16.09.2015 Aufrufe

Der andere Blick

  • Keine Tags gefunden...

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Grafenauer<br />

Eisenbahnlied<br />

max niedermaier<br />

und dackel willi<br />

Eisenbahnunglück<br />

in Rosenau 1890<br />

bis wann? – bis vorgestern –<br />

wenn möglich! vom alltag, der dem<br />

tempo der zeit hinterher<br />

hinkt<br />

Schnell – und, wenn‘s irgendwie geht – noch schneller:<br />

schneller reden, schneller denken, schneller arbeiten,<br />

schneller essen – und schneller schlafen, wenn es bitte<br />

möglich wäre! Mit „Ruhe“ und „Bedacht“ an den Alltag<br />

heran gehen? Da ist “Zeitverlust“ schon vorprogrammiert.<br />

Die Menschen auf den Parkplätzen, zum Beispiel,<br />

vor oder in den Supermärkten, an Bahnhöfen, die gehen<br />

nicht, die hetzen. Ihr <strong>Blick</strong> ist eingerichtet, starr, geradeaus.<br />

Wer sich nicht genau in dieser Sichtlinie befindet,<br />

wird übersehen. Jeder Rempler von irgendwoher bremst<br />

und stört den angesetzten Spurt. Zu allem Verdruss<br />

klingelt in diese Situation das Smartphone hinein – eine<br />

Nachricht, eine wichtige Nachricht - die wichtigste Nachricht<br />

der Welt – wahrscheinlich! Sogar hier bleibt dem<br />

Menschen nichts <strong>andere</strong>s übrig als hinterher zu hetzen.<br />

Nur – der Geschwindigkeit einer Nachricht kann er nicht<br />

folgen. Nachrichten brauchen keine Zeit, sobald es sie<br />

gibt, sind sie auch schon da – überall auf der Welt.<br />

E-Mail, SMS oder Whatsapp – und wehe, wenn man nicht<br />

schnell genug reagiert!<br />

Kurzer <strong>Blick</strong> zurück – wir schreiben das Jahr 1890.<br />

Da ist es passiert: Die „Zeit“ hat sich in „Geschwindigkeit“<br />

verwandelt, auch in unserem Landkreis – von<br />

einem Tag auf den andern: der Zug ist entgleist. Seit gerade<br />

mal zwei Tagen läuft der Bahnbetrieb von Zwiesel<br />

nach Grafenau, schon fällt die Lok mit drei Waggons aus<br />

den Schienen, ganz in der Nähe der Ortschaft Rosenau.<br />

Ein Spektakel, ganz klar - gottseidank ohne Verletzte.<br />

Die „schnelle“ Verbindung von und zur „Welt“ erhält<br />

einen empfindlichen Dämpfer, die Zweifler an dem<br />

technisch modernen „Zeug“ fühlen sich bestätigt. Wer<br />

weiß, vielleicht waren ihre Bedenken sogar berechtigt.<br />

Es ist bis heute sicherlich nirgends, weder in den weiten<br />

Wäldern, noch in den beschaulichen Dörfern irgendwo<br />

irgendetwas langsamer geworden. Oder vielleicht doch?<br />

Na ja, unsere betagte und unglücklich gestartete Waldbahn<br />

schlängelt sich – aus heutiger Sicht – entspannt<br />

und ruhig durch die Landschaft – sie hat das ICE-Tempo<br />

nicht übernommen. Mittlerweile ist sie zum Vorzeigeprojekt<br />

für „Entschleunigung“ geworden.<br />

Gut, dass in der entgegengesetzten Richtung die Ilztalbahn<br />

es ihr gleich tut. Seit 2011 ist sie wieder „auf<br />

Fahrt“. Nach großartig geleisteter Vorarbeit engagierter<br />

Menschen geleitet sie die Passagiere von Passau durch<br />

das landschaftlich beeindruckende Ilztal über Waldkirchen<br />

bis nach Freyung.<br />

<strong>Der</strong> Geschwindigkeit Grenzen zu setzen ist beinahe<br />

ein Ding der Unmöglichkeit. Überall versucht sie sich<br />

einzunisten. „Infos“ werden in Kürzeln weitergegeben,<br />

um nicht beim Schreiben auch noch „Zeit zu verschwenden“.<br />

Im selben Maße legt in hektischen Situationen die<br />

Sprache an Tempo zu. Halbsätze, Wortfetzen, floskelhafte<br />

Redewendungen sind die Folgen einer stressigen<br />

Umgebung. Missverständnisse und misslungene Kommunikation<br />

sind die Folge.<br />

Auf dem Bauernhof vielleicht? Da könnte es noch<br />

anders sein! Die Ranzinger-Bäuerin lacht nur: „Mit<br />

da Hand melka? Des toa ma scha lang nimma!“ Selbst<br />

die Melkmaschine hat ausgedient – Roboter oder das<br />

„Melkkarussell“ übernehmen die Arbeit. Holz wird<br />

nicht vom Pferd, sondern von der Seilwinde gezogen,<br />

der Mähdrescher erledigt sämtliche Arbeitsgänge auf<br />

einmal, der Ladewagen ersetzt die Dienstboten. Alles<br />

funktioniert schneller, zig-fach schneller als früher – das<br />

heißt, “Zeit“ kann eingespart werden, „Zeit“ kann übrig<br />

bleiben. „Von wegen!“ <strong>Der</strong> Eder-Bauer fährt dazwischen:<br />

„Irgendwie muss man den Preisverfall ja ausgleichen!<br />

Deshalb brauchen wir mehr ‘Fläche‘! Deshalb müssen<br />

wir die Produktion steigern!“ Aha – also wieder nichts<br />

mit „Zeit einsparen“.<br />

Wer jetzt meint, zu Hause sei das alles ganz anders, der<br />

macht sich selbst was vor: gefrühstückt wird im Stehen,<br />

„Coffee to go“, „Müsli to go“ sind „in“, gegessen wird<br />

aus der Hand – alles nur noch „so nebenbei“.<br />

An Max Niedermeier, dem Grafenauer 1. Bürgermeister,<br />

scheint alles, was mit „Hasten“, „Übereilen“ oder<br />

„Überstürzen“ zu tun hat, erfolgreich abzuprallen. Man<br />

könnte fast meinen, die Einteilung der Zeit habe er mit<br />

seinem Dackel Willi abgesprochen. <strong>Der</strong> lässt sich von<br />

der Zeit schon überhaupt nicht „gängeln“. Dafür fordert<br />

er mit Vehemenz seinen Stammplatz auf der 40jährigen<br />

750er BMW. Wenn sich sein „Herrchen“ damit im Morgengrauen<br />

auf die tägliche Erkundungstour begibt, dann<br />

passt er auf, dass dies in „gedrosseltem“ Tempo vor sich<br />

geht, um bei „gemächlicher“ Fahrt und vor Einbruch der<br />

Tageshektik die Fortschritte der Stadtumbaumaßnahmen<br />

zu begutachten. „Gemächlich“ – wie gesagt – und das<br />

mag für einen Bürgermeister in der heutigen Zeit schon<br />

etwas heißen: Entscheidungen wachsen lassen aus der<br />

Ruhe und Gelassenheit.<br />

Na also, es geht auch anders. <strong>Der</strong> „Dreifaltigkeitsweg“<br />

um die Wallfahrtskapelle Brudersbrunn südlich von Grafenau,<br />

zum Beispiel, oder „VIA NOVA“, das sind Projekte,<br />

die der „hastenden Zeit“ Einhalt gebieten, die dem<br />

Alltag die Geschwindigkeit bewusst entziehen. Die landkreisinternen<br />

Abschnitte dieses europäischen Pilgerweges<br />

um Saldenburg, Perlesreut, Hohenau, Fürsteneck,<br />

Ringelai, Freyung und Mauth gewähren Kultur, Geschichte<br />

und Landschaft in überreichem Maße. Da wird das<br />

Denken umgeleitet und Begriffe wie Ruhe, Achtsamkeit,<br />

Ehrfurcht, Offenheit oder Gastfreundschaft gewinnen<br />

wieder an Bedeutung. Wanderwege, Freizeiteinrichtungen,<br />

Parks werden geschaffen. Das Hotelgewerbe lockt<br />

mit Wellnessangeboten, in der Städteplanung spielt das<br />

Anlegen von Ruhezonen eine zunehmend wichtige Rolle.<br />

Immer mehr Menschen gönnen sich „Auszeiten“ in der<br />

Abgeschiedenheit der Natur oder in Klöstern, Yoga- und<br />

Meditationsangebote finden steigenden Zulauf.<br />

So betrachtet kann es sogar eine Verkehrsampel sein,<br />

die mit ihrem Umschalten auf „Rot“ den Fußgänger wie<br />

den Autofahrer herabbremst und zur Ruhe geradezu<br />

nötigt:<br />

108 109<br />

ampel<br />

das rote auge<br />

gebietet einhalt<br />

für momente<br />

das rote auge<br />

gewährt<br />

grünes licht<br />

vorfahrt<br />

für dich selbst

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!