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RS-Reisen Rainer Söhnchen - Freie Waldorfschule Oberberg

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10 | 2007<br />

Cristal<br />

Neues denken<br />

Erziehung: Über die Liebe …<br />

Der Rubikon: Zu wenig beachtet!<br />

Oberstufe: Neuer Gestaltungsraum in Sicht<br />

Verwandlung: In der Mitte der Kindheit<br />

marcstein<br />

Bjøerneboe: Der Mensch ist unsichtbar<br />

Blankertz: Der Morgenspruch als Weckruf<br />

Originalia: Das Wesen des Menschen<br />

Diskussion: Kampf um Atlantis


Inhalt<br />

Editorial<br />

Der Verwandlungsprozess in der Mitte der Kindheit 2<br />

Ute Indiestel<br />

Zu wenig beachtet: der Rubikon! 6<br />

Peter Schamberger<br />

Die Entwicklung des Kindes 11<br />

Ulrike Nolte<br />

Impressum 18<br />

Über die Liebe in der Erziehung 19<br />

Annette Renschler<br />

Biografiearbeit – Schauspiel – Handwerkspraktikum 24<br />

Annette Renschler<br />

Neuer Gestaltungsraum in Sicht 26<br />

Jochen Fritsch<br />

Titelbild und Bund: Aquarell von Karo Bergmann<br />

marcstein<br />

Der Mensch ist unsichtbar m1<br />

Von Jens Ingvald Bjøerneboe<br />

»Werdet endlich wach!« m4<br />

Von Rüdiger Blankertz<br />

»Da haben Sie auch was für die Pause« m7<br />

Von Inger Hermann<br />

Kampf um Atlantis. Ein Weckruf. m8<br />

Von Jens Göken<br />

Das Wesen des Menschen m12<br />

Von Rudolf Steiner<br />

Denkanregungen m15


Editorial<br />

Fragen öffnen Welten<br />

seit fast sechs Jahren geben wir Ihnen in Cristal<br />

einen Einblick in das Schulleben der <strong>Freie</strong>n <strong>Waldorfschule</strong><br />

<strong>Oberberg</strong>. Nicht nur pädagogische, auch<br />

ökologische, kulturelle und spirituelle Fragen sprachen<br />

eine breite Öffentlichkeit an und haben sie<br />

und uns bewegt.<br />

Unser Anliegen, mit Menschen in- und außerhalb<br />

der Waldorfkommunität Kontakt aufzunehmen und<br />

miteinander ins Gespräch zu kommen, ist gelungen.<br />

Unser Jubiläumsheft – Cristal No. 10 – informiert<br />

Sie über die einzelnen Jahrgangsstufen unserer<br />

Schule. Ein näherer Blick auf diese Beiträge lohnt<br />

sich: Wer die Waldorfpädagogik schon ein wenig<br />

kennengelernt hat, wird dort in die Tiefe gehende<br />

Hinweise finden, worauf es ihr ankommt: Jedes Kind<br />

steht entsprechend seinem Alter an einer ganz<br />

bestimmten Stufe seiner inneren Entwicklung. Das<br />

Besondere der Waldorfpädagogik besteht ja gerade<br />

darin, dass sie ihre pädagogischen Impulse genau<br />

dort ansetzt, die Kinder dort abholt, wo sie innerlich<br />

gerade stehen. Ihrem menschenkundlich interessierten<br />

Blick können sich an diesen Fragen Welten<br />

öffnen.<br />

Die staatlich anerkannten Abschlüsse bis hin zum<br />

Abitur werden jährlich an der <strong>Freie</strong>n <strong>Waldorfschule</strong><br />

<strong>Oberberg</strong> erworben. Obwohl die Waldorfschüler –<br />

nicht nur an unserer <strong>Waldorfschule</strong> – immer wieder<br />

durch hervorragende Leistungen auffallen, möchte<br />

ich eines nicht verschweigen: Manch staatliche Vorgabe<br />

zwingt uns in letzter Zeit zu einem erheblichen<br />

Spagat, da sie bedenkenswerte menschenkundliche<br />

Gesichtspunkte (siehe oben) weder kennt<br />

noch beachtet.<br />

Die Kernfrage: Wer sich für Menschenkunde interessiert,<br />

stößt bald auf eine Kernfrage. Entscheidendes<br />

hängt von dieser Frage ab, nicht zuletzt das<br />

Motiv pädagogischen Handelns: Wer und was ist<br />

eigentlich der Mensch? Der Marcstein stellt in dieser<br />

Ausgabe in und zwischen den Zeilen immer wieder<br />

diese Frage: Wer und was ist eigentlich der Mensch?<br />

Unsichtbar sei er, meint der norwegische Waldorflehrer<br />

Jens Bjøerneboe. Wie ist das vorzustellen: unsichtbar?<br />

Alles Gute beim Nachdenken! (Statt einer<br />

Reißleine, ein Literaturtipp: R. Steiner: Theosophie.<br />

GA9)<br />

Die <strong>Freie</strong> <strong>Waldorfschule</strong> <strong>Oberberg</strong> ist eine öffentliche<br />

Schule in privater Trägerschaft. Sie ist offen für<br />

Menschen aller Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse.<br />

Die Qualität unserer Pädagogik wird<br />

durch Selbstverwaltung und Mitfinanzierung der<br />

Schule aus der Initiative und Tatkraft von Eltern,<br />

Lehrern und Menschen des Umkreises ermöglicht.<br />

Haben Sie Fragen zu unserer Schule? Möchten<br />

auch Sie Ihr Kind zum Schuljahr 2008/09 bei uns<br />

anmelden? Wir freuen uns auf ein persönliches<br />

Gespräch mit Ihnen und informieren Sie gerne<br />

ausführlich.<br />

Mit herzlichen Grüßen<br />

Ihre<br />

Cristal 10 | 2007 1


Mittelstufe<br />

Der Verwandlungsprozess in der Mitte der Kindheit<br />

Von Ute Indiestel<br />

Die Mitte der Kindheit: Die Mittelstufe heißt<br />

nicht nur so, weil sie zwischen der Unter- und Oberstufe<br />

liegt: Die Kinder durchleben von der 5. bis 8.<br />

Klasse die Mitte der Kindheit und der gesamten<br />

Schulzeit. Sie stehen inmitten eines großen Verwandlungsprozesses<br />

von der an die Umgebung<br />

hingegebenen Kindheit zur aus dem eigenen<br />

Innenleben heraus weltergreifenden Jugend- und<br />

Erwachsenenzeit.<br />

2<br />

5. Klasse<br />

Harmonischer Körperbau<br />

Pflanzenkunde<br />

Deutschland – Landschaftskunde<br />

Komplexe Satzteile / Plus Fut. II<br />

Komplexe Bruchrechnungsaufgaben<br />

Römisch / Griechische Geschichte<br />

Olympische Spiele<br />

6. Klasse<br />

Glieder wachsen<br />

Wie finden mich die Anderen?<br />

Wachsende Weltdistanz<br />

Verwirrendes Gefühlsleben<br />

Gesteinskunde<br />

Sternenkunde<br />

Physik<br />

Konjunktiv – Rede<br />

Dreisatz / Potenz / Wert<br />

Chemie<br />

Ist der Schritt in der Unterstufe gelungen, dass die<br />

Kinder aus Liebe zum Lehrer in die bildhaft, seelischmoralischen<br />

Unterrichtsinhalte eintauchen konnten,<br />

so gilt es in der Mittelstufe, die Hingabe der<br />

Kinder von der liebevollen Autorität zum konkreten,<br />

eigenen Interesse und zum Anschluss der jungen<br />

Menschen an die Welt zu entwickeln.<br />

Das Wesen der Kinder im Kleinkindalter und auch<br />

noch in den ersten Jahren der Schulzeit ist in die<br />

Cristal 10 | 2007


7. Klasse Algebra<br />

Entdecker, Renaissance Ernährungslehre<br />

Perspektive 7. Klassgespräche<br />

Selbstgewähltes Referatsthema Waldpraktikum<br />

Schreibstil Reformation<br />

Umgebung ausgegossen, die Welt wird wesenhaft<br />

und ungetrennt erlebt. In der Mitte der Kindheit<br />

vollzieht sich ein Einstülpungs- oder Schnittpunkt<br />

der Kindheitslemniskate, (siehe Zeichnung) von dem<br />

aus es nun möglich wird, menschlich seelischen<br />

Innenraum zu entwickeln. Das heißt: die Qualität<br />

des empfindungsreichen Seelenraumes zu erleben,<br />

auszubilden und zu differenzieren. Von da aus kann<br />

in der Oberstufe die eigene gedankliche Urteils-<br />

8. Klasse<br />

Französische Revolution<br />

Nationalsozialismus<br />

Biographien<br />

Sexualkunde<br />

Selbstbehauptungstraining<br />

Klassenspiel<br />

Handwerkspraktikum<br />

bildung entwickelt werden, aus der heraus der<br />

erwachsene Mensch selbstbestimmt und eigeninitiativ<br />

die Welt ergreifen kann.<br />

Der rote Faden in der 5. Klasse: In der 5. Klasse<br />

leben die Kinder die letzte Phase, ja geradezu die<br />

Blüte der sich in Harmonie befindenden Kindheit<br />

aus. Ihr ganzer Körperbau ist auf zauberhafte Weise<br />

harmonisch und sie haben im besten Falle ein freu-<br />

Cristal 10 | 2007 3


dig offenes Interesse an einander und an ihrer<br />

Umgebung.<br />

Im Waldorflehrplan steht nun die Pflanzenkunde,<br />

die, anders als die Tierkunde in der 4. Klasse, in der<br />

die Kinder intensiv in die seelischen Qualitäten der<br />

Tierwelt eintauchen, schon einen eher ästhetischen<br />

und genaueren Beobachtungsprozess braucht. Es<br />

gilt Wachstumsformen und -gesetzmäßigkeiten zu<br />

entdecken und zu verstehen. In der Erdkunde wird<br />

der Schritt aus der Heimat- zur Länderkunde<br />

Deutschlands gemacht.<br />

Im Deutschunterricht werden nun die schon recht<br />

komplexen Satzteile wichtig und das bewusste<br />

Zeitenverständnis im Deutschunterricht erweitert<br />

sich in die fernere Vergangenheit und Zukunft.<br />

Die in der 4. Klasse begonnene Bruchrechnung<br />

wird komplizierter und abstrakter.<br />

Die Welt wird immer mehr zum Gegenüber. Nicht<br />

umsonst wechselt die Perspektive des Morgenspruches<br />

der Unterstufenklassen von der Freude an<br />

der Sonne: »Der Sonne liebes Licht, es hellet mir den<br />

Tag« zu einer eher betrachtenden Perspektive des<br />

5. Klass- und Mittelstufenspruches: »Ich schaue in<br />

die Welt, in der die Sonne leuchtet«.<br />

Aber auch bei dieser, in den kommenden Jahren<br />

immer größer werdenden, betrachtenden Distanz<br />

bleibt der Rückbezug auf den Menschen und seine<br />

Spiegelung in der Welt und im Kosmos, der rote<br />

Faden in den naturwissenschaftlichen Epochen der<br />

Mittelstufe.<br />

In der 6. Klasse die Welt neu verstehen: Erste<br />

Anzeichen der Pubertät werden deutlich, die Glieder<br />

wachsen, eine leichte Schwere, seelische Empfindlichkeit<br />

und Unausgeglichenheit schleicht sich ein.<br />

»Wie empfinden mich die anderen? Wie finde ich die<br />

anderen?« wird zur wichtigen Frage. Wie die Kehrseite<br />

der Medaille der wachsenden Distanz zur Welt,<br />

gebiert die Seele nun ein reges und für die Kinder<br />

meist verwirrendes Empfindungsleben, in dem es<br />

sich zurecht zu finden gilt.<br />

Das Gefühl, weiterhin in der Welt eingebettet zu<br />

sein, braucht nun eine andere, neue Art von Nahrung<br />

oder Aufmerksamkeit: Die Gesteinskunde lässt die Kinder<br />

die Wandelbarkeit, aber auch die Festigkeit der<br />

Erde verstehen. Die Sternenkunde gibt ihnen einen<br />

Zusammenhang zum Kosmos. Die erste Physikepoche<br />

lässt sie präzises Beobachten und Beschreiben, aber<br />

auch das Begreifen der äußerlichen Zusammenhänge<br />

der physischen Welt erlernen. In Deutsch erleben sie<br />

im Konjunktiv die Welt der Fiktion und der Möglichkeiten.<br />

Der Dreisatz und das Prozentrechnen schließen<br />

sie konkret an die Geld- und Wirtschaftwelt an.<br />

Die Welt wird immer verstehbarer und konkreter.<br />

In der 7. Klasse Weltinteresse entdecken und<br />

entwickeln: Schlüsselbegriffe sind das Entdeckerund<br />

Renaissancezeitalter. Die Welt entdecken- und<br />

ergreifen: Eigenständiger und reflektierter Interesse<br />

entwickeln. Wichtige Lernschritte: Erste Stellungnahmen<br />

zu selbst gewählten Themen abgeben,<br />

4<br />

Schreibstile und Textformen differenzieren und in<br />

der Mathematik sich in die Gesetze der Algebra hineinzudenken<br />

und sie damit handhaben zu können.<br />

Erste chemische und eigenkörperliche Prozesse<br />

verstehen: Ernährungslehre, Chemie.<br />

Im Waldpraktikum erleben die jungen Menschen<br />

mit allen Sinnen und ihrer Hände Arbeit den Lebensraum<br />

Wald und sich selbst als darin aktiv eingreifend,<br />

als Handlungsfähige zu verstehen.<br />

In den Siebtklassgesprächen reflektieren die Kinder<br />

sich zum ersten Mal in ihrem eigenen Lernverhalten,<br />

entdecken sich geradezu selbst. »Wer bin ich<br />

eigentlich? Wie arbeite ich? Was will ich erreichen,<br />

entwickeln? Was kann mir Hilfe sein?«<br />

Innenraum – Eigenerlebnis – Aufwachen: erste<br />

Schritte zum Erleben und Ergreifen der eigen Biographie.<br />

Die Höhepunkte der 8. Klasse: Die Pubertät ist in<br />

vollem Gange. Die Jungen schießen in die Höhe, die<br />

Gliedmaßen werden lang und schlaksig, seelisch<br />

ziehen sie sich meist innerlich immer weiter zurück,<br />

werden empfindlicher, aber äußerlich oft immer<br />

lauter und »großspuriger«. Die Mädchen entwickeln<br />

ausgeprägte weibliche Formen, werden immer stärker<br />

und offensiver, aber auch feinfühliger im sozialen<br />

Umgang. Die 8. Klasse bietet drei Höhepunkte<br />

und zentrale Epochen:<br />

1. Die Biographiearbeit: Die Jugendlichen beschäftigen<br />

sich lange und intensiv mit dem Lebensbogen<br />

eines von ihnen gewählten Menschen. Den Fragen<br />

nach dem eigenen Lebensweg gibt diese Arbeit Raum,<br />

Spiegelungsfläche, Vorbild, Miterleben und Wachstumsmöglichkeit.<br />

Einen Lebensweg zu begleiten, mitzuempfinden<br />

und dann auch zu reflektieren kann eine<br />

persönliche Hilfe sein, das eigene Erleben zu schärfen<br />

und zu ordnen. Die öffentliche Vorstellung eigener<br />

Arbeitsergebnisse wird geübt.<br />

2. Das Klassenspiel: Theaterspielen heißt, sich für<br />

das Wesen eines Anderen (seiner Rolle) zur Verfügung<br />

zu stellen, sich einzufühlen in die Seele und<br />

Befindlichkeit einer anderen Person. Zum einen ist<br />

das ein enormes soziales Übfeld, zugleich auch die<br />

Chance, sich selbst in völlig neuen Aspekten zu entdecken<br />

und auszuprobieren.<br />

3. Das Handwerkspraktikum: Die Jugendlichen<br />

erleben die Arbeitswelt der Erwachsenen und werden<br />

darin tätig. »Was ist mit meiner Hände Arbeit<br />

erreich- und gestaltbar?« Erstmals nicht im Schonraum<br />

Schule, sondern im realen Wirtschaftsleben.<br />

Eine wichtige und elementare Erfahrung der Welt<br />

und der eigenen Persönlichkeit.<br />

Ute Indiestel<br />

Klassenlehrerin im zweiten<br />

Durchgang, führt die 7. Klasse<br />

(Ringelblumen), eine der<br />

Balkonklassen der <strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Waldorfschule</strong> <strong>Oberberg</strong>.<br />

Cristal 10 | 2007


3. und 4. Klasse<br />

Zu wenig beachtet: der Rubikon!<br />

Von Peter Schamberger<br />

Eine Grenze ziehen<br />

Schüler beim Abschreiten des Ackers im Freilichtmuseum zum Begrenzen der Parzellen für die verschiedenen Getreidearten.<br />

Worauf kommt es im 3. Schuljahr an? Mit den<br />

befeuernden Worten dieses Liedes ist es in wunderbarer<br />

Weise zum Ausdruck gebracht: Freudig zupacken<br />

und lernen – um immer erdentüchtiger zu<br />

werden.<br />

Schon gegen Ende des 2. Schuljahres haben wir im<br />

Gelände des Freilichtmuseums in Lindlar ein Stück<br />

Ackerfläche umgepflügt und geeggt, um dann Weizen,<br />

Roggen und Hafer aussäen zu können. Welche<br />

Freude war es im Herbst, eine reiche Ernte einzufahren,<br />

zu dreschen, zu mahlen, um schließlich<br />

aus dem gewonnenen Mehl ein wohlschmeckendes<br />

Brot backen zu können.<br />

6<br />

Die Bezeichnung Rubikon geht auf eine Anregung Rudolf Steiners zurück. Um die zentrale Bedeutung<br />

des damit verbundenen Entwicklungsschrittes um das 9. Lebensjahr zum Ausdruck zu bringen,<br />

verglich er diesen mit Cäsars mutiger und weitreichender Entscheidung, das norditalienische<br />

Flüsschen Rubikon zu überschreiten, um gegen Rom zu ziehen. Ein unumkehrbarer Prozess setzt<br />

ein, dessen Auswirkungen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung erst in Ansätzen erforscht sind<br />

(Siehe hierzu: Hermann Koepke: Das neunte Lebensjahr).<br />

Fangt an!<br />

Fangt euer Handwerk fröhlich an!<br />

Dann wird ´s gar bald sein wohlgetan!<br />

Doch durften die Kinder auch von anderen Handwerkern<br />

lernen: Wir haben einen Schreiner, einen<br />

Schuster, einen Instrumentenbauer, einen Töpfer<br />

und einen Schmied besucht. Eine Jägerin und ein<br />

Zimmermann kamen sogar zu uns ins Klassenzimmer,<br />

um Kostproben ihrer vielfältigen Arbeit zu<br />

geben. Bei unserer einwöchigen Wollwerkstatt, beim<br />

Flechten eines kleinen Korbes oder zum Backen von<br />

Brötchen für unsere Patenklasse durften die Kinder<br />

dann selbst intensiv tätig werden.<br />

Im Rahmen der Hausbau-Epoche werden wir mit<br />

Elternunterstützung sogar noch ein Fachwerkhäuschen<br />

für unsere Schul-Bienen bauen. In Team-<br />

Cristal 10 | 2007


arbeit werden daneben noch viele kleine Wohnanlagen<br />

aus Naturmaterialien entstehen, welche die<br />

Kinder selbst gesammelt und bearbeitet haben.<br />

Zwar werden die konkreten Angebote und Aufgaben<br />

in jeder 3. Klasse individuell verschieden sein<br />

– zumal sich die Elternschaft mit ihren Fähigkeiten<br />

und Kontakten einbringen kann. Nur das Ziel ist für<br />

diese Klassenstufe das Gleiche: Den Kindern<br />

Schaffensfreude und Gestaltungskraft im konkreten<br />

Lebensalltag zum Erlebnis zu bringen.<br />

Inmitten des Rubikon: Wie wichtig solche Erfahrungen<br />

gerade in diesem Entwicklungsabschnitt um<br />

das 9. Lebensjahr herum sind, kann jeder bestätigen,<br />

der sein Kind genauer beobachtet. Nach einer Phase<br />

der inneren Unsicherheit – die einerseits zu einem<br />

Rückzug bis hin zum manches Mal unerklärlichem<br />

Weinen, andererseits aber zu trotzigem Selbstbehaupten<br />

führen kann – setzt ein völlig neues seelisches<br />

Verhältnis zur Umwelt ein. Eine andere Art von<br />

Fragen taucht nun auf – die eben gerade durch die<br />

praxisbezogenen Epochen des Landbaus, des Kennenlernens<br />

von Handwerken und des Hausbaus eine<br />

Antwort finden.<br />

Auch der Erzählstoff im 3. Schuljahr kommt dieser<br />

andersgearteten Seelenhaltung entgegen. Die<br />

Kinder hören jetzt in Anlehnung an das Alte Testament,<br />

wie die Welt und die Erde erschaffen worden<br />

sind – und wie es der Menschheit nach und nach gelang,<br />

die Erde zu bebauen und fruchtbar zu machen.<br />

Und sie erleben mit tiefer Ergriffenheit, wie das<br />

Scheitern zum Mensch-Sein dazugehört, wie es<br />

Konsequenzen mit sich bringt – und, dass es sich<br />

lohnt, immer wieder neu anzufangen.<br />

Die damit einhergehende Veränderung des Lernverhaltens<br />

bekommt nun natürlich genauso im<br />

Rahmen der Deutsch- und Mathematik-Epochen<br />

Nahrung. Jetzt kann die erste Sprachlehre sowie das<br />

umfangreiche Gebiet des Sachrechnens wirklich<br />

ergriffen werden.<br />

Im 4. Schuljahr setzt sich diese Entwicklung in<br />

verstärktem Maße fort. Die Schilderung der germanischen<br />

Götter- und Heldensagen im Erzählteil am<br />

Ende des jeweiligen Hauptunterrichtes wird nun<br />

zum inneren Begleiter. Sie impulsiert die Kinder, ihre<br />

Mut- und Willenskräfte noch gezielter einzusetzen.<br />

Dies ist beispielsweise notwendig, wenn es bei der<br />

Einführung des Bruchrechnens gilt, bei der Vielzahl<br />

von ungleichnamigen Bruchstücken nicht die Übersicht<br />

zu verlieren.<br />

Dem neuen Erleben der Umwelt kommt jetzt die<br />

erste Menschen- und Tierkundeepoche entgegen.<br />

Das von jedem Kind zu haltende erste kleine Referat<br />

ist eine der vielen kleinen Mutproben, die es in<br />

diesem Schuljahr zu meistern gilt. Die erste Heimatkunde-Epoche<br />

hilft demgegenüber, seinen eigenen<br />

Standpunkt im konkreten Lebensumfeld zu festigen.<br />

Auch das Anfertigen einfacher Landkarten trägt<br />

dazu bei.<br />

Im Spann<br />

Gemeinsam erleben die Kinder die Kraft der »Zugpferde«, die<br />

die Egge durch den Acker zieht.<br />

Cristal 10 | 2007 7


Ein sichtbarer und ein unsichtbarer Erfolg<br />

Ein ganzer Anhänger voll Getreide! Die Arbeit hat sich gelohnt!<br />

Da sich in diesem Lebensalter um das 9. und 10.<br />

Lebensjahr das gesunde Eins-zu-vier-Verhältnis von<br />

Atem und Pulsschlag herausbilden soll, kommt allem<br />

rhythmischen Tun eine wesentliche Bedeutung zu.<br />

Tagtäglich werden darum Lieder gesungen, Gedichte<br />

rezitiert oder es wird mit den Flöten musiziert.<br />

Auch wenn in dieser Zeit noch nicht der große<br />

Wachstumsschub der Pubertätszeit einsetzt, darf<br />

nicht unberücksichtigt bleiben, dass für die Bildung<br />

des eigenen Leibes genügend Kräfte zur Verfügung<br />

stehen müssen. Zu frühes und zu einseitiges Ansprechen<br />

des Intellektes würde demgegenüber die<br />

Gesundheitskräfte schwächen.<br />

Weiterhin kommt daher auch im Rahmen des<br />

Hauptunterrichtes dem künstlerischen Üben eine<br />

entscheidende Bedeutung zu. Im Verlaufe der Formenzeichnen-Epoche<br />

werden jetzt zum Beispiel<br />

Flechtbandformen geübt, die durch das fortwäh-<br />

Harmonie oder Lebensgefahr<br />

Es klappt nur, wenn der Rhythmus stimmt: Fünf Kinder schwingen Ihren Rhythmus beim Dreschen aufeinander ein.<br />

Cristal 10 | 2007 9


Ein Vergnügen mit Vorfreude<br />

In der Backstube beim Formen der Brötchen<br />

10<br />

rend wechselnde Oben-unten-Kreuzen die Aufmerksamkeit<br />

in besonderem Maße herausfordern.<br />

Doch findet der künstlerische Grundduktus genauso<br />

in einer sorgfältigen und schönen Gestaltung der<br />

Hefte zu den Epochen einen sprechenden Ausdruck.<br />

Die Bezeichnung Hauptunterricht will keineswegs<br />

darauf hinweisen, dass die daneben stattfindenden<br />

Fachunterrichte Nebensache wären. Im Gegenteil:<br />

Haupt- und Fachunterrichte ergänzen sich harmonisch.<br />

Beim Handarbeiten, Turnen, eurythmischen<br />

Bewegen, beim Erlernen der Fremdsprachen und<br />

sogar im Religionsunterricht wird das Thema der<br />

jeweiligen Klassenstufe aufgegriffen, um es für die<br />

Kinder wirklich ganzheitlich vertiefen zu können.<br />

Peter Schamberger<br />

ist Klassenlehrer der 3. Klasse<br />

(Bienen), seit acht Jahren<br />

in der Schulleitung, verantwortlich<br />

für die Säule »Pädagogische<br />

Entwicklung und<br />

Organisation der Unter- und<br />

Mittelstufe« an der FWO.<br />

Cristal 10 | 2007


1. und 2. Klasse<br />

Die Entwicklung des Kindes<br />

Von Ulrike Nolte<br />

Mit Kopf und Hand<br />

Handarbeiten der ersten Klasse in gemütlicher Runde.<br />

Aufgeschreckt durch die PISA-Studie wurden in<br />

den letzten Jahren bildungspolitische Entscheidungen<br />

forciert, die den gewohnten Organisationsrahmen<br />

schulischer Bildung aufbrechen. Statt sich an<br />

den laut Studie erfolgreichen Systemen zu orientieren<br />

(wie z. B. Finnland), gelten hierzulande Früheinschulung,<br />

zentrale Abschlüsse und Schulzeitverkürzung<br />

als Heilsbringer.<br />

Diesem herrschenden Glauben muss auch die<br />

Waldorfpädagogik begegnen, wenn sie weiterhin als<br />

Ersatzschule anerkannt bleiben will. Da sich aber<br />

Waldorfpädagogik nicht an wechselnden gesellschaftlichen<br />

Normen, sondern an der Entwicklung<br />

des Kindes orientiert – die sich der Anpassung an<br />

Gesetzesvorgaben verweigert! – steht die Waldorfschulbewegung<br />

nun vor der Aufgabe, in der Verantwortung<br />

für das Kind und dem Respekt vor seiner Individualität<br />

nach Wegen zu suchen den zu erwartenden<br />

Schaden zu begrenzen und ihr Ziel der ganzheitlichen<br />

Förderung aller Begabungen und Fähigkeiten<br />

des Kindes weiter zu verfolgen.<br />

Sicherlich können die Kinder der heutigen Zeit,<br />

wie von der Politik gefordert, schon früher auf intellektuelle<br />

Herausforderungen reagieren – sie sind<br />

ja (zum Glück!) erstaunlich anpassungsfähig. Je-<br />

doch: Die Ausbildung des Willens, die physisch-motorische<br />

Entwicklung und die seelisch-soziale Reifung<br />

werden darunter zu leiden haben.<br />

Wie häufig treffen wir auf die hellwachen Kinder,<br />

die zwar bereits in der ersten Klasse halbwissenschaftliche<br />

Erklärungen geben können, aber nicht in<br />

der Lage sind, über einen gewissen Zeitraum hinweg<br />

still zu sitzen, anderen zuzuhören und Arbeiten mit<br />

einer bestimmten Ausdauer zum Ende zu bringen<br />

und sorgfältig zu gestalten. Zu den glücklichen Kindern<br />

einer Klasse gehören diese Kinder oft nicht,<br />

deshalb liegt hier ganz deutlich unsere Verantwortung.<br />

Die Entwicklung des Kindes: Die Entwicklung des<br />

Kindes gilt in der Waldorfpädagogik als Maßstab<br />

und Orientierungshilfe methodischer und didaktischer<br />

Entscheidungen. Die Menschenkunde Rudolf<br />

Steiners dient dabei als Grundlage. Entwicklung findet<br />

das ganze Leben über statt, doch wird das Fundament<br />

in Kindheit und Jugend gelegt: das Fundament<br />

für Gesundheit und Leistungsstärke – oder<br />

aber auch für Krankheit und Schwäche in Folge<br />

eines Ernährungsmangels in physischer sowie seelisch-geistiger<br />

Hinsicht.<br />

Cristal 10 | 2007 11


Mit der Hilfe einer guten Ordnung<br />

English Tea Time in Class 2<br />

Entwicklung ist kein linearer Prozess, der beliebig<br />

beschleunigt werden kann, sondern eine Abfolge<br />

bestimmter eigenständiger Entwicklungsphasen.<br />

Jede Verfrühung bedingt eine Schwächung der<br />

Konstitution, das physikalische Energieerhaltungsgesetz<br />

lässt sich auch auf den Menschen übertra-<br />

Nach konzentrierter Arbeit müde geworden?<br />

Dann könnten aus Arbeitstischen Turnbänke werden …<br />

12<br />

gen: Fordere ich zu früh Kräfte für intellektuelle<br />

Leistungen, werden physisch-physiologische und<br />

seelisch-geistige Reifungsprozesse eingeschränkt.<br />

So kann zu frühe und einseitige intellektuelle Förderung<br />

im Physischen zu späterer höherer Infektionsanfälligkeit<br />

und damit häufigeren Erkrankungen<br />

führen und eine seelische und soziale Vernachlässigung<br />

eine emotionale Deprivation bedeuten, was<br />

zu gefährlichen Entwicklungen führen kann, wie<br />

Bindungsverlust oder die Entwicklung von krimineller<br />

Energie bei relativ hoher Intelligenz. Hinweise<br />

darauf geben die in letzter Zeit häufiger auftauchenden<br />

Presseberichte über zunehmende Gewalt<br />

an Schulen.<br />

Rudolf Steiner beschreibt die Entwicklung des<br />

Kindes in Jahrsiebten. Werden in den ersten Jahren<br />

die physischen Grundlagen durch die Lebenskräfte<br />

des Kindes ausgebildet und mit ihnen die Basalsinne,<br />

wie Tast-, Lebens-, Eigenbewegungssinn sowie<br />

das Gleichgewicht, liegt der Schwerpunkt nach der<br />

Schulreife auf der emotional-seelischen Entwicklung,<br />

dazu gehören die sogenannten Natursinne:<br />

Riechen, Schmecken, Sehen und der Wärmesinn.<br />

Nach der Pubertät folgt die Ausbildung des Denkens<br />

auf der Grundlage der vorherigen Entwicklungsschritte:<br />

Über die Ruhe führt die Ausbildung des<br />

Gleichgewichtssinnes zum Hören; der Eigenbewe-<br />

Cristal 10 | 2007


gungssinn schenkt die Freiheit zum gedanklichen<br />

Ergreifen des Wortes und der Sprache; der Lebenssinn<br />

zeigt sich im Wohlbefinden, der Tastsinn bildet<br />

die erste Brücke vom Ich zur Welt und das Gottgefühl<br />

wird im Ichwahrnehmungssinn tätig und wach.<br />

Fazit: Gerade in der Sinnesentwicklung wird deutlich,<br />

wie die ersten Lebensjahre die Ausgestaltung<br />

der menschlichen Individualität für sein späteres<br />

Leben bestimmen.<br />

Die ersten beiden Schuljahre: Unter diesen Voraussetzungen<br />

ergeben sich für die Waldorfpädagogik<br />

methodische und didaktische Konsequenzen.<br />

Natürlich sollen (und wollen!) die Kinder die eher intellektuellen<br />

Kulturtechniken Schreiben und Lesen<br />

sowie das Rechnen lernen, aber mit einer Methode,<br />

die ihrem Entwicklungsstand entspricht. Kinder<br />

kommen aus der geistigen Welt und wollen sich auf<br />

der Erde verwurzeln, sie er- und begreifen, sich mit<br />

ihr verbunden fühlen (Kohärenzgefühl).<br />

Alles, was sie lernen, muss durchschaubar, handhabbar<br />

und sinnvoll sein, über das Gefühl wird eine<br />

innere Verbindung zwischen Lernstoff (Welt) und<br />

den Kindern hergestellt. Bildung findet über Bilder<br />

statt, Begreifen über das Ergreifen, insbesondere das<br />

Ergriffensein und in der frühen Kindheit primär über<br />

das Greifen an sich. In diesem Zusammenhang wird<br />

ebenso deutlich, dass sich das Ergreifen der Welt<br />

konzentrisch in wachsenden Kreisen vom Kinde aus<br />

vollziehen muss und über seine Sinne tastend und<br />

fühlend fortschreitet bis hin zur abstrahierenden<br />

Vorstellung.<br />

Findet im ersten Jahrsiebt durch eine geeignete<br />

Umgebung über den Bewegungsdrang und die offene<br />

nachahmende Lernfreude des Kindes Selbstbildung<br />

statt, so bedeutet der Übergang ins Schulalter<br />

eine Änderung des Lernverhaltens: Von der Selbstbildung<br />

zur Bildung, vom lokalen Gedächtnis zur<br />

gesteuerten Erinnerung, von spontaner Anregung<br />

zu zielgerichtetem Verhalten, von einer Außenorientierung<br />

zu einer innengerichteten Reflexionsfähigkeit.<br />

Im Sozialen bedeutet die erste Klasse zum ersten<br />

Male eine große altershomogene Gruppe, in der<br />

jedes Kind seinen Platz finden muss. Von Gewohnheiten<br />

führt der Lernprozess zur bewussten Akzeptanz<br />

von Regeln im Miteinander.<br />

Dieser komplexe Entwicklungsschritt in die Schulreife<br />

verläuft nur dann glücklich, wenn die physisch-physiologischen<br />

Grundlagen mit Hilfe der Lebenskräfte<br />

des Kindes geschaffen wurden. Schon<br />

heute, also im Grunde vor dem nun beginnenden<br />

Prozess der immer früher geforderten Einschulung,<br />

bringen aber viele Kinder diese Voraussetzungen<br />

nicht mit. Das bedeutet schon jetzt für die ersten<br />

Schuljahre Gelegenheit zur Nachreifung und Förderung<br />

der Sinnesentwicklung als notwendiger Bestandteil<br />

der Didaktik. Im emotional-seelischen<br />

Bereich muss die Bindungsfähigkeit im Vordergrund<br />

stehen; Ergebnisse der Hirnforschung machen deutlich,<br />

dass nachhaltiges Lernen über ein emotional<br />

positives Verhältnis zum Lehrer und zu den Dingen<br />

gefördert wird.<br />

In den <strong>Waldorfschule</strong>n wird von Beginn an durch<br />

die 8-jährige Klassenlehrerzeit, in der Vertrautheit,<br />

Bindung und somit Sicherheit wachsen können, diesem<br />

Anspruch an persönliche Bindung Rechnung<br />

getragen, die Beziehung zu den Dingen wird über<br />

den künstlerischen Schwerpunkt in der Didaktik<br />

(»Die Welt ist schön«) und nicht zuletzt über den<br />

religiösen Aspekt hergestellt: Die Welt und natürlich<br />

auch sich selbst als Gottes Schöpfung zu begreifen<br />

lassen im Kinde Ruhe, Geborgenheit, Orientierung<br />

und Dankbarkeit wachsen.<br />

Die Praxis des Waldorfunterrichts: Doch wie<br />

sieht der Waldorfunterricht in den ersten beiden<br />

Klassen nun konkret aus? Drei sich abwechselnde<br />

Epochen prägen zunächst den Hauptunterricht: das<br />

Formenzeichnen, das Schreiben und das Rechnen,<br />

wobei die etwa vierwöchigen Epochen, in denen<br />

täglich ein Thema weitergeübt wird, rhythmisch<br />

immer wieder ergriffen werden und ein tiefes Eintauchen<br />

in die Inhalte ermöglichen.<br />

Das Formenzeichnen greift genau die Kräfte auf,<br />

die bisher körperbildend in der Physis des Kindes<br />

gewirkt haben und gleichzeitig die ganze Welt beschreiben,<br />

in dem es die Gerade und die gebogene<br />

Linie als Wesenheiten vermittelt. Wie aber können<br />

solche Abstraktionen Gefühle ansprechen, wie zuvor<br />

gefordert wurde? Schon die Frage „Worauf möchtest<br />

Du lieber sitzen?“ führt bei zwei spitz zusammengeführten<br />

Geraden oder einer nach oben gewölbten<br />

Gebogenen zu innerem Empfinden!<br />

Das Schreiben ist zunächst ebenso abstrakt-intellektuell,<br />

ist doch jeder Buchstabe eine von Menschen<br />

festgelegte abstrakte Form für einen Laut.<br />

Auch hier kann die Bildhaftigkeit vermitteln: Nach<br />

einer die Gefühlswelt des Kindes ansprechenden Geschichte<br />

wird am nächsten Tag ein Bild gemalt, aus<br />

dem dann später der Buchstabe in seiner abstrakten<br />

Form gelöst wird – Sinnhaftigkeit gekoppelt an gefühltes<br />

Erleben in den Bildern der Erzählung vermittelt<br />

den Lernprozess. Dem Rechnen dagegen liegt<br />

eine göttliche Ordnung zugrunde, erkennbar an den<br />

Naturgesetzen der Schöpfung. Dabei wird metho-<br />

Cristal 10 | 2007 13


disch vom Ganzen aus gegliedert, ein Gott, eine<br />

Sonne, eine Erde, ein Mensch – doch zwei Hände,<br />

zwei Augen usw. Das Zählen wird rhythmisiert,<br />

Strukturen entstehen und lassen in Verbindung mit<br />

Bewegung Ordnungen aufleuchten.<br />

Rhythmus findet sich im ganzen Unterricht,<br />

gemäß der Entwicklungsfolge Gehen – Sprechen –<br />

Denken beginnt der Unterricht mit viel Bewegung<br />

und führt über das Singen von Liedern und dem<br />

Sprechen von Gedichten zum Thema der Epoche.<br />

Gerade im Bewegungsteil werden die notwendigen<br />

Nachreifungen in der sensorisch-motorischen Entwicklung<br />

der Kinder gefördert, dabei können mit<br />

den in unserer Schule für die beiden ersten Schuljahre<br />

eingerichteten sogenannten »Bewegten Klassenzimmern«,<br />

in denen an Stelle von Stühlen und Tischen<br />

Bänke und Sitzkissen zu finden sind, insbesondere<br />

für die Förderung des Eigenbewegungssinns<br />

und des Gleichgewichtsgefühles optimale Bedingungen<br />

erreicht werden. Schnell sind die Bänke zum<br />

Kreis gestellt und bieten in der Mitte viel Freiraum,<br />

dann wieder dienen sie umgedreht als Balancier-<br />

Balken (Bild) und quer hintereinander gestellt als<br />

Hindernisse. Für den Epochenteil werden sie mit<br />

Sitzkissen wieder zum Tisch. Gleiches gilt für das gemeinsame<br />

Frühstück im Klassenzimmer, sogar eine<br />

14<br />

lange Tafel für eine »English-teatime« ist schnell<br />

gestellt (Bild). Je nach Gruppengröße werden sie zu<br />

kleineren oder größeren Kreisen zusammengestellt,<br />

um als Sitzbänke ein gemütlichen Beisammensein<br />

während der Handarbeit zu ermöglichen (Bild).<br />

Ein weiterer Schritt unserer Schule in Richtung<br />

einer Zukunftsbewältigung, wenn man hier wieder<br />

die Problematik Früheinschulung einbezieht, war die<br />

Einrichtung des »Bochumer Modells«, einer an der<br />

Bochumer <strong>Waldorfschule</strong> 1998 entwickelten Tagesstruktur,<br />

die dem Anspruch nach persönlichem Beziehungsaufbau<br />

Rechnung trägt und daher den Kindern<br />

in den ersten beiden Schuljahren Verlässlichkeit,<br />

Geborgenheit und Hülle bietet.<br />

Nach diesem Modell verbleibt der Klassenlehrer<br />

von 8 bis 12 Uhr bei seiner Klasse und begleitet so<br />

auch den von Fachlehrern erteilten Unterricht, den<br />

er selbst in der Regel nicht übernimmt (Russisch,<br />

Englisch, Eurythmie, Handarbeit, Religion oder Turnen).<br />

So ist er in der Organisation des Tages frei und<br />

kann z.B. den abschließenden Erzählteil ans Ende<br />

des Schultages legen – der Schultag als rhythmischstrukturierter<br />

erweiterter Hauptunterricht, was den<br />

Bedürfnissen der heutigen Kinder sehr entgegen<br />

kommt. Als Ansprechpartner bleibt er in der Nähe<br />

der Kinder und kann auch einmal als Nichtunter-<br />

Cristal 10 | 2007


Achtsam erkunden<br />

Balancieren auf umgedrehten Arbeitstischen erfrischt.<br />

richtender die Klasse wahrnehmen – ein nicht zu<br />

unterschätzender Vorteil.<br />

Sind das »Bewegte Klassenzimmer« und das Bochumer<br />

Modell verbindende Elemente des ersten<br />

und zweiten Schuljahres, werden die Unterschiede<br />

– begründet in der Entwicklung der Kinder – besonders<br />

im Erzählstoff deutlich. Tauchen die Erstklässler<br />

noch wohlig träumend tief in die Märchenwelt<br />

ein, wo mit Hilfe von alten Wahrbildern trotz<br />

aller vermeintlichen Grausamkeiten die Zuversicht<br />

in den Sieg des Guten gedeihen kann, wird der<br />

wache Blick der gewachsenen Zweitklässler auf die<br />

Fabeln gelenkt. In den Bildern der Fabeln werden<br />

menschliche Eigenschaften an den Einseitigkeiten<br />

der geschilderten tierischen Verhaltensweisen verdeutlicht<br />

und mit Humor zur Kenntnis genommen –<br />

der Blick der Zweitklässler ist schärfer geworden.<br />

Ausgleichend werden dazu die Legenden der großen<br />

Heiligen erzählt, das sieghafte Gute des Märchens<br />

wird im Menschen spürbar und rückt dem individuell<br />

wacheren Bewusstsein des Zweitklässlers näher.<br />

Zusammenfassung und Ausblick: Trotz der bis<br />

hierher aufgezeigten Wege, den von außen gegebenen<br />

Anforderungen angemessen zu begegnen ohne<br />

die eigenen Zielsetzungen aufzugeben, bleiben<br />

angesichts der auf uns zukommenden jüngeren und<br />

in der Regel unreiferen Kinder auch für unsere<br />

<strong>Waldorfschule</strong> große Aufgaben zu bewältigen, um<br />

diesen Spagat zwischen früher Einschulung, verkürzter<br />

Schulzeit, zentralen und rein intellektuell-<br />

orientierten Abschlüssen und den tatsächlichen<br />

Entwicklungsschritten der Kinder zu meistern. Hilfreich<br />

sein wird uns das Vertrauen in den entwicklungsgemäßen<br />

Waldorflehrplan, das Bochumer<br />

Modell und das bewegte Klassenzimmer zur Förderung<br />

von Nachreifung und Aufbau von Bindung.<br />

Ein kleiner Schritt auf diesem Wege kann die feste<br />

Einrichtung einer Waldschulepoche zu Beginn des<br />

ersten Schuljahres sein, die in den letzten beiden<br />

Jahren mit viel Elternhilfe gelingen konnte. Sie schuf<br />

einen gleitenden Übergang vom Kindergarten in die<br />

Schule.<br />

Gegenüber unpädagogischen staatlichen Vorgaben,<br />

die eine geisteswissenschaftliche Menschenkunde<br />

des kleinen Kindes nicht anerkennen, ist uns<br />

das Vertrauen in die sich entfaltenden Kräfte der<br />

Kinder, die für die Welt der Zukunft geboren wurden,<br />

Trost und Ansporn zugleich bei der Lösung aller<br />

Probleme. Lernen lässt sich nur durch Wahrnehmen,<br />

und da die Kinder unserer Zeit voraus sind, werden<br />

wir an ihnen und mit ihnen den richtigen Weg<br />

finden.<br />

Ulrike Nolte<br />

Klassenlehrerin der 2. Klasse,<br />

im Schuljahr 2006/07 hat sie<br />

das Anti-Bullying Konzept nach<br />

Dan Olweus an der FWO<br />

eingeführt.<br />

Cristal 10 | 2007 15


16<br />

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Cristal 10 | 2007


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18<br />

Cristal erscheint Mitte des Jahres als unabhängige<br />

Zeitschrift für Bildung und Kultur.<br />

Herausgeber: <strong>Freie</strong> <strong>Waldorfschule</strong> <strong>Oberberg</strong> e.V.<br />

Verantwortlich:<br />

Brigitte Wurster (V.i.S.d.P.). Jeder Beitrag gibt die<br />

Meinung des Autors wieder; eine Übereinstimmung<br />

mit der Meinung der Redaktion kann aus seiner<br />

Veröffentlichung nicht abgeleitet werden.<br />

Anzeigen:<br />

Petra Ley p.ley@tiscali.de<br />

wurster@schulzeitschrift.org<br />

Redaktion:<br />

Susanne Starke, Brigitte Wurster<br />

Photos:<br />

Ulrike Nolte, Peter Schamberger, Rolf Schönstein,<br />

Schularchiv<br />

Verteiler:<br />

Susanne Starke starke@schulzeitschrift.org<br />

Verlag:<br />

MARCSTEIN-GmbH, Veldnerweg 19, 74523 Schwäbisch<br />

Hall, T. 0791-9 78 09 71. Verantwortlich für<br />

Auswahl, Titel und sinnwahrende Kürzung der<br />

MARCSTEIN-Beiträge (Pagninierung mit vorangestelltem<br />

»m«). Inhalt verantwortet der Autor.<br />

info@marcstein.de<br />

Impressum<br />

Satz und Druck:<br />

Siller Print Factory www.siller-print.de<br />

Auflage:<br />

6.000<br />

Vertrieb:<br />

Kostenlose Verteilung im <strong>Oberberg</strong>ischen Kreis, Gemeindegebiet<br />

Much und Neunkirchen-Seelscheid<br />

Anzeigen- und Redaktionsschluss<br />

Cristal No. 11: 30. März 2008<br />

Anschrift der Redaktion:<br />

<strong>Freie</strong> <strong>Waldorfschule</strong> <strong>Oberberg</strong> e.V.<br />

Redaktion Cristal<br />

Kirchhellstraße 32<br />

51645 Gummersbach<br />

T. 02261-968612<br />

F. 02261-968676<br />

wurster@schulzeitschrift.org<br />

Gedruckt auf Luxo Samtoffset, ausgezeichnet mit<br />

dem umfassenden Nordischen Umweltzeichen<br />

»Swan Label«.<br />

Cristal 10 | 2007


Pädagogik<br />

Über die Liebe in der Erziehung<br />

Von Annette Renschler<br />

„Ach Gott, warum muss dein Kind denn zur <strong>Waldorfschule</strong>,<br />

ist etwas nicht in Ordnung mit dem?“<br />

Diese Frage hörte ich, als ich einer Bekannten stolz<br />

erzählte, dass mein Sohn den begehrten Platz in der<br />

<strong>Waldorfschule</strong> bekommen hatte.<br />

Eine Nachbarin erklärte den Freunden meines Sohnes:<br />

„Da müssen alle die Kinder hin, die kein Fernsehen<br />

gucken dürfen.“ Damit begann ein immer wieder<br />

auftauchender Rechtfertigungsdruck, stets musste<br />

ich auf Anfragen erklären, dass meine Kinder ganz<br />

normal, die <strong>Waldorfschule</strong> keine Schule für Lernbehinderte<br />

und ich auch keine Sonderschullehrerin sei.<br />

Selbst unsere Schüler werden mit diesen Fragen konfrontiert,<br />

so erklärte mir eine Schülerin nach dem<br />

Achtklassspiel, wir hätten in diesem Jahr ja eigentlich<br />

nichts gelernt. Sie hatte sich mit den Nachbarskindern<br />

verglichen, die ein Gymnasium besuchen.<br />

Wir alle kennen diese Vorurteile, eines aber haben<br />

sie alle gemeinsam: Sie gründen auf Unwissen, diese<br />

Menschen verstehen nicht, was Waldorfpädagogik<br />

eigentlich will. Und wie kann man das auch mal<br />

eben knapp und prägnant auf einen Nenner bringen?<br />

Während meiner Ausbildung zur Waldorflehrerin<br />

habe ich mich schließlich gefragt, wie man denn das<br />

Anliegen der Waldorfpädagogik in eine kurze Form<br />

fassen könnte. Meine Kurzform lautete schließlich:<br />

»Die Waldorfpädagogik erzieht die Menschen zur<br />

Liebefähigkeit.«<br />

Was dies eigentlich bedeutet und wie man dieses<br />

Ziel ansteuern kann, möchte ich im Folgenden erläutern.<br />

Vor allem aber möchte ich anregen, sich<br />

mit dem Begriff der Liebe auseinanderzusetzen.<br />

Der Begriff »Liebe«: Wohl kein Wort wird in der<br />

Literatur und in der Musik so oft benutzt wie dieses.<br />

Entsprechend sind wir alle der Meinung zu wissen,<br />

was damit gemeint ist. Ist das wirklich so?<br />

Beim Stöbern in Lexika und Duden kann man denkwürdige<br />

Entdeckungen machen, ebenso beim Lesen<br />

christlicher und altphilologischer Texte und in philosophischen<br />

Abhandlungen von Plato, Spinoza usw.<br />

Jeder kennt auch den sehr fragwürdigen Satz von<br />

Sigmund Freud, dass »Liebe gehemmte Sexualität sei«.<br />

Man kann leicht den Eindruck gewinnen, dass es wohl<br />

„Es gibt nur drei Erziehungsmittel: Angst, Ehrgeiz und Liebe.<br />

Wir verzichten auf die beiden ersten.“<br />

Rudolf Steiner<br />

mehrere Begriffe von Liebe gibt. Sie lässt sich nicht<br />

wirklich definieren und somit auf einen Punkt bringen.<br />

So geht man von der triebhaften Liebe aus, die<br />

durch den sexuellen Trieb und der Sehnsucht nach<br />

harmonischer Einheit zwischen männlichem und<br />

weiblichem Prinzip bestimmt wird, bis hin zu Begriffen<br />

wie Hingabe, Opferwille, Selbstaufgabe in<br />

der Mystik usw. Viele Philosophen und Theologen<br />

haben sich intensiv mit diesem Begriff beschäftigt.<br />

Das Christentum, das unsere Kultur begründet und<br />

bestimmt, hat schließlich Gott selbst in seinem Sohn<br />

Christus als die personifizierte Liebe bezeichnet.<br />

Hat man einige Definitionen und Beschreibungen<br />

gefunden, stößt man auf das, was Liebe will. So fordert<br />

Liebe angeblich immer Gegenliebe, sie will stets<br />

eine Vereinigung gegensätzlicher Prinzipien, sie ist<br />

laut Plato Grundlage jeder Erkenntnis usw.<br />

Ich möchte gerne einladen, sich einmal in den<br />

alten und auch neueren Texten umzuschauen, die<br />

Liebe ist ein sehr spannender Begriff. Nach all dem<br />

Stöbern und Nachlesen hat sich für mich eine Gemeinsamkeit<br />

herauskristallisiert, die ich nun zu umschreiben<br />

versuche.<br />

Liebe ist nach all dem kein süßliches Gefühl, kein<br />

lächelndes Harmoniebedürfnis sondern ein tiefes<br />

Bedürfnis – ja sogar Begehren – nach Erkenntnis<br />

und Verbindung, das in jedem Menschen wohnt.<br />

Damit hat die Liebe einen grundlegenden Gestus,<br />

nämlich den Gestus des »Sich-Öffnens« für etwas<br />

oder jemanden. Diese Öffnung geht der Liebe immer<br />

voraus, sie ist Bedingung für jede Form von Liebe.<br />

Sympathie und Antipathie: In der allgemeinen<br />

Menschenkunde finden wir eine spannende Umschreibung<br />

Rudolf Steiners für jede Form von Beziehung.<br />

So prägt er die Begriffe Sympathie und Antipathie<br />

von der Ethymologie ausgehend als notwendiges<br />

Gegensatzpaar für jede zwischenmenschliche<br />

Begegnung. Dabei umschreibt Pathos im Griechischen<br />

das Gefühl, also das, was vom Seelischen ausgeht.<br />

Sym- ist eine Vorsilbe, die ursprünglich zusammen<br />

bedeutet. Anti ist immer das, was gegenüber,<br />

entgegengesetzt steht.<br />

So bedeutet Sympathie eigentlich das, was wir<br />

heute Empathie nennen, nämlich das Mitfühlen-<br />

Cristal 10 | 2007 19


20<br />

Cristal 10 | 2007


Zusammenfühlen mit dem Gegenüber. Rudolf Steiner<br />

fasst es noch enger, er spricht hier davon, dass<br />

wir in den andern hineinträumen, ja sogar hineinschlafen,<br />

was ausdrücken möchte, dass es ein halbbewusstes<br />

oder sogar unbewusstes Innewohnen in<br />

der Seelenwelt des Gegenübers ist.<br />

Antipathie bedeutet demnach, dass wir aus dem<br />

Gefühl aussteigen, uns also von außen das Gegenüber<br />

betrachten, man könnte sagen rein sachlich. In<br />

dem Moment, in dem ich eine Position gegenüber<br />

habe und etwas von außen betrachte, bin ich erst<br />

zur bewussten Erkenntnis fähig, kann es als Ganzes<br />

sehen. Also im Gegensatz zur Sympathie bin ich hier<br />

weder träumend noch schlafend sondern hellwach,<br />

ganz im Bewusstsein.<br />

Nun beschreibt Rudolf Steiner das Gegenspiel von<br />

Antipathie und Sympathie wie ein Oszillieren. Die<br />

Momente von sympathischem Hineinträumen und<br />

antipathischem Gegenüberstellen müssen stetig in<br />

einem schnellen Rhythmus zwischen uns und dem<br />

Gegenüber wechseln, nur so werden wir dem anderen<br />

– und auch uns – gerecht.<br />

Verglichen mit dem oben gefundenen Liebebegriff<br />

finden wir außer dem Gestus des Öffnens auch den<br />

Gestus des Verschließens. Dies gilt aber nur für den<br />

seelischen Gestus, denn während ich die antipathische<br />

Geste habe, öffne ich alle geistigen Sinne, die<br />

zur Erkenntnis notwendig sind. Und so kommt man<br />

hier wieder zum Liebebegriff, denn wie schon Platon<br />

sagte, ist die Liebe Grundlage für jede Erkenntnis.<br />

Pädagogik und Liebe: Auch hier möchte ich erst<br />

einmal auf den Begriff eingehen. Päd- als Vorsilbe<br />

kommt aus dem Griechischen und bezeichnet das<br />

Kind, den Knaben. agein ist ein griechisches Verb,<br />

das mit unserem begleiten, führen zu übersetzen<br />

ist. Pädagogen sind also Menschen, die ein Kind<br />

führen und begleiten. Demnach sind auch alle Eltern<br />

und anderen Erwachsenen, die sich mit Kindern beschäftigen<br />

eigentlich Pädagogen. Dies ist von daher<br />

wichtig, da uns bewusst sein sollte, dass jede Begegnung<br />

mit einem Kind eine pädagogische Bedeutung<br />

hat. Dies kann uns helfen, uns der Verantwortung<br />

bewusst zu sein, die wir in diesen Begegnungen<br />

haben, wir führen nämlich diese Kinder in ihr<br />

Leben. Überhaupt ist für mein Verständnis die Liebe<br />

immer an Verantwortung gekoppelt. In der liebevollen<br />

Begegnung zu anderen Menschen entsteht<br />

schon aus dem heraus, was Liebe will sofort ein Gefühl<br />

der Verantwortung für das Wohlergehen und<br />

die Bedürfnisse des Gegenüber. Dabei bedeutet<br />

Wohlergehen in unserer Pädagogik vor allem Entwicklung<br />

und damit Erkenntnis dessen, was in dem<br />

Menschen entwickelt werden möchte. Das hat<br />

nichts mit dem Lustprinzip zu tun und dem oft falschen<br />

Verständnis zu tun, dass die Kinder sich immer<br />

wohlfühlen müssen. Nein, es geht darum, ihren entwicklungsbedingten<br />

Bedürfnissen gerecht zu werden<br />

und das kann auch mal unangenehm sein.<br />

Die Waldorfpädagogik will Kinder zu Weltenbürgern<br />

machen, anders ausgedrückt: zu lebensfähi-<br />

gen Menschen in unserer sehr komplexen Gesellschaft.<br />

Und in unserem Erwachsenenleben erleben<br />

wir viele Schwierigkeiten, die wir bewältigen müssen.<br />

Um aber mit solchen Situationen umgehen zu<br />

können, müssen wir vorher ein Übfeld haben und<br />

das findet sich in der Kindheit. Hier wird im Spiel<br />

geübt, Frustrationen auszuhalten, Grenzen zu erkennen<br />

und zu achten und Regeln einzuhalten. Im<br />

Unterricht in einer Klasse wird geübt, wie man sich<br />

Inhalte aneignet, wie man am besten lernt, werden<br />

unendlich viele Erfahrungen im Seelischen und Sozialen<br />

gemacht.<br />

Hier hilft vielleicht das Bild einer Traube,<br />

die nur gut wachsen und reiche Frucht<br />

tragen kann, wenn sie an ihrer Rebe<br />

festgebunden ist, die ihr einen klaren<br />

Halt gibt.<br />

Wildwuchs schwächt: Konflikte und Umgang mit<br />

Kritik übt man am besten schon im Kindesalter in<br />

der Familie, ebenso erüben die Kinder ihre Wirkung<br />

im Sozialen schon im Kindergarten. Und bekommen<br />

sie hier keine Grenzen und klaren Rückmeldungen,<br />

können sie auch nicht zu Erkenntnissen und Erfahrungen<br />

kommen: Sie erleben sich nicht, sie spüren<br />

sich und ihre Grenzen nicht und schon gar nicht die<br />

der anderen. Daher ist es uns wichtig, den Kindern<br />

klare Regeln und Formen zu geben, nur innerhalb<br />

der festgesetzten Grenzen können sie sich nämlich<br />

frei entwickeln. So ist Strenge auch eine Form von<br />

Liebe, nämlich eine formgebende, die den Kindern<br />

Halt und dadurch Schutz vor Fehlentwicklung gibt.<br />

Hier hilft vielleicht das Bild einer Traube, die nur gut<br />

wachsen und reiche Frucht tragen kann, wenn sie an<br />

ihrer Rebe festgebunden ist, die ihr einen klaren<br />

Halt gibt. In Griechenland sieht man oft Reben wild<br />

und ungezügelt auf dem Boden wachsen, sie ergehen<br />

sich im Wildwuchs, sind aber schwächer und<br />

tragen weniger und oft saure Frucht.<br />

Künstlerisch erziehen: Wie nun können wir Kinder<br />

liebevoll zu liebefähigen Menschen erziehen?<br />

Auch hier hilft uns die Menschenkunde. Rudolf Steiner<br />

beschreibt ein gutes Erziehen stets als ein künstlerisches<br />

Erziehen.<br />

Dies wird häufig missverstanden. So meinen viele,<br />

ein künstlerischer Unterricht habe viel mit Malen<br />

und Basteln zu tun. Ein Lehrer, der mit den Kindern<br />

viele Bildchen malt, muss deswegen noch lange<br />

nicht künstlerisch unterrichten. Wieder hilft uns die<br />

Auseinandersetzung mit dem Begriff. Der heutige<br />

Kunstbegriff ist schwer zu fassen, auch er ist eigentlich<br />

nicht mehr auf einen Punkt zu bringen. Beuys<br />

prägte den Satz: »Jeder Mensch ist ein Künstler«.<br />

Damit drückt er aus, was Kunst heute sein sollte, individueller<br />

Ausdruck einer individuellen Wahrnehmung.<br />

Was bedeutet das für die Pädagogik Rudolf<br />

Steiners? Vereinfacht könnte man sagen: Ein künst-<br />

Cristal 10 | 2007 21


lerischer Unterricht entsteht aus einer Wahrnehmung,<br />

die ihren pädagogischen Ausdruck findet.<br />

Dabei nimmt der Pädagoge zum einen die Unterrichtsinhalte<br />

wahr. Dazu muss er sich für diese Inhalte<br />

öffnen, also eine Liebe für die Sache entwickeln<br />

können, sich in die Gesetze und Regeln, in die<br />

Geschichte und die Sprache einfühlen. Gleichzeitig<br />

muss er aber auch Antipathie entwickeln, sonst<br />

würde er sich in den Inhalten verzetteln und den<br />

Blick für das Ganze verlieren.<br />

Dann nimmt der Lehrer die Klasse wahr, er entwickelt<br />

ein tiefes Gefühl für das, was da lebt. Dabei ist<br />

außerordentlich wichtig, dass Sympathie und Antipathie<br />

im Gleichklang sind. So lebt er empathisch<br />

mit jedem Kind mit und hat so ein unbewusstes<br />

oder halbbewusstes Gefühl für die Bedürfnisse aller<br />

Kinder in der Klasse, man könnte sagen ein Bauchgefühl.<br />

Dies muss er antipathisch betrachten können,<br />

also ins Bewusstsein heben. Daraus erwächst<br />

dann die pädagogische Umsetzung, die Tat. So kann<br />

es für eine Klasse durchaus mal ein Jahr früher<br />

schon dran sein, sich mit der Sternenkunde zu beschäftigen,<br />

eine andere Klasse sollte vielleicht erst<br />

ein Jahr später ihr Sozialtraining machen. Dieses individuelle<br />

Einfühlen und Erspüren des Klassenbedürfnisses<br />

ist die Grundlage für jeden Unterricht,<br />

der die Kinder und Jugendlichen auch erreichen will.<br />

Dies gilt natürlich auch für jede individuelle Kinderbetrachtung<br />

und die Begegnungen mit den einzelnen<br />

Individuen. So kann es gut sein, ein Kind sehr<br />

streng und scharf auf seine Grenzen aufmerksam zu<br />

machen, für ein anderes Kind reicht ein humorvolles<br />

Augenzwinkern und ein nettes Anekdötchen.<br />

Manche Kinder brauchen viel Lob und Anerkennung,<br />

um überhaupt zu bemerken, dass auch sie<br />

Lernerfolge haben können, manche brauchen klare<br />

und sachliche Rückmeldungen, wieder andere<br />

wachsen an der Kritik. Jedes Kind möchte individuell<br />

betrachtet und adäquat begleitet werden, das ist<br />

für mich liebevolle und eben künstlerische Pädagogik.<br />

Ein guter Pädagoge, ob Lehrer oder Elternteil,<br />

muss demnach liebefähig im obigen Sinne sein, um<br />

dem Kind gerecht zu werden.<br />

22<br />

Zur Liebefähigkeit erziehen: Schon durch die<br />

Inhalte unserer Pädagogik ist eigentlich veranlagt,<br />

den Kindern die Liebe zur Sache und schließlich<br />

auch zu sich und den anderen zu vermitteln. So erleben<br />

die Kleinsten in der liebevollen und bewussten<br />

Begegnung mit der Natur, mit ausgesuchten Materialien,<br />

im Umgang mit ihren Sinnen eine tiefe Beziehung<br />

zu der Welt und ihren geistigen immateriellen<br />

Wahrheiten. Beziehung zu Gott heißt<br />

Religion, also, eine religiöse Zuwendung, ein sich<br />

Öffnen: Liebe zur Welt.<br />

Rudolf Steiner nennt diese Haltung auch die Haltung<br />

der Demut. Dies setzt sich altersgemäß fort. Die<br />

Kinder erleben in den Märchen unbewusst eine Auseinandersetzung<br />

mit den Werten und der Moral, sie<br />

erfahren im Rechnen die naturgegebenen Rhythmen<br />

und Gesetze, sie erleben andere Religionen und<br />

fühlen sich in Geschichte tief in andere Zeiten hinein.<br />

So entsteht Ehrfurcht. Dies geht bei uns immer<br />

über den ganzen Menschen, nicht nur Begriffe lernen<br />

sondern mit allen Sinnen erfahren ist hier die<br />

Devise. In den kleinen und schließlich großen Schauspielen<br />

fühlen sie sich in andere Rollen hinein, auch<br />

hier ein Sich-Öffnen und Verbinden mit anderen<br />

Menschen, praktizierte Liebefähigkeit. Dies kann<br />

man über unseren ganzen Lehrplan entwickeln, was<br />

hier zu weit führen würde.<br />

Deutlich ist aber bei all dem, was ich hier angeführt<br />

habe, dass beides zusammen, nämlich die so<br />

verstandene Liebefähigkeit der Pädagogen – auch<br />

und vor allem die der Eltern – und die Auswahl der<br />

Dinge, die ich den Kindern und Jugendlichen nahe<br />

bringe, im guten Zusammenklang sein müssen, um<br />

die Kinder zu liebefähigen Menschen erziehen zu<br />

können.<br />

Annette Renschler<br />

Klassenlehrerin der 8. Klasse,<br />

übernimmt im Schuljahr<br />

2007/08 die 1. Klasse der <strong>Freie</strong>n<br />

<strong>Waldorfschule</strong> <strong>Oberberg</strong>,<br />

Mutter von vier Kindern und<br />

Entwicklungsbegleiterin.<br />

Cristal 10 | 2007


Zur Pädagogik der 8. Klasse<br />

Biografiearbeit – Schauspiel – Handwerkspraktikum<br />

Von Annette Renschler<br />

Am Ende der 8. Klasse verabschieden sich die<br />

Schüler und Schülerinnen von der Klassenlehrerzeit.<br />

Mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer<br />

schließen Sie dann ein letztes – an unserer Schule<br />

sehr ereignisreiches – Schuljahr ab.<br />

Wie schon in der 7. Klasse wird das Verhalten und<br />

Denken der Schüler stark von der Pubertät geprägt.<br />

Allerdings kann man nun davon ausgehen, dass sich<br />

alle Kinder in dieser Entwicklungsphase befinden<br />

und manche sogar schon darüber hinaus gewachsen<br />

sind. So fällt uns der veränderte Körperbau auf,<br />

die Jugendlichen sind deutlich größer geworden,<br />

die Gesichtszüge markanter, die sekundären<br />

Geschlechtsmerkmale sind deutlich ausgeprägt,<br />

mancher zarte Bart sprießt, die Jungen haben kräftigere<br />

und tiefere Stimmen. Es gibt Liebesbeziehungen<br />

und so manche damit verbundenen Konflikte<br />

und Intrigen. Insgesamt aber wirken die Achtklässler<br />

etwas ruhiger als in der 7. Klasse, so, als hätten<br />

sie sich in ihre oft verwirrenden Gefühlswelten ein<br />

wenig eingelebt.<br />

Elisabeth Haas<br />

Gestalttherapeutin<br />

Beratung – Coaching – Supervision<br />

Einzel – Paare – Team – Organisationen<br />

In der Gestalt-Arbeit unterstütze und begleite ich<br />

Sie, kleine Schritte der Veränderung zu wagen<br />

und Mutkräfte zu entwickeln, die Dinge zu verändern,<br />

die Ihnen wichtig sind.<br />

Lernen sich selbst mehr wertzuschätzen und zu<br />

erfahren, wer Mann/Frau eigentlich ist.<br />

Unnötige Selbsteinschränkung wird bewusst und<br />

alte Abhängigkeiten werden losgelassen.<br />

Unerledigtes wird vollendet und<br />

Wiederholungszwänge werden aufgelöst.<br />

Terminabsprache per E-mail oder tel. Vereinbarung.<br />

Keine Kassen<br />

Hauptstr. 41 · 53804 Much<br />

Tel. 02245/610278, /2263<br />

Info@Elisabeth-Haas.de<br />

www.Elisabeth-Haas.de<br />

24<br />

Die Waldorfpädagogik setzt in dieses Schuljahr<br />

viele Inhalte, die sich mit den Gefühls- und Gedankenwelten<br />

anderer Menschen auseinandersetzen.<br />

So beschäftigt man sich mit den großen deutschen<br />

Dichtern Schiller und Goethe. In der Geschichte erleben<br />

sie passenderweise die Zeit des Absolutismus<br />

mit dem Aufbegehren der Aufklärung über die unruhigen<br />

und prägenden Revolutionen und Veränderungen<br />

der politischen Strukturen bis hin zur Zeit<br />

des Nationalsozialismus. In der Mathematik beschäftigen<br />

sie sich mit immer stärker abstrahierenden<br />

Inhalten in der Algebra und komplizierten<br />

dreidimensionalen platonischen Körpern in der Geometrie<br />

usw. Auch hier sehen wir, dass der Lehrplan<br />

die Jugendlichen genau da anspricht, wo sie sich<br />

entwicklungsphysiologisch befinden. An der <strong>Oberberg</strong>er<br />

Schule gibt es außerdem einige Projekte, die<br />

den Kindern außergewöhnliche Lernerfahrungen bescheren.<br />

So beginnt das 8. Schuljahr mit der Biografiearbeit.<br />

Hier müssen die jungen Menschen sich intensiv<br />

mit einer Biografie auseinandersetzen und in<br />

einem öffentlichen Vortrag ihre Erfahrungen und<br />

Erkenntnisse schildern und sich mit diesem Menschen<br />

künstlerisch auseinandersetzen. Diese Vorträge<br />

eröffnen den Zuhörern oft sehr sensible und<br />

tiefe Einblicke in das Denken und Fühlen der Vortragenden,<br />

sie gehören zu den Perlen in unserem<br />

Schulgeschehen.<br />

Das nächste große Projekt ist dann das Schauspiel,<br />

das traditionsgemäß in der 8. Klasse stattfindet. Hier<br />

müssen die Jugendlichen sich nicht nur in einen<br />

anderen Menschen hineindenken und -fühlen, sondern<br />

sich bis ins Physische mit diesem Menschen<br />

verbinden. Sie müssen die Sprache, Gestik, den Gang<br />

und die Mimik übernehmen und verbinden sich so<br />

inniglichst mit ihrer Rolle. Es gehört einiges pädagogisches<br />

Geschick und Sensibilität dazu, den<br />

Jugendlichen zu der passenden Rolle zu verhelfen.<br />

Manche Rollen sind so angelegt, dass sie Eigenschaften<br />

des Schülers verstärken oder persiflieren,<br />

manche Rollen sind dem Charakter der Jugendlichen<br />

gänzlich fremd, entgegengesetzt. Beides hat seine<br />

Berechtigung, es verhilft den Jugendlichen zu einer<br />

Erweiterung ihres seelischen Horizontes und zur<br />

seelischen Stärkung und Selbsterkenntnis. Je nach<br />

Reife, Charakter und Entwicklungsstand können<br />

manche der Jugendlichen leicht und souverän in<br />

jede Rolle schlüpfen und ihr Ausdruck verleihen,<br />

andere haben es schon schwer, auch nur eine winzige<br />

Geste zu entwickeln und zu zeigen. Aber immer<br />

ist das Schaupiel in der 8. Klasse eine Höchstleistung<br />

für jeden Einzelnen, die zu erbringen ist. Dass dafür<br />

Cristal 10 | 2007


eine ganze Epoche normalen Unterrichts ausfällt,<br />

ist den hier zu erreichenden Lernerfahrungen gegenüber<br />

nachrangig.<br />

Am Ende des Schuljahres gehen unsere Achtklässler<br />

noch in ein dreiwöchiges Handwerkspraktikum,<br />

wo sie mit Herz und Hand in das Arbeitsleben<br />

der Handwerker schlüpfen dürfen. Um sie dafür zu<br />

stärken gibt es an unserer Schule vorher ein geschlechtsgetrenntes<br />

Sozialtraining, das die Jugendlichen<br />

selbstbewusster und sicherer im Umgang mit<br />

sich selbst und anderen machen möchte.<br />

Als letztes und wohl lustvollstes Projekt gibt es<br />

traditionsgemäß eine Klassenfahrt, in der die Klasse<br />

zum letzten Mal mit ihrem Klassenlehrer auf <strong>Reisen</strong><br />

geht. Insgesamt ist die 8. Klasse die Zeit des Abschieds.<br />

Nicht nur von der seit acht Jahren gewohnten<br />

Unterrichtsstruktur wird sich verabschiedet,<br />

sondern auch von dem Menschen, der die<br />

Kinder – im Idealfall – acht Jahre durch ihr Schulleben<br />

begleitet hat. Es ist wichtig, dass die Kinder<br />

sich hier endgültig abnabeln können.<br />

So wie sie sich von ihren Eltern immer mehr distanzieren,<br />

um das Leben selbst zu ergreifen, müssen<br />

sie sich von dem dritten Erzieher in ihrem Leben<br />

trennen. Dies ist manches Mal nicht einfach. So<br />

kann es sein, dass der Klassenlehrer zum völlig<br />

uncoolen Menschen erklärt wird, der längst überfällig<br />

ist. Jede andere Lehrperson ist besser, alles,<br />

was er/sie sagt ist eigentlich unmöglich, lautes Ge-<br />

motze bei jeder Ansage, ständiges Gemecker über<br />

den völlig öden Unterricht sind mögliche Erscheinungen<br />

dieser anstehenden Trennung. Dies ist für<br />

die Lehrer und oft auch für die Eltern eine recht<br />

schwierige Zeit, in der Gelassenheit und Humor und<br />

eben die Erkenntnis in den Sinn dieser Geschehnisse<br />

angesagt sind. Nur, wenn die Schüler und Schülerinnen<br />

sich von ihrem Klassenlehrer trennen können,<br />

sind sie frei für die völlig neuen und spannenden<br />

Erfahrungen, die in der Oberstufe auf sie zukommen<br />

werden.<br />

Cristal 10 | 2007 25


Pädagogik der Oberstufe<br />

Neuer Gestaltungsraum in Sicht<br />

Von Jochen Fritsch<br />

Eine zusammenfassende Darstellung der jetzigen<br />

Oberstufe zu schreiben, bedeutet, etwas Gewachsenes<br />

zu beschreiben, das an entscheidenden Stellen<br />

in Bewegung, Formung und Umbau, ist.<br />

Das Zentralabitur, das 2008 zum ersten Mal an<br />

unserer Schule abgenommen werden wird und die<br />

zentralen Prüfungen für die Fachoberschulreife, die<br />

der jetzigen Klasse 9 in Klasse 11 2009 ins Haus<br />

stehen, fordern viel von uns. Mir persönlich drängt<br />

sich angesichts der Aufgabe immer wieder das Bild<br />

eines Zuges auf, der in voller Fahrt – und mit kostbarer<br />

Fracht an Bord – umgebaut werden muss,<br />

ohne dass genau zu erkennen ist, welchen Anforderungen<br />

er in Zukunft genügen muss und wohin der<br />

Weg geht, denn nur in Teilen ist das vor ihm liegende<br />

Streckennetz erkennbar und immer wieder geht<br />

es durch Tunnel, in denen die Sicht schwindet und<br />

der Lärm zunimmt, die Überraschung auf der anderen<br />

Seite mit Spannung zu erwarten ist. Nicht nur<br />

wir selbst als Zugbegleiter und Zugführer arbeiten<br />

an der Streckenführung und dem Zug, sondern auch<br />

Beamte in Düsseldorf und Berlin.<br />

Dennoch: Die Aufgabe wird angepackt und die<br />

Chance ergriffen, das Bestehende und Bewährte zu<br />

betrachten und neben das Befürchtete und Erhoffte<br />

zu stellen. Möge dieser Schritt bei den wenigen<br />

aber entscheidend wichtigen Weichenstellungen<br />

helfen, die wir selbst vornehmen können.<br />

Im Folgenden stelle ich die Klassen 9 bis 13 vor und<br />

zeige auf, was in den letzten Jahren an unserer Schule<br />

gewachsen ist, zugleich mit einem Blick auf sich<br />

ankündigende Änderungen. Um diese zu verstehen,<br />

finden Sie vorangestellt die zu erwartenden Konsequenzen<br />

aus den Schulrechtsänderungen in NRW.<br />

Abschließend Ausblicke und Visionen, sollen Fragen<br />

gestellt und Hoffungen formuliert werden, denn<br />

Vieles ist zurzeit noch nicht absehbar.<br />

Zentralabitur und FOR: Mit den Schulrechtsänderungen<br />

des Jahres 2006, die als Folge des PISA-<br />

Schocks und beschwert durch einen Regierungswechsel<br />

in NRW zustande kamen, wurde schnell<br />

deutlich, dass auch die WaldorfschülerInnen in<br />

Nordrhein-Westfalen über kurz oder lang das<br />

Zentralabitur und die zentralen Prüfungen für die<br />

Fachoberschulreife (Realschulabschluss – FOR)<br />

ablegen müssen. Das bedeutet, dass unsere Abiturienten<br />

ab 2008 mit allen anderen SchülerInnen in<br />

NRW die genau gleichen schriftlichen Prüfungen in<br />

den entsprechenden Fächern zur gleichen Zeit<br />

machen müssen.<br />

Unsere FOR-SchülerInnen werden ab 2009 in den<br />

Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch (oder<br />

26<br />

vielleicht einer anderen Fremdsprache) zeitgleich<br />

und parallel zu den Realschulen in NRW die schriftlichen<br />

Prüfungen ablegen.<br />

Zwei Arbeitsgruppen und Eigner arbeiten an unserer<br />

Schule von verschiedenen Seiten kommend an<br />

der Aufgabe, unsere Oberstufe und den Unterricht so<br />

umzubauen und zu verändern, dass unsere SchülerInnen<br />

diese Hürden nehmen können und wir als<br />

Schule unsere Gestalt nicht verlieren.<br />

In der Gruppe Umgestaltung Oberstufe (Eigner<br />

Jochen Fritsch) arbeiten fünf OberstufenkollegInnen<br />

seit Januar 2005 daran, die Strukturen und<br />

Unterrichte vor allem in Klasse 12 so zu verändern,<br />

dass Leistungskurse und Grundkurse für die AbiturschülerInnen<br />

möglich sind und diese zugleich die<br />

(zur Zeit noch notwendigen) dreizehn Unterrichtsfächer<br />

haben, damit sie den FOR-Abschluss machen<br />

können (z.Z. in Klasse 12). Zugleich wollen und müssen<br />

wir für die FOR-SchülerInnen ein differenziertes<br />

und attraktives Programm erarbeiten, das sie noch<br />

besser als bisher auf die Arbeits- und Berufswelt<br />

nach der Schule vorbereitet.<br />

Ein zweite Gruppe, die sich um die Eignerin<br />

Lorraine Welnick scharen wird, soll aus der Mittelstufe<br />

kommend, die Fragen der Individualisierung<br />

und Differenzierung von Unterrichten betrachten<br />

und einen für die SchülerInnen und Eltern verlässlichen<br />

und transparenten Weg erarbeiten, wie die<br />

individuelle Beratung der SchülerInnen und die differenzierte<br />

Zusammensetzungen von Lerngruppen in<br />

den Oberstufenklassen ablaufen sollen.<br />

Die erste Gruppe arbeitet unter hohem Zeitdruck<br />

sehr strukturell aber nicht ohne pädagogische Erfahrung<br />

und Verantwortung – die zweite Gruppe ist<br />

deutlich pädagogischer ausgerichtet und braucht<br />

einen langen Atem. Gemeinsam ist beiden, dass sich<br />

zum einen die Anforderungen von außen immer<br />

wieder verändern können und dass zum anderen<br />

auch intern viele heikle Themen und Fragen angepackt<br />

werden müssen.<br />

Soweit zunächst die von außen an uns gestellten<br />

Forderungen und unser Umgang damit. Was das im<br />

Einzelnen bedeutet, wird bei den Klassenstufen, soweit<br />

es absehbar ist, angeführt und erläutert.<br />

Einstieg in die Oberstufe in Klasse 9: Nach dem<br />

Ende der Klassenlehrerzeit, die an der <strong>Waldorfschule</strong><br />

idealtypisch von Klasse 1 bis 8 reicht, kommen die<br />

SchülerInnen an der FWS <strong>Oberberg</strong> in die Oberstufe.<br />

Vieles von dem, was sie bisher gewohnt waren, ändert<br />

sich nun. Viele Lehrerinnen und Lehrer, die vor<br />

den SchülerInnen stehen, sind diesen neu, aber auch<br />

der ganze Duktus des Unterrichtens ist ein anderer.<br />

Cristal 10 | 2007


Die KlassenlehrerInnen, die bislang nahezu alle<br />

Epochen unterrichtet haben und damit zunehmend<br />

eine Reihe von Fächern als (gewollt und positiv zu<br />

bewertender) Nichtspezialisten bewältigten, werden<br />

abgelöst von FachlehrerInnen, die ihre studierten<br />

Unterrichtsfächer als Fachleute unterrichten<br />

und die in der Regel alle drei Wochen mit der neuen<br />

Hauptunterrichtsepoche wechseln. Neben diesem<br />

neuen Kollegium, mit dem sich die SchülerInnen<br />

auseinanderzusetzen haben, bleibt den SchülerInnen<br />

aber an vielen Stellen des Unterrichtes (z.B.<br />

möglicherweise in den Fremdsprachen, den Künsten,<br />

in Sport- und Handwerksunterrichten) ein erfahrenes<br />

Kollegium erhalten, das in Unter-, Mittel- und<br />

Oberstufe gleichermaßen zu Hause ist und den abrupten<br />

Wechsel in die Oberstufe abfedert.<br />

Betreut werden die Klassen von KlassenbetreuerInnen,<br />

die oft zu zweit arbeiten und dabei, wenn<br />

möglich, die männliche und weibliche Komponente<br />

in die Betreuung einbringen.<br />

Aus pädagogischer Sicht und unter menschenkundlichen<br />

Aspekten ist für die 9. Klasse der Begriff<br />

der Kausalität besonders wichtig. Mit Blick auf die<br />

Pubertät sprechen wir an der <strong>Waldorfschule</strong> gerne<br />

auch von der Geburt des intellektuellen Denkens, die<br />

schrittweise vonstatten geht. Zunächst geht es um<br />

das Erkennen von Notwendigkeiten, das Ursache-<br />

Wirkungs-Prinzip wird erfahrbar gemacht.<br />

Das heißt noch lange nicht, dass solche Verhältnisse<br />

und gesetzmäßigen Zusammenhänge von den<br />

Jugendlichen auch im eigenen Handeln oder gar in<br />

Fragen der sozialen Verantwortung erkannt und gegriffen<br />

werden.<br />

Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen der<br />

Entwicklung von Jungen und Mädchen immer noch<br />

weit auseinander klafft, der Schritt vom Gefühlszum<br />

Verstandesurteil individuell noch sehr unterschiedlich<br />

genommen werden kann.<br />

Das Urteilen selbst ist für die jungen Menschen aber<br />

von entscheidender Bedeutung und kann in Abänderung<br />

eines Descartes-Wortes vielleicht mit einem »Ich<br />

urteile, also bin ich« beschrieben werden. Urteilen<br />

heißt hier, sich abzugrenzen und die eigene Identität<br />

zu bestimmen. Das muss geübt und gelernt werden<br />

und findet oft auf Feldern statt, die wir Erwachsenen<br />

in ihrer Bedeutung völlig anders einschätzen.<br />

Die Unterrichtsmethoden und die Rhythmik des<br />

Unterrichtens nimmt gerade auf dieses Urteilen-<br />

Lernen Rücksicht. Wie auch schon in den Jahren<br />

zuvor, wird das zu frühe Urteilen vermieden. Neunte<br />

Klassen sind deshalb auch pädagogisch eine Herausforderung.<br />

Die von den SchülerInnen mit Spannung<br />

erwarteten und zum Teil ersehnten Änderungen<br />

werden entsprechend motiviert angenommen, aber<br />

binnen eines halben Jahres auch gerne kritisch und<br />

zum Teil vehement hinterfragt. Hier ist dann der<br />

Fachlehrer als Kompetenz und Pädagoge gefragt,<br />

Klassenbetreuer müssen wach und aufmerksam sein<br />

und bisweilen zwischen Klasse, KollegIn und Elternschaft<br />

vermitteln.


Der Fächerkanon der 9. Klasse ist breit. Neben den<br />

– im Staatsschulwesen gerne als Kernfächer bezeichneten<br />

– Fächern Mathematik, Deutsch und<br />

Englisch finden sich die Natur- und Gesellschaftswissenschaften<br />

Biologie, Physik, Chemie, Geographie,<br />

Geschichte und Politik, die zweite Fremdsprache<br />

Russisch, die Künste mit Musik, Eurythmie und<br />

der Bildenden Kunst (Malen, Zeichnen und Plastizieren),<br />

das Handwerk mit Schreinern und Handarbeit,<br />

die Religion und die Arbeit im Gartenbau. Zu all<br />

dem kommt das Landwirtschaftspraktikum, das<br />

nach dem Waldpraktikum in Klasse 7, dem Handwerkspraktikum<br />

in Klasse 8 eine gewisse Verbindung<br />

zur Mittelstufe darstellt. Das Feldmesspraktikum<br />

in Klasse 10 und das Sozial- und Dienstleistungspraktikum<br />

in Klasse 11 komplettiert die Reihe<br />

der Praktika.<br />

Konsolidierung in Klasse 10: Die Schülerinnen<br />

und Schüler sind jetzt in der Oberstufe angekommen.<br />

Weitere Schritte zur Eigenaktivität, zum Sich-<br />

Finden des jungen Menschen sollen erfolgen. Die<br />

jungen Leute werden von den Lehrern ab hier in der<br />

Regel mit dem distanzierteren „Sie“ angesprochen.<br />

Die Naturwissenschaften, aber auch beispielweise<br />

die Methoden im Deutschunterricht an Literatur<br />

heranzugehen, sollen helfen, die Klarheit im Denken<br />

und zunehmende Urteilsfähigkeit zu befördern.<br />

Deutlich spürt der Lehrer am Ende der Klasse 10,<br />

dass sich die Jugendlichen immer besser aus dem<br />

Belieben von Sympathie und Antipathie herauslösen<br />

Hier steht in den kommenden Jahren nach<br />

Überzeugung einer Vielzahl von Lehrern auch<br />

an unserer Schule ein Paradigmenwechsel an,<br />

der aber nicht einfach verordnet werden kann,<br />

sondern der mit Eltern und vor allem den<br />

Schülern zusammen entwickelt werden muss.<br />

können. Oft beruhigen sich hier zuvor noch wilde<br />

Klassen. Der Epochenunterricht bietet den Klassen<br />

und den LehrerInnen immer wieder neue Gelegenheiten,<br />

den Umgang miteinander zu verändern.<br />

Besonderheiten sind an unserer Schule zwei mögliche<br />

<strong>Reisen</strong>: die Sprachreise, die in den vergangenen<br />

Jahren in den russischen Sprachraum ging (vorzugsweise<br />

St. Petersburg oder Jalta/Ukraine) und<br />

das Feldmesspraktikum, für das sich neben heimischen<br />

Gefilden, auch Inseln in der Nordsee anbieten<br />

oder Landschaften in Bayern gewählt wurden.<br />

Die oft hinterfragte Favorisierung des russischen<br />

Sprachraumes für eine solche Reise erklärt sich<br />

leicht, wenn man den Blick auf die andere Fremdsprache<br />

Englisch richtet. Das Englische lebt in so<br />

hohen Maße in unserem Kulturraum (z.B. in alltäglich<br />

wahrnehmbarer Musik oder auch in Fachsprachen<br />

bei Entwicklungen in Wissenschaft und Technik),<br />

dass man von einer Allgegenwart des Englischen<br />

in unserem und mehr noch dem Alltag unserer<br />

Kinder sprechen kann. Hinzu kommt, dass das<br />

28<br />

Englische als germanische Sprache dem Deutschen<br />

verwandt ist.<br />

Dem gegenüber findet das Russische in unserer<br />

westeuropäischen Welt nahezu keinen Raum. Bedenkt<br />

man, dass mit dem Kyrillischen eine eigene<br />

Schrift erlernt werden muss, kann man es einsehen:<br />

Eine solche Sprache in ihrem eigenen Kulturraum zu<br />

erfahren, Menschen und Mentalitäten zu erleben,<br />

die in dieser Sprache einen wesentlichen Teil ihrer<br />

geistigen Heimat haben, ist dringend notwendig.<br />

Dennoch: Das Konzept der Sprachreisen wird immer<br />

wieder diskutiert und bearbeitet, auch, weil <strong>Reisen</strong><br />

teuer und Unterrichtszeiten knapp sind.<br />

Zusätzlich zum normalen Deutschunterricht<br />

kommt in Klasse 10 die sogenannte Poetikepoche,<br />

sie ist Teil einer kunst- und kulturhistorischen<br />

Epochenreihe in der Oberstufe und fasst die Lyrik der<br />

deutschen Literatur vom 11. Jahrhundert bis in die<br />

Gegenwart ins Auge. In der Ausgestaltung an unserer<br />

Schule kreieren die Schüler gerne und viel selbstverfasste<br />

Lyrik.<br />

Zu dieser Epoche kommt in der Klasse 9 die Kunstgeschichte<br />

hinzu – die Musikgeschichte und eine<br />

Geschichte der Architektur sind noch denkbar. Die<br />

Ausgestaltung dieser Reihe ist bis auf die beiden<br />

Säulen der Poetik und der Kunstgeschichte für unsere<br />

Schule noch offen.<br />

Oberstufe oder Sekundarstufe II: Ein wenig kompliziert<br />

wird es vom Schulrecht her, wenn unsere<br />

Schüler in die 11. Klasse kommen. Juristisch sind<br />

die SchülerInnen dann nämlich in der Sekundarstufe<br />

II, dass heißt, dass sie das Schulgelände verlassen<br />

dürfen, früher durften Sie zudem auf dem<br />

Schulgelände an besonders dafür vorgesehenen<br />

Orten rauchen. Dies ist seit dem Schuljahr 2006/07<br />

verboten und die wenigen Raucher, die wir noch<br />

haben, verlassen hierfür das Schulgelände.<br />

Von den Abschlüssen und der Refinanzierung (der<br />

Unterrichtskosten durch das Land NRW) her gehören<br />

unsere Elftklässler aber noch in die Sekundarstufe<br />

I, weil sie erst am Ende der Klasse 11 die Fachoberschulreife<br />

(ab 2009) ablegen werden.<br />

Vom Pädagogischen her haben es die Lehrer mit<br />

zunehmend selbstständig werdenden jungen Menschen<br />

zu tun. Die nun 17 und 18 Jahre alten Schülerinnen<br />

und Schüler durchschauen zunehmend die<br />

sie umgebende Welt und auch die sie umgebenden<br />

Menschen, inklusive ihrer Lehrer. Ihre Kritikfähigkeit<br />

– nicht zwingend ihre Selbstkritikfähigkeit – wächst<br />

mit der Urteilsgrundlage und es ist von Seiten der<br />

Pädagogen dringend geboten, den SchülerInnen mit<br />

Respekt und Achtung auch nach außen hin zu begegnen.<br />

Dieser Respekt vor dem jungen Menschen<br />

ist natürlich bereits in der ersten Klasse der <strong>Waldorfschule</strong><br />

Grundprinzip pädagogischen Handelns,<br />

jetzt wird er aber auch nach außen sichtbar notwendig<br />

als soziale Form.<br />

Hier sollte der Lehrer noch viel mehr als zuvor<br />

zum Berater werden. Die Unterrichtsformen, die in<br />

Unter- und Mittelstufe noch lehrerzentriert sind,<br />

Cristal 10 | 2007


sollten schülerzentrierter werden. Gruppenarbeiten<br />

und selbstverantwortetes Lernen werden wichtiger.<br />

Hier steht in den kommenden Jahren nach Überzeugung<br />

einer Vielzahl von Lehrern auch an unserer<br />

Schule ein Paradigmenwechsel an, der aber nicht<br />

einfach verordnet werden kann, sondern der mit Eltern<br />

und vor allem den Schülern zusammen entwickelt<br />

werden muss.<br />

Der Fächerkanon wird in der Klasse 11 ein wenig<br />

schmaler. Das Fach Gartenbau ist mit dem Ende der<br />

Klasse 10 beendet, auch wenn es in gewisser Weise<br />

mit dem Ökologiepraktikum in Klasse 11 unter veränderten<br />

Vorzeichen fortgesetzt wird und auch die<br />

Handarbeit wird weniger.<br />

Das Sozial- und Dienstleistungspraktikum führt<br />

die SchülerInnen erstmals nach dem Handwerkspraktikum<br />

in Klasse 8 wieder in die Arbeitswelt des<br />

freien Arbeitsmarktes, auch wenn man feststellen<br />

kann, dass für Schüler unserer Schule der Beruf des<br />

Landwirts nicht nur eine abstrakte oder romantische<br />

Größe darstellt.<br />

Mit dem Sozial- und Dienstleistungspraktikum<br />

sammeln unsere Schüler Erfahrungen in Berufsfeldern,<br />

die ihnen bis dahin fremd waren. Da erfahrungsgemäß<br />

eine Reihe unserer Schüler in Sozialberufe<br />

gehen (z.B. Krankenpflege, Sonderpädagogik,<br />

Kindergärten) sind die Praktika als berufsorientierend<br />

unverzichtbar. Sie werden begleitet und betreut<br />

von den Klassenkollegen, Sie werden aufgearbeitet<br />

in Berichtsheften und sollen in Zukunft Teil<br />

der Abschlussportfolios unserer Schüler werden.<br />

Durch die oben angedeuteten Umgestaltungen in<br />

unserer Oberstufe, die das Zentralabitur zunächst<br />

einmal nötig macht, hat sich die Klasse 11 in den<br />

vergangenen zwei Jahren verändert. Das Theaterprojekt,<br />

das früher Zwölftklassspiel hieß, ist ans<br />

Ende der Klasse 11 gerutscht und an dieser Stelle in<br />

den letzten Jahren auch mit Erfolg über die Bühne<br />

gegangen. Die Jahresprojektarbeiten sind in 2006<br />

und 2007 leicht verkürzt, vom Abschlusstermin her<br />

um fast ein halbes Jahr nach vorne verlegt worden.<br />

Die Abschlusspräsentationen finden in diesem Jahr<br />

zum zweiten Mal vor den Herbstferien statt und bestimmen<br />

deshalb nicht die Abläufe in der Klasse 12<br />

bis in den Frühling hinein.<br />

Vor allem aber müssen in den 11. Klassen die Differenzierungsvorgänge<br />

mit Blick auf die Abiturkurse<br />

entschieden werden. Am Ende der Klasse 11 muss<br />

feststehen, wer in der zwölften den Weg zum Abitur<br />

gehen soll und wer den FOR- und Berufsvorbereitungsweg<br />

vor sich hat.<br />

Zurzeit können wir für unsere Schule noch nicht<br />

mit Gewissheit sagen, wie sich diese Differenzierungsprozesse<br />

gestalten werden und wie offen und<br />

durchlässig die unterschiedlichen Schienen in Zukunft<br />

sein werden. Zentralabitur bedeutet ja, dass je<br />

Fach eine ganze Reihe obligatorischer Themen und<br />

Inhalte im Unterricht gelehrt und bearbeitet werden<br />

müssen, auf die die SchülerInnen auch formal ein<br />

Anrecht haben. Hier stellen sich für uns als Schule<br />

eine Frage und eine Aufgabe.<br />

30<br />

Der Umbruch der 12. Klasse: Die gravierendsten<br />

Veränderungen hat es in den letzten beiden Jahren<br />

in der Klasse 12 gegeben. Bis vor zwei Jahren war<br />

unsere zwölfte die klassische Abschlussklasse, in der<br />

die Hauptunterrichtsepochen die Fächer und Fachinhalte<br />

abrundeten und in denen mit den drei<br />

großen Säulen Theaterprojekt, Künstlerischer Abschluss<br />

und Jahresprojektarbeit, neben den staatlich<br />

sanktionierten Schulabschlüssen auch der Waldorfabschluss<br />

gemacht wurde. Auch wenn hierüber<br />

mehrfach berichtet wurde, will ich kurz darstellen,<br />

was in den vergangenen zwei Jahren geschah, wie<br />

der jetzige Stand ist und wie vielleicht die Zukunft<br />

aussehen könnte.<br />

Konzentration auf das Notwendige: Gleich<br />

nach Bekanntwerden der Absichten und Pläne der<br />

damals noch SPD-geführten Landesregierung<br />

2004/05 ging die oben skizzierte Eignerschaft und<br />

die Arbeitsgruppe Umgestaltung Oberstufe an die<br />

Arbeit. Seit Februar 2005 arbeiten wir wöchentlich<br />

zu festgelegten Zeiten, mit Tagesordnungen und<br />

Protokollen und haben viel geschafft in den zurückliegenden<br />

Jahren, auch wenn die Gedanken<br />

und Pläne zu Beginn der Arbeit visionärer und idealistischer<br />

waren. Der Wunsch nach veränderten<br />

Zeitstrukturen, dem Aufbrechen des 45-Minuten-<br />

Taktes und veränderten Unterrichtsformen und<br />

-räumen war zu Beginn groß. Schnell aber wurde<br />

klar, dass angesichts der geringen Zeit von 2–3<br />

Schuljahren und der Komplexität der Aufgabe,<br />

realisierbare Pläne für 15 Klassen, 480 Schüler,<br />

35 Kollegen in etwa 30 Unterrichtsräumen zu entwerfen,<br />

eine Konzentration auf das unbedingt Notwendige<br />

angesagt war.<br />

Mit Beginn der Klasse 12 2006/07 mussten die<br />

Leistungs- und Grundkurse der vier schriftlichen<br />

Abiturfächer einsetzen. Um den Unterricht zu konzentrieren,<br />

damit die Nicht-Abiturfächer nicht völlig<br />

an den Rand (oder darüber hinaus) gedrängt würden,<br />

führten wir einen zweiten Epochenstreifen für<br />

die Klassen 11–13 ein, in dem vor allem die vier<br />

schriftlichen Abiturfächer in 8-stündigen 4-Wochen-Epochen<br />

gegeben werden. So konnten wir die<br />

bis dahin üblichen Einzel-Übstunden aufgeben.<br />

Die Zeitstruktur des Schuljahresverlaufes der Klassen<br />

11 und 12 wurde verändert. Das Theaterprojekt<br />

(s.o.) wurde ans Ende der Klasse 11 gelegt und die<br />

Jahresprojektarbeit von der Präsentation, also dem<br />

Abschluss her, um vier bis fünf Monate nach vorne<br />

verschoben, damit sie Anfang Klasse 12 abgeschlossen<br />

werden kann.<br />

Der Künstlerische Abschluss in seinem Verlauf und<br />

Gewicht wurde neu bedacht und strukturiert: Die<br />

SchülerInnen legen in diesem Jahr den Abschluss in<br />

Musik oder in Eurythmie ab und auch im Bereich der<br />

Bildenden Kunst müssen die Schüler eine Auswahl<br />

treffen.<br />

In zeitaufwändiger Kleinarbeit gelang es uns, dies<br />

in die Stundentafel einzuarbeiten und später im<br />

Stundenplan umzusetzen.<br />

Cristal 10 | 2007


Evaluierung der Änderungen: Im laufenden Schuljahr<br />

2006/07 werden diese ersten Schritte rückblickend<br />

evaluiert und ggf. modifiziert. Im Blick auf<br />

das Theaterprojekt, die Jahresprojektarbeit und den<br />

zweiten Epochenstreifen ist das bereits geschehen:<br />

Der zweite Epochenstreifen wird von Schüler-<br />

Innen und KollegInnen als ruhig und konzentrierend<br />

beschrieben. Die Stillarbeits- und Übphasen begrenzen<br />

die Hausaufgabenbelastung. Die Schüler<br />

haben weniger Fächer pro Tag, auf die sie sich vorbereiten,<br />

einstellen und konzentrieren müssen. Die<br />

Vorbereitung der KollegInnen ist kontinuierlicher, es<br />

gibt weniger Einarbeitungsreibungen zu überwinden.<br />

Auch Nachteile wurden sichtbar: Wenn durch<br />

Doppelepochen ein Kollege mit einem oder zwei<br />

Fächern beide Epochen einer Klasse zugleich vertritt<br />

(= 20 Stunden pro Woche) sind die Nerven der<br />

Klassen und KollegInnen doch sehr belastet. Krankheiten<br />

und Ausfälle solcher KollegInnen sind nicht<br />

kompensierbar. Diesen Nachteilen kann man zum<br />

Teil in der Stundenplanung begegnen und sie berücksichtigen!<br />

Für das Theaterprojekt und die Jahresprojektarbeit<br />

ergab sich zunächst, dass die Zeitstruktur zumindest<br />

für die kommende Zwölfte, die jetzige Elfte, beibehalten<br />

wird. Der Künstlerische Abschluss mit seinen<br />

beiden Teilen kann erst am Ende des Schuljahres<br />

überprüft werden.<br />

Planungen für das Schuljahr 2007/08: Die<br />

Hauptunterrichte und Zweitepochen der Klasse 12<br />

werden in den Abiturfächern weitgehend differenziert.<br />

Voraussichtlich werden wir 7 von 13 HU-Epochen<br />

in eine Abitur- und eine FOR-Gruppe aufteilen.<br />

Hierin steckt vor allem für die FOR-Gruppe eine<br />

große Chance, weil diese SchülerInnen nicht mehr<br />

den auch in der Vergangenheit doch immer wieder<br />

in die Hauptunterrichte der Klasse 12 hineinragenden<br />

Abituranforderungen genügen müssen, sondern<br />

im Gegenteil ein für diese SchülerInnen zugeschnittener<br />

Unterricht angeboten werden kann. Hier<br />

werden z.Z. eine Reihe von Unterrichten und Kursen<br />

geprüft und Konzepte erarbeitet.<br />

Dies wären neben den notwendigen Unterrichtsfächern<br />

beispielsweise: PC – Unterricht, Berufsorientierte<br />

Pädagogik, KunstWerk-Epochen, Berufspraktika<br />

(zur Orientierung oder Berufsvorbereitung),<br />

Anlage eines Abschlussportfolios (in Zukunft in Klasse<br />

9 einsetzend), Bewerbungen und Bewerbungstrainings,<br />

Politik und Medienkunde, Wirtschaftslehre/Recht,<br />

Technisches Zeichnen und Elektro- u.<br />

Haustechnik/Physik.<br />

Der zweite Epochenstreifen soll auf die Klasse 10<br />

ausgedehnt werden, damit auch hier die ruhigere,<br />

rhythmischere und konzentriertere Arbeit in den<br />

Fächern möglich wird.<br />

Erfreuliche Aussichten: Für die Schuljahre ab<br />

2008/09 sieht die Lage völlig anders aus. Interessante<br />

Möglichkeiten und Chancen eröffnen sich uns,<br />

weil die SchülerInnen ab 2009 in der Klasse 11 die<br />

FOR-Prüfungen ablegen werden, aber alle Schüler<br />

der 12. Klasse refinanziert werden.<br />

Ab 2009 werden in der 12. Klasse der <strong>Waldorfschule</strong>n<br />

gemeinsam Schüler sitzen, die entweder<br />

das Abitur machen oder sich auf die weitere berufliche<br />

Ausbildung vorbereiten wollen. Allen gemeinsam<br />

ist, dass sie (hoffentlich) am Ende der 11. Klasse<br />

den FOR-Abschluss gemacht haben und nun in der<br />

Klasse 12, wie bisher den Waldorfabschluss machen<br />

können. Dadurch, dass sie alle den FOR-Abschluss<br />

schon gemacht haben und vom Land, unabhängig<br />

von ihren weiteren Plänen, refinanziert werden,<br />

kann der Waldorfabschluss, der bis jetzt eine eher<br />

untergeordnete Rolle spielte, weil er mit den FOR-<br />

Abschlüssen zusammenfiel und der Abiturvorbereitung<br />

eher im Wege stand, ein neues Gewicht und<br />

endlich eine eigene, sichtbare Gestalt bekommen.<br />

Es entsteht plötzlich ein Gestaltungsraum, weil<br />

die SchülerInnen nicht mehr alle bindenden 13<br />

Unterrichtsfächer des FOR-Abschlusses haben müssen.<br />

Die Abiturgruppe muss nur acht Fächer belegen,<br />

die aber nicht so intensiv gefahren werden müssen,<br />

wie in der Klasse 13 nach jetzigem Muster.<br />

Es ist also denkbar, dass Teile der jetzt in die Elften<br />

verlagerten Aktivität (Theater, Künstlerischer<br />

Abschluss, Jahresprojektarbeit) wieder in die Klasse<br />

12 gelegt werden können und der Waldorfabschluss<br />

eine darüber hinaus gehende Ausgestaltung und Bedeutung<br />

erfährt.<br />

Soweit der Blick auf unsere Oberstufe, wie sie sich<br />

im laufenden und kommenden Schuljahr präsentiert.<br />

Der Blick ist bei aller Komplexität sehr knapp<br />

ausgefallen. Vieles hätten die einzelnen Fächer und<br />

die Fachbereiche noch beizutragen. Bis in die Klassen<br />

12 und 13 hinein bleiben unsere Ansprüche pädagogisch-menschenbildende,<br />

in deren Dienst die<br />

Fächer und die Inhalte stehen.<br />

Ein jeder Fachkollege hätte andere Aspekte betont,<br />

interessante Perspektiven gewählt und letztlich<br />

liegt hierin etwas Entscheidendes und Wertvolles:<br />

Im Miteinander der Arbeit und Entwicklung von so<br />

unterschiedlichen Menschen, die ein gemeinsames<br />

Ziel und Wollen haben, entstehen immer wieder Beratungs-<br />

und Entscheidungsprozesse von großer<br />

Qualität. Dieser Blick auf unsere Oberstufe ist nicht<br />

nur ein Blick auf zwei Jahre Reform und Umbau,<br />

sondern auch ein Blick auf 10 Jahre Entwicklung unserer<br />

Oberstufe und viele Jahrzehnte Entwicklung<br />

der <strong>Waldorfschule</strong>n in Deutschland.<br />

Jochen Fritsch<br />

Oberstufenlehrer, betreut die<br />

11. Klasse, verantwortlich für<br />

den Prozess »Umgestaltung der<br />

Oberstufe« an der FWO.<br />

Cristal 10 | 2007 31


32<br />

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