 Cs ausgesetzt [22]. Interessanterweise wurde da<strong>bei</strong> einenichtlineare Abhängigkeit zwischen Dosis und Wirkung beobachtet, wo<strong>bei</strong> niedrigereDosen zu einer verstärkten Sensibilität von Zellen, Organen und Organismengegenüber schädigenden Faktoren führten. Für bestimmte Dosis-Bereiche zeigte essich, dass Langzeitexposition <strong>bei</strong> niedriger Intensität deutlich stärkere Effektehervorrufen kçnnen als Kurzzeitexposition <strong>bei</strong> entsprechend hçheren Dosen. Dieseund verwandte Phänomene sind unter dem Begriff Petkau-Effekt in die Lehrbüchereingegangen [23].Im Jahr 1989 verçffentlichte ich einen provozierenden Artikel in der renommiertenZeitschrift Das Magazin [24]. Basierend auf meinen Forschungsergebnissen, die ineiner Monographie [25] und in mehr als 20 Vorträgen (s. z.B. [26]) publiziert wordensind, stellte ich die Hypothese auf, dass niedrige Strahlendosen durch künstliche, vonAtomkraftwerken ausgestossene Radionuklide schwere morphologische Deformationen<strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> und anderen Insekten auslçsen kçnnen (Fig. 5).Diese Verçffentlichung hat in der Schweiz eine heftige Debatte ausgelçst. DieEidgençssische Technische Hochschule in Zürich wurde daraufhin beauftragt, dieseHypothese genauer zu untersuchen. Daraus resultierte die Dissertation des ZoologenJohannes Jenny [27], der zur Schlussfolgerung gelangte, es gebe keinen erkennbarenZusammenhang zwischen <strong>Missbildungen</strong> <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> und dem Standort von Atomkraftwerken.Jenny beobachtete zwar hohe Raten von <strong>Missbildungen</strong> (10 – 30%),welche aber, wie er sagte, rein mechanische Ursachen hätten und von Kämpfen unterden <strong>Wanzen</strong> stammten 6 ).Während meiner Ar<strong>bei</strong>t an diesem Artikel im Dezember 2007 verçffentlichte dasBundesamt für Strahlenschutz (BfS) die erschreckenden Ergebnisse einer fünfjährigenStudie (so genannte KIKK-Studie), die das Deutsche Kinderkrebsregisters Mainz(DKKR) an insgesamt 6300 Kindern durchgeführt hatte. Das BfS erklärte am 12.Dezember 2007 (s. http://www.BfS.de): Das Risiko für Kinder unter 5 Jahren, anLeukämie zu erkranken, nimmt zu, je näher ihr Wohnort an einem Kernkraftwerk liegt.Die Forschergruppen um Kçrblein sowie um Viel waren bereits in den 80er und 90er6) Meiner Ansicht nach weist Jennys Ar<strong>bei</strong>t mehrere Schwachpunkte auf. Seine Folgerung basiert imWesentlichen auf der Analyse aggressiver, an die Zivilisation angepasster Feuerwanzen(Pyrrhocoris apterus), die tatsächlich infolge von Kämpfen çfters morphologische Schädenaufweisen. Ferner liegt der Ar<strong>bei</strong>t kein klares Konzept zugrunde, und wichtige Angaben wie diegenaue Beschreibung der Fundorte (Koordinaten) fehlen.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 11Fig. 5. Schwer geschädigte Skorpionsfliege (Panorpa communis) aus Reuenthal, Schweiz, in der Nähe desAtomkraftwerks Leibstadt (1988). Dieses Bild wurde in der Zeitschrift Das Magazin publiziert [24]. Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.Jahren zu ähnlichen Ergebnissen gelangt [28]. Unabhängig davon hatte Kçrblein schonfrüher eine statistisch signifikante Korrelation zwischen oberirdisch durchgeführtenAtombombentests und der perinatalen Sterblichkeit des Menschen gefunden [29]. Wiees aussieht, hat die Diskussion um die Vor- und Nachteile der Atomkraft eben erstbegonnen!2. Experimentelles. – 2.1. Untersuchte Regionen. In dieser Ar<strong>bei</strong>t werden dieResultate aus sechs (von insgesamt 25) <strong>Feldstudien</strong> beschrieben (Tab. 1), und zwar: Gysinge (608 17’ N, 168 53’ E), Österfärnebo (608 19’ N, 168 48’ E) und Gävle (60840’ N, 178 08’ E) in Schweden (Tab. 1, Nr. 2), Orte, die von der radioaktivenWolke aus Tschernobyl stark kontaminiert worden sind (s. Fig. 1);


12CHEMISTRY & BIODIVERSITY die Umgebung der Dçrfer Melano (458 55’ N, 88 59’ E) und Rancate (458 52’ N, 8858’ E) im Tessin, Schweiz, die ebenfalls vom Fallout aus Tschernobyl betroffenwaren (Nr. 3; s.a. Fig. 2); die Stadt Polesskoje (53 km W/SW), die verlassene Stadt Pripjat (4 km NW) undSeljony Mys (34 km SE), alle in der näheren Umgebung des havariertenAtomkraftwerks Tschernobyl (518 16’ N, 308 14’ E; Nr. 7); der ganze Kanton Aargau, Schweiz (Nr. 13), mit Hauptstadt Aarau (478 23’ N, 8803’ E), wo sich vier Atomkraftwerke und ein Institut für atomare Forschungbefinden, alle in einer Distanz von 5–28 km zueinander; Cape de la Hague, Normandie, Frankreich (Nr. 20), mit der AtomaufbereitungsanlageLa Hague (498 40’ N, 18 53’ W); die Umgebung des Atomkraftwerks Gundremmingen (488 30’ N, 128 24’ E) inBayern, Deutschland.2.2. Wahl des Standortes für <strong>Feldstudien</strong>. Es wurden drei unterschiedliche Methodenherangezogen, um Stellen zu definieren, an denen <strong>Wanzen</strong> gesammelt werden sollten:1) vorgegebene Hauptkoordinaten (Intersektionspunkte) auf Landkarten; 2) zufälliggewählte, verfeinerte Intersektionspunkte innerhalb eines Ausschnittes einer Landkarte;und 3) eigene Auswahl. Für die im Kanton Aargau durchgeführte systematischeFeldstudie (Tab. 1, Nr. 13) wurde das Kantonsgebiet auf einer Karte im Massstab1 : 100000 (Fig. 6, a) in Ausschnitte à 1010 km aufgeteilt, was zu insgesamt 25Quadranten und 15 Hauptschnittpunkten innerhalb der Kantonsgrenzen führte. Diese15 geographisch vorbestimmten Hauptschnittpunkte wurden als primäre Untersu-Fig. 6. Methoden zur Bestimmung von Untersuchungsstandorten im Kanton Aargau. a) Geographischdefinierte Orte (rot), basierend auf den 15 inneren Intersektionspunkten, die sich aus 25 Hauptfeldern àje 1010 km ergeben, welche bençtigt werden, um die gesamte Fläche des Kantons zu bedecken. b)Jedes der Hauptfelder 1–25 wurde weiter in eine (66)-Matrix aufgeteilt, was zu 25 sekundären,inneren Intersektionspunkten (gelb) führte, wie gezeigt für Feld 14; pro Feld wurde dann ein Punkt(schwarz) nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Im Ganzen wurden somit 15þ25 ¼40 Orte untersucht,an denen jeweils 65 <strong>Wanzen</strong> gesammelt wurden, 2600 <strong>Wanzen</strong> insgesamt.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 13chungsstandorte festgelegt. Obige 25 Quadranten wurden nun in jeweils 36 quadratischeUntereinheiten aufgeteilt, indem jeweils eine regelmässige (6 6)-Matrix darübergelegt wurde, was zu 25 sekundären (internen) Schnittpunkten führte (Fig. 6,b). Derexakte Untersuchungsstandort innerhalb dieses Rasters wurde dann zufällig mit Hilfeeines Würfels bestimmt. Für jeden der primären (15) und sekundären (25) Untersuchungsstandortewurden anschliessend je 65 <strong>Wanzen</strong> gesammelt (in einem Quadratenvon etwa 20 20 m), total somit 4065¼2600 Individuen.2.3. Sammeln, Auswerten und Präparieren von <strong>Wanzen</strong>. Für jeden Standort einerFeldstudie wurden entweder 50 oder 65 <strong>Wanzen</strong> gesammelt 7 ), jeweils im Zeitraum vonMai bis September <strong>bei</strong> trockenem Wetter, entweder am Morgen oder am späterenNachmittag, wenn die Tiere aktiv waren. Das Sammeln der gewünschten Anzahl<strong>Wanzen</strong> dauerte je nach Biotop 3 – 12 Stunden. Wurde eine Wanze auf ihrerWirtspflanze entdeckt, so wurde letztere leicht geschüttelt 8 ), worauf das Tier in einentransparenten Plastikbecher fiel, der rasch mit einem sterilen Papiertuch und einemGummiband verschlossen und angeschrieben wurde (Ort, Datum). Die <strong>Wanzen</strong>wurden dann in einem geschlossenen Behälter Dämpfen von Essigsäure-ethylester(AcOEt) ausgesetzt, was binnen weniger Minuten zum Tod führte.Jede Wanze wurde innerhalb von 12 Stunden nach dem Sammeln einzeln untersuchtund vor der Totenstarre (rigor mortis) präpariert, zuerst ventral, dann dorsal, undzwar unter einer mit Kaltlicht ausgerüsteten Binokular-Lupe (Leica MZ16) <strong>bei</strong> 7- bis80-facher Vergrçsserung. Morphologische Schäden am Kopf und an den Fühlern(inklusive Rüssel und Augen), am Thorax, am Scutellum, an den Flügeln, amAbdomen und an den Beinen und Füssen wurden jeweils separat begutachtet (Fig. 7).Nicht morphologische Schäden wie z.B. dunkle Flecken, Ringe, Ansammlungenpunktfçrmiger Gruben, ungewçhnliche Pigmentierung oder veränderte Oberflächenstrukturenwurden registriert (s. Tab. 2). Blasenbildung, wie von Jenny beschrieben [27]und vermutlich durch Sporozoen verursacht, wurde nicht als Schaden betrachtet. Fürstatistische Analysen wurde pro Tier jeweils nur eine (die markanteste) Missbildunggezählt, auch wenn mehrere vorhanden waren.Mit Hilfe obiger, detaillierter Untersuchungsmethode (s. Tab. 2) kçnnen nicht nurAussagen in Bezug auf die Quantität (Häufigkeit) der Schäden gemacht werden,sondern auch auf die Qualität (Art und Schweregrad). Die <strong>Wanzen</strong> wurden mitMinuzienstiften und einer Uhrmacherpinzette präpariert und angeschrieben (Fig. 3).Jede Wanze erhielt eine Nummer, die dem handgeschriebenen Protokoll der Feldstudieentsprach. Die Daten wurden anschliessend in eine Excel-Datei für statistischeAuswertungen übertragen.2.4. Anfertigung von Aquarellen. Ausgewählte <strong>Wanzen</strong> mit <strong>Missbildungen</strong> wurdenunter dem Mikroskop betrachtet und zuerst mit Bleistift massstabgetreu gezeichnet,und zwar mit Hilfe einer integrierten Skala in einem der <strong>bei</strong>den Okulare. Die fertigeBleistiftzeichnung wurde mit Hilfe von Paus- und Graphitpapier auf Aquarellpapier7) Normalerweise kann man <strong>Missbildungen</strong> nur mit Hilfe einer Binokular-Lupe (Mikroskop)erkennen.8) Während des Sammelns ist direkter Augenkontakt mit der Wanze zu vermeiden, weil sie sich sonstsofort auf den Boden fallen lässt, wo man sie kaum noch finden kann.


14CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 7. Darstellung einer Reihe missgebildeter <strong>Wanzen</strong>, die in der Nähe des Paul-Scherrer-Instituts inVilligen, Schweiz, gesammelt wurden (1995; Tempera auf Millimeterpapier). Von insgesamt 67 <strong>Wanzen</strong>wiesen fünf morphologische Schäden auf. Farbcode für <strong>Missbildungen</strong>: Schwarz: gesund, Rot: Flügel,Gelb: Scutellum, Grün: Fühler, Dunkelrot: Abdomen. Die weissen Vierecke verweisen auf dunkleFlecken, also keine morphologischen Schäden. (nicht gezeigt). Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.übertragen und dann mit Aquarellfarben koloriert. Die <strong>Wanzen</strong> wurden gemäss derFarbperspektive von Paul Cézanne gemalt, <strong>bei</strong> der keine bestimmte Lichtquellevorhanden ist, sodass die Farben nicht vom Schattenwurf abhängen und unverfälschtdarstellbar sind. Im Gegensatz zu erwachsenen Tieren mussten Larven innerhalbweniger Stunden nach dem Tod gemalt werden, weil sie rasch zusammenschrumpfenund ihre natürlichen Farben verlieren.3. Resultate und Diskussion. – 3.1. Referenzbiotop: Paradigmenwechsel. Ich habeüber 30 Jahre lang <strong>Wanzen</strong> und Fliegen gesammelt, untersucht und minutiçs gemalt. Inder Zeit vor der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 sind mir da<strong>bei</strong> kaum <strong>Missbildungen</strong>aufgefallen. Nach Tschernobyl hingegen entschloss ich mich, dieses Phänomensystematisch zu untersuchen, vor allem nachdem ich 1987 in Schweden (Tab. 1, Nr. 2)schockierende Deformationen an <strong>Wanzen</strong> festgestellt hatte, welche in radioaktivkontaminierten Gebieten lebten. Damals war ich wie die meisten Wissenschaftlerdavon überzeugt, dass hohe Dosen radioaktiver Strahlung für Lebewesen bedeutendgefährlicher sind als tiefe Dosen. Meine Experimente jedoch liessen mich dieseAnnahme immer mehr bezweifeln. Petkau und Mitar<strong>bei</strong>ter (Petkau-Effekt) [23] undandere Forscher [19 – 22] bestätigten meine wachsende Erkenntnis.Um die Häufigkeit und Schwere von <strong>Missbildungen</strong> <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> überhauptbewerten und vergleichen zu kçnnen, brauchte ich zunächst geeignete Referenzbiotope.Solche Biotope sollten mçglichst naturbelassen und unverschmutzt sein. Orte imEinflussgebiet chemischer Industriezweige, in der Nähe von Kernkraftanlagen, oder


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 15Tabelle 2. Typische morphologische Schäden <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong>KçrperteilFühlerKopf und AugenThoraxFlügelAbdomenBeineFüsseSchädigungSegmente zusammengewachsenSegmente unterschiedlich in Längeein Segment wenigerAuswuchs auf einem Fühlergeknotete Fühler (Miridae)asymmetrischer Kopfgeschädigte(s) Auge(n)Augenpigment auf dem KopfEindellungengeschädigter Randgeschädigte Spitzen am RandKante des Thorax beschädigtasymmetrisch geformtveränderte Beinçffnungverkrumpelte, verbogene Flügelasymmetrisch und ungleich langasymmetrische Adernasymmetrisch geformtgeschädigte Segmentezusammengewachsene SegmenteKanten mit atypischen Formenzu kurzzu dick/dünnFehlen von Femur und/oder TibiaFehlen eines Gliedesnur ein Glied mit Kralleangrenzend an Landwirtschaftszonen, Strassen oder Hochspannungsleitungen kamendaher nicht in Frage. Trotz grosser Anstrengung konnte ich nur einige wenige intakteBiotope finden (s.u.), wie in Tab. 3 aufgeführt.Tabelle 3. Ausgewählte <strong>Feldstudien</strong> an mçglichen ReferenzbiotopenNr. Ort Nation Jahr Anzahl gesammelter <strong>Wanzen</strong> Schädigungsrate [%] a )ASMS1 Tema Ghana 1971 50 8,0 02 Isérables Schweiz 1992 265 3,4 1,93 Weggis Schweiz 1997 68 1,5 1,54 Golfo dulce Costa Rica 2005 63 1,6 05 Carlow Irland 2005 50 4,0 2,06 Entlebuch Schweiz 2007 910 12,7 6,9a ) Die Bezeichnungen AS und MS bezeichnen alle Schäden bzw. morphologische Schäden (s.Experimentelles).


16CHEMISTRY & BIODIVERSITYInsgesamt wurden sechs potenzielle Referenzbiotope analysiert, wo, je nachGegebenheiten, jeweils zwischen 50 und 900 <strong>Wanzen</strong> gesammelt wurden. An zweiOrten zeigten die untersuchten <strong>Wanzen</strong> keine morphologischen Schäden (MS): inTema (Ghana, 58 38’ N, 08 0’ E; 1971), das 1971 von der Zivilisation noch weitgehendverschont war, und in Golfo dulce (Costa Rica, 88 39’ N, 838 15’ W; 2005), das zwischenRegenwald und Meer liegt. Die Tiere, die 2005 in von Golfo untersucht worden waren,zeigten allerdings ein geringe Anzahl (1,6%) nicht morphologischer Schäden(NMS). Da eine natürliche Mutationsrate von 1% <strong>bei</strong> Tieren als normal gilt[21][30], kçnnen <strong>bei</strong>de Orte (zum Zeitpunkt der Studien) als (noch) intakt bezeichnetwerden.Weitere insgesamt 383 <strong>Wanzen</strong> stammen von verschiedenen Orten in der Schweizund Irland: a) In Isérables (468 10’ N, 78 15’ E) im Wallis wurden auf einer Hçhe von1100 über Meer 265 <strong>Wanzen</strong> gesammelt; b) in Weggis (478 2’ N, 88 26’ E) amVierwaldstättersee kamen 68 <strong>Wanzen</strong> dazu; und c) in Carlow (528 41’ N, 68 49’ W),Irland, wurden 50 <strong>Wanzen</strong> untersucht. All diese <strong>Wanzen</strong> zeigten eine niedrigeMissbildungsrate von weniger als 2%.Als weiteres potenzielles Referenzbiotop wählte ich Entlebuch (468 53’ N/88 0’ E bis468 48’ N/78 56’ E), eine weitgehend unberührte Gegend in der Zentralschweiz (Fig. 8),welche 2001 von der UNESCO (United Nations Educational, Scientific, and CulturalFig. 8. Ein Tal im ländlichen Entlebuch. Die Aufnahme stammt aus der Nähe des Dorfes Sçrenberg (46849’ N, 88 2’ E). Diese wunderschçne Region wurde 2001 von der UNESCO zum ersten Biosphären-Reservat der Schweiz ernannt. Deshalb war die Erwartung hoch, hier ein intaktes Referenzbiotop für<strong>Wanzen</strong> zu finden, zumal hier keine direkten Umweltbelastungen erkennbar sind und die Landwirtschaftnach çkologischen Gesichtspunkten betrieben wird. Aufnahme von C. H.-H. (2007). Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 17Organization) zum ersten Schweizerischen Biosphären-Reservat gekürt worden war(Fig. 9). In einem Gebiet von etwa 12 16 km wählte ich 14 Standorte für <strong>Feldstudien</strong>nach topographischen Gesichtspunkten aus (Tab. 4). Pro Standort wurden 65 <strong>Wanzen</strong>gesammelt, d.h. insgesamt 910 Individuen.Tabelle 4. Geographische Unterschiede <strong>bei</strong> deformierten <strong>Wanzen</strong> im Schweizer Entlebuch, Sommer 2007.An 14 Standorten wurden je 65 <strong>Wanzen</strong> gesammelt und untersucht. Es sind total 910 Individuen. Fettgedruckte Standorte werden in Fig. 9 gezeigt und im Text diskutiert.Nr. Untersuchungsstandorte Hçhe [m] Wind exponiert AS [%] a )1 Südelgraben 1423 þ 23,02 Salviden 1375 þ 23,03 Hüttlenen 925 þ 21,54 Kemmeriboden 1400 þ 20,05 Flühli 890 þ 13,86 Marbacheregg 890 þ 12,37 Planalp 1340 10,78 Husegg 1335 7,69 Rossweid 1440 7,610 Chragen 1040 6,111 Salvideli 1250 4,612 Vorderer Hübeli 1315 4,613 Mçrlialp 1460 4,614 Rothorn Station b ) 1235 3,0a ) Alle Schäden. b ) Studie aus dem Spätsommer 2007.In Tab. 4 ist der prozentuale Anteil aller Schäden (AS) für jeden der 14 Standorteim Entlebuch angegeben. Die Schädigungsraten variierten da<strong>bei</strong> stark, von 3 bis 23%.Bei genauerer Betrachtung wurde ein qualitativer Zusammenhang zwischen Missbildungsrateund Topographie beziehungsweise Windexposition beobachtet. Fig. 9zeigt das Haupttal des Entlebuch in Nord–Süd-Richtung, wo der Nordwind (Bise)am stärksten bläst. Interessant ist, dass die am stärksten geschädigten <strong>Wanzen</strong> (AS 14–23%) entlang des Haupttales gefunden wurden, d.h. in Flühli (Tab. 4, Nr. 5), Hüttlenen(Nr. 3) und Südelgraben (Nr. 1). Im Gegensatz dazu wiesen <strong>Wanzen</strong>, die an wenigerwindexponierten Stellen lebten, z.B. im Seitental <strong>bei</strong> Chragen (Nr. 10) oder im Schutzedes Berges Schrattenfluh (Vorderer Hübeli; Nr. 12), eine deutlich geringere Missbildungsratevon 4 – 6% auf. Ein ähnlicher Trend zeigte sich auch <strong>bei</strong> den meistenanderen untersuchten Standorten (Tab. 4).Die Beobachtung, dass die dem Nordwind stärker ausgesetzten <strong>Wanzen</strong> imEntlebuch erhçhte Missbildungsraten zeigen, kçnnte mit von den AtomkraftwerkenGçsgen und Leibstadt emittierten Radionukliden in Verbindung gebracht werden,zumal diese Anlagen rund 50 und 80 km nçrdlich lokalisiert sind. Es ist ziemlichwahrscheinlich, dass radioaktives Material in Form von Aerosolen mit der Bise dasHaupttal erreicht und durch Regen und Nebel abgelagert wird. Obwohl die absoluteRadioaktivität an windexponierten Stellen vermutlich nur geringfügig hçher ist als angeschützten Orten, kçnnte die Langzeitakkumulation von Tritium ( 3 H) und anderen


18CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 9. Topographische Karte (aus Google Earth) des Entlebucher Haupttals in Nord–Süd-Ansicht. Fünf Untersuchungsstandorte sind markiert: Flühli (1),Hüttlenen (2), Chragen (3), Südelgraben (4) und Vorderer Hübeli (5). Die sich im Haupttal befindenden Orte 1, 2 und 4 sind dem Nordwind direktausgesetzt; die Standorte 3 (Chragen) und 5 (Vorderer Hübeli) hingegen liegen windgeschützt in einem Seitental bzw. hinter einem Berg (Schrattenfluh).


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 19Radionukliden in den Wirtspflanzen von <strong>Wanzen</strong> obige Resultate erklären 9 ).Künstliche radioaktive Niedrigstrahlung muss nicht notwendigerweise genetischeMutationen verursachen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass die Morphogenese von<strong>Wanzen</strong>larven dadurch gestçrt wird. Im Moment scheint mir dies die einzige sinnvolleErklärung zu sein für diese unerwarteten Phänomene.Zusammenfassend weisen die oben erwähnten Referenzbiotope eine untereGrenze der Schädigungsrate von 1–3% auf. Aus zahlreichen eigenen Untersuchungenvon individuellen <strong>Wanzen</strong> kann ich sagen, dass vor allem morphologische Schäden einguter Indikator für schädigende Umwelteinflüsse sind, und dass <strong>Wanzen</strong> allgemeinsensibler sind, als man bisher glaubte. Die wichtigste Lehre daraus allerdings ist dieFeststellung, dass eine schçne, äusserlich intakte Landschaft nicht unbedingt eine guteWahl für ein Referenzbiotop sein muss. Vielleicht ist es an der Zeit für einenParadigmenwechsel, sowohl was den Zustand der Ökosphäre angeht als auch unsereromantische Vorstellung von einer unversehrten Natur.3.2. Europäische <strong>Wanzen</strong>arten. Während meiner <strong>Feldstudien</strong>, die ich zumeist inEuropa durchführte, sammelte und bestimmte ich ca. 80 verschiedene Arten von<strong>Wanzen</strong> (Tab. 5). Da<strong>bei</strong> habe ich immer wieder beobachtet, dass gesunde <strong>Wanzen</strong> einsymmetrisches Erscheinungsbild aufweisen, was Musterung und Form angeht, und eineglänzende Oberfläche besitzen. Jede Wanze besitzt sowohl individuelle als auchartspezifische Merkmale. Über die Jahre stellte ich fest, dass gewisse Arten anfälligergegenüber <strong>Missbildungen</strong> sind als andere. Pentatomidae, Coreidae und Pyrrhocoridae10 ) erwiesen sich als empfindlicher als etwa Miridae, Nabidae, Scutelleridae,Lygaeidae 11 ) und Tingidae. Rhopalidae und Anthocoridae waren unter den untersuchtenFamilien am unempfindlichsten (Tab. 5 ; s.a. Tab. 7 unten). Im Falle derFamilien Alydidae, Stenocephalidae, Berytidae und Acanthosomatidae liess sich keineeindeutige Aussage machen, weil zu wenig Individuen gefunden und untersucht werdenkonnten. Eine detaillierte Beschreibung kçrperspezifischer <strong>Missbildungen</strong> wird inAbschn. 3.4 beschrieben.3.3. Tschernobyl-Fallout-Gebiete in Schweden, dem Tessin und der Ukraine. EinJahr nach der Katastrophe von Tschernobyl (1986) entschied ich mich, <strong>Wanzen</strong> in denvon der radioaktiven Wolke betroffenen Regionen zu untersuchen. Basierend aufKarten, welche die radioaktive Belastung aufzeigten (Fig. 1 und 2), reiste ich 1987 nachSchweden, wo ich <strong>Feldstudien</strong> in Gysinge, Österfärnebo und Gävle durchführte.Danach untersuchte ich <strong>Wanzen</strong> in Melano und Rancate im Tessin (Südschweiz), undspäter (1990) in der Ukraine, in der Nähe des Atomkraftwerks Tschernobyl selbst (fürgeographische Details, s. Experimentelles).An diesen Orten sammelte ich zunächst eine relativ geringe Anzahl <strong>Wanzen</strong>(s. Tab. 1), weil ich damals in erster Linie als Künstlerin unterwegs war und noch nicht9) Niedrige Strahlendosen sind im mikroskopischen Bereich kaum nachweisbar. Vor allem a- oder b-Teilchen emittierende Radionuklide werden von Organismen aufgenommen und kçnnen lokalschwere Schäden verursachen. Meine Daten beruhen daher auf dem Vergleich von Phänotypen <strong>bei</strong><strong>Wanzen</strong>. Für künftige <strong>Feldstudien</strong> wären interdisziplinäre Untersuchungen wünschenswert.10) Pyrrhocoridae sind in der Schweiz durch Pyrrhocoris apterus (Feuerwanze) vertreten, welche seltenin naturbelassenen Biotopen vorkommen, sondern sich an urbane Gegenden angepasst haben.11) Ausser der Art Lygaeus saxatilis, die sich ebenfalls als empfindlich erwiesen hat.


20CHEMISTRY & BIODIVERSITYTabelle 5. Während den <strong>Feldstudien</strong> gefundene, typische westeuropäische <strong>Wanzen</strong>artenFamilienAcanthosomatidaeAlydidaeAlydidaeAnthocoridaeBerytidaeCoreidaeLygaeidaeMiridaeNabidaePentatomidaePyrrhocoridaeReduviidaeRhopalidaeScutelleridaeStenocephalidaeTingidaeArtenElasmostethus interstinctusCamptopus lateralisselten gefundenAnthocoris nemorumMetatropis rufescens, Neides tipulariusCoreus marginatus, Enoplops scaphaLygaeus equestris, Melanocoryphus albomaculatus, Kleidocerys resedae, Scolopostethusaffinis, Gastrodes grossipes, Rhyparchromus vulgarisDeraeocoris ruber, Deraeocoris trifasciatus, Capsus ater, Liocoris tripustulatus,Orthops kalmi, Lygocoris pabulinus, Lygus pratensis, Lygus wagneri, Lygusrugulipennis, Stenotus binotatus, Calocoris striatellus, Calocoris roseomaculatus,Adelphocoris lineolatus, Adelphocoris seticornis, Pantilius tunicatus (sehr selten),Capsodes cingulatus, Capsodes gothicus, Stenodema laevigatum, Stenodema calcaratum,Stenodema holsatum, Notostira elongata, Acetropis carinata, Hadrodemusm-flavum, Polymerus microphthalmus, Leptopterna dolobrata, Alloeonotus fulvipes,Cyllecoris histrionicus, Orthocephalus brevis, Heterotoma planicornis,Dryophilocoris flavoquadrimaculatusNabis mirmicoides, Nabis apterus, Nabis flavomarginatus, Nabis rugosusGraphosoma lineatum, Carpocoris fuscispinus, Carpocoris purpureipennis, Dolycorisbaccarum, Palomena prasina, Palomena viridissima, Eurydema oleraceum,Holcostethus vernalis, Picromerus bidens, Eurydema dominulus, Aelia acuminata,Arma custos, Pentatoma rufipes, Antheminia lunulata, Eysacoris fabricii, Neottiglossapusilla, Neottiglossa leporinaPyrrhocoris apterusselten gefundenCorizus hyoscyami, Stictopleurus punctatonervosus, Rhopalus parumpunctatusEurygaster testudinaria, Eurygaster mauraDicranocephlaus albipes (nur ein Individuum gefunden)Tingis reticulata, Acalypta carinataim Sinn hatte, eine grossangelegte systematische Studie durchzuführen. In Schwedenbeeindruckte mich vor allem das rostbraun verfärbte Gras 12 ); ein Veterinärmedizineraus Gysinge liess mich eine rostbraune Kleepflanze malen, die anstatt rosarote, gelbeBlüten hatte! Ich malte auch einige stark missgebildete <strong>Wanzen</strong> (<strong>Heteroptera</strong>) undZikaden (Auchenorrhyncha). In Fig. 10 ist eine gesunde Sichelwanze (a) neben einermissgebildeten Sichelwanze (b) aus Gysinge zu sehen. Die geschädigte Wanze hatdeformierte Fühler (A) und einen schwarzen Auswuchs am rechten Auge (B); derKopf ist zudem viel zu dunkel und hat ein atypisches Muster (C).12) Erst später erfuhr ich vom so genannten roten Wald in der Nähe des AtomkraftwerksTschernobyl.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 21Fig. 10. Kopf einer gesunden (a) und einer geschädigten (b) Sichelwanze (Nabis rugosus) aus Gysinge,Schweden (Aquarell, 1987). In a ist nur ein Teil des linken Fühlers gezeigt. Die geschädigte Wanze hatzwei deformierte Fühler (A), einen schwarzen Auswuchs am rechten Auge (B) und einen viel zudunklen Kopf mit atypischem Muster (C). Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.Im Tessin sammelte ich vor allem Feuerwanzen (Pyrrhocoris apterus), die aber, wiesich später herausstellte, für eine systematische Studie wenig geeignet sind. Feuerwanzenleben auf dem Boden in urbanen Gegenden, wo sie vermodertes Holz und Aasfressen. Da sie als Fleischfresser oft aggressiv sind und selbst an Orten leben, dieregelmässig mit Herbiziden und Insektiziden besprüht werden, kçnnen keinezuverlässigen Aussagen über die Ursache von Schädigungen <strong>bei</strong> dieser Art gemachtwerden. Die meisten anderen <strong>Wanzen</strong> verhalten sich hingegen ganz anders, zumal jede


22CHEMISTRY & BIODIVERSITYArt auf eine spezifische Wirtspflanze in spezifischen Biotopen angewiesen ist. Deshalbsind andere <strong>Wanzen</strong>arten viel seltener zu finden als Feuerwanzen. In Fig. 11 ist eineLarve dargestellt 13 ), die nicht zu den Feuerwanzen gehçrt. Bei diesem aus dem Tessinstammenden Insekt ist die rechte Fühlerspitze betroffen: sie ist deutlich zu kurz undvermutlich nicht richtig ausgehärtet.Fig. 11. <strong>Wanzen</strong>larve aus Melano, Tessin (1987). Der betroffene rechte Fühler hat ein zu kurzes viertesSegment (Spitze), das zu klein, zu hell und vermutlich zu weich ist. Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.Im Jahr 1990, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, hatte ich die Gelegenheit,in das stark verstrahlte Gebiet um das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl zureisen (Fig. 12). Ich besuchte die verlassene Stadt Pripjat und die Ortschaft SeljonyMys (Fig. 12, b), welche <strong>bei</strong>de innerhalb einer Sicherheitszone von 30 km liegen, sowiedie Orte Polesskoje und Slavoutich, welche sich ausserhalb dieser Zone befinden. InPolesskoje wurden die Strassen auch vier Jahre nach dem Unfall noch zweimal täglichmit Wasser abgespritzt, um das Risiko einer Kontamination mit heissen Teilchen zureduzieren. Unglücklicherweise konnte ich nur eine kleine Anzahl <strong>Wanzen</strong> sammeln.Wir folgten einer dicht gedrängten Agenda, und die hohe Strahlung erlaubte uns, nichtlänger als zehn Minuten bis maximal zwei Stunden an einem Ort zu verweilen; zudemwar die militärische Präsenz enorm. Insgesamt konnte ich unter diesen Bedingungen 55<strong>Wanzen</strong> sammeln, die ich alle lebend nach Hause brachte. Von den 55 Tieren wareninsgesamt 12 (22%) geschädigt. Zwei dieser missgebildeten Tiere, <strong>bei</strong>des Lederwanzen13) Die genaue Art liess sich im Larvenstadium noch nicht bestimmen.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 23Fig. 12. a) Das Atomkraftwerk Tschernobyl mit dem Sarkophag. b) Das am Südportal gelegene DorfSeljony Mys innerhalb der Sicherheitszone mit einem Radius von 30 km. Fotos von C. H.-H. (1990).


24CHEMISTRY & BIODIVERSITY(Coreus marginatus) aus Polesskoje (1990), sind in Fig. 4,a, und Fig. 13 abgebildet. Beider ersten Lederwanze fehlt links eines der vier Fühlerglieder, die Zweite hat starkgeschädigte Flügel.3.4. Systematische Feldstudie im Kanton Aargau. Aargau ist ein Kanton im Nordender Schweiz mit einer Fläche von rund 1400 km 2 , die zu 45% aus Landwirtschaftszonen,zu 37% aus Wald und zu 15% aus urbanen Gebieten besteht. Die 580000 Bewohnerleben entweder in der Kantonshauptstadt Aarau oder in kleineren Gemeinden. Dreider fünf Schweizer Atomkraftwerke, Leibstadt (478 35’ N, 88 10’ E; am Rhein) sowieBeznau I und Beznau II (478 33 N, 88 13’ E; an der Aare) liegen im Kanton Aargau; dasAtomkraftwerk Gçsgen (478 24’ N, 78 55’ E; auch an der Aare) liegt nur etwasausserhalb, im Kanton Solothurn. In der Nähe der Atomkraftwerke Beznau I und IIliegt zudem das Paul-Scherrer-Institut (PSI; 478 32’ N, 88 13’ E), eine bedeutende,staatlich geführte Forschungsanstalt für Kernenergie und Teilchenphysik.Im Jahr 1988 führte ich meine erste Feldstudie im Aargau durch, um diewissenschaftlich vertretene Meinung zu überprüfen, Atomkraftwerke hätten keinenschädigenden Einfluss auf Flora und Fauna. Zu meinem grossen Erstaunen entdeckteich aber lokal schwer geschädigte Insekten, wovon zwei in Fig. 14 abgebildet sind.Später, zwischen 1994 und 1996, führte ich dann eine gross angelegte Feldstudie an40 verschiedenen Standorten im Aargau durch (Tab. 6 und Fig. 15). Pro Standortwurden jeweils 65 <strong>Wanzen</strong> gesammelt und untersucht, d.h. insgesamt 2600 Individuen.Die Standorte entsprachen 15 geographisch vorbestimmten Orten (rote Punkte inFig. 15) und 25 nach dem Zufallsprinzip gewählten Orten (gelbe Punkte), wie im TeilExperimentelles und in Fig. 6 ausführlich beschrieben.Wie aus Tab. 6 hervorgeht, fand ich eine Missbildungsrate von 0–15,3% anmorphologischen Schäden (MS), beziehungsweise von 3–20%, wenn alle Schäden(AS) 14 ) gezählt wurden, was einem Durchschnitt von jeweils 6,1% und 10,1%entspricht. Diese Werte liegen deutlich über dem Wert von als intakt eingestuftenReferenzbiotopen in der Schweiz (Tab. 3, Standorte Nr. 2 und 3), welcher im Bereichvon 1,5–3,5% (AS) liegt.In Fig. 16 ist die relative Verteilung aller Schäden (AS) sowie nur morphologischerSchäden (MS) graphisch dargestellt, gegliedert nach betroffenen Kçrperpartien. DieNeigung zu <strong>Missbildungen</strong> (AS) verringert sich in der Reihenfolge: Flügel >Abdomen >Fühler > Thorax >Beine >Kopf > Scutellum>Füsse. Ein ähnliches Bildzeigt sich <strong>bei</strong> den morphologischen Schäden (MS), mit Ausnahme der Flügel und desAbdomen, welche weniger empfindlich sind als die Fühler und der Thorax. Ausmorphologischer Sicht lässt sich somit festhalten, dass Fühler und Thorax amhäufigsten in Mitleidenschaft gezogen sind, gefolgt von Flügeln und Abdomen.In Tab. 7 ist die Anzahl der beobachteten <strong>Missbildungen</strong> <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> als Funktionder jeweiligen Familie aufgeführt. Die untersuchten 2600 Insekten aus dem Aargaukonnten 15 Familien zugeordnet werden, wo<strong>bei</strong> die verwandten Zikaden (Auchenorrhyncha)ebenfalls erfasst wurden. Die Familien Pentatomidae (1022), Coreidae (711),Miridae (419) und Nabidae (189) waren am häufigsten vertreten. Die Anzahl allerSchäden (AS) nahm in folgender Reihenfolge ab: Pentatomidae (13,0%) > Coreidae14) Für die Unterscheidung zwischen morphologischen und anderen Schäden, s. Experimentelles(Abschn. 2.3).


26CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 14. Zwei Weichwanzen (Miridae) aus der Umgebung des Atomkraftwerks Gçsgen, Schweiz (1988).a) Unregelmässige Facetten und ein grosses Geschwulst auf dem linken Auge; b) ungleichlange Flügel.Der fehlende linke Fühler ist vermutlich abgebrochen. Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 27Fig. 15. Standorte für <strong>Feldstudien</strong> im Kanton Aargau. Die 15 roten und 25 gelben Punkte markieren diegeographisch oder durch Zufall bestimmten Stellen, an denen <strong>Wanzen</strong> gesammelt wurden (s. Fig. 6 undExperimentelles).(10,7%) Auchenorrhyncha (10,5%) >Miridae (7,4%)>Nabidae (5,8%). Für Familien,<strong>bei</strong> denen weniger als 50 Insekten gefunden wurden, konnte keine verlässlicheAussage in Bezug auf Empfindlichkeit gemacht werden.In der folgenden Diskussion wird vor allem auf die morphologischen Schäden (MS)eingegangen, weil ich diese als signifikanter erachte. Interessanterweise war dieVerteilung der morphologischen Schäden im Kanton Aargau sehr heterogen. ZumBeispiel wurden in Othmarsingen keine morphologisch deformierten Insektengefunden (0%; Standort Nr. 9 in Fig. 15), während im nahe gelegenen Rüfenach15,3% der <strong>Wanzen</strong> missgebildet waren (Nr. 20). Diese auf den ersten Blickwidersprüchlichen Resultate veranlassten mich, die jährlichen Windhäufigkeiten(Windrose) um die Atomanlagen herum in meine Untersuchung einzubeziehen. Dieentsprechenden Daten erhielt ich von der Schweizerischen Meteorologischen Zentral-


28CHEMISTRY & BIODIVERSITYTabelle 6. Missbildungsrate <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> aus dem Kanton Aargau und umliegenden Gebieten (1994–1996). Die relative Anzahl aller Schäden (AS) und morphologischer Schäden (MS) sind in Prozentangegeben. Pro Standort wurden je 65 <strong>Wanzen</strong> gesammelt, 2600 im Ganzen. Für die geographischeAuswahl der Biotope (Fig. 15) s.Experimentelles und Fig. 6.Nr. Dorf/Ort a ) AS MS Nr. Dorf/Ort a ) AS MS1 Mçhlin 10,7 4,6 21 Dçttingen 9,2 6,12 Kleindçttingen 18,4 15,3 22 Bachs 3,0 3,03 Homberg 7,4 1,5 23 Zeglingen 6,1 6,14 Effingen 9,2 4,6 24 Zeihen 7,6 4,65 Windisch 16,9 10,7 25 Brugg 4,6 1,56 Steinhof 16,9 9,2 26 Killwangen 6,4 1,57 Stüsslingen 13,8 10,7 27 Regensdorf 16,9 4,68 Rohr 18,4 15,3 28 Wangen 15,3 9,29 Othmarsingen 3,0 0 29 Gretzenbach 16,9 9,210 Kindhausen 4,6 1,5 30 Dürrenäsch 12,3 9,211 Safenwil 9,2 9,2 31 Büttikon 3,0 1,512 Unterkulm 7,6 4,6 32 Uitikon 3,0 3,013 Sarmenstorf 18,4 6,1 33 Kestenholz 10,7 9,214 Rottenschwil 12,3 3,0 34 Sagen 3,0 3,015 Auw 9,2 6,1 35 Bottenwil 7,6 6,116 Reuenthal 12,3 9,2 36 Leimbach 13,8 9,217 Rheinfelden 3,0 1,5 37 ¾ttenberg 16,9 7,618 Hellikon 3,0 1,5 38 Hedingen 20,0 4,619 Hornussen 9,2 6,1 39 Rçmerswil 7,6 6,120 Rüfenach 16,9 15,3 40 Langrüti 10,7 4,6a ) Die Namen der Standorte wurden nach den nächstliegenden Ortschaften gewählt.anstalt (für Gçsgen und Leibstadt); die Daten für Beznau I und II sowie das PSI sindverçffentlicht worden [31].In Fig. 17 ist mit Hilfe eines Farbcodes die relative Anzahl der morphologischenSchäden <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> an den 40 untersuchten Standorten im Aargau darstellt (inAnalogie zu Fig. 15). Die Lage der vier Atomanlagen und die an diesen Ortenvorherrschenden relativen Windhäufigkeiten und Windrichtungen sind als farbigeKeile dargestellt. Die Hauptwindrichtungen sind NE – SW und W–E. Von wenigenAusnahmen abgesehen, fallen jene Orte mit den hçchsten Schädigungsraten (rote,violette und blaue Punkte) in die Windrichtung NE – SW, entlang oder parallel zu einerVerbindungslinie zwischen den Atomanlagen. Für eine noch detailliertere Analysemüssten noch mehr Standorte sowie topologische Gegebenheiten in Betracht gezogenwerden, was im Rahmen dieser Ar<strong>bei</strong>t allerdings unmçglich war 15 ). Nichtsdestotrotzist eine klare Tendenz zu erhçhter Missbildungsrate <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> im Umfeld vonAtomkraftwerken auszumachen, vor allem wenn man die Windhäufigkeiten berücksichtigt.Diese Resultate stimmen somit qualitativ mit jenen aus dem Entlebuchüberein (s.o.): Auch dort wurde eine qualitative Korrelation zwischen Windrichtungund Schadenshäufigkeit beobachtet.15) Ich habe alle <strong>Feldstudien</strong> alleine durchgeführt und selber finanziert.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 29Fig. 16. Kçrperspezifische <strong>Missbildungen</strong> der 2600 untersuchten <strong>Wanzen</strong> aus dem Kanton Aargau (1996–1999)Tabelle 7. Familienspezifische Deformationen <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> (1994–1996). Insgesamt 2600 Individuen von40 Standorten wurden untersucht (s. Fig. 15 und 17).Nr. Familie <strong>Wanzen</strong> Zahl der DeformationenAS a ) MS b )1 Pentatomidae 1022 133 782 Coreidae 711 76 573 Miridae 419 31 164 Nabidae 189 11 45 Rhopalidae 76 3 16 Lygaeidae 47 3 17 Anthocoridae 23 2 08 Bertydae 11 1 09 Scutelleridae 8 0 010 Pyrrhocoridae 8 1 111 Reduviidae 4 0 012 Acanthosomatidae 3 1 113 Stenocephalidae 1 0 014 Plataspidae 1 0 015 Dermaptera c ) 1 0 016 Auchenorrhyncha c ) 76 8 1Total 2600 270 160a ) Alle Schäden. b ) Morphologische Schäden. c ) Dermaptera (Ohrwürmer) und Auchenorrhyncha(Zikaden), die mit den <strong>Wanzen</strong> verwandt sind, wurden auch in diese Studie integriert.


30CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 17. Morphologische Schäden von <strong>Wanzen</strong> im Kanton Aargau sowie Korrelation mit den Windhäufigkeiten um die Kernkraftanlagen 1–4 (1996–1999).Insgesamt 2600 Individuen wurden untersucht. Die Hauptwindrichtungen sind NE–SW und W–E. Erhçhte Missbildungsraten (rote, violette und blauePunkte) wurden entlang der Hauptwindrichtung NE–SW zwischen den Atomanlagen beobachtet. Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 31Die Resultate für den Kanton Aargau deuten erneut darauf hin, dass radioaktivePartikel aus Atomkraftwerken über den Luftweg in die Umwelt gelangen und lokal mitdem Regen ausgewaschen werden. Zwar ist die jährliche Dosis emittierter radioaktiverStrahlung aus Atomkraftwerken relativ gering (1 –6 mSv, je nach Reaktortyp), vorallem im Vergleich mit der natürlichen Hintergrundstrahlung (ca. 1 mSv), doch lassensich diese <strong>bei</strong>den Typen von Strahlung nicht direkt vergleichen. Hintergrundstrahlungist im wesentlichen elektromagnetische Strahlung (kosmische Strahlung). KünstlicheRadionuklide hingegen emittieren Teilchenstrahlung in Form von heissen a- und b-Partikeln, die im mikroskopischen Bereich wesentlich mehr Schaden anrichten alsexterne, konstante Hintergrundstrahlung. Die Akkumulation von toxischen, anthropogenenRadionukliden in der Biosphäre (Boden, Pflanzen, Tiere) kçnnte daherzumindest teilweise für die beobachteten <strong>Missbildungen</strong> verantwortlich sein. Da<strong>bei</strong> istnoch unklar, ob die beobachteten <strong>Missbildungen</strong> eine Folge genetischer Mutation sindoder das Resultat durch Radioaktivität erzeugter morphogenetischer Stçrungen imLarvenstadium, oder <strong>bei</strong>des.3.5. Atomaufbereitungsanlage La Hague. Im Jahr 1999 reiste ich in die Normandie,um <strong>Wanzen</strong> im Umfeld der Atomaufbereitungsanlage La Hague zu untersuchen,welche von der Gesellschaft COGEMA/AREVA betrieben wird. Ich sammelte je 50<strong>Wanzen</strong> an 13 verschiedenen Standorten (Fig. 18), d.h. insgesamt 650 Individuen. DieErgebnisse, ausgedrückt als Anteil aller Schäden (AS) sowie nur morphologischerSchäden (MS), sind in Tab. 8 zusammengefasst. Die Missbildungsraten betrugen 6 –30% (AS) beziehungsweise 4 – 22% (MS), mit Durchschnittswerten von 14,0 und10,9%. Auch diese Werte lagen somit deutlich über der natürlichen Schädigungsratevon 1 – 3%.Die Atomaufbereitungsanlage La Hague liegt auf einem Plateau etwa 180 m überdem Meer (Fig. 19,a), das steil zum sehr schçnen Strand abfällt (Fig. 19,b), wo sich diemeisten Untersuchungsstandorte befanden. Je nach Topographie konnte man nur voneinigen dieser Standorte die teilweise über 100 m hohen Kamine der Anlage sehen (inTab. 8 als exponiert bezeichnet). Ich beschloss daher, die lokalen Gegebenheitenkonkret in meine Untersuchung einzuschliessen, indem ich massstabgetreue Schnittzeichnungender Topographie erstellte (nicht gezeigt). In Zusammenar<strong>bei</strong>t mitProfessor Jean-FranÅois Viel 16 ) wurde ein exakter Chi-Quadrat (c 2 )-Test für dieermittelten Daten durchgeführt mit Hilfe der Software Statxact-3. Bei diesem Testwurden zwei Gruppen miteinander in einer (2 2)-Kontingenztabelle verglichen: dieMissbildungsraten von Standorten, von denen aus die Kamine der Anlage entwedersichtbar (exponiert) oder unsichtbar (verborgen) waren.Die Resultate aus obigem Test fielen vçllig unerwartet aus. Abhängig von derTopographie, zeigten <strong>Wanzen</strong>, die an exponierten Orten lebten, eine hçhereMissbildungsrate (17,8% im Durchschnitt) als jene, die an verborgenen Standortenlebten (7,3%; s. Tab. 9). In obiger Analyse wurden die weit entfernten Orte La Hogueund Cap Lévy (Standorte Nr. 1 und 2 in Tab. 8) nicht berücksichtigt. Doch selbst wennman diese <strong>bei</strong>den zusätzlichen Datenpunkte berücksichtigt, bleibt das Resultatqualitativ unverändert (Daten nicht einzeln aufgeführt).16) Université BesanÅon, Département dinformation médicale, Hôpital Saint Jacques, 2 place SaintJacques, F-25030 BesanÅon.


32CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 18. Karte des Untersuchungsgebietes in Cape de la Hague, Frankreich. Die Atomwiederaufbereitungsanlage La Hague ist rot markiert. Für Details zuden Untersuchungsstandorten 1–13 s. Tab. 8.Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 33Fig. 19. a) Die Franzçsische Atomwiederaufbereitungsanlage La Hague (Foto aus Google Images; Truzguiladh; CC-BY-SA-2.5). b) Meeresküste von La Hague, Normandie (Foto C. H.-H. 1999). DieAtomwiederaufbereitungsanlage erstreckt sich über eine Fläche von 3,10,8 km und entlässt radioaktivesMaterial in den Atlantischen Ozean durch eine lange Rçhre sowie in die Luft durch mehrere,hohe Kamine.


34CHEMISTRY & BIODIVERSITYTabelle 8. Untersuchungsstandorte und relative Missbildungsraten <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> in der Umgebung derAtomaufbereitungsanlage La Hague, Frankreich (1999). S. Fig. 18.Nr. Untersuchungsstandort Distanz [km] a ) Sicht b ) <strong>Missbildungen</strong> [%] c )ASMS1 La Hogue 41,50 d ) 10 82 Cap Lévy 29,30 d ) 16 143 Nacqueville 9,13 8 44 Dur Ecu 7,18 8 85 Gréville 3,75 þ 26 206 Omonville 3,75 þ 20 16Anse St. Martin:7 Les Sablons 3,40 þ 10 48 Mitte der Bucht 2,65 þ 30 229 Pointe de Nez 2,65 6 610 Roche Gelétan 5,18 þ 16 1011 Goury 6,50 þ 12 1212 Ecalgrin 5,50 þ 10 1013 Dunes des Vauville 5,00 þ 10 8Durchschnitt 14,0 10,9a ) Horizontale Distanz vom Standort zur Atomanlage (s. Karte). b ) Sichtkontakt zu den Kaminen derAnlage mçglich ( þ; exponiert) oder unmçglich ( –; verborgen). c ) AS und MS verweisen auf alleSchäden und morphologische Schäden. d ) Zu weit weg.Tabelle 9. Statistische Chi-Quadrat-Analyse der beobachteten Missbildungsraten <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> als Funktionder lokalen Topographie um La Hague, Frankreich. Die Kriterien exponiert und verborgen beziehensich auf die Untersuchungsstandorte, von denen aus die Kamine der Anlage entweder sichtbar(exponiert) oder nicht sichtbar (verborgen) sind. Die Daten beziehen sich auf elf Standorte (3–13 inFig. 18), die in der Nähe der Atomanlage liegen; insgesamt wurden 550 <strong>Wanzen</strong> analysiert.Schäden Durchschnittliche Missbildungsrate [%] p a ) BewertungexponiertverborgenAlle 17,75 7,30 0,003 hoch signifikantFühler 3,75 0 0,01 signifikantThorax 2,0 4,0 0,22 nicht signifikant b )a ) Statistische Signifikanz. b ) Zu wenig <strong>Wanzen</strong> vorhanden für eine aussagekräftige Analyse.Dieses bemerkenswerte Ergebnis deutet darauf hin, dass eine Beziehung zwischender Häufigkeit von <strong>Missbildungen</strong> <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> und lokaler Topographie besteht. Diehohe statistische Signifikanz (p ¼ 0,003) für einen Zusammenhang zwischen Missbildungund Standort-Kategorie verborgen oder exponiert kçnnte folgendermasseninterpretiert werden: Die exponierten Populationen dürften in verstärktem Massevon lokalen Fallwinden betroffen sein, welche von der erhçht gelegenen Atomanlageaus Richtung Küste wehen. Populationen, die an verborgenen, von Hügelngeschützten Orten leben, dürften davon weniger stark betroffen sein. Auch hier ist


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 35davon auszugehen, dass der Wind radioaktive Partikel mit sich führt, was anexponierteren Lagen zu einer hçhere Langzeit-Bioakkumulation künstlicher Radionuklideführen dürfte. In Fig. 20 sind Beispiele geschädigter Kçrperteile von <strong>Wanzen</strong>abgebildet, die in La Hague gefunden worden sind.3.6. Untersuchungen im Umfeld des Atomkraftwerks Gundremmingen, Deutschland.Auf Bitte von Menschen, die im Umfeld des Atomkraftwerks Gundremmingen inBayern leben (Fig. 21), führte ich mit deren Hilfe <strong>Feldstudien</strong> durch, <strong>bei</strong> denenzwischen 2002 und 2004 insgesamt 2900 <strong>Wanzen</strong> gesammelt und untersucht wordensind. Hier sollen die Resultate aus der Studie aus dem Jahr 2004 diskutiert werden, <strong>bei</strong>welcher insgesamt 1400 <strong>Wanzen</strong> an 28 Standorten gesammelt wurden, 50 Individuenpro Biotop. Die exakten Untersuchungsstandorte (Fig. 22) wurden nach folgendenKriterien ausgewählt: 1) Entfernung zum Atomkraftwerk (0,6 – 35 km); 2) gleichmässigeradiale Verteilung in allen Richtungen; 3) visuell intaktes Biotop.Die Resultate dieser Feldstudie in Gundremmingen sind in Tab. 10 zusammengefasst.Alle Schäden (AS) bewegen sich im Bereich von 4 – 26%, morphologischenSchäden (MS) lagen <strong>bei</strong> 2 – 22%. Die durchschnittlichen Missbildungsraten, 13,5%bzw. 10,5%, lagen erneut weit über den zu erwartenden Werten für ein Referenzbiotop.Aus Fig. 22 ist ersichtlich, dass die Windrose mit den vorherrschenden Windrichtungen(NE – SW; hellgrau) und die eingezeichnete Verteilung der relativenMissbildungsraten (dunkelgrau) ähnliche Formen haben. Interessant ist, dass diehçchste Missbildungsrate nicht in unmittelbarer Nähe (< 5 km) des AtomkraftwerksGundremmingen gefunden wurde (Standorte Nr. 1 – 5; AS 10–14%). Abgesehenvon einigen wenigen Ausreissern (Nr. 15, 20 und 27) waren die mittleren 17 )(Nr. 1–6, 8, 23 und 26) und hçchsten (Nr. 12 – 14, 18, 25 und 28) Missbildungsratenim Windkanal NE – SW zu finden, wenn man das Atomkraftwerk im Zentrum platziert.Da<strong>bei</strong> waren weit entfernte (36 km) Untersuchungsstandorte ähnlich stark betroffen wie diejenigen, die näher <strong>bei</strong>m Atomkraftwerk liegen. Vor allem in südçstlicherRichtung (SE), wo die Windhäufigkeit am geringsten ist, war die Anzahlgeschädigter <strong>Wanzen</strong> deutlich geringer (Nr. 10, 22, 24, 27 und 21). In Fig. 23 werdenzwei Beispiele schwer geschädigter Kçrperteile von <strong>Wanzen</strong> aus Gundremmingengezeigt.Um die Indizien für eine Abhängigkeit zwischen Missbildungsrate und Windverteilungweiter zu erhärten, müssten noch mehr <strong>Wanzen</strong> an weiteren Standortenuntersucht werden, was im Rahmen dieser Studie nicht mçglich war. Trotzdem fällt auf,dass obige Situation mit denjenigen aus dem Entlebuch (Abschn. 3.1) und dem KantonAargau (Abschn. 3.4) vergleichbar ist.4. Schlussfolgerungen. – Umweltfragen haben in den letzten Jahren zunehmend anBedeutung gewonnen, und ein ganzheitliches Verständnis für die Natur scheint sichallmählich zu entwickeln. Während Klimawandel, Smog und Wasserverschmutzung17) Relativ zu verstehen.


36CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 20. Ausschnitte missgebildeter Flügel der Spezies Carpocoris (Baumwanzen; Pentatomidae), die inder Nähe der franzçsischen Atomwiederaufbereitungsanlage La Hague gesammelt wurden. a) Geschädigterlinker Flügel (Form, Farbe, Loch); b) geschädigte Membran des rechten Flügels; c) Flügelpartieeiner noch nicht ganz entwickelten Larve mit einer veränderten Oberfläche auf der rechten Seite. Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 37Fig. 21. Das Atomkraftwerk Gundremmingen in Bayern, Deutschland. Foto von C. H.-H. (2003).regelmässig für Schlagzeilen sorgen, ist die Belastung der Biosphäre auf mikroskopischerEbene leider kaum ein Thema. Atomenergie wird nach wie vor als saubere undeffiziente Technologie eingestuft 18 ). Dennoch, mehr als 210 Atomkraftwerke weltweit(mit über 430 Reaktoren) belasten die Umwelt kontinuierlich. So erklärt Graeub inseinem Buch Der Petkau Effekt [23]: Ein Atomkraftwerk stçsst eine Unmenge kleinerglühender Partikel aus in Form künstlicher Radionuklide. [...] Dieses komplexe, inkleinen Dosen abgegebene Gemisch aus extrem gefährlichen Radionukliden verbreitetsich vçllig zufällig in der Umwelt und entzieht sich damit jeglicher Kontrolle[sinngemäss aus dem Englischen übersetzt]. Dazu kommt die enorme historischeAltlast von Radioaktivität als Folge Jahrzehnte langer Atombombentests, demFallout von Tschernobyl und neuerdings auch aus abgereicherter Uranmunition.All dies macht es nahezu unmçglich, ein ideales, unbelastetes, natürliches Referenzbiotopzu definieren.Meine weit reichenden Untersuchungen an <strong>Wanzen</strong> und verwandten Insektenscheinen zu bestätigen, dass niedrige Strahlendosen künstlicher Radioaktivität, trotzgegenteiliger Aussagen, eine signifikante Auswirkung auf die Biosphäre haben. Diegängigen Methoden, mit deren Hilfe die Auswirkung von Radioaktivität abgeschätzt18) Je nach Reinheit und Qualität des Uranerzes bewegt sich der gesamte Ausstoss, berechnet für alleProzesse, die <strong>bei</strong> der Produktion von Atomenergie anfallen, im Bereich 0,23–5,9 Millionen TonnenKohlendioxid (CO 2 ) pro 1000 Megawatt [32]. Im schmutzigsten Fall ist daher Atomenergie kaumsauberer als die gleiche Menge an Energie, die von einem Kohlekraftwerk erzeugt wird.


38CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 22. Verteilung der relativen Missbildungsraten <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> (dunkelgrau) sowie relative Hauptwindhäufigkeiten (hellgrau) um das AtomkraftwerkGundremmingen. Die Winde wurden in einer Hçhe von 113 m über der Atomanlage gemessen (Daten des Deutschen Wetterdienstes, DWD); die graphischumgesetzten Daten zeigen den Durchschnitt für die Monate März bis September 2004, jene Zeit also, in der die <strong>Wanzen</strong> aktiv sind. Die Wind- bzw.Missbildungsverteilungsflächen (relative Skala) wurden anhand der richtungsabhängigen Windhäufigkeiten bzw. der ortsabhängigen Anzahl Schäden erhaltenals Funktion der radialen Distanz zur Atomanlage im Zentrum; die grauen Flächen wurden durch Verbinden benachbarter Datenpunkte (Eckpunkte) generiert.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 39Tabelle 10. Missbildungsraten <strong>bei</strong> <strong>Wanzen</strong> an 28 verschiedenen Standorten im Umfeld des AtomkraftwerksGundremmingen, Deutschland (2004). Insgesamt wurden 1400 Individuen untersucht.Besonders hohe Missbildungsraten sind fett hervorgehoben.Nr. Ort Distanz [km] <strong>Missbildungen</strong> [%] a )ASMS1 Parkplatz 0,6 10 62 Kuhwiese 0,6 12 103 Westlich vom AKW 0,9 10 84 Westlich von Gundremmingen (Dorf) 0,9 14 105 Alter Bahnhof Neu Offingen 2,5 12 66 Nusser Alm 5,0 14 87 Schabringen 9,2 4 48 Fultenbach 11,5 12 69 Lontal 12,0 20 1010 Kammeltal 12,0 8 611 Trugenhofen 12,5 12 1012 Riedschreiner 12,6 16 1413 Obere Hçlzer 15,0 18 1814 Osterbuch 17,0 26 2215 Elchingen 20,0 4 216 Michelsberg 20,0 10 617 Kuhberg 20,5 14 1418 Donauwçrth 21,0 22 2019 Steinheim 24,0 14 620 Kleinkuchen 25,0 16 1421 Heretsried 25,0 14 1422 Schiessen 25,5 10 823 Hetschwang 26,0 14 1424 Engertshofen 28,0 8 825 Limbach 28,0 22 2226 Kieswerk Donaumoos 30,1 10 827 Scheppacher -Forst 34,9 8 828 Pfannental 35,2 24 12a ) AS bezieht sich auf alle Schäden und MS auf morphologische Schäden.wird, zeigen gewisse Unzulänglichkeiten. Erstens gibt es immer mehr Befunde, dassman nicht von einer linearen Beziehung zwischen radioaktiver Dosis und biologischerWirkung ausgehen kann [22]. Zweitens kçnnen Untersuchungen, die mit Rçntgenstrahlenan Tieren vorgenommen werden, in keiner Art und Weise mit der Wirkungkünstlicher Radionuklide (heisser Teilchen) verglichen werden. Schliesslich kçnnenLaborversuche kaum wiedergeben, was effektiv in der Natur geschieht, wo verschiedensteUmwelteinflüsse eine Rolle spielen.Zusammenfassend lässt sich aufgrund meiner Studien sagen, dass ein bedeutenderProzentsatz der europäischen <strong>Wanzen</strong> in ihren spezifischen Biotopen stark geschädigtsind, und zwar nicht nur hinsichtlich der betroffenen Anzahl von Individuen, sondernauch in Bezug auf die Qualität und Schwere der Missbildung. Je nach Biotop,<strong>Wanzen</strong>familie und Kçrperteil zeigte sich ein sehr heterogenes Bild. Auffällig ist, dass


40CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 23. Eine auf der linken Seite deformierte Lederwanze (Coreus marginatus) aus der Umgebung desAtomkraftwerks Gundremmingen, Bayern (2004). a) Fühler und Kopf sind geschädigt, mit einemdeutlich zu kleinen linken Auge. b) Missgebildetes linkes Hinter<strong>bei</strong>n im Vergleich zum gesunden rechtenBein. Der Tarsus des deformierten Beines hat nur ein Segment anstatt drei, zudem ist der Pretarsus(Krallen) zu klein. Cornelia Hesse-Honegger, Zürich.sowohl die vorherrschenden Windrichtungen als auch lokale topographische Gegebenheiten(Exposition) einen markanten Einfluss auf die Daten haben. Die geographischeVerteilung der geschädigten Insekten sowie die verschiedenen Missbildungsarten(Phänotyp) lassen sich nur durch den Einfluss entweder chemischer oder


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 41radioaktiver Einflüsse erklären 19 ). Weil aber <strong>Missbildungen</strong> selbst in biologischintakten Gebieten wie dem Entlebuch beobachtet wurden, einem Gebiet dasallerdings im Einflussbereich mehrerer Atomkraftwerke liegt, scheint künstlicheRadioaktivität als Ursachenprinzip wahrscheinlicher zu sein. Unbeantwortet bleibthingegen nach wie vor die Frage, ob die beobachteten Schäden eine Folge vongenetischer Mutation sind, oder durch morphogenetische Einflüsse im Wachstumsstadiumder Insekten entstehen, oder <strong>bei</strong>des. Kontrolliert und sorgfältig ausgeführteZuchtexperimente mit missgebildeten <strong>Wanzen</strong> aus der Umgebung von Atomkraftwerkenkçnnten hier Aufschluss geben.Die vorliegende Ar<strong>bei</strong>t <strong>bei</strong>nhaltet folgendes: Zum einen zeigt sie, dass weiteresystematische Studien durchgeführt werden müssen, um die noch offenen Fragen zuklären, zum anderen konfrontieren sie uns aber auch mit rein ethischen Fragestellungenin Bezug auf die Natur und das Leben schlechthin. Aus wissenschaftlicher Sicht istes nçtig, 1) die Langzeiteffekte künstlicher Niedrigstrahlung zu untersuchen; 2) denEinfluss spezifischer künstlicher Radionuklide auf Pflanzen und Tiere zu Studieren;und 3) den zurzeit festgelegten unteren Schwellenwert für radioaktive Emissionen zuüberprüfen. Aus ethischer Sicht wäre es wünschenswert, dass wir uns der Schçnheit undBedeutung der Insektenwelt bewusst werden und diese, wie alles andere Leben,schätzen und schützen lernen. Speziell die Lederwanze, Coreus marginatus (Coreidae),kçnnte in Zukunft als ein sensibler Bioindikator für künftige Studien dienen.Es gibt eine wachsende Anzahl an Indizien dafür, dass die Nutzung der Atomkraftmit schwerwiegenden Problemen verbunden ist. Ich hoffe daher, dass meine Studiendazu <strong>bei</strong>tragen, dass die oft emotional geführten politischen Diskussionen auf einerwissenschaftlichen Ebene fortgesetzt werden. Die kürzlich erschienene Studie desDeutschen Kinderkrebsregisters Mainz (KIKK-Studie) belegt eindeutig, dass <strong>bei</strong>Kindern unter 5 Jahren, die in der Nähe von Atomkraftwerken aufwachsen, einedeutlich erhçhte Leukämiegefahr besteht. All dies dürfte jedoch erst die Spitze desEisbergs sein. Es ist an der Zeit, dass wir die Zeichen endlich ernst nehmen.Ich bedanke mich <strong>bei</strong> Peter Schälchli, Zürich, für die erstklassigen Reproduktionsaufnahmen meinerAquarelle und <strong>bei</strong> Roberto Schmidt, Zürich, für die Scans.LITERATURVERZEICHNIS[1] C. Hesse-Honegger, H. Burla, Plauderei über Genetik, du 1968, 1. April (Nr. 326), S. 250 (s.http://www.dumag.ch).[2] G. Bächli, in Leucophenga und Paraleucophenga, Hrsg. G. F. de Witte, Fondation pour Favoriserles Recherches Scientifiques en Afrique, Brüssel, 1971, Fasc. 71.[3] G. Bächli, H. Burla, Diptera: Drosophilidae, in Insecta Helvetica, Schweizerische EntomologischeGesellschaft, Zürich, 1985, Band 7.[4] H. S. Puri, G. Bonaduce, J. Malloy, Ecology of the Gulf of Naples, Pubbl. staz. zool. Napoli 1964,33, 87.[5] Catalogue of Worldwide Nuclear Testing, Hrsg. V. N. Mikhailov, Begell House, New York, 1999.19) Mechanische Schäden durch Verletzungen und Kämpfe machen nur einen geringen Prozentsatz desPhänotyps aus. Im Gegensatz zu Jenny [27], dessen <strong>Wanzen</strong> (vor allem Feuerwanzen) in derSchweiz im Mittel zu 30% (!) geschädigt waren, entschied ich mich, diese urban adaptierte,aggressive Art nicht in meine Studie einzubeziehen.


42CHEMISTRY & BIODIVERSITY[6] Agent Orange and Its Associated Dioxin: Assessment of a Controversy, Hrsg. A. L. Young, G. M.Reggiani, Elsevier, Amsterdam, 1988; P. J. Griffiths, Agent Orange: Collateral Damage inVietnam, Trolley, London, New York, Berlin, 2003.[7] E. R. Koch, F. Varenholt, Seveso ist überall: die tçdlichen Risiken der Chemie, Fischer, Frankfurta.M., 1980.[8] Der Unfall Chernobyl – Ein Überblick über Ursachen und Auswirkungen, Bundesamt fürEnergiewirtschaft, Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen, HKS-AN-1816 (Rev. 1),November 1986, Würenlingen.[9] Radioaktivitätsmessungen nach Chernobyl und ihre wissenschaftliche Interpretation, Hrsg. L.André, G. J. Born, E. Fischer, Tagungsbericht, 20.–22. Oktober, Universität Bern (Inselspital),Bern, Bände 1 und 2.[10] J. G. Wood, Insects at Home, Charles Scribner and Co., New York, 1872; W. S. Blatchley, <strong>Heteroptera</strong> or True Bugs of Eastern North America, The Nature Publishing Company,Indianapolis, 1926; D. J. Borror, R. E. White, A Field Guide to the Insects of America North ofMexico, Houghton Mifflin Co., Boston, 1970; C. W. Schaefer, A. R. Panizzi, <strong>Heteroptera</strong> ofEconomic Importance, CRC Press, Boca Raton, 2000; E. Stresemann, Exkursionsfauna, Volk undWissen Volkseigner Verlag, Berlin, 1989, Band 2/1; E. Wachmann, A. Melber, J. Deckert, <strong>Wanzen</strong>,Goecke und Evers, Keltern, 2004, Bände 1–3; F. Sauer, <strong>Wanzen</strong> und Zikaden, Fauna Verlag,Nottuln, 1996.[11] M. Brändle, J. Stadler, R. Brandl, Body Size and Host Range in European <strong>Heteroptera</strong>, Ecography2000, 23, 139.[12] G. R. Choppin, J. Rydberg, J.-O. Liljenzin, Radiochemistry and Nuclear Chemistry: Theory andApplications, 3. Ausg., Butterworth-Heinemann, Woburn, MA, 2001.[13] H. Metzner, Gesundheit und Umwelt. Heft 6A: Grundlagen der Radioçkologie, EuropäischeAkademie für Umweltfragen e.V., Tübingen, 1989.[14] Radioecology after Chernobyl: Biogeochemical Pathways of Artificial Radionuclides, Hrsg. F.Warner, R. M. Harrison, Scientific Committee on Problems of the Environment (SCOPE 50), JohnWiley & Sons, Chichester, 1993.[15] P. Weish, E. Gruber, Radioaktivität und Umwelt, 3. Aufl., Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, NewYork, 1986.[16] Radioactivity in the Marine Environment, National Academy of Sciences, Washington, D.C., 1971;M. Aoyama, K. Hirose, Artificial Radionuclides Database in the Pacific Ocean: HAM Database,Sci. World J. 2004, 4, 200.[17] L. A. Kçnig, Meeresversenkung radioaktiver Abfälle, Naturwissenschaften 1983, 70, 430; C.-K.Kim, B.-H. Rho, K.-J. Lee, Environmental Tritium in the Areas Adjacent to Wolsong NuclearPower Plant, J. Environ. Radioact. 1998, 41, 217 und dort zit. Lit.; D. M. Moreira, M. T. Vilhena, J.da Costa Carvalho, Tritium Dispersion Simulation in the Atmosphere from ANGRA I NuclearPower Plant, Int. J. Nucl. Energy Sci. Technol. 2007, 3, 118 und dort zit. Lit.[18] H. Fritz-Niggli, Strahlenbiologie – Grundlagen und Ergebnisse, Georg Thieme Verlag, Stuttgart,1959; C. M. Larsson, The FASSET Framework for Assessment of Environmental Impact ofIonizing Radiation in European Ecosystems – an Overview, J. Radiol. Prot. 2004, 24, A1; A. Real, S.Sundell-Bergmann, J. F. Knowles, D. S. Woodhead, I. Zinger, Effects of Ionising RadiationExposure on Plants, Fish, and Mammals: Relevant Data for Environmental Radiation Protection,J. Radiol. Prot. 2004, 24, A35.[19] A. C. Upton, R. E. Shore, N. H. Harley, The Health Effect of Low-Level Ionizing Radiation,Annu. Rev. Publ. Health 1992, 13, 127; W. R. Widmer, S. M. Shaw, D. E. Thrall, Effects of Low-Level Exposure to Ionizing Radiation: Current Concepts and Concerns for Veterinary Workers,Vet. Radiol. Ultrasound 1996, 37, 227; E. Lengfelder, Die Wirkung niedriger Strahlendosen, inThema: Radioaktivität – Wege zu einer sozial verpflichtenden Medizin, S. Hirzel, WissenschaftlicheVerlagsgesellschaft, Stuttgart, 1991, S. 75 –110.[20] A. Saura, B. Johansson, E. Eriksson, M. Kohonen-Corish, Genetic Load in Marginal Populations ofDrosophila subobscura, Hereditas 1998, 129, 283.


CHEMISTRY & BIODIVERSITY 43[21] a) A. P. Møller, T. A. Mousseau, Albinism and Phenotype of Barn Swallows (Hirundo rustica) fromChernobyl, Evolution 2001, 55, 2097; b) P. Møller, T. A. Mousseau, F. de Lope, N. Saino, ElevatedFrequency of Abnormalities in Barn Swallows from Chernobyl, Biol. Lett. 2007, 3, 414.[22] E. B. Burlakova, Präsentation anlässlich des Symposiums Health of Liquidators (Clean-upWorkers): 20 Years after Chernobyl, PSR/IPPNW (Physicians for Social Responsibility/InternationalPhysicians for the Prevention of Nuclear War), Universitätsspital Bern, 12. November 2005.[23] R. Graeub, Der Petkau-Effekt und unsere strahlende Zukunft, Zytglogge Verlag, Gümligen, 1985;R. Graeub, The Petkau Effect: Nuclear Radiation, People and Trees, Four Wall Eight Windows,New York, 1992.[24] C. Hesse-Honegger, Der Verdacht, Das Magazin 1989, 14. April (Nr. 15), S. 29.[25] C. Hesse-Honegger, <strong>Heteroptera</strong>: Das Schçne und das Andere, oder Bilder einer mutierendenWelt, Zweitausendeins, Frankfurt a.M., 1998 (deutsche Originalausgabe); C. Hesse-Honegger, <strong>Heteroptera</strong>: Das Schçne und das Andere, oder Bilder einer mutierenden Welt, 2. Ausg., Steidl,Gçttingen, 2001; C. Hesse-Honegger, <strong>Heteroptera</strong>: The Beautiful and the Other or Images of aMutating World, Scalo, Zürich, Berlin, New York, 2001.[26] Insects, Beauty and Mutation: Making the Effects of Radiation Visible, Sarah Lawrence College,Bronxville, N.Y., 18. April, 2007; Radiation Effects on Insect Morphology, Royal EntomologicalSociety, London, 15. Januar 1997; Vortrag ohne Titel, Joseph Beuys Lectures, Oxford, UK, 9. Mai1996; Vortrag ohne Titel, Culture and the Environment Lecture Series UNC, Chapel HillUniversity, 3. Oktober 1997; Vortrag ohne Titel, 20 Jahre nach Tschernobyl, InternationalerKongress, Berlin Charité, 4. April 2006.[27] J. Jenny, Untersuchungen zu Missbildungserscheinungen an <strong>Wanzen</strong> (<strong>Heteroptera</strong>): Erscheinungsformen,Häufigkeit und Bezug zu Schweizer Kernkraftanlagen, Dissertation, ETH Zürich, 1993(ETH Diss. Nr. 10342).[28] A. Kçrblein, W. Hoffmann, Background Radiation and Cancer Mortality in Bavaria: AnEcological Analysis, Arch. Environ. Occup. Health 2006, 61, 109; J.-F. Viel, D. Pobel, A. Carré,Incidence of Leukaemia in Young People around the La Hague Nuclear Waste Reprocessing Plant:a Sensitivity Analysis, Stat. Med. 1995, 14, 2459; D. Pobel, J.-F. Viel, Case-Control Study ofLeukemia among Young People Near La Hague Nuclear Reprocessing Plant: the EnvironmentalHypothesis Revisited, Br. Med. J. 1997, 314, 101.[29] A. Kçrblein, Perinatal Mortality in West Germany Following Atmospheric Nuclear WeaponsTests, Arch. Environ. Health 2004, 59, 604.[30] A Dictionary of Birds, Hrsg. B. Campbell, E. Lack, Poyser, Carlton, 1985.[31] Eidgençssische Anstalt für das forstliche Versuchswesen, Waldschäden im unteren Aaretal:Schadenausweitung in der Umgebung von Kernanlagen, Bericht 296, Oktober 1987, S. 29.[32] Die sieben Illusionen über die Atomenergie, Hrsg. PSR/IPPNW-Switzerland (Physicians forSocial Responsibility/International Physicians for the Prevention of Nuclear War), Basel, April1990 (s. http:/www.ippnw.ch).

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