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Der Begriff Toleranz in seiner Bedeutung für die Gesellschaft aus ...

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<strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>Toleranz</strong><strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>Bedeutung</strong> für <strong>die</strong> <strong>Gesellschaft</strong><strong>aus</strong> christlicher Sichtvon Peter GerdsenDie Inspirationsquelle e<strong>in</strong>er jeden Kultur ist immer <strong>die</strong> zugrundeliegendeReligion. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Kultur setzt e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Religion vor<strong>aus</strong>,deren Wesen, wie es <strong>in</strong> der Enzyklopä<strong>die</strong> <strong>aus</strong>gedrückt wird, <strong>die</strong> Interpretationdes Weltgeschehens und der menschlichen Existenz als von Gott s<strong>in</strong>nvolle<strong>in</strong>gerichtetes und gelenktes System ist, e<strong>in</strong>hergehend mit e<strong>in</strong>em meistfestgefügten moralischen Wertesystem. Religion haben Völker zu allen Zeitengehabt und so ist es nicht so sehr <strong>die</strong> Frage, woher <strong>die</strong> Religion kommt,sondern gegenwärtig vielleicht wie sie verlorengegangen ist. <strong>Der</strong> ReligionswissenschaftlerSeyyed Hosse<strong>in</strong> Nasr, der <strong>in</strong> Philadelphia lehrt, behandelte<strong>in</strong>gehend <strong>die</strong>ses Thema. 1 Auf dem Boden der Religion e<strong>in</strong>es Volkes wächst<strong>die</strong> Kultur. Wie trägt e<strong>in</strong>e Religion <strong>die</strong> Kultur, <strong>in</strong> der sie überliefert ist? Wieprägt sie den Alltag ihrer Kultur? Zur Beantwortung <strong>die</strong>ser Fragen hat C.F.v.Weizsäcker <strong>die</strong> folgende Formulierung gefunden: »Die Religion formt dassoziale Leben, gliedert <strong>die</strong> Zeiten, bestimmt oder rechtfertigt <strong>die</strong> Moral, <strong>in</strong>terpretiert<strong>die</strong> Ängste, gestaltet <strong>die</strong> Freuden, tröstet <strong>die</strong> Hilflosen, deutet <strong>die</strong>Welt.« 2 Ohne Religion ist e<strong>in</strong> Volk nicht lebensfähig. Auf dem Boden derReligion wächst <strong>die</strong> Kultur e<strong>in</strong>es Volkes und über der Kultur bildet sich <strong>die</strong>Zivilisation, <strong>die</strong> als verweltlichte Kultur mit e<strong>in</strong>er Prägung durch <strong>die</strong> mathematischorientierten Naturwissenschaften verstanden werden kann.Nun begann am Ende der Epoche des Mittelalters auf Grund e<strong>in</strong>es neuenBewußtse<strong>in</strong>s, das sich unter den Menschen <strong>aus</strong>breitete, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressanteEntwicklung. Im Christentum setzte <strong>in</strong>sbesondere durch Mart<strong>in</strong> Luther e<strong>in</strong>egewaltige Reformationsbewegung e<strong>in</strong>, welche <strong>die</strong> außerordentliche kulturprägendeKraft des Christentums freisetzte. Von der alles umfassenden katholischenKirche des Mittelalters spaltete sich der Protestantismus ab. 3 DieE<strong>in</strong>heit von Philosophie und Theologie zerbrach; beide g<strong>in</strong>gen getrennteWege. Durch <strong>die</strong> Renaissance und den Humanismus wurde vorchristliches1 Vgl. auch Nasr, S. H.: Die Erkenntnis und das Heilige, <strong>aus</strong> dem Amerikanischen v.Clemens Wilhelm, München 1990.2 Vgl. Mensch<strong>in</strong>g, G.: Die Religion. Ersche<strong>in</strong>ungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze,Stuttgart 1959.3 Vgl. Mensch<strong>in</strong>g, G.: <strong>Toleranz</strong> und Wahrheit <strong>in</strong> der Religion, Hamburg 1966.


Gedankengut <strong>in</strong> <strong>die</strong> neue Zeit here<strong>in</strong>geholt. Beides vere<strong>in</strong>igte sich zu dembreiten Strom der Aufklärung, der bis <strong>in</strong> unsere Zeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>reicht. Die Aufklärungsströmungbewirkte dann e<strong>in</strong>en fortschreitenden Niedergang desChristentums, der im Laufe des 20. Jahrhunderts dramatische Ausmaßeangenommen hat.An <strong>die</strong>ser Stelle ist e<strong>in</strong>e Anmerkung zur Epoche der Aufklärung erforderlich.Zurecht verb<strong>in</strong>den sich mit <strong>die</strong>ser Epoche positive Vorstellungen. ImmanuelKant def<strong>in</strong>ierte <strong>die</strong> Aufklärung als »Ausgang des Menschen <strong>aus</strong>se<strong>in</strong>er selbst verschuldeten Unmündigkeit.« Entsprechend formuliert er dasMotto des Zeitalters: »Habe Mut, dich de<strong>in</strong>es eigenen Verstandes zu be<strong>die</strong>nen!«4 Blickt man jedoch etwas tiefer <strong>in</strong> <strong>die</strong> damaligen Zeitverhältnisse h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>,so erkennt man, daß <strong>die</strong>se Geistesströmung <strong>in</strong> Wirklichkeit e<strong>in</strong>e Fruchtdes Christentums nach se<strong>in</strong>er Reformation ist. Dem Johannes-Evangeliumentstammt der bemerkenswerte Satz: »Wenn ihr <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Worte bleibet,dann werdet ihr <strong>die</strong> Wahrheit erkennen und <strong>die</strong> Wahrheit wird euch freimachen.« Also durch Erkenntnis der Wahrheit zur Freiheit! Auch <strong>die</strong> modernemathematisch orientierte Naturwissenschaft, <strong>die</strong> zum Leitstern fürandere Wissenschaften wurde, ist ebenfalls e<strong>in</strong>e Frucht des Christentums.Ohne <strong>die</strong> geistigen Leistungen der Aufklärer zu schmälern, muß doch festgestelltwerden, daß sie offenbar das Geistige, das sie vorfanden, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ephilosophische Form gossen und sich selbst damit auf <strong>die</strong> Fahnen schrieben.Das durch den Niedergang des Christentums entstehende religiöse Vakuumhatte das Here<strong>in</strong>strömen fremder Religionen und damit fremder Kulturenzur Folge. So ergab sich e<strong>in</strong>e multireligiöse <strong>Gesellschaft</strong>. <strong>Der</strong> Verlust derE<strong>in</strong>heitlichkeit des religiösen Unterb<strong>aus</strong> der Kultur ließ <strong>die</strong>se <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielfaltvon Subkulturen zerfallen und verursachte <strong>die</strong> Entstehung e<strong>in</strong>er multikulturellen<strong>Gesellschaft</strong>. Solche <strong>Gesellschaft</strong>en wollen e<strong>in</strong>er Vielfalt von Entwürfenvom S<strong>in</strong>n des Lebens Raum geben. Im Namen der Humanität soll <strong>die</strong>Koexistenz verschiedener Leitbilder und Lebensziele gel<strong>in</strong>gen. Das Dach desPluralismus soll das breite Spektrum der Ideen und Bekenntnisse abschirmen.Pluralismus wird <strong>in</strong> der heutigen <strong>Gesellschaft</strong> als besondere Errungenschaftgewertet; <strong>in</strong> der Vielfalt von Weltanschauungen, Religionen, Lebensentwürfenund Überzeugungen müsse e<strong>in</strong>e Bereicherung für alle gesehenwerden. Aber ist <strong>die</strong>s wirklich so? In Wirklichkeit muß der Pluralismus alsSchwächeersche<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>er zerfallenden <strong>Gesellschaft</strong> gedeutet werden. <strong>Der</strong>Zerfall ist e<strong>in</strong>e Folge der Entchristlichung der <strong>Gesellschaft</strong>, <strong>die</strong> sich damitvon ihren Wurzeln abschneidet.Dies ist genau <strong>die</strong> Situation, <strong>in</strong> der mehr oder weniger automatisch der<strong>Begriff</strong> der <strong>Toleranz</strong> auftaucht, <strong>die</strong> dann sehr schnell zur höchsten Tugend4 Vgl. den Aufsatz Kants, Die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? und <strong>die</strong>Ausführung Hans-Mart<strong>in</strong> Gerlach dazu im vorliegenden Band.56


erklärt wird. Hier ist auch auf e<strong>in</strong>en Satz des Philosophen Friedrich Nietzschezu verweisen: »<strong>Toleranz</strong> ist e<strong>in</strong> Beweis des Mißtrauens gegen e<strong>in</strong> eigenesIdeal.« 5 Scharfs<strong>in</strong>nig hat Nietzsche erkannt, daß der <strong>Toleranz</strong>gedankeauftaucht, wenn das religiöse und weltanschauliche Fundament nicht mehrüberzeugt. Das durch <strong>die</strong> vorchristlichen Elemente des Humanismus undder Renaissance geprägte Gedankengut der Aufklärung hatte das Christentumsoweit geschwächt, daß <strong>die</strong> darauf aufbauende Kultur zersplitterte undden <strong>Toleranz</strong>gedanken hervorrief.Interessant ist es, e<strong>in</strong>en Blick auf <strong>die</strong> Etymologie und Semantik des Wortes<strong>Toleranz</strong> zu werfen. Man erfährt dann, daß es sich von dem late<strong>in</strong>ischenWort ›tolerare‹ herleitet, was soviel bedeutet ›ertragen, <strong>aus</strong>halten.‹ Und demWort ›tolerare‹ liegt der Stamm ›toles‹ zugrunde, was soviel wie ›Last‹ bedeutet.6 Mehr oder weniger neutral übersetzen <strong>die</strong> Lexika das Wort ›<strong>Toleranz</strong>‹mit Geltenlassen anderer Weltanschauungen, Religionen, Lebensentwürfeund Überzeugungen. Aber Etymologie und Semantik weisen mehrdarauf h<strong>in</strong>, daß es sich bei der <strong>Toleranz</strong> um e<strong>in</strong> Notprogramm handelt, dasVerhältnisse als erträglich proklamiert, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Wirklichkeit unerträglich s<strong>in</strong>d.Die une<strong>in</strong>geschränkte <strong>Toleranz</strong> kann e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft lähmen und kraftlosmachen, weil sie e<strong>in</strong>e Vielzahl gegenläufiger und dadurch sich gegenseitigparalysierenden Gedankenrichtungen zuläßt. Festzustellen, <strong>in</strong>wieweit <strong>die</strong>stendenziell auf unsere <strong>Gesellschaft</strong> bereits zutrifft, dürfte e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressanteUntersuchung se<strong>in</strong>. 7Als nächstes werde e<strong>in</strong> Blick auf <strong>die</strong> Entwicklung des <strong>Toleranz</strong>begriffesgeworfen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser <strong>in</strong> den vergangenen 250 Jahren seit den Zeiten GottholdEphraim Less<strong>in</strong>gs durchlaufen hat. Dabei ist es wichtig, sich zunächst zuvergegenwärtigen, welche <strong>Bedeutung</strong> <strong>die</strong> grundlegenden <strong>Begriff</strong>e für e<strong>in</strong>e<strong>Gesellschaft</strong> haben. Solche <strong>Begriff</strong>e können krank werden und auch krankmachen. E<strong>in</strong>e <strong>Gesellschaft</strong> können sie vielleicht sogar ru<strong>in</strong>ieren. Wichtig istzunächst, daß zwischen Wort und <strong>Begriff</strong> unterschieden wird. E<strong>in</strong> <strong>Begriff</strong>bedeutet e<strong>in</strong>en bestimmten Gedanken<strong>in</strong>halt und e<strong>in</strong> Wort ist der Name e<strong>in</strong>es<strong>Begriff</strong>s. Überliefert werden <strong>in</strong> der Sprache <strong>die</strong> Worte und so auch das Wort<strong>Toleranz</strong>. Aber der damit verbundene Gedanken<strong>in</strong>halt kann sich im Laufevon Generationen erheblich verändern.Nun f<strong>in</strong>det sich unterhalb der Vielfältigkeit der kulturellen Ersche<strong>in</strong>ungene<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches alle Ersche<strong>in</strong>ungen bee<strong>in</strong>flussendes System, das gewissermaßenden alle Verästelungen der Kultur durchpulsenden Blutkreislauf5 Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente. Frühjahr–Herbst 1881, <strong>in</strong>: Nietzsche –Werke, kritische Gesamt<strong>aus</strong>gabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazz<strong>in</strong>o Mont<strong>in</strong>ari,fünfte Abteilung, Bd. 2, Berl<strong>in</strong> 1973, S. 375.6 Vgl. Yousefi, H.R., und I. Braun: Gustav Mensch<strong>in</strong>g – Leben und Werk. E<strong>in</strong> Forschungsberichtzur <strong>Toleranz</strong>konzeption, Würzburg 2002 S. 221-329.7 Gerdsen, P.: Das Christentum und der <strong>Begriff</strong> <strong>Toleranz</strong> <strong>in</strong> ihrer <strong>Bedeutung</strong> für <strong>die</strong><strong>Gesellschaft</strong>, Professorenforum – Journal Vol. 1, No. 2, 2000.57


darstellt. Das ist das Denken der Menschen; nichts ist so charakteristisch füre<strong>in</strong>e Zeit wie <strong>die</strong> Art und Weise des Denkens. B<strong>aus</strong>te<strong>in</strong>e des Denkens s<strong>in</strong>d<strong>die</strong> <strong>Begriff</strong>e. F<strong>in</strong>den nun Veränderungen der Gedanken<strong>in</strong>halte, <strong>die</strong> h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>em bestimmten Wort stehen, statt, so bedeutet <strong>die</strong>s e<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>griff<strong>in</strong> das Denken der Menschen, <strong>die</strong> sich über das Verhältnis von Wort und<strong>Begriff</strong> nicht im Klaren s<strong>in</strong>d. Dieser Sachverhalt bildet e<strong>in</strong> weites E<strong>in</strong>fallstorfür Versuche das Denken der Menschen zu bee<strong>in</strong>flussen. 8 Untersucht man<strong>die</strong> Entwicklung des <strong>Toleranz</strong>begriffs, so erhält man e<strong>in</strong>e Ahnung davon,daß <strong>die</strong>ses E<strong>in</strong>fallstor für Bee<strong>in</strong>flussungen des Denkens nicht ungenutztgelassen wurde.Bei der Entwicklung des <strong>Toleranz</strong>begriffs lassen sich drei Phasen unterscheiden.Dabei wird deutlich, daß <strong>die</strong> Entwicklung des <strong>Toleranz</strong>begriffseng mit der Entwicklung des Christentums zusammenhängt.Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das erstmalige Auftauchen des<strong>Toleranz</strong>begriffes. <strong>Der</strong> Niedergang des Christentums bewirkte bereits e<strong>in</strong>eZersplitterung der Kultur, so daß für e<strong>in</strong> friedliches und konstruktives Mite<strong>in</strong>andere<strong>in</strong> hohes Maß an <strong>Toleranz</strong> erforderlich wurde. Daß <strong>die</strong> <strong>Toleranz</strong>zur Weisheit und höchsten Tugend wurde, geht ganz wesentlich auf dasWirken von Gotthold Ephraim Less<strong>in</strong>g zurück, der von 1729 bis 1781 lebteund als Dramatiker und Kritiker e<strong>in</strong>er der führenden Vertreter der Aufklärung<strong>in</strong>nerhalb der deutschen Literatur war. Im Jahre 1779 veröffentlichteLess<strong>in</strong>g das dramatische Gedicht ›Nathan der Weise‹, das e<strong>in</strong> leidenschaftlichesPlädoyer für Humanität und <strong>Toleranz</strong> darstellt. Innerhalb <strong>die</strong>ses Gedichteswird <strong>die</strong> ›R<strong>in</strong>gparabel‹ erzählt, <strong>die</strong> sich mit der Frage nach der wahrenReligion beschäftigt. Nach Less<strong>in</strong>g haben alle Religionen e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samenKern. Dieser Kern ist <strong>die</strong> tätige Liebe. In <strong>die</strong>ser Parabel erben dreiBrüder e<strong>in</strong>en R<strong>in</strong>g; <strong>die</strong> drei R<strong>in</strong>ge sehen alle gleich <strong>aus</strong>, aber nur e<strong>in</strong>er istecht. Die Echtheit läßt sich nicht mehr feststellen, und es stellt sich schließlichauch her<strong>aus</strong>, daß es unbedeutend ist, welcher R<strong>in</strong>g der echte ist. <strong>Der</strong>Kern der drei Religionen Christentum, Judentum und Islam ist, so sagt Less<strong>in</strong>g,tätige Liebe. Man kann <strong>in</strong> der Liebe tätig se<strong>in</strong>, egal, ob der R<strong>in</strong>g, denman trägt bzw. <strong>die</strong> Religion, an <strong>die</strong> man glaubt, echt ist oder nicht. Manbraucht ihn dazu nicht. Dieses Bild von den drei R<strong>in</strong>gen hat viele Zuschauerund Leser bis heute überzeugt. Gotthold Ephraim Less<strong>in</strong>g ist durch <strong>die</strong>R<strong>in</strong>gparabel gewissermaßen der ›Hohepriester‹ des <strong>Toleranz</strong>gedankensgeworden.Das Wirken Less<strong>in</strong>gs für <strong>die</strong> <strong>Toleranz</strong> als hoher Tugend läßt sich jedochkritisch beleuchten. Bilder haben meistens e<strong>in</strong>e große Suggestivkraft undnehmen e<strong>in</strong>en Teil der Antwort vorweg. Das gilt auch von Less<strong>in</strong>gs Bild vonden R<strong>in</strong>gen. Hätte er statt dessen z.B. das Bild e<strong>in</strong>es Seils gewählt, dann8 Gerdsen, P.: Die Gefährdung des Christentums durch e<strong>in</strong>en umgedeuteten <strong>Toleranz</strong>begriff,Professorenforum – Journal Vol. 2, No. 4, 2001.58


würden sich ganz andere Schlußfolgerungen ergeben. Nimmt man e<strong>in</strong>malan, drei Leute wollen e<strong>in</strong>en Berg besteigen und brauchen dazu e<strong>in</strong> Seil. Siehaben drei Seile zur Auswahl, aber nur e<strong>in</strong>s ist e<strong>in</strong> echtes, strapazierfähigesKletterseil. Von der Frage, welches Seil das echte, tragfähige ist, hängt beimBergsteiger das Leben ab. So wie Less<strong>in</strong>g kann man mit der Wahrheitsfrageim religiösen Bereich nur umgehen, wenn man glaubt, daß nichts davonabhängt. Dann kann man auch sagen: Egal, welcher R<strong>in</strong>g der richtige ist, ichb<strong>in</strong> tätig <strong>in</strong> der Liebe; das ist es ja, worauf es ankommt, und da ist <strong>die</strong> Fragenach dem R<strong>in</strong>g oder der wahren Religion eigentlich unwesentlich. Wennman aber das Beispiel des Seils wählen würde, dann wüßte man: Von derrichtigen Wahl hängt alles ab. 9Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch e<strong>in</strong>e neue christliche Prägungdes <strong>Toleranz</strong>begriffes: Während der Aufklärungsströmung gab es unbee<strong>in</strong>drucktvon dem allgeme<strong>in</strong>en Niedergang des Christentum immer noch auchStrömungen gelebter tiefer christlicher Frömmigkeit. Diese Strömungengaben dem <strong>Toleranz</strong>begriff e<strong>in</strong>en christlich geprägten Inhalt. H<strong>in</strong>tergrund<strong>die</strong>ser christlichen Prägung war unter anderem der 12. Vers des 15. Kapitelsdes Johannes-Evangeliums: »Dies ist me<strong>in</strong> Gebot, daß ihr e<strong>in</strong>ander liebet,wie ich euch geliebt habe.« Aber auch der 13. Vers des 3. Kapitels des Briefesan <strong>die</strong> Kolosser: »Ertraget e<strong>in</strong>ander und vergebt euch gegenseitig, wenne<strong>in</strong>er Klage gegen den anderen hat; wie auch der Herr euch vergeben hat, soauch ihr.« bewirkte <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>e christliche Prägung des <strong>Toleranz</strong>begriffes.Damit bedeutet <strong>Toleranz</strong>, andere Menschen als Geschöpfe Gotteszu akzeptieren, ungeachtet ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihres Glaubensbekenntnissesoder ihres Geschlechtes. Weiter bedeutet <strong>die</strong> <strong>Toleranz</strong>, andereSichtweisen, Kulturen und H<strong>in</strong>tergründe anzuhören und zu respektieren.Das Christentum vermittelt e<strong>in</strong>en absoluten Maßstab. Und auf Grund dessenschätzt, respektiert und akzeptiert <strong>die</strong> christlich geprägte <strong>Toleranz</strong> e<strong>in</strong>enMenschen, aber und das ist sehr entscheidend, ohne notwendigerweise se<strong>in</strong>enGlauben, se<strong>in</strong>e Weltanschauung oder se<strong>in</strong> Verhalten gutzuheißen oderdaran teilzuhaben. 10Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch e<strong>in</strong>e gefährliche Umdeutungdes <strong>Toleranz</strong>begriffs. <strong>Der</strong> christlich geprägte <strong>Toleranz</strong>begriff der zweitenPhase war bis weit <strong>in</strong> das 20. Jahrhundert h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> wirksam. Aber das immerweiter fortschreitende Ause<strong>in</strong>anderklaffen zwischen der Verstandeskulturder Aufklärung und dem Niedergang des Christentums bewirkte <strong>in</strong> der 2.Hälfte des vergangenen Jahrhunderts e<strong>in</strong>en Umschlag <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Anti-Chris-9 Spieß, J.: Aus gutem Grund, Brockh<strong>aus</strong>, Wuppertal 1998.10 Mayer, R.: Intolerante <strong>Toleranz</strong>, Institut für Glaube und Wissenschaft.59


tentum 11 und damit e<strong>in</strong>e völlige Umdeutung des <strong>Toleranz</strong>begriffs. Dieserneue <strong>Toleranz</strong>begriff ist im wesentlichen durch 2 Grundsätze 12 geprägt:1. Es gibt ke<strong>in</strong>en Unterschied zwischen der Person und ihrem Denken undHandeln sowie ihrem Glauben, ihrer Weltanschauung und ihrer Lebensweise;denn <strong>die</strong>se begründen ihre Identität. Damit bedeutet <strong>die</strong> neue <strong>Toleranz</strong>gegenüber e<strong>in</strong>er Person nicht nur ihren Glauben, ihre Weltanschauung undihre Lebensweise zu respektieren, sondern auch <strong>die</strong>sem zuzustimmen undes aufrichtig unterstützen.2. Alle Glaubensauffassungen, Weltanschauungen und Lebensweisen s<strong>in</strong>dgleichwertig und gleich wahr, weil alle Menschen gleich an Wert s<strong>in</strong>d. Esgibt ke<strong>in</strong>e absolute Wahrheit.Diese beiden Grundsätze stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fundamentalen Gegensatz zumChristentum. In christlicher Vorstellung ist der Mensch e<strong>in</strong> im Bilde Gottesgeschaffenes Geschöpf. Als Geschöpf Gottes hat der Mensch se<strong>in</strong>e Würdeund ver<strong>die</strong>nt <strong>die</strong> Achtung se<strong>in</strong>er Mitmenschen. Aber durch se<strong>in</strong> Denkenund Handeln kann sich der Mensch von Gott abwenden. Daher muß zwischender Person und ihrem Denken und Handeln sowie ihrem Glauben,ihrer Weltanschauung und ihrer Lebensweise streng unterschieden werden;denn Denken, Handeln, Weltanschauung und Lebensweise kennzeichnennicht den von Gott geliebten Menschen, sondern den Grad se<strong>in</strong>er Abwendungvon Gott. Alle Menschen s<strong>in</strong>d für Gott gleich wertvoll und werdenvon Gott <strong>in</strong> gleicher Weise geliebt, unabhängig davon wieweit sie sich durchihr Denken und Handeln von Gott abgewendet haben. Daß Recht und Unrecht,Wahrheit und Moral absolut und unveränderlich und daß sie von Gottbestimmt und den Menschen mitgeteilt worden s<strong>in</strong>d, bildet bis heute <strong>die</strong>Grundlage der abendländisch-christlichen Kultur. 13 Wer nicht an e<strong>in</strong>e absoluteWahrheit glaubt, verliert se<strong>in</strong>en moralischen Kompaß und se<strong>in</strong>e Fähigkeitzwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.In e<strong>in</strong>er <strong>Gesellschaft</strong>, <strong>die</strong> alle Werte, Glaubensauffassungen, Lebensweisenund Wahrheitsansprüche als <strong>in</strong> gleichem Maße gültig betrachtet, kann esnur e<strong>in</strong>e universale Tugend geben: <strong>die</strong> <strong>Toleranz</strong> nach ihrer Umdeutung.Und wenn <strong>die</strong>se <strong>Toleranz</strong> <strong>die</strong> Kard<strong>in</strong>altugend ist, <strong>die</strong> alle<strong>in</strong>ige und absolute,dann kann es nur e<strong>in</strong> Laster geben, nämlich <strong>die</strong> Intoleranz. Damit bedeutete<strong>in</strong> tugendhafter Bürger zu se<strong>in</strong>, alles zu tolerieren außer der Intoleranz.Jeder Mensch, der an e<strong>in</strong>e absolute Wahrheit glaubt, ist per def<strong>in</strong>itionem derIntoleranz schuldig. Wenn im 6. Vers des 14. Kapitels des Johannes – EvangeliumsJesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, sagt: »Ich b<strong>in</strong> derWeg und <strong>die</strong> Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur11 Gerdsen, P.: Im Zeichen des zweischneidigen Schwertes – Analyse und Deutung desdeutschen Zeitgeistes, Hamburg 2000.12 McDowell, J.; Hostetler, B.: Die neue <strong>Toleranz</strong>, Christliche Literatur-Verbreitung1999.13 Spieß, J.: Wahrheit und <strong>Toleranz</strong>, Institut für Glaube und Wissenschaft.60


durch mich«, dann wird <strong>die</strong>s im S<strong>in</strong>ne des neuen <strong>Toleranz</strong>begriffs als ungeheuerlicheForm der Intoleranz begriffen. Die Verfechter des umgedeuteten<strong>Toleranz</strong>begriffs werden dem Christentum und vermutlich jeder anderenReligion auch <strong>in</strong> unversöhnlicher Fe<strong>in</strong>dschaft gegenüberstehen.Um nun <strong>die</strong> antichristliche Prägung des Zeitgeistes <strong>in</strong> den Blick zu bekommen,soll <strong>in</strong> wenigen Sätzen der Kern des Christentums <strong>in</strong> etwas akzentuierterWeise dargestellt werden. Das Christentum ist e<strong>in</strong>e Religion derLiebe, der Stärke und der Freiheit sowie auch e<strong>in</strong>e Religion der Auferstehungund des Ich, das durch den Glauben soweit gestärkt wird, daß es denTod überdauert. Besonders <strong>die</strong> Auferstehung ist es, <strong>die</strong> das Christentum vonallen anderen Religionen unterscheidet und auch gegenüber allen anderenReligionen hervorhebt.Für den Zeitgeist ist das Christentum natürlich weiterh<strong>in</strong> existent; aber erhat es um<strong>in</strong>terpretiert <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sozialreligion. Die ganze Heilige Schrift wirdreduziert auf <strong>die</strong> Bergpredigt; Christse<strong>in</strong> wird reduziert auf friedfertigesund soziales Handeln. Hierzu sagt Alexander Solschenyz<strong>in</strong>: »Wenn es tatsächlichwahr wäre, daß – wie der Humanismus propagiert hat – derMensch nur für das Glück geboren wäre, so wäre er nicht auch geboren fürden Tod. Aber eben <strong>aus</strong> der Tatsache, daß er körperlich dem Tod bestimmtist, ergibt se<strong>in</strong>e Aufgabe hier auf Erden als e<strong>in</strong>e geistige.« Aber solcheAspekte unterdrückt der Zeitgeist; Freiheit, Auferstehung und das Ich verschw<strong>in</strong>den<strong>aus</strong> dem Blickfeld. Das Christentum wird unter dem Zeitgeist zue<strong>in</strong>er Religion der Ichlosigkeit. Natürlich geht es hier nicht um das niedereIch, das Ego, das unter der Knechtschaft der Bedürfnisnatur des Menschensteht, sondern um das höhere Ich, das im Geist des Menschen <strong>in</strong> der Sphäreder Wahrheit und der Freiheit lebt.Jede Zeit wird beherrscht von e<strong>in</strong>em Zeitgeist, dem Geist also, der <strong>die</strong>Grundansichten und Lebensorientierungen der Menschen e<strong>in</strong>er Zeit und <strong>die</strong>Auswirkungen <strong>in</strong> der <strong>Gesellschaft</strong> prägt. <strong>Der</strong> gegenwärtige Zeitgeist hat e<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zunehmendem Maße antichristliche Ausrichtung. Welche <strong>Bedeutung</strong> hatdas für Staat und <strong>Gesellschaft</strong> <strong>in</strong> der Gegenwart? Im Grundgesetz der BundesrepublikDeutschland heißt es <strong>in</strong> Artikel 3, der <strong>die</strong> Gleichheit vor demGesetz behandelt, im Absatz 3: »Niemand darf wegen se<strong>in</strong>es Geschlechtes,se<strong>in</strong>er Abstammung, se<strong>in</strong>er Rasse, se<strong>in</strong>er Sprache, se<strong>in</strong>er Heimat und Herkunft,se<strong>in</strong>es Glaubens, se<strong>in</strong>er religiösen und politischen Anschauungenbenachteiligt oder bevorzugt werden.« Ergänzend dazu sagt der Artikel 4, <strong>in</strong>dem es um <strong>die</strong> Glaubens- und Bekenntnisfreiheit geht, im Absatz 1: »DieFreiheit des Glaubens, des Gewissens und <strong>die</strong> Freiheit des religiösen undweltanschaulichen Bekenntnisses s<strong>in</strong>d unverletzlich.« und im Absatz 2: »Dieungestörte Religions<strong>aus</strong>übung wird gewährleistet.«Wie müssen <strong>die</strong>se Sätze <strong>aus</strong> der Verfassung, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Deutschland dasGrundgesetz genannt wird, <strong>in</strong>terpretiert werden? Hier muß man sich <strong>in</strong>Er<strong>in</strong>nerung rufen, daß <strong>die</strong> politische Ordnung e<strong>in</strong>es Landes auf dem Boden61


se<strong>in</strong>er Kultur errichtet wird und daß das Fundament der Kultur <strong>die</strong> Religione<strong>in</strong>es Volkes ist. Auf dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Religion und Kulturs<strong>in</strong>d <strong>die</strong> erwähnten Formulierungen des Grundgesetzes s<strong>in</strong>nvoll; siebedeuten, daß von außen here<strong>in</strong>kommende M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> ihrem Andersse<strong>in</strong>geachtet und respektiert werden. Die Religion <strong>in</strong> Deutschland ist dasChristentum und nur auf dem Boden des Christentums f<strong>in</strong>den Gesetzestexteihre richtige Interpretation.Nun f<strong>in</strong>det aber gewissermaßen als Kehrseite der historischen Aufklärungsströmunge<strong>in</strong>e fortschreitende Entchristlichung der <strong>Gesellschaft</strong> statt.Dabei bedeutet Entchristlichung, daß das Christentum aufhört, e<strong>in</strong>e ernstzunehmendeKraft bei der Bildung des öffentlichen, kulturellen und gesellschaftlichenBewußtse<strong>in</strong>s unseres Volkes zu se<strong>in</strong>. Kennt aber nun jemandden Zusammenhang zwischen Christentum, deutscher Kultur und politischerOrdnung nicht oder will er <strong>die</strong>sen Zusammenhang nicht wahrhaben,dann gelangt er zu e<strong>in</strong>er anderen Interpretation der obigen Formulierungendes Grundgesetzes. Danach würde der Staat Angehörige verschiedener Kulturen,verschiedener Religionen und verschiedener politischer Ausrichtungen<strong>in</strong> sich vere<strong>in</strong>en wollen. Danach verstünde sich der Staat als oberhalbvon Kulturen und Religionen stehend; alles wird durch das Pr<strong>in</strong>zip der <strong>Toleranz</strong>zusammengebunden. E<strong>in</strong>e Vielfalt von Religionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Landbedeutet immer auch gleichzeitig e<strong>in</strong>e Vielfalt von Kulturen. Man hat danne<strong>in</strong>e multikulturelle <strong>Gesellschaft</strong>. Kann es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Land e<strong>in</strong> friedlichesund konstruktives Mite<strong>in</strong>ander unter den Menschen geben, wobei jeder<strong>die</strong> Möglichkeit hat, se<strong>in</strong> eigenes Tun s<strong>in</strong>nvoll mit dem Tun anderer zu verb<strong>in</strong>den?Global gesehen hat es unter den Völkern nie etwas anderes gegebenals Multikultur. Und wo verschiedene Kulturen ane<strong>in</strong>andergrenzten, kam esimmer leicht zu kriegerischen Ause<strong>in</strong>andersetzungen. Die westliche Weltpropagiert e<strong>in</strong> pluralistisches <strong>Gesellschaft</strong>skonzept, das <strong>in</strong> manchen Staatenauf Grund e<strong>in</strong>er unkontrollierten E<strong>in</strong>wanderung zu e<strong>in</strong>er multikulturellen<strong>Gesellschaft</strong> geführt hat. Warum kann regional friedlich nebene<strong>in</strong>ander existieren,was global immer zu kriegerischen Ause<strong>in</strong>andersetzungen geführthat?Wenn nun der Staat sagt, <strong>die</strong>s alles brauche ihn nicht zu berühren, er seiüberkulturell und überreligiös, so ist <strong>die</strong>s wohl e<strong>in</strong>e gefährliche Täuschung.Man könnte fragen, was denn der Staat mit dem Christentum zu tun habe;schließlich sei es doch Sache der Bürger, welcher Religion sie sich anschließen.Leicht läßt sich zeigen, daß <strong>die</strong>s zu oberflächlich gedacht ist. Die Geschichtezeigt, daß <strong>die</strong> Deutschen von ihrer Herkunft her vom Christentumganz wesentlich geprägt worden s<strong>in</strong>d. Deutsch und christlich läßt sich nichtmehr ohne weiteres trennen. Deutschse<strong>in</strong> läßt sich – jedenfalls <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ursprünglichen<strong>Bedeutung</strong> – nicht denken ohne das Christentum. Denkt man<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang an den Versuch der Nationalsozialisten, <strong>die</strong>Deutschen von ihren christlichen Wurzeln abzuschneiden, so hat man vor62


Augen, welche entsetzlichen Folgen <strong>die</strong>s haben kann. Bezeichnenderweiseenthält das deutsche Wort ›Ich‹ <strong>die</strong> Anfangsbuchstaben von ›Jesus Christus.‹Was bedeutet es für <strong>die</strong> christlichen Bürger <strong>die</strong>ses Landes, wenn <strong>in</strong> zunehmendenMaße von fremden Religionen geprägte Bereiche entstehen?Hierzu muß e<strong>in</strong> Blick auf e<strong>in</strong>en Sachverhalt geworfen werden, der <strong>in</strong> dasZentrum der menschlichen Existenz führt. Die Mitte e<strong>in</strong>er Person ist ihreIndividualität, das geistige Wesen, das vor der Geburt bereits existierte undnach dem Tode weiter existieren wird. Individualität bedeutet das Unteilbare,das Unverwechselbare, das E<strong>in</strong>malige, das wodurch sich e<strong>in</strong>e Individualitätvon allen anderen unterscheidet. In <strong>die</strong>sem Unverwechselbaren ist e<strong>in</strong>ePerson nur mit sich selbst identisch. Während des Lebens prägt nun e<strong>in</strong>eIndividualität ihr Wesen der sie umgebenden Welt e<strong>in</strong>. Fragt nun e<strong>in</strong>e Person›Wer b<strong>in</strong> ich?‹, dann kann sie <strong>in</strong> <strong>die</strong> Umwelt blicken und sagen ›Das b<strong>in</strong>ich!‹. So empf<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Person <strong>die</strong> sie umgebende Welt als ihre Heimat. DieBürger e<strong>in</strong>es Landes, das zunehmend multireligiöser wird, werden sich aber<strong>in</strong> ihrem eigenen Lande mehr und mehr als Fremde fühlen, weil <strong>die</strong> Welt, <strong>in</strong>der sie leben, Prägungen fremder Religionen erhält. Pluralismus als Zersplitterunge<strong>in</strong>er von e<strong>in</strong>er ehemals e<strong>in</strong>heitlichen Religion geprägten <strong>Gesellschaft</strong>macht <strong>die</strong> Bildung christlicher Geme<strong>in</strong>den sehr schwer, wenn nicht gar ganzunmöglich. Verwirklichen kann sich christlicher Glaube nur <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaftvon Christen; als persönliche Angelegenheit behandelt bleibt christlicherGlaube sehr leicht kraftlos. So entstehen als Folge e<strong>in</strong>er beg<strong>in</strong>nendenEntchristlichung im Lande Verhältnisse, <strong>die</strong> den verbliebenen christlichenBereichen den Boden entziehen.In <strong>die</strong> Vorstellungswelt des neuen umgedeuteten <strong>Toleranz</strong>begriffs gehörtauch der <strong>Begriff</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung. Wenn e<strong>in</strong> Christ zwar Personen mit homosexuellerOrientierung als Menschen akzeptiert, aber Homosexualitätund homosexuelle Lebenspartnerschaften als Verirrung grundsätzlich ablehnt,dann werden <strong>die</strong> Protagonisten des neuen <strong>Toleranz</strong>begriffs hier<strong>in</strong> e<strong>in</strong>eextreme Form der Intoleranz und e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung der Homosexuellensehen. Was bedeutet der <strong>Begriff</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung? Zunächst e<strong>in</strong>e benachteiligendeBehandlung e<strong>in</strong>er Gruppe oder e<strong>in</strong>es Individuums. Innerhalb e<strong>in</strong>erGruppe kann e<strong>in</strong>e Benachteiligung wohl nur dann vermieden werden, wennalle Mitglieder der Gruppe exakt gleich behandelt werden. Bei jeder Formvon Ungleichbehandlung wird sehr schnell e<strong>in</strong> Benachteiligungsverdachtentstehen. Damit ist gezeigt, daß h<strong>in</strong>ter dem <strong>Begriff</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>die</strong>Vorstellung von der Gleichheit und von der Gleichberechtigung aller Denkformen,Handlungen, Weltanschauungen sowie Lebensorientierungen steht.Neben der Intoleranz ist <strong>die</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung der am meisten negativ besetzte<strong>Begriff</strong> der Gegenwart, gen<strong>aus</strong>o wie sich <strong>die</strong> neue <strong>Toleranz</strong> zu demam meisten positiv besetzten <strong>Begriff</strong> entwickelt hat. Dies hat sogar dazugeführt, daß der Diskrim<strong>in</strong>ierung e<strong>in</strong> besonderer Artikel der Charta derEuropäischen Grundrechte gewidmet wurde. Daß niemand diskrim<strong>in</strong>iert63


wird, soll Verfassungsrang haben. Im Absatz 1 des Artikels 21 <strong>die</strong>ser Chartamit der Überschrift »Nichtdiskrim<strong>in</strong>ierung« heißt es: »Diskrim<strong>in</strong>ierungen<strong>in</strong>sbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischenoder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, derReligion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung,der Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er nationalen M<strong>in</strong>derheit, des Vermögens,der Geburt, e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong>derung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtungs<strong>in</strong>d verboten.« Diesem Artikel liegt ganz e<strong>in</strong>deutig der umgedeutete<strong>Toleranz</strong>begriff und damit <strong>die</strong> grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Lebensorientierungenzugrunde; der Boden des Christentums wurde <strong>in</strong> der Chartader Europäischen Union verlassen.In Deutschland wird <strong>in</strong> weiten Kreisen e<strong>in</strong>e multikulturelle <strong>Gesellschaft</strong>propagiert. Man versteht darunter das friedliche und gleichberechtigte Zusammenlebenvon Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft undverspricht sich davon e<strong>in</strong>e kulturelle Bereicherung des Lebens durch <strong>die</strong>Vielzahl fremder E<strong>in</strong>flüsse. Allerd<strong>in</strong>gs wird dabei vergessen oder verdrängt,daß Kulturen sich immer auf dem Boden e<strong>in</strong>er Religion entwickeln und daßviele Kulturen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land auch viele verschiedene Religionen bedeuten.Wenn nun <strong>die</strong>se Religionen <strong>in</strong> ihrem Gottes-, Menschen- und Weltverständnissehr verschieden s<strong>in</strong>d oder gar im Gegensatz zue<strong>in</strong>ander stehen, dannkönnen auch <strong>die</strong> darauf aufbauenden Kulturen nicht mite<strong>in</strong>ander harmonieren.Das Problem e<strong>in</strong>er multikulturellen <strong>Gesellschaft</strong> ist also überhaupt nicht<strong>die</strong> unterschiedliche ethnische Herkunft, sondern es ist das Nebene<strong>in</strong>anderder verschiedenen Religionen. An <strong>die</strong>ser Stelle propagieren <strong>die</strong> Verfechterder multikulturellen <strong>Gesellschaft</strong> <strong>in</strong> der Regel den ›<strong>in</strong>terreligiösen Dialog.‹Diese Verhältnisse br<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> Religionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Situation, <strong>in</strong> der sie entwederverwässert und umgedeutet oder aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Phase der Selbstbestimmungsich ihrer selbst bewußt werden, <strong>in</strong>dem sie ihren Blick auf daslenken, was sie von den anderen unterscheidet und was sie besonders <strong>aus</strong>zeichnet.Somit ist also zu fragen, welches Ziel der ›<strong>in</strong>terreligiöse Dialog‹haben soll. Verfolgt man <strong>die</strong>se Gedankengänge weiter, so erkennt man <strong>die</strong>›multikulturelle <strong>Gesellschaft</strong>‹ als e<strong>in</strong>e Utopie.Literaturangabe:Gerdsen, Peter: <strong>Der</strong> <strong>Begriff</strong> <strong>Toleranz</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>Bedeutung</strong> für <strong>die</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>aus</strong>christlicher Sicht, <strong>in</strong>: Interkulturelle Orientierung, Teil I: Methoden und Konzeptionen,hrsg. v. Hamid Reza Yousefi und Kl<strong>aus</strong> Fischer, Nordh<strong>aus</strong>enBautz (55-64).64

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