19.11.2015 Aufrufe

Justiz und Kriminalität

Justiz und Kriminalität Recherchen und Reportagen Balz Rigendinger

Justiz und Kriminalität
Recherchen und Reportagen
Balz Rigendinger

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

28 GESELLSCHAFT | TITEL<br />

Mörderischer Ehrgeiz<br />

Er war ein Arbeitersohn, der sich ins Herz der Bankenwelt hochrackerte. Er war ein Mann, der<br />

kaum je sein wahres Gesicht zeigte. Bis er vor zweieinhalb Wochen in der ZKB zwei Vorgesetzte<br />

erschoss. Und dann sich selbst. Das Leben <strong>und</strong> Töten des Helmut B. – eine Spurensuche.<br />

Am frühen Morgen des 5. Juli, als<br />

Helmut B. in seinen roten Smart<br />

stieg, um zum Zürcher Tessinerplatz<br />

zu fahren, hatte er mit seinem Leben<br />

abgeschlossen. Das Gebäude der Zürcher<br />

Kantonalbank, das er bisher nur im feinen<br />

Anzug <strong>und</strong> mit Krawatte betreten hatte,<br />

suchte er an diesem Tag in Jeans, kariertem<br />

Hemd <strong>und</strong> Turnschuhen auf. Der Obduktionsbericht<br />

sagt, Helmut B., 56, sei zu diesem<br />

Zeitpunkt völlig nüchtern gewesen, er<br />

hatte weder Alkohol getrunken noch Drogen<br />

genommen. Der Finanzplaner führte seinen<br />

letzten Plan aus: Er will vier Vorgesetzte erschiessen.<br />

Und dann sich selber.<br />

Das Vorhaben war ungeheuerlich. Helmut<br />

B. nahm zwei Arbeitskollegen mit<br />

in den Tod; der dritte entkam, der vierte<br />

war nicht im Büro. Im Abschiedsbrief, den<br />

man bei ihm zu Hause fand, bedauert<br />

Helmut B., dass es so weit habe kommen<br />

müssen. Und er bat die Verwandten, der<br />

Öffentlichkeit nichts über sein Leben preiszugeben.<br />

Das war auch nicht nötig. Die Meinungen<br />

waren schnell gemacht – noch bevor<br />

die Toten beerdigt waren. Leistungsdruck,<br />

Mobbing, Arbeitsklima – die Kritiker der<br />

Bankenwelt sahen in Helmut B. einen tragischen<br />

Irrläufer, der ihre Ansichten zu bestätigen<br />

schien. «Mich hat überrascht, dass<br />

es so lange gedauert hat, bis etwas passiert<br />

ist – die wahren Schuldigen sitzen in der<br />

Chefetage», wusste Peter Vonlanthen, Geschäftsleiter<br />

des Kaufmännischen Verbandes<br />

Zürich, schon wenige St<strong>und</strong>en nach der<br />

Untat. «Der Täter ist auch ein Opfer», lautete<br />

der Tenor in den Leserbriefspalten <strong>und</strong> in<br />

aus der Hüfte geschossenen Schnellst-<br />

Kommentaren. Auch das Ausland nahm die<br />

Bluttat bestürzt zur Kenntnis, die «Frankfurter<br />

Allgemeine» resümierte über die<br />

Lage in der Schweizer Arbeitswelt: «Unter<br />

den gehobenen Angestellten von Schweizer<br />

Banken muss es eine unglaubliche Verunsicherung<br />

geben, wie aus vielen Leserbriefen<br />

herauszulesen ist. Im Büro sei einer des<br />

andern Feind geworden. Aufputschmittel<br />

würden konsumiert werden. Das ruiniere<br />

die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> beschleunige den Zusammenbruch,<br />

was schliesslich bis zu Mord<br />

<strong>und</strong> Selbstmord führen könnte.»<br />

Helmut B., der die Schweiz aufwühlte<br />

<strong>und</strong> zugleich ratlos liess wie einst Günther<br />

Tschanun, zeigte mit seiner Bluttat ein<br />

Gesicht, das keiner kannte, das keiner je<br />

gesehen hatte. Er wird von Arbeitskollegen<br />

aus der Banken- <strong>und</strong> Versicherungswelt<br />

Armeepistole 49 SIG P210: Der erste<br />

Schuss trifft Martin D. in den Kopf.<br />

als Berner Gentleman mit sonorer Stimme<br />

beschrieben. Als ein Mann, der stets glatt<br />

rasiert war, akkurat frisiert, der nicht trank,<br />

das Rauchen lange schon aufgegeben hatte.<br />

Helmut B. galt als korrekt, bescheiden,<br />

pünktlich <strong>und</strong> zuverlässig. Aber das alles<br />

bedeutet nur: Richtig gekannt hat ihn<br />

niemand.<br />

I. «Müttu» – Kindheit in Langenthal<br />

Der Mann, der mit 56 Jahren zum Doppelmörder<br />

wurde, wuchs als Arbeitersohn auf,<br />

als ein Kind aus so genannt einfachen Verhältnissen.<br />

Er sollte später eine steile Karriere<br />

machen, Helmut B. schaffte es binnen<br />

35 Jahren vom Hilfsmonteur zum Kadermann<br />

der drittgrössten Schweizer Bank, ein<br />

Aufstieg, der ihm erst mal einer nachmachen<br />

soll. Sein damaliger Langenthaler Primarlehrer<br />

erinnert sich: «Er hat seine Sache<br />

stets recht gemacht.» Und eine Frau, die mit<br />

Helmut neun Jahre lang die Schulbank<br />

drückte, sagt: «Er war flink <strong>und</strong> frech wie<br />

ein Wiesel.»<br />

Als drittes von vier Kindern kommt<br />

Helmut B. am 29. Juli 1948 in Langenthal<br />

BE zur Welt. Sein Vater arbeitet als<br />

Schweisser, auch die Mutter geht arbeiten.<br />

Die Familie hat sich in einem bescheidenen<br />

Zweifamilienheim eingemietet. Von Helmuts<br />

Elternhaus braucht man zu Fuss eine<br />

Viertelst<strong>und</strong>e bis in die Altstadt. In dem<br />

Aussenquartier, in dem er aufwächst, werden<br />

in den Fünfzigerjahren, der Zeit des<br />

Wirtschaftsw<strong>und</strong>ers, schmucke Einfamilienhäuser<br />

gebaut, eins ums andere, jedes mit<br />

bescheidenem Umschwung. Die B.s können<br />

sich keins davon leisten. Samstags mähen<br />

die Männer den Rasen. Ihre Gattinnen treffen<br />

sich beim Stewi zum Schwatz. Das Langenthal<br />

des heranwachsenden Helmut B. ist<br />

eine Mittelland-Idylle.<br />

An «anständige Menschen, die hart<br />

arbeiteten», erinnert sich eine Nachbarin,<br />

wenn sie an die Familie B. denkt. Wer<br />

chrampft, der bringt es zu was, hiess es in<br />

der Kleinstadt. «Müttu», wie die Mutter<br />

ihren Sohn Helmut nannte, muss diese Lektion<br />

gelernt haben – er wollte es zu sehr viel<br />

bringen.<br />

Die Schulzeit verbrachte Helmut in<br />

einer Klasse mit 20 Schülern im Langenthaler<br />

Schulzentrum Hard. Er war nicht der<br />

Kleinste – aber er war so klein, dass sich<br />

ehemalige Mitschüler heute noch als Erstes<br />

an seine geringe Körpergrösse erinnern.<br />

«Erstaunlich war, dass er sich trotzdem mit<br />

allen anlegte», erzählt sein langjähriger<br />

Banknachbar. «Und es war gut, ihn auf seiner<br />

Seite zu haben. Dank seinem Drauf- <br />

FACTS 22. Juli 2004


TITEL | GESELLSCHAFT 29<br />

Helmut B. (vorne, Zweiter v. r.), 1999: Er durfte sich zu Recht Hoffnung machen, er war in die Boombranche der Neunzigerjahre eingestiegen.<br />

Zürcher Kantonalbank, Tessinerplatz in Zürich, 5. Juli 2004: Der Obduktionsbericht sagt, Helmut B. sei zur Tatzeit völlig nüchtern gewesen.<br />

22. Juli 2004 FACTS


30 GESELLSCHAFT | TITEL<br />

Helmut B. (erste Reihe, l.), Langenthaler Schulzentrum Hard: Die schulischen Leistungen waren Mittelmass.<br />

gängertum verschaffte er sich auf dem<br />

Pausenplatz Respekt.»<br />

In einer Disziplin war Müttu unschlagbar:<br />

Keiner kam schneller die Kletterstange<br />

hoch als er. Die schulischen Leistungen dagegen<br />

waren Mittelmass. Auf einem Klassenfoto,<br />

das Helmut im Alter von zwölf Jahren<br />

zeigt, sitzt er aufrechter als alle andern,<br />

<strong>und</strong> er hat sich in die erste Reihe gesetzt.<br />

Das Bild zeigt einen Buben mit wachem<br />

Blick, hellen Augen <strong>und</strong> dunkelblondem<br />

Haar, einen hübschen Buben. Einzig sein<br />

Lächeln scheint gezwungen, kontrolliert.<br />

40 Jahre später wird Helmut B. sich<br />

wieder für einen Fotografen in die vorderste<br />

Reihe setzen, für ein Bild vom Gründungsjahrgang<br />

der Diplom-Finanzplaner. Auf diesem<br />

Foto erkennt man es wieder: dieses<br />

kontrollierte Lächeln.<br />

Helmut ist 16-jährig, als er bei der Firma<br />

Elektro Berchtold in Aarwangen BE eine<br />

Lehre als Elektriker antritt. Sein verstorbener<br />

Lehrmeister Kurt Berchtold sei ein<br />

«strenger, aber gerechter Mann» gewesen,<br />

sagt die Witwe Elvira Berchtold. «Helmut<br />

musste anständig sein, nichts vergeuden.<br />

Darauf legte mein Mann viel Wert.»<br />

Von Helmuts Elternhaus zum Lehrbetrieb<br />

sind es fünf Kilometer, die der Junge<br />

stets mit dem Fahrrad zurücklegt. Arbeitsbeginn:<br />

7 Uhr. Feierabend: 18 Uhr. Am<br />

Samstag ist der angehende Elektriker bis<br />

Mittag im Dienst. Helmut verdient im ersten<br />

Lehrjahr 35 Franken monatlich, im letzten<br />

80 Franken. Sonntags geht er in die Kirche –<br />

so will es die katholische Erziehung. «Seine<br />

Eltern lebten ihm ein solides Leben vor»,<br />

sagt Elvira Berchtold.<br />

II. Rastlose Jahre – B.s Aufstieg<br />

Doch Helmut B. wählt ein anderes Leben als<br />

seine Eltern, es kommen rastlose Jahre auf<br />

ihn zu. Nach der Rekrutenschule arbeitet B.<br />

je ein Jahr als Hilfsmonteur in Madiswil BE<br />

<strong>und</strong> in Zermatt VS. Es folgen drei Monate<br />

Arbeit in Bulle FR, sechs Monate in Aarwangen<br />

BE. Dann, mit 23 Jahren, zieht es<br />

Helmut B. nach Täsch VS – es ist der Ort, an<br />

dem er seine Frau A. kennen lernt. Am 26.<br />

April 1973 heiraten die beiden. Fünf Jahre<br />

lang arbeitet Helmut B. in demselben Betrieb,<br />

der Elektro Schuler AG in Zermatt. Er<br />

kauft eine Eigentumswohnung in einem<br />

Mehrfamilienhaus in Täsch, er gründet eine<br />

Familie. 1978 kommt das erste Kind zur<br />

Welt, die Tochter.<br />

B., der Familienvater, scheint sesshaft<br />

geworden zu sein. In Täsch – das Dorf liegt<br />

auf dem Weg zum autofreien Tourismusziel<br />

Zermatt – prägen weite Parkfelder das Ortsbild.<br />

Helmut B.s Schwiegervater – er ist verstorben<br />

– war Kleinunternehmer, im Dorfkern<br />

stand damals seine Schlosserei <strong>und</strong><br />

Eispickelfabrikation. «Früher lief das Geschäft<br />

mit Eispickeln gut», sagt ein Einheimischer,<br />

«der Betrieb exportierte bis nach<br />

Japan.»<br />

Das nahe Zermatt wurde B.s Welt. Hier<br />

arbeitete er, hier ging er als Service- <strong>und</strong> Telefonmonteur<br />

in den Ferienhäusern der Reichen<br />

<strong>und</strong> den Luxushotels ein <strong>und</strong> aus. Das<br />

mondäne Milieu muss ein Begehren nach<br />

eigenem Wohlstand geweckt, seinen Drang<br />

zum sozialen Aufstieg angestachelt haben.<br />

1978 setzt Helmut B. zum ersten Karrieresprung<br />

an: Er beginnt in Winterthur eine<br />

Ausbildung zum diplomierten Elektroinstallateur.<br />

Die Schule kostet ihn gut<br />

20000 Franken. Eine Investition, so rechnet<br />

sich Helmut B. aus, die sich lohnen wird.<br />

Kaum hat er das Diplom in Händen,<br />

packt ihn wieder die alte Rastlosigkeit, die<br />

Suche nach der besten beruflichen Möglichkeit.<br />

Umzug an den Zürichsee: In Horgen<br />

ZH arbeitet er bei der Elektro Feller AG,<br />

dann, 1980, Wohnungswechsel nach Seon<br />

AG. B. wird Souschef des Elektrobetriebs<br />

Suter-Lüscher, er verdient einen Meisterlohn,<br />

4037 Franken. Offenbar ist es ihm<br />

nicht genug, er arbeitet nebenbei als Hauswart.<br />

Helmut B. ist vierzig, Vater zweier Kinder,<br />

als er beschliesst, nie mehr in seinem<br />

Leben den Blaumann überzuziehen. B., der<br />

vor noch nicht allzu langer Zeit auf dem Bau<br />

gemeinsam mit Spaniern, Italienern, Tür-<br />

FACTS 22. Juli 2004


TITEL | GESELLSCHAFT 31<br />

B.s Elternhaus in Langenthal, B. als Elektroinstallateur 1981: Er arbeitete nebenbei als Hauswart.<br />

ken Kabel verlegte, bindet sich eine Krawatte<br />

um, zieht den Zweireiher an <strong>und</strong> wechselt<br />

in die Versicherungsbranche. Ein Jahr lang<br />

arbeitet er für die Basler als Versicherungsmakler,<br />

dann geht er zur Zürich. Diesem<br />

Arbeitgeber bleibt er zwar neun Jahre lang<br />

treu, Ruhe kehrt in B.s Laufbahn nicht ein.<br />

Fünf Mal wechselt er die Agentur, rastlos<br />

sucht er nach weiteren Aufstiegsmöglichkeiten,<br />

eine Strategie, die ihn schliesslich<br />

ins Zentrum der Schweizer Finanzwelt<br />

führt, nach Zürich, an den Hauptsitz der<br />

Zürich am Mythenquai. Hier hält er es vier<br />

ganze Jahre aus.<br />

III. Financial Consultant Helmut B.<br />

Aber Helmut B. wäre nicht Helmut B., wäre<br />

er in Gedanken nicht bereits weiter gewesen,<br />

in einer Zukunft, die ihm noch<br />

erfolgreicher schien. 1997 bis 1999 büffelt<br />

er an der Fachhochschule Winterthur einen<br />

Nachdiplom-Kurs, berufsbegleitend. Er will<br />

diplomierter Finanzplaner werden, <strong>und</strong> ins<br />

Telefonbuch lässt Helmut B., der einmal ein<br />

einfacher Arbeiter war, eintragen: «B., Helmut,<br />

Dipl. Financial Consultant NDS FH».<br />

Mit dem Diplom wechselt er zur Genfer-<br />

Versicherung – für ein Jahr.<br />

B. war mit seinen 49 Jahren an der Winterthurer<br />

Schule der älteste Kursteilnehmer<br />

gewesen, <strong>und</strong> er hatte das Amt des Klassensprechers<br />

übernommen. «Er musste alles<br />

geben, sich voll ins Zeug legen», erinnert<br />

sich ein Ex-Schulkollege. Unter der Woche<br />

arbeitete B. als Versicherungsmakler, freitagabends<br />

<strong>und</strong> samstags drückte er in Winterthur<br />

die Schulbank, sonntags büffelte er<br />

auf dem Balkon seiner Eigentumswohnung,<br />

nun in Horgen. Ein Leben, gänzlich dem beruflichen<br />

Erfolg verschrieben.<br />

Der Dipl. Financial Consultant Helmut<br />

B. durfte sich zu Recht Hoffnung machen, er<br />

war in die Boombranche der Neunzigerjahre<br />

eingestiegen. Allfinanz, die Verschmelzung<br />

von Versicherungs- <strong>und</strong> Bankgeschäft,<br />

war im Schwang. Das Fachblatt «Schweizer<br />

Bank» druckte im November 1999 das<br />

Gruppenbild ab, das Helmut B. mit Berufskollegen<br />

zeigt, dazu der Text: «Das Gütesiegel<br />

eröffnet dem Finanzplaner neue<br />

K<strong>und</strong>enkreise <strong>und</strong> festigt bestehende K<strong>und</strong>enbeziehungen.<br />

Geldinstitute suchen immer<br />

mehr solche Finanzfachleute, weil im<br />

Geschäftsbereich Private Banking grosse<br />

Wachstumschancen gesehen werden.»<br />

In den Kurs war der bald 50-Jährige<br />

auf Empfehlung seines damaligen Arbeitgebers,<br />

der Zürich-Versicherung, aufgenommen<br />

worden. «In diesem Alter fällt<br />

einem das Lernen nicht mehr leicht», sagt<br />

ein Kursteilnehmer. «Umso erstaunlicher,<br />

wie er es gepackt hat.» Der Arbeitersohn<br />

aus Langenthal hatte es schon weiter gebracht,<br />

als es die meisten erwartet hatten.<br />

IV. Tödlicher Ehrgeiz – der Banker B.<br />

Helmut B. war getrieben von einem Ehrgeiz,<br />

der ihn letztlich aufgefressen haben muss.<br />

Diesen Charakterzug zeigte er Zeit seines<br />

Lebens. «Ein Streber», sagt einer, der in den<br />

Siebzigern fünf Jahre lang mit B. in Zermatt<br />

zusammengearbeitet hat. «Er tat schon damals<br />

alles, um weiterzukommen.»<br />

Am Hauptsitz der Zürich am Mythenquai<br />

hängt an einer Wand eine Rangliste.<br />

Sie zeigt, welcher Mitarbeiter am meisten<br />

Vertragsabschlüsse geschafft hat. Helmut<br />

B.s Name war stets in den Top Ten. Der<br />

Mann, der vor zweieinhalb Wochen zwei<br />

Menschenleben ausgelöscht hat, war ein<br />

Ausnahmetalent im Geschäft mit Lebensversicherungen;<br />

damals dürfte er 250 000<br />

Franken jährlich verdient haben.<br />

Das Spitzeneinkommen hat Helmut B.,<br />

der als Lehrling nicht mehr als 80 Franken<br />

monatlich verdient hatte, offenbar nicht gelassener<br />

gemacht, auch nicht glücklich. Ihn<br />

drängte es – ehemalige Arbeitskollegen vermuten<br />

des Prestige wegen – ins Financial<br />

Planning. Am 1. März 2001 tritt er die Stelle<br />

bei seinem letzten Arbeitgeber, der Zürcher<br />

Kantonalbank am Tessinerplatz, als Finanzplaner<br />

an. Dorthin hat ihn ein ZKB-Mann<br />

namens Martin D. geholt, die beiden hatten<br />

sich 1996 an der Fachhochschule Winterthur<br />

kennen gelernt. Eine schicksalhafte<br />

Begegnung: Martin D. war der Mann, <br />

22. Juli 2004 FACTS


32 GESELLSCHAFT | TITEL<br />

Eingeschriebener Brief des Elektrobetriebs in Seon AG 1981 <strong>und</strong> letzter Wohnsitz Helmut B.s in Horgen ZH: Bescheidene Eigentumswohnung.<br />

dem Helmut B. vor zweieinhalb Wochen, an<br />

diesem schrecklichen Montagmorgen, um<br />

7.58 Uhr, die erste Kugel in den Kopf jagte.<br />

V. Schwindeleien, Einzelgängertum<br />

B. stieg bei der ZKB direkt ins Kader ein.<br />

Was immer er sich in seinen Plänen <strong>und</strong><br />

Träumen erhofft haben mag – der Schritt<br />

zur Bank führte in eine Sackgasse. Bei anstehenden<br />

Beförderungen konnte sich B.<br />

ausrechnen, dass er nicht mehr in die Kränze<br />

kommt. Mit 56 zählte er zu den ältesten<br />

Jahrgängen seiner Abteilung. Dabei hats<br />

Helmut B., dem zielstrebigen Aufsteiger, anfänglich<br />

gefallen. 2001 befand sich die Abteilung<br />

Finanzplanung in der ZKB-Filiale im<br />

Aufbau. «In dieser Pionierzeit hat er sich<br />

wohl gefühlt», sagt ein Bekannter. Dann<br />

aber wurden die Abläufe strukturiert <strong>und</strong><br />

formalisiert. Ein enges Korsett von Pflichten,<br />

Vorschriften, Befehlen legte sich um<br />

B. – ein zu enges.<br />

Als Stromermeister <strong>und</strong> auch noch als<br />

umtriebiger Versicherungs-Aussendienstler<br />

war B. sein eigener Chef. Und Chef zu sein,<br />

war immer sein Ziel. Schon 1980, als er im<br />

September als Meister in den Elektrobetrieb<br />

Suter-Lüscher Seon AG eintrat, stellte er<br />

sich mit den Worten vor: «Guten Tag, ich bin<br />

der neue Chef.» Die Angestellten reagierten<br />

irritiert. Der Sanitätssoldat gab sich vor den<br />

Arbeitern als Offizier der Schweizer Armee<br />

aus, er war, zumindest in diesem Fall, ein<br />

Angeber. Auf der Baustelle kommandierte<br />

B. im Kasernenton.<br />

Helmut B. war in diesen Jahren noch<br />

starker Raucher. Bei der Arbeit hatte er<br />

meistens eine Zigarre oder eine Pfeife im<br />

M<strong>und</strong>. Ein Arbeitskollege aus Seon erinnert<br />

sich an den Meister: «Ein Besserwisser, der<br />

sich nichts sagen liess. Nicht einmal von<br />

den Geschäftsführern.» Mit seinem Befehlsgehabe<br />

machte sich Helmut B. auch gegenüber<br />

seinen Vorgesetzten unbeliebt.<br />

Bei einer Klassenzusammenkunft erzählte<br />

Helmut B. in dieser Zeit, dass er<br />

nun Geschäftsführer sei, oder auch, dass<br />

er einen eigenen Betrieb führe. Tatsächlich<br />

aber machte er sich damals in Seon unmöglich.<br />

Wer den Lebensspuren Helmut B.s folgt,<br />

trifft auf viele Menschen, die ihn in kritischem<br />

Licht zeichnen. Fre<strong>und</strong>e scheint er<br />

kaum gehabt zu haben – B. war ein Einzelgänger,<br />

ein Einzelkämpfer. In Langenthal<br />

haben sich die Mädchen nicht nach «Müttu»<br />

umgedreht. «Dafür war er zu klein», sagt<br />

eine Schulkollegin. «Zudem war er ernst.»<br />

Wenn die Jugend sich im Heimatort im Café<br />

«Möhr» bei Töggeli-Spiel <strong>und</strong> Billard vergnügte,<br />

fehlte Helmut. «En stille Giel» sei er<br />

gewesen, heisst es.<br />

Zur Hochzeit 1973 in Täsch lud er keinen<br />

seiner Zermatter Arbeitskollegen ein.<br />

Das schien sie allerdings nicht zu grämen.<br />

«Besserwisser haben bei uns keine Fre<strong>und</strong>e»,<br />

sagt einer von ihnen.<br />

Immerhin nahm B. damals noch am Vereinsleben<br />

teil, als Goalie des Eishockey-<br />

Klubs Täsch. Später, an seinem letzten<br />

Wohnort Horgen, fragte ihn der Fussballklub<br />

vergeblich an, ob er Vorstandsmitglied<br />

werden wolle. «Sein Sohn spielte im Verein,<br />

man hätte Helmi gerne dabei gehabt», erzählt<br />

ein Nachbar, «doch er war kein Teamplayer.»<br />

Wenn B. in den letzten Jahren seines Lebens<br />

ins Wallis in die Ferien fuhr, besuchte<br />

er zwar die Familie seiner Gattin – aber nur<br />

kurz. «Er sagte Sali <strong>und</strong> Tschau», erinnert<br />

sich ein Schwager. Nach B.s Bluttat war<br />

im «Walliser Boten» keine Todesanzeige zu<br />

lesen.<br />

Am wohlsten fühlte sich B. alleine, auf<br />

seinem Tourenmotorrad, mit dem er am<br />

Wochenende lange Ausfahrten unternahm.<br />

VI. Die Unfähigkeit zur Kritik<br />

«B. reagiert empfindlich auf Kritik», steht in<br />

Helmut B.s Qualifikation der ZKB für das<br />

Jahr 2003; unterzeichnet von B.s direktem<br />

Vorgesetzten <strong>und</strong> Büropartner. Es war offenbar<br />

die einzige Schwäche, die der Arbeit-<br />

FACTS 22. Juli 2004


TITEL | GESELLSCHAFT 33<br />

Todesanzeige im «Tages-Anzeiger», Rettungswagen vor der ZKB, 5. Juli 2004: Mit seinem späteren Opfer Martin D. verstand er sich ausgezeichnet.<br />

geber an seinem Angestellten bemängelte,<br />

der nur drei Monate später mit einer Waffe<br />

seinen Arbeitsplatz betrat. Einem Bekannten<br />

vertraute B. vor seiner Bluttat an, er fühle<br />

sich überwacht, eingeengt, schikaniert,<br />

benachteiligt. Sein Engagement liess nach.<br />

«In den letzten Monaten seines Lebens<br />

häuften sich die Absenzen», sagt ZKB-<br />

Sprecher Urs Ackermann. «Er meldete sich<br />

oft krank.»<br />

Durch häufiges Fernbleiben von der Arbeit<br />

war Helmut B. bereits früher aufgefallen,<br />

in Seon AG. In einem eingeschriebenen<br />

Brief, datiert vom 31. Juli 1981, hielt der Geschäftsführer<br />

des Elektrobetriebs fest: «Da<br />

Sie Ihren Arbeitsplatz auf ungewöhnliche<br />

Art <strong>und</strong> Weise frühzeitig verlassen haben<br />

<strong>und</strong> sich während des Arbeitsverhältnisses<br />

mit uns nicht an die bei uns gültige Arbeitszeit<br />

gehalten haben, sehen wir uns gezwungen,<br />

Ihnen einen Viertel des Bruttomonatslohns<br />

abzuziehen.» Helmut B. war zwar<br />

unzimperlich im Austeilen, zum Einstecken<br />

aber fehlte ihm die Souveränität. Wenn<br />

das Schulterklopfen ausblieb, verlor er seinen<br />

Antrieb.<br />

Anerkennung <strong>und</strong> sozialen Status erhoffte<br />

sich der Aufsteiger B. vom Golfspiel,<br />

mit dem er Mitte der Neunzigerjahre,<br />

während seiner Ausbildung zum Finanzplaner,<br />

begann. Es sei bloss Mittel zum<br />

Zweck gewesen, ist ein Bekannter überzeugt.<br />

«Ihm ging es nicht um Golf, es war<br />

sein Eintrittsticket in die Bankerkreise.»<br />

Der Elektromonteur mit verkniffener Miene<br />

ist endgültig zum adretten, grau melierten<br />

Businessmann mutiert.<br />

VII. Helmut B., der Pedant<br />

In Sachen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit hatte<br />

Helmut B. pedantische Züge. Eines Abends,<br />

als er in Horgen in Begleitung eines Bekannten<br />

zu seiner Viereinhalb-Zimmer-<br />

Wohnung spazierte, stach ihm ein nicht<br />

ganz korrekt parkiertes Auto ins Auge. «Gestört<br />

hat es an diesem Platz niemanden.<br />

Helmi liess es sich aber nicht nehmen, die<br />

Halterin zurechtzuweisen.» Einer wie Helmut<br />

B. wollte alles im Griff haben. Als ihn<br />

ein Kollege fragte, weshalb er ein Gitter im<br />

Fond seines silbrigen VW Passat montiert<br />

habe, sagte B.: «Ich will verhindern, dass bei<br />

einer Vollbremsung der Inhalt des Kofferraums<br />

nach vorne fliegt.»<br />

23 Jahre lebte B. in der bescheidenen<br />

Eigentumswohnung in einem Mehrfamilienhaus<br />

in Horgen. «Er hätte sich längst etwas<br />

Besseres leisten können», so ein Nachbar,<br />

der finanzielle Probleme aber für unwahrscheinlich<br />

hält. Für kaum möglich halten<br />

seine Studienkollegen auch, dass<br />

Helmut B., wie in den Neunzigerjahren bei<br />

Bankern üblich, an der Börse spekuliert hat.<br />

«Das passte nicht zu seinem Sicherheitsdenken»,<br />

sagt einer. Ein Blick auf den Steuerausweis<br />

der Familie B. widerlegt Gerüchte<br />

um finanzielle Probleme.<br />

Wer war dieser Helmut B. wirklich?<br />

Er liess kaum jemanden an sich heran –<br />

ausser Menschen, die sich lange um ihn<br />

bemühten: seine Frau etwa, wenige Studienkollegen.<br />

Alle anderen aber sagen heute:<br />

Wir kannten ihn kaum.<br />

Die Ehe der B.s wurde von aussen als<br />

harmonisch <strong>und</strong> vorbildlich wahrgenommen.<br />

Andere Frauen schienen ihn nicht zu<br />

interessieren. «Seine Ehefrau ist leutselig<br />

<strong>und</strong> heiter, die beiden haben sich perfekt ergänzt»,<br />

so ein Nachbar. Vor drei Jahren,<br />

da arbeitete B. bereits bei der ZKB, verunglückte<br />

der Sohn während einer Fahrt<br />

mit dem vom Vater geschenkten Scooter<br />

schwer. «Daran hat Helmi gekaut», so der<br />

Nachbar. B. war auch das: ein Vater, der<br />

seine Kinder liebte.<br />

«Ich habe es nie begriffen, warum B.<br />

den Job bei der ZKB annahm», sagt einer,<br />

der mit ihm in Winterthur studiert hat. «Als<br />

realistischer Analytiker hätte er wissen<br />

müssen, dass er bei einer Bank nie glücklich<br />

werden kann», erzählt ein anderer. Mit<br />

seinem späteren Opfer Martin D. verstand<br />

er sich ausgezeichnet; beide waren in <br />

22. Juli 2004 FACTS


34 GESELLSCHAFT | TITEL<br />

derselben Lerngruppe. Auch<br />

mit seinem späteren direkten<br />

Vorgesetzten, der B.s Irrlauf<br />

überlebte, stand er damals in<br />

gutem Einvernehmen.<br />

VIII. In der Sackgasse<br />

Anfangs äussert er sich begeistert<br />

von seiner Tätigkeit<br />

bei der ZKB. Auch dann noch,<br />

als ihm der Berufsalltag längst<br />

zur Hölle geworden sein muss.<br />

Bei Treffen mit Studienkollegen<br />

oder Bekannten aus der Zürich-<br />

Zeit gibt er aber seine Erbitterung<br />

nur unterschwellig<br />

preis. Im Handelsregister ist<br />

Kadermitglied B. bloss einer<br />

auf einer langen Liste von<br />

Kadermitgliedern, «B., Helmut,<br />

von Horgen, in Horgen, mit<br />

Kollektivprokura zu zweien».<br />

Seine Studienkollegen hingegen,<br />

allesamt jünger, haben Beförderungen<br />

hinter sich, einige stehen kurz<br />

davor.<br />

«Am meisten Probleme hatte er mit<br />

seinem direkten Vorgesetzten», sagt<br />

Untersuchungsrichter Thomas Moder.<br />

Es waren wohl die offensichtlichsten,<br />

<strong>und</strong> sie dürften sich im März dieses<br />

Jahres zugespitzt haben. Dieser Chef<br />

schrieb zu der Zeit die Qualifikation von<br />

B., insgesamt ein gutes Zeugnis – mit<br />

Ausnahme der vermerkten Empfindlichkeit<br />

gegenüber Kritik. Drei Wochen<br />

vor seiner Tat beklagte er sich über den<br />

Bonus. Und: Er könne mit seinen Vorgesetzten<br />

nicht reden. «Es gab Kommunikationsdefizite»,<br />

sagt ZKB-Sprecher Urs<br />

Ackermann. «Er hat mit sich selbst gerungen,<br />

konnte immer weniger artikulieren,<br />

was ihn bedrückte.»<br />

Martin D., der B. zur Bank geholt<br />

hatte, befand sich in dieser Zeit in einer<br />

zweimonatigen Auszeit. Er unternahm<br />

eine Reise mit seiner Familie, das letzte<br />

Mal, bevor die Kinder eingeschult werden<br />

sollten. In der Woche, als die Tat geschah,<br />

hätte seine Berufung zum Regionaldirektor<br />

Zürich West verkündet werden<br />

sollen. D. würde den Tessinerplatz<br />

verlassen. Es lag auf der Hand, dass<br />

sein Weggang zu einem Sesselrücken<br />

innerhalb der Abteilung führen würde.<br />

Das muss B. verunsichert haben.<br />

Auch seiner Ehefrau gegenüber war<br />

B. in den letzten Wochen seines Lebens<br />

ZKB-Gebäude, einen Tag nach der Tat:<br />

Helmut B. wühlte die Schweiz auf.<br />

unzugänglich geworden. In den Golfferien,<br />

die er Anfang Juni mit einem<br />

ehemaligen Arbeitskollegen in Österreich<br />

verbrachte, wirkte er bedrückt.<br />

Dem Fest zum 80. Geburtstag seines<br />

Vaters blieb er fern. Die ersten zwei Arbeitstage<br />

nach den Ferien meldete er<br />

sich krank. Zwei Wochen später bezog<br />

er schon wieder Urlaub.<br />

Am Montag, den 5. Juli verschiesst<br />

Helmut B. im dritten Stock des ZKB-<br />

Gebäudes eine Munition, die beim Aufprall<br />

aufpilzt; für seine Armeepistole<br />

sind diese Teilmantelgeschosse nicht<br />

geeignet. Nach dem ersten Schuss, der<br />

Martin D. in den Kopf trifft, klemmt die<br />

Waffe. Die beiden anderen Direktionsmitglieder,<br />

die sich im Sitzungszimmer<br />

befinden, ergreifen die Flucht. Helmut<br />

B. nimmt die Verfolgung auf <strong>und</strong> erschiesst<br />

einen der beiden von hinten:<br />

Die erste Kugel trifft das Opfer in den<br />

rechten Oberarm. Die zweite in den<br />

Hinterkopf.<br />

B. geht in sein Büro, setzt sich in<br />

seinen Sessel <strong>und</strong> erschiesst sich; das<br />

letzte Kapitel in der Geschichte vom<br />

Leben <strong>und</strong> Töten des Helmut B.<br />

«Wir verstehen es nicht», schreiben<br />

die Familienangehörigen des Täters in<br />

der Todesanzeige von Helmut B. – sie<br />

nannten ihn «Helmi» – <strong>und</strong> bitten alle,<br />

«dem lieben Verstorbenen ein ehrendes<br />

Andenken zu bewahren».<br />

Monica Fahmy, Balz Rigendinger<br />

FACTS 22. Juli 2004


34 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

«Wenn der erste Schuss fällt»<br />

Wie gehen die Behörden drei Jahre nach der Leibacher-Tragödie mit notorischen Querulanten um?<br />

In Seon AG liefert ein selbst ernannter «Güselsheriff» der Verwaltung den absurdesten Kleinkrieg, den<br />

ein Dorf mit einem Bürger je zu kämpfen hatte. Auf seinem Fenstersims liegt ein geladener Revolver.<br />

So nicht. Der Dicke wischt sich den<br />

Schweiss von der Stirn. Mit ihm<br />

nicht. Der Dicke rückt näher, <strong>und</strong><br />

wieder spricht er in diesem Tonfall der<br />

Vertraulichkeit. Er spricht, als rede er mit<br />

einem Komplizen: Bei ihm gebe es dann<br />

keine Ladestörungen. Bei ihm knalle dann<br />

ein Schuss nach dem andern.<br />

Der Körper des IV-Rentners Ulrich Lüscher,<br />

63, wiegt 150 Kilogramm, <strong>und</strong> dieser<br />

Masse Mensch entströmt ein Cocktail aus<br />

Salben-, Schweiss- <strong>und</strong> Aftershave-Gerüchen.<br />

Lüscher ist herzkrank, Lüscher ist gehbehindert.<br />

Die Füsse faulen, die Haare kleben,<br />

der Puls rast, selbst wenn er nur dasitzt.<br />

An seinen Armen wuchern Ekzeme.<br />

Ulrich Lüscher – das ist der Mann, der den<br />

Behörden von Seon AG den absurdesten<br />

Kleinkrieg lieferte, den ein Schweizer Dorf<br />

mit einem Bürger je auszufechten hatte.<br />

Lüscher selbst nennt sich «Güselpapst». Die<br />

Zeitungen tauften ihn «Güselsheriff». Im<br />

Dorf schreit man ihn «Güsellööli», «Guzzi»<br />

oder bloss: den Dicken.<br />

Der Dicke ist ein Querulant, immer im<br />

roten Bereich, immer am Limit, schon seit<br />

Jahren. Nun aber ist er auch am Ende. «Ich<br />

mache das alles nicht mehr mit.» Auf dem<br />

Sims über seinem Krankenlager, in der<br />

Ecke unter dem Vorhang, liegt der schwarze<br />

Revolver, geladen. Lüscher nestelt an der<br />

Waffe herum. Er nennt es «revölverle».<br />

Nein. Er tue nicht Fett rein, sagt Lüscher,<br />

er nehme einen Öl-Spray. Der andere<br />

in Zürich, der habe zwischen den einzelnen<br />

Schüssen nachladen müssen. Hätte er eine<br />

Uzi gehabt, eine Maschinenpistole wie Lüscher,<br />

ja, wie Lüscher oder Leibacher, dann<br />

wäre der Verschluss, zack!, nach hinten<br />

<strong>und</strong>, zack!, nach vorne geflutscht. «Das<br />

hetti täderet, huh!» Lüschers Stimme überschlägt<br />

sich. «Was als Nächstes kommt, verrate<br />

ich nicht, aber der nächste Schritt steht<br />

fest.» Wortlos reicht ihm seine Frau ein Glas<br />

Wasser. Sie blickt ihn an, zieht sich dann<br />

stumm zurück. Zu den Sätzen ihres Mannes<br />

sagt sie seit Jahren nichts mehr.<br />

Lüscher hat alle Berichte verfolgt über<br />

den «anderen in Zürich», den ZKB-Täter<br />

Helmut B., der im Juli zwei Vorgesetzte<br />

erschoss <strong>und</strong> dann sich selbst. Der Fall hat<br />

Lüscher aufgewühlt. «Dieser Banker war<br />

eigentlich auch ganz friedlich.» Ein Jahr<br />

seines Lebens hat Helmut B. in Seon gelebt.<br />

Lüscher, der dort aufgewachsen ist, glaubt<br />

nicht an Zufälle.<br />

«Kommen Sie nach Seon», hatte Lüscher<br />

ins Telefon geschnaubt. Dann irr gekichert:<br />

«Do gits denn au Komedi.»<br />

«Komedi»? Eine seltsames Wort. Meint<br />

er damit wirklich Mehrfachmord, Amoklauf,<br />

Massaker? Oder will er sich nur wichtig<br />

machen? Damit, dass er sich mit Friedrich<br />

Leibacher vergleicht, dem Mann, der<br />

vor fast genau drei Jahren, am 27. September<br />

2001, das Zuger Parlamentsgebäude<br />

stürmte? In zwei Minuten <strong>und</strong> 34 Sek<strong>und</strong>en<br />

gab er 46 Schüsse ab. Der letzte galt ihm<br />

selbst. 14 Menschen riss er in den Tod.<br />

Öffentliche Bluttaten senken<br />

bei latent gewaltbereiten<br />

Menschen die Hemmschwelle.<br />

150 Kilogramm Wut <strong>und</strong> Zorn<br />

Nach solchen Ereignissen befürchten Psychologen<br />

das, was sie «Trigger-Effekt» nennen:<br />

Öffenliche Bluttaten senken bei latent<br />

gewaltbereiten Menschen die Hemmschwelle.<br />

Jene, die sich ohnehin in düsteren<br />

Seelengefilden bewegen, finden plötzlich<br />

ein Vorbild, eine Lichtgestalt.<br />

Allein in diesem Jahr haben ein Familiendrama<br />

in Escholzmatt LU (vier Tote),<br />

eines in Lenk BE (vier Tote) <strong>und</strong> der erweiterte<br />

Selbstmord bei der Zürcher Kantonalbank<br />

(drei Tote) die Öffentlichkeit aufgewühlt;<br />

stets stellte sich die Frage: Hätte man<br />

die Massaker verhindern können?<br />

Eine Antwort bleiben auch Fachleute<br />

schuldig. Der Zürcher <strong>Justiz</strong>psychiater Frank<br />

Urbaniok beruhigt immerhin mit der Einschätzung,<br />

dass nur zehn Prozent aller<br />

Menschen, die mit Gewalttaten drohen, diese<br />

letztlich auch ausüben. Sein deutscher<br />

Kollege Lothar Adler meint zum Psychogramm<br />

gewalttätiger Querulanten: «Leicht<br />

zu kränkende Menschen, die kaum vergessen<br />

können. Ihr Leben dreht sich um diese<br />

narzisstische Verletzlichkeit.»<br />

Tatsächlich ist das Leben des Ulrich Lüscher,<br />

der gegenüber FACTS der Welt mit<br />

tödlicher Vergeltung droht, ein tragischer<br />

Reigen von Kränkungen <strong>und</strong> Erniedrigungen.<br />

Die erste Herabsetzung durch eine<br />

Behörde muss er 1964 als junger Polier hinnehmen.<br />

Am Tag seiner Ziviltrauung in Seon<br />

überreicht ihm der Standesbeamte ein<br />

Sparheft. Es sind die Batzen, die Lüschers<br />

Mutter für ihren unehelich geborenen Sohn<br />

zur Seite legte – 10000 Franken, eine bescheidene<br />

Aussteuer. Aber oft, das entnimmt<br />

Lüscher den alten Einträgen, fuhr<br />

seine Mutter mit dem Velo eigens die zehn<br />

Kilometer zur Sparkasse Lenzburg, um nur<br />

einen einzigen Franken einzuzahlen.<br />

Drei Tage nach Lüschers Trauung meldet<br />

sich das Finanzamt; es fordert Nachsteuern.<br />

Ein völlig normaler, korrekter Vorgang<br />

– doch nicht für einen wie Lüscher. Er<br />

spürt erstmals diesen Groll in sich, diesen<br />

Zorn, dem er huldigen wird, den er heiligen<br />

wird. Dieser Zorn bleibt Lüscher vierzig Jahre<br />

treu, so treu wie Hedy, seine Gattin.<br />

Das Sparbüchlein Nummer 563.13<br />

wies am 21. März 1964 ein Guthaben von<br />

10347.70 Franken auf. Am 10. April 1964<br />

betrug der Saldo 7800 Franken. Von<br />

«Müettis schwer gesparten Batzen» wurden<br />

2547.70 Franken abgezwackt, alle aufs Mal.<br />

«Das glaubt man nicht», sagt Lüscher. Er<br />

fuchtelt aufgeregt mit dem vergilbten Heft.<br />

Lüscher vergisst nicht. Und Lüscher<br />

wirft nichts weg. Wenn er Augen dafür <br />

FACTS 26. August 2004


JUSTIZ | GESELLSCHAFT 35<br />

FOTO: E.T. STUDHALTER<br />

Ulrich Lüscher: «Was als Nächstes kommt, verrate ich nicht, aber der nächste Schritt steht fest.»<br />

26. August 2004 FACTS


36 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

hätte, könnte Lüscher durch das Fenster einen<br />

frisch gemähten Rasen sehen <strong>und</strong> dann,<br />

hinter einer akkurat gestutzten Hecke, das<br />

schmucklose Einfamilienhaus seines Nachbarn.<br />

Ein Haus wie sein eigenes, wie alle<br />

Häuser im Quartier. Seon, 4600 Einwohner,<br />

ist eigentlich ein ruhiges Dorf im Mittelland.<br />

Aber Lüscher hat hier Feinde.<br />

Feinde sieht Lüscher in der Gemeindeverwaltung,<br />

<strong>und</strong> Feinde schleichen tatsächlich<br />

um sein Haus. «Sie köpften 87 Lilien bei<br />

der Einfahrt», sagt er. Sie schlitzten die Pneus<br />

seines Wagens auf, alle vier. Er erstattete<br />

Anzeige. Sie schickten ihm Morddrohungen,<br />

drei an der Zahl. Er erstattete wiederum<br />

Anzeige. Lüscher hat viele Feinde, <strong>und</strong><br />

fragt man ihn nach Gründen, so sagt er nur:<br />

«Es ist alles ein grosses Unrecht.» Einer wie<br />

Lüscher wähnt sich immer im Recht.<br />

Solange Lüscher wirr mit<br />

blutiger Vergeltung droht, kann<br />

ihn die Polizei nicht belangen.<br />

Eine weitere Kränkung erfolgt anno<br />

1978, ein Punkt auf einer langen Liste von<br />

45 Punkten. Vier A4-Seiten hat er voll<br />

geschrieben, eine Chronik von Behördenkämpfen,<br />

ein Register von Schmähungen,<br />

das sich über vierzig Jahre erstreckt. Vier<br />

Seiten, das scheint nicht viel, es ist auch nur<br />

die Inventarliste. Die dazugehörigen Dokumente<br />

<strong>und</strong> Beweisfotos füllen eine Kartonschachtel,<br />

50 auf 35 Zentimeter, einst wurden<br />

darin Früchte verschifft. Unter Punkt<br />

eins des bizarren Inhaltsverzeichnisses beschreibt<br />

Lüscher, wie er als Strassenmeister<br />

in Seon arbeitete, um dann herauszufinden,<br />

dass sein Lohn 1000 Franken tiefer war als<br />

derjenige eines Untergebenen.<br />

Man muss wissen: Lüscher lobt sich,<br />

im ganzen Kanton die beste Maurerlehre<br />

hingelegt zu haben <strong>und</strong> obendrein die beste<br />

Polierprüfung in der ganzen Schweiz. Und<br />

wozu? Um als Strassenmeister in Seon zu<br />

arbeiten? Für einen Hungerlohn?<br />

Er kramt den Lohnbuchausriss aus der<br />

Schachtel, präsentiert den Eintrag wie eine<br />

Trophäe. «Mein Heiligtum», sagt er. Jahre<br />

hat es gedauert, bis er diesen Zettel in Händen<br />

halten konnte. Er trickste, er täuschte,<br />

er schmeichelte; für diesen Zettel tat er alles.<br />

Endlich hat er sein Unrecht schwarz auf<br />

weiss: «Das ist, als ob man einem H<strong>und</strong> einen<br />

Stein nachwirft. Das vergisst man nie.»<br />

Punkt zwei im handschriftlich erstellten<br />

Inventar: «Als ich ein Leum<strong>und</strong>szeugnis<br />

verlangte, verweigerte mir dies die Gemeinde.»<br />

Lüscher, so hat der heutige Gemeindepräsident<br />

von Seon, Heinz Bürki, 58, in<br />

Erfahrung gebracht, habe sich damals<br />

«irgendwie unmöglich gemacht». Lüscher<br />

behauptet zwar, er habe das Bauamt aus<br />

freiem Willen verlassen, auch wenn der damalige<br />

<strong>und</strong> der jetzige Gemeindepräsident<br />

versichern, dass ihm gekündigt wurde.<br />

Die dritte grosse Kränkung, die zu vergessen<br />

ihm unmöglich ist, hat Lüscher nicht<br />

im Inventar vermerkt. Es ist die Geschichte<br />

mit dem Schiedsrichter <strong>und</strong> dem «Blick»,<br />

eine unrühmliche Geschichte. Sie steckt<br />

zuunterst in der Früchteschachtel.<br />

1980 wird der Schiedsrichter Peter Rotschi<br />

auf der Heimfahrt von einem Fussballmatch<br />

auf der Autobahn A 1 schikaniert.<br />

Rotschi hat in Zürich den Match FCZ gegen<br />

Sankt Gallen gepfiffen <strong>und</strong> wegen einer<br />

roten Karte den Zorn der Zürcher Fans auf<br />

sich geladen. Im roten Volvo mit Aargauer<br />

Kennzeichen, der Rotschis Wagen nun verfolgt,<br />

sitzt Ulrich Lüscher, damals 40, <strong>und</strong><br />

daneben sein Kumpan. Dieser gestikuliert<br />

mit einer 9-Millimeter-Waffe. «Die war geladen.<br />

Natürlich», sagt Lüscher. «Mit geschliffener<br />

Munition, höchste Durchschlagskraft.»<br />

Rotschi selbst äussert später den Eindruck,<br />

dass ihn Lüscher gegen die Wand des Bareggtunnels<br />

habe drücken wollen. «Chabis,<br />

ich wollte ihn nicht töten», meint Lüscher.<br />

Lüscher ist in dieser Zeit selbst Schiedsrichter.<br />

«Der Schafseckel hat den Falschen vom<br />

Platz gestellt», sagt er 24 Jahre später.<br />

Kriegserklärung per Leserbrief<br />

Zwei Tage später berichtet «Blick» in einer<br />

Frontgeschichte («Hetzjagd auf Schiedsrichter!»)<br />

von diesem Vorfall. «Übeltäter» Lüscher<br />

habe nach seiner Verfolgungsjagd das<br />

Haus des Unparteiischen aufgesucht, irrtümlich<br />

habe er aber ein Nachbarhaus erwischt<br />

<strong>und</strong> dieses dann grossflächig verunstaltet:<br />

«Lüscher sprayte: ‹Ref, du Sau!›» Die<br />

Zürcher Journalisten aber können Lüscher<br />

nie nachweisen, dass er für das Schmähgeschmier<br />

verantwortlich ist. Der Verlag<br />

Ringier muss Lüscher 10000 Franken Genugtuung<br />

bezahlen. Seine Finger stechen<br />

wieder Richtung Kartonschachtel, die Gegendarstellung.<br />

Er kann alles belegen,<br />

«hier, sehen Sie», nie etwas vergessen, «die<br />

Gegendarstellung», er hat noch nie etwas<br />

verloren.<br />

1990 erleidet Lüscher eine Gehirnblutung.<br />

Seinem Körper werden Unmengen<br />

von Kortison zugeführt. Sein Bauch schwillt<br />

an, sein Zorn ebenfalls, <strong>und</strong> er findet kein<br />

Ventil. Sieben Jahre dauert es, bis Lüscher<br />

sich wieder einigermassen aufgerappelt<br />

hat. Jetzt ist er IV-Rentner. Jetzt ist er der<br />

Dicke. Er startet zu einem ungeheuerlichen<br />

Feldzug. Dort, wo Lüscher 1978 gekränkt<br />

wurde, durch die Lohnungleichheit im Bauamt<br />

von Seon, ist auch das Abfallwesen<br />

angesiedelt. Zwanzig Jahre später tritt Lüscher<br />

gegen alle an, die mit Kehricht irgendwie<br />

zu tun haben.<br />

Die Kriegserklärung erfolgt am 17. Juni<br />

1997. Der Leserbrief in der Lokalzeitung<br />

(«Kehrichtproblem nicht im Griff») mutet in<br />

seiner hilflosen Ironie eigentlich harmlos<br />

an. Ein Auszug: «Der Bauamtsarbeiter<br />

brennt mit der Gasflasche die Grasspitzen<br />

am Weglein gegen das Ziertal ab. So ein<br />

Unsinn. Der Chef muss im Büro zu Hause<br />

sehr viel arbeiten, scheinbar geben die zwei<br />

Bauamtsangestellten so viel Arbeit.» Doch<br />

Lüscher schiesst in diesen bizarren Zeilen<br />

direkt auf seinen Nachfolger, den Strassenmeister<br />

von Seon. Inzwischen hat er nämlich<br />

herausgef<strong>und</strong>en, dass dieser einige tausend<br />

Franken mehr verdient als seinerzeit<br />

er selbst; <strong>und</strong> dafür, so ist Lüscher, der in<br />

diesen Tagen immer wieder «revölverlet»,<br />

überzeugt, arbeite er viel zu wenig.<br />

Warum sperrt die Polizei einen Mann<br />

wie Lüscher nicht einfach ein? Warum entsorgt<br />

sie nicht diese 150 Kilogramm Wut<br />

<strong>und</strong> Zorn, bevor sie explodieren? Weil sie<br />

nicht kann, auch drei Jahre nach einem Fall<br />

Leibacher nicht. Solange Lüscher wirr mit<br />

blutiger Vergeltung droht <strong>und</strong> nicht einer<br />

konkreten Einzelperson, können ihn die<br />

Gesetzeshüter nicht belangen. Und wie soll<br />

eine Behörde, eine Gemeinde wie Seon,<br />

reagieren, wenn sie, ob zu Recht oder nicht,<br />

angeschuldigt wird? Mit einem Gespräch?<br />

Muss sie anständig sein, menschlich? Oder<br />

bloss korrekt?<br />

Im Fall Friedrich Leibacher verhielten<br />

sich die Behörden stets korrekt. 1970 wegen<br />

Vermögensdelikten <strong>und</strong> Unzucht zu<br />

Gefängnis verurteilt, bedrohte Leibacher<br />

1998 nach einem lapidaren Streit einen<br />

Buschauffeur mit seiner Waffe, worauf dieser<br />

Leibacher anzeigte. In der Folge reichte<br />

Leibacher seinerseits Anzeigen gegen<br />

Behördenvertreter <strong>und</strong> Zeugen ein. Sie<br />

entbehrten jeder Gr<strong>und</strong>lage, ebenso die Beschwerdeflut,<br />

mit der Leibacher die Zuger<br />

Beamten jedes Mal, wenn man ihm nicht<br />

Recht gab, eindeckte. Leibacher blitzte immer<br />

ab. Der Schluss lag nahe, dass diese<br />

Niederlagen den Amokläufer zur Tat trieben.<br />

Er war falsch.<br />

<br />

FACTS 26. August 2004


JUSTIZ | GESELLSCHAFT 37<br />

Private Aufzeichnungen: Lüscher tritt gegen alle an, die mit Kehricht irgendwie zu tun haben.<br />

26. August 2004 FACTS


38 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

Lüscher, Seon AG: Chronik von Behördenkämpfen über vierzig Jahre.<br />

Seon AG: Eigentlich ein ruhiges Dorf im Mittelland.<br />

«Die Gerichtsurteile, die den Anlass<br />

zum Blutbad gegeben haben sollen, hatte<br />

Leibacher nicht einmal gelesen», fand der<br />

Journalist <strong>und</strong> Leibacher-Biograf Alex Baur<br />

heraus. Die Ursachen solcher Massaker seien<br />

in der defekten Persönlichkeit des Täters<br />

zu suchen. «Das Umfeld <strong>und</strong> die Umstände<br />

spielten eher zufällig mit hinein.»<br />

Im Fall von Ulrich Lüscher melden sich<br />

die Beamten vom Bauamt per Einschreiben.<br />

Es geht um eine Beschwerde von Lüschers<br />

Nachbar. Dieser hat sich wegen eines<br />

Baums, der von Lüschers Boden her einige<br />

Zentimeter zu seinem hinüberwächst, beklagt.<br />

Das Bauamt gibt dem Nachbar Recht.<br />

Lüscher findet heraus, dass<br />

die Abfuhrleute länger als eine<br />

Viertelst<strong>und</strong>e pausieren.<br />

Besserwisser Lüscher lässt solches<br />

nicht auf sich sitzen. Er beschwert sich seinerseits<br />

beim Baudepartement des Kantons<br />

Aargau über seine Gemeindebehörde. Eine<br />

neunköpfige Delegation – Vertreter des<br />

Seoner Bauamts <strong>und</strong> Beamte des aargauischen<br />

Baudepartements – erscheint auf Lüschers<br />

Gr<strong>und</strong>stück. Zweck: Begutachtung<br />

eines Apfelbäumchens.<br />

Lüscher holt seine Motorsäge aus der<br />

Garage. Er befiehlt den Beamten, sich in<br />

Reih <strong>und</strong> Glied aufzustellen. Er startet den<br />

Motor. «Jetzt haue ich euch die Haare ab.»<br />

Lüscher fuchtelt mit der Säge. Die Delegation<br />

zieht sich entgeistert zurück.<br />

Am 4. August 1997 gibt das Baudepartement<br />

Beschwerdeführer Lüscher Recht.<br />

Der Kanton rüffelt gar die Gemeindeverwaltung<br />

von Seon. Das Gutachten umfasst sieben<br />

Seiten, es ist Balsam für den Invaliden.<br />

Lüscher sagt: «Huh, die haben wir grausam<br />

heruntergelassen.» Von Lüschers Gewaltandrohung<br />

steht kein Wort. Er darf annehmen,<br />

dass man ihn nun respektiert. Oder<br />

zumindest seine Kettensäge.<br />

Jeder andere wäre nun zufrieden gewesen,<br />

hätte Ruhe gegeben. Aber Querschläger<br />

Lüscher geht erst recht aufs Ganze.<br />

Er rückt jetzt aus, jeden Tag, wenn die Kehrichtabfuhr<br />

ansteht. Er dokumentiert mit<br />

Sofortbildkamera <strong>und</strong> Stift, wer wann <strong>und</strong><br />

wo keine Abfuhrmarke an seinen Kehricht<br />

geklebt hat. Er ruft das Lokalfernsehen<br />

nach Seon <strong>und</strong> die Lokalzeitung. Es erscheinen<br />

TV3, auch der «Beobachter»; alle geben<br />

sie ihm Recht. Die Gemeinde muss eingestehen,<br />

dass mit der Kehrichtabfuhr «nicht<br />

immer alles zum Besten steht».<br />

Ist das eine Genugtuung? Ein Sieg? Ein<br />

Triumph? Einer wie Lüscher kennt diese<br />

Gefühle nicht. Die kennen Menschen, die<br />

für eine Sache kämpfen. Einer wie Lüscher<br />

aber kämpft über die Sache hinaus. Er<br />

sucht Rache. Er sucht die Bestrafung seiner<br />

Feinde.<br />

Der Dicke schleppt seinen unförmigen<br />

Körper Richtung Fernsehgerät <strong>und</strong> schiebt<br />

eine Videokassette ein; die Nachrichten von<br />

Tele M1, die Ausgabe vom 5. Oktober 1999<br />

ist es diesmal. Er hört sich seine Statements<br />

an: Hier werden Steuergelder verschleudert,<br />

das ist ungerecht. Er betrachtet sich<br />

am Bildschirm. Er schnaubt befriedigt. Jedes<br />

Mal, wenn seine Beweisfotos am Fernseher<br />

erscheinen, kippt der Koloss Richtung<br />

Mattscheibe <strong>und</strong> zeichnet mit den<br />

Fingern die Bildkonturen nach. «Das müssen<br />

Sie zugeben: So etwas gibt es nicht<br />

einmal bei den Negern.»<br />

«Die Blutlachen wegwischen»<br />

Lüscher beweist, dass die Kehrichtabfuhr<br />

entsorgt, was die Einwohner der Gemeinde<br />

bereitgestellt haben, also auch Kehricht,<br />

der nicht mit einer Gebührenmarke versehen<br />

wurde. Ebenso findet er in investigativer<br />

Kleinarbeit heraus, dass die Abfuhrleute<br />

länger als eine Viertelst<strong>und</strong>e<br />

pausieren. Lüscher erstattet Strafanzeige<br />

«gegen den Gemeinderat wegen unterlassener<br />

Rechtsanwendung, Irreführung falscher<br />

Tatsachen sowie Veruntreuung von Steuergeldern».<br />

Ist er nun vollends irr geworden? «Die<br />

Gemeinde wollte mich von einem Psychiater<br />

begutachten lassen», erzählt Lüscher.<br />

Es ist ein heikles Unterfangen, das nur<br />

mit Tücke Erfolg versprechend scheint. Lüschers<br />

Hausarzt bittet seinen Patienten im<br />

Nachgang zu einem regulären Termin in ein<br />

Nebenzimmer der Praxis. Dort wartet bereits<br />

ein anderer Arzt. Lüscher wird schnell<br />

FOTOS: E.T. STUDHALTER<br />

FACTS 26. August 2004


39<br />

FOTOS: E.T. STUDHALTER<br />

gewahr, was in diesem Augenblick vor sich<br />

geht. Er droht in der dritten Person, wie immer,<br />

wenn er Gewichtiges zu sagen hat:<br />

«Wenn der Lüscher da nicht sofort wieder<br />

draussen ist, kann die Putzfrau am Boden<br />

die Blutlachen wegwischen kommen.»<br />

Seons ehemaliger Gemeindepräsident<br />

Rolf Lüscher, 65, drückt die Parisienne aus<br />

<strong>und</strong> faltet seine Hände. «Es gab Angestellte<br />

im Gemeindehaus, die hatten Angst vor<br />

ihm», erzählt er. Er habe aber stets davor gewarnt,<br />

sich von Lüscher beeindrucken zu<br />

lassen, auch damals, als seine Mordankündigungen<br />

häufig wurden <strong>und</strong> er dem Strassenmeister<br />

ins Gesicht spuckte. Als Mensch<br />

habe er den «Guzzi» immer ernst genommen,<br />

sagt Rolf Lüscher. Einmal habe er ihn<br />

sogar gebeten, Frieden zu schliessen: «Hör<br />

auf, du bist doch nicht dumm.»<br />

«Der zweite Schuss, der dritte, huh!»<br />

1998 ist Ulrich Lüschers Sohn Martin Gemeinderat<br />

für die SP. Der Gemeindepräsident<br />

teilt ihm das Ressort Abfall zu. Ruhig<br />

stellen lässt sich der Vater damit nicht.<br />

Der Gemeinderat schreibt einen Leserbrief<br />

<strong>und</strong> hält fest, «dass er sehr wohl in der<br />

Lage ist, sein Personal ohne Geissel zu<br />

führen. Eine selbst berufene Aufsicht in der<br />

Person von Ulrich Lüscher hält der Gemeinderat<br />

für unnötig, um so mehr, als Lüschers<br />

Sohn genau für die beanstandeten Bereiche<br />

zuständig ist <strong>und</strong> dort seine Arbeit leistet,<br />

welche durch das ständige Dazwischentreten<br />

des Vaters kaum erleichtert wird.» Ulrich<br />

Lüscher verlangt bei der Behörde eine<br />

Aussprache mit seinem eigenen Sohn. Dieser<br />

kneift. Nach zwei Jahren im Amt, 1999,<br />

wandert Martin Lüscher nach Finnland aus.<br />

Das Bezirksgericht stellt das Verfahren<br />

um Ulrich Lüschers Strafanzeige ein. Lüscher<br />

zieht den Fall ans Obergericht. Auch<br />

dort blitzt er ab. Lüscher hat verloren.<br />

Nein, er hat Recht gehabt. Im Zuge des<br />

Verfahrens nämlich muss die Firma, die<br />

den Kehricht entsorgt, einige Tachoscheiben<br />

herausgeben. Sie landen auf Umwegen<br />

bei Lüscher, darunter die Scheibe vom 17.<br />

Februar 2000. Sie beweist eindeutig, dass<br />

sich der Kehrichtwagen von 9 Uhr 02 bis 9<br />

Uhr 42 nicht in Fahrt bef<strong>und</strong>en hat; <strong>und</strong><br />

ebenso wenig von 15 Uhr 05 bis 15 Uhr 30.<br />

Endlich hat es Lüscher schwarz auf weiss.<br />

Statt zweimal 15 Minuten Pause machten<br />

die Güselmänner einmal 40 <strong>und</strong> einmal 25<br />

Minuten Pause.<br />

An der Gemeindeversammlung legt er<br />

das Beweisstück auf den Hellraumprojektor.<br />

Er wird ausgelacht, hat sich aber schon<br />

weit von der Realität entfernt: Er glaubt<br />

aus der Dunkelheit im Saal ein Raunen<br />

<strong>und</strong> Staunen zu hören, er glaubt an einen<br />

Triumph.<br />

Parallel zu den Strafanzeigen gegen<br />

die Gemeindebehörde hat Lüscher seit<br />

einigen Jahren regelmässig Aufsichtsbeschwerden<br />

beim kantonalen Baudepartement<br />

deponiert. In Aarau nahm man die<br />

Angelegenheit erstaunlich ernst. Zehn Seiten<br />

umfasst ein Elaborat, das die Frage<br />

beantwortet, wo die Trennlinie zwischen<br />

Kehricht <strong>und</strong> Sperrgut zu ziehen sei. Fazit<br />

des Papierkrieges: Lüschers Einschreibeflut<br />

sei zu Recht erfolgt, die Gemeinde Seon<br />

könne bei der Kehrichtentsorgung einiges<br />

verbessern.<br />

Hätte Aarau auf Lüschers Beschwerden<br />

am besten gar nicht reagiert? Oder nur<br />

dann, wenn es nicht mehr anders ging?<br />

Sicher ist: Im Umgang mit einem wie<br />

Lüscher kommt für jeden irgendwann der<br />

Zeitpunkt der reinen Ohnmacht. Lüscher,<br />

der Mann, der sich unentwegt am Limit bewegt,<br />

bringt auch alle dorthin, die sich mit<br />

ihm herumschlagen müssen. Er zieht die<br />

Menschen zu sich hinunter. Darum geht es<br />

solchen Männern. Warum soll all das, was<br />

sie verzweifeln lässt, nicht auch andere zur<br />

Verzweiflung treiben?<br />

Und warum also sollen, wenn Lüscher<br />

beschlossen hat, sich zu töten, wie er<br />

Lüscher zieht den Fall ans<br />

Obergericht. Auch dort blitzt er<br />

ab. Lüscher hat verloren.<br />

antönt, nicht auch andere sterben? Er sagt:<br />

«Wenn mich jemand plagt, kann niemand<br />

ausschliessen, dass Lüscher schiesst.» Er<br />

sagt auch: «Wenn der erste Schuss draussen<br />

ist, dreht die Trommel, dann der zweite<br />

Schuss, der dritte, der vierte, der fünfte, der<br />

sechste! Huh!»<br />

Lüscher wählt die Nummer der Gemeinde.<br />

Er will endlich hören, dass er Recht hatte.<br />

Er ist bereit zum Frieden. Doch da legt<br />

der Beamte den Hörer auf. Man spricht<br />

nicht mehr mit ihm. Es ist vielleicht die letzte<br />

Kränkung im Leben des Ulrich Lüscher.<br />

«Herr Lüscher, warum haben Sie uns zu<br />

sich gebeten?»<br />

«Damit endlich jemand die Wahrheit<br />

schreibt.»<br />

«Was ist die Wahrheit?»<br />

«Die Znünipause dauerte 40 Minuten.»<br />

Balz Rigendinger<br />

26. August 2004 FACTS


Der arbeitslose Ostoja T. erschiesst seine beiden Kinder <strong>und</strong><br />

anschliessend sich selbst. Ljiljana T., die sich von ihrem Mann<br />

getrennt hatte, überlebt. Wie es zum Drama von Binn (VS) kam. Von<br />

Balz Rigendinger<br />

Ostoja T. erschiesst seine Kinder<br />

Von der Strasse her ist das Plateau nicht zu erkennen. Wer oben steht,<br />

überblickt das ganze Binntal. Für Franziskus Escher, den Kommandanten der<br />

Walliser Gendarmerie, ist dieser Ort ohne Namen «wie das Ende der Welt».<br />

Escher, ein kerniger Grenadier, zeigt<br />

18.6.2006, 09:34 Uhr<br />

Von der Strasse her ist das Plateau nicht zu erkennen. Wer oben steht,<br />

überblickt das ganze Binntal. Für Franziskus Escher, den Kommandanten der<br />

Walliser Gendarmerie, ist dieser Ort ohne Namen «wie das Ende der Welt».<br />

Escher, ein kerniger Grenadier, zeigt auf die massive Holzbank, hinter der er<br />

in Deckung ging.<br />

Es war am Samstag vor einer Woche, um 20 Uhr 30. Oben auf dem Plateau<br />

hielt sich der Täter eine Pistole an den Kopf. Am Fuss der Böschung, im Auto<br />

auf der Wiese, hatte Escher soeben gesehen, dass der Mann, der sich selbst zu<br />

richten drohte, seine beiden Kinder bereits erschossen hatte. In der Deckung<br />

der Bank neben dem Robidog- Behälter, mitten im Einsatz, brach<br />

Kommandant Escher, 53, in Tränen aus.<br />

Das Familiendrama von Binn endete dort, wo alles begonnen hatte, im Wallis.<br />

1992 ziehen Ljiljanas Eltern von Bosnien nach Saas Fee. Das Mädchen ist 14,<br />

Einzelkind, der Vater Hilfsarbeiter. Ihren Mann Ostoja lernt Ljiljana in Brig<br />

kennen; er ist acht Jahre älter als sie. Als sie 18 ist, heiratet das Paar <strong>und</strong> zieht<br />

nach Bern. Ljiljana beginnt eine Lehre als Verkäuferin in einem Reformhaus<br />

an der Christoffelgasse.<br />

Die Wohnung im Berner Tiefenauquartier ist schmucklos, aber direkt an der<br />

Aare gelegen. An «angenehme Leute», erinnert sich die Vermieterin, «aber<br />

sie mussten ständig ins Spital». Aleksander, der erste Sohn, geboren im Jahr<br />

der Hochzeit, leidet an einer Darmkrankheit. Zweieinhalb Jahre lang dauert<br />

sein Spitalaufenthalt; er wird nie richtig ges<strong>und</strong> werden, aber normal<br />

aufwachsen können. 1998 zieht die Familie nach Bümpliz.<br />

Ostoja schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, Gerüstbau meist. Sein<br />

Wunschberuf ist Automonteur, er findet aber keine Stelle, wird immer wieder<br />

arbeitslos. Ljiljana bleibt nach der Lehre Verkäuferin im selben Reformhaus.<br />

Später wird sie Filialleiterin. 2000 bringt sie ihr zweites Kind zur Welt,<br />

Aleksandra. Wenn die Mutter arbeitet, sorgt ihre Cousine, die im selben<br />

Haushalt wohnt, für die Kinder. «Ljiljana ist nicht der klassische Mami- Typ,<br />

sie kümmerte sich zwar um sämtliche erzieherischen <strong>und</strong> organisatorischen<br />

Belange, wollte aber ebenso in die Arbeitswelt», sagt ihr Chef.<br />

Arbeitslos<br />

2002 findet auch Ostoja eine Stelle. Im Auto-Center bei der Migros Wankdorf<br />

führt er kleine Servicearbeiten aus, wechselt Reifen <strong>und</strong> Öl. Die Arbeitsorte<br />

der beiden liegen nah beieinander. Am Morgen verlassen sie die Wohnung<br />

gemeinsam, am Abend kehren sie gemeinsam zurück. Dieses bescheidene


Glück sollte zwei Jahre dauern. Ostoja besucht einen Deutschkurs. «Er blühte<br />

richtig auf», sagt ein Bekannter. Doch 2004 erhält Ostojas Werkstatt einen<br />

neuen Besitzer. Und er die Kündigung.<br />

Schweizer, die ihn kannten, beschreiben Ostoja als sympathischen, gut<br />

aussehenden Mann mit tiefer, rauer Stimme, als gross <strong>und</strong> kräftig, aber auch<br />

als leicht gehemmt. «Ein flotter Kerl, zuverlässig», sagt der Garagist, bei dem<br />

der arbeitslose Ostoja in den letzten zwölf Monaten tageweise aushalf. Seine<br />

Kinder habe er «abgöttisch geliebt. Er kaufte ihnen gerne Dinge.»<br />

Doch die Arbeitslosigkeit nagt am Stolz des Familienvaters. Zu Hause ist er<br />

mürrisch. «Er klagte die ganze Welt an», sagt ein Bekannter aus Bern. Im Juli<br />

2005 fährt die Familie in den Urlaub nach Bosnien. Später berichtet Ostoja<br />

einem Kollegen, die Ferien seien «eine Katastrophe» gewesen.<br />

Gegenüber seiner Frau, erfahren deren Arbeitskolleginnen, wird er immer<br />

aggressiver, nicht gewalttätig, aber «böse». Ljiljana trägt viel zum<br />

Einkommen bei, spricht Deutsch, schreibt für ihn Bewerbungen, begleitet ihn<br />

zum Arbeitsamt. Und eine ihrer Kolleginnen hat Ostoja den Job in der<br />

Autowerkstatt organisiert. All das hat seinen Stolz verletzt. «Bis auf eine<br />

Ohrfeige blieb er aber immer verbal», sagt Ljiljanas Chef. Er droht nur.<br />

Ljiljana, die ihre Angst zunächst versteckt, erzählt immer öfter <strong>und</strong> offener<br />

von den Wutausbrüchen ihres Gatten: Dass sie versuche, die Kinder aus dem<br />

Zank herauszuhalten, dass Ostoja fast jede Nacht wortlos das Haus verlasse,<br />

<strong>und</strong> wortlos zurückkomme, um fünf Uhr früh. Unerklärlich aggressiv. «Ostoja<br />

zockte», sagt ein Kollege: «Glücksspiel im privaten Kreis.»<br />

An einem Morgen im November 2005 eskaliert es. Sie wünscht ihm einen<br />

guten Morgen. Er schickt sie zum Teufel. Sein Blick <strong>und</strong> seine Worte geben<br />

Ljiljana Gewissheit: Zu diesem Mann darf sie nie zurück. Sie fürchtet um ihr<br />

Leben. Sie geht zur Polizei. Auch Ostoja geht zur Polizei, berichtet dort, dass<br />

Ljiljanas Cousine, von deren Anwesenheit auch er profitiert hat, keine<br />

Aufenthaltsbewilligung habe.<br />

Dann geht er zur Arbeit, aufgebracht. St<strong>und</strong>enlang muss ihn der Chef<br />

beruhigen. «Er war im roten Bereich, hat geheilandet, schlug immer wieder<br />

mit Werkzeug auf alles ein.» Ostoja fragt: «Warum geht sie? Sie hat Geld. Ich<br />

habe Geld. Warum geht sie?» Von da an «konnte man ihn nicht mehr<br />

brauchen», sagt der Garagist. In Ostojas Wahrnehmung ist Ljiljana eine<br />

Ehebrecherin.<br />

Im Frauenhaus<br />

Sie findet bei Bekannten Unterschlupf. Per SMS erhält sie Reuebekenntnisse<br />

<strong>und</strong> Drohungen. Die Sorge um ihre Kinder wächst. Eines Nachts holt sie<br />

Aleksander <strong>und</strong> Aleksandra heimlich ab. Zu viert - auch die Cousine ist dabei<br />

- fliehen sie ins Frauenhaus. Beim Zivilgericht leitet sie die Trennung ein. Im<br />

Dezember 2005 findet sie eine Wohnung in Osterm<strong>und</strong>igen.<br />

Beim Jugendamt Bern klagt Ostoja, es sei ungerecht, dass er seine Kinder<br />

nicht mehr sehen könne. Das Amt erklärt Osterm<strong>und</strong>igen für zuständig.<br />

Sozialarbeiter werden eingeschaltet, Besuchsregelungen erstellt: Er darf die<br />

Kinder an jedem zweiten Wochenende haben.<br />

Im Januar verlangt er beim Garagisten 1000 Franken Lohnvorschuss.


Die Übergaben werden für Ljiljana zu Nervenproben. Zweimal, als Ostoja die<br />

Kinder nicht zurückgeben will, ruft sie die Polizei. Mindestens ein Einsatz ist<br />

aktenk<strong>und</strong>ig. «Die Kinder wurden zum Spielball im Scheidungskrieg», sagt<br />

der Vorsteher der Vorm<strong>und</strong>schaftsbehörde Osterm<strong>und</strong>igen, «darum<br />

entschieden wir uns für eine Fremdplacierung.» Im Februar 2006 kommen<br />

Aleksandra, 6, <strong>und</strong> Aleksander, 10, ins Kinder-Notaufnahmeheim<br />

«Schlossmatt».<br />

In dieser Zeit «verzockte er seine letzten 2000 bis 3000 Franken», weiss der<br />

Garagist. Dieser erlebt den 35-Jährigen nun «als komplett anderen<br />

Menschen. Er war jähzornig <strong>und</strong> wollte ständig Geld.» Ostoja droht ihm.<br />

Er tauscht seinen roten VW Passat Diesel gegen einen Golf ein <strong>und</strong> löst damit<br />

gut 5000 Franken.<br />

Das Paar beginnt über Anwälte provisorische Besuchsregelungen für die<br />

Kinder auszuhandeln. Ein Gerichtstermin, bei dem Sorgerecht <strong>und</strong> Obhut<br />

definitiv geregelt werden sollen, wird auf den 11. Juli angesetzt.<br />

Am 6. April schlägt das Jugendamt drei Lösungen vor: Bis zum<br />

Gerichtstermin sollen die Kinder zu Ostoja kommen; Ljiljana darf sie<br />

besuchen. Oder umgekehrt. Oder aber sie werden, drittens, nochmals<br />

fremdplaciert. Er, noch immer arbeitslos, hätte Zeit für die Kinder. Er begreift<br />

nicht, warum seine Frau trotzdem die besseren Karten zu haben scheint. «Im<br />

Unterbewusstsein wusste er, dass er die Kinder nicht bekommt», sagt ein<br />

Fre<strong>und</strong> in der Fernsehsendung «10 vor 10». Er macht sich für eine erneute<br />

Fremdplacierung stark, dafür, dass entweder er oder keiner der beiden die<br />

Kinder bekommt.<br />

Im Mai tauscht er seinen schwarzen Golf gegen einen roten Golf ein <strong>und</strong> löst<br />

damit r<strong>und</strong> 2000 Franken.<br />

Am 1. Juni findet wieder eine Sitzung statt. Ostoja <strong>und</strong> Ljiljana sollen die<br />

Obhut ihrer Kinder nach deren Entlassung von «Schlossmatt» provisorisch<br />

regeln. Er wird laut. Die Verhandlungen müssen getrennt weitergeführt<br />

werden. «Von da an war Ljiljana wieder voller Angst», sagt eine Bekannte.<br />

«Vielleicht wären die Kinder bis zum Gerichtstermin besser fremdplaciert<br />

geblieben», sagt Ljiljanas Chef, «denn da funktionierte es immerhin.» Die<br />

Behörde verfügt, dass Aleksander <strong>und</strong> Aleksandra vorübergehend zu Ljiljana<br />

kommen, <strong>und</strong> dass Ostoja sie jeweils am Mittwochnachmittag <strong>und</strong> am<br />

Wochenende zu sich nehmen darf.<br />

Am 5. Juni erscheint Ostoja beim Garagisten. Er will seinen AHV-Ausweis<br />

zurück. Es kommt zum Streit um die 1000 Franken Lohnvorschuss, die<br />

Ostoja schuldet. Er droht.<br />

Am Freitag holt er die Kinder ab. Am Samstagmittag erscheint er mit ihnen<br />

an Ljiljanas Arbeitsplatz. Aleksander <strong>und</strong> Aleksandra dürfen etwas kaufen.<br />

Als keine K<strong>und</strong>en mehr im Geschäft sind, fragt Ostoja seine Frau: «Wie lange<br />

geht das so weiter?» Dann richtet er eine Pistole auf sie. Ljiljana flieht ins<br />

Untergeschoss. Er stellt ihr nach, schiesst auf sie. Im Bereich der<br />

Schussabgabe findet die Spurensicherung später Schuhabdrücke der Kinder.<br />

Der Schuss trifft nicht. Ljiljana gelingt es, die Polizei zu rufen. Ostoja flieht in<br />

seinem roten Golf, im Fond die Kinder.


Die Polizei umstellt das Reformhaus. Gleichzeitig leitet sie eine Fahndung<br />

nach Ostojas Wagen ein. Um 13 Uhr informiert Bern die Kantonspolizei<br />

Wallis, dass der Bewaffnete möglicherweise dorthin unterwegs sei.<br />

Drei St<strong>und</strong>en später hat Ostoja sein Ziel, das Plateau oberhalb des Walliser<br />

156-Seelen-Dorfs Binn erreicht. Er wählt die 117, <strong>und</strong> verlangt, mit Bern zu<br />

sprechen. Polizeipsychologen verhandeln fast drei St<strong>und</strong>en lang mit ihm.<br />

Ostoja verlangt, seine Frau zu sprechen. «Welches Kind soll ich zuerst<br />

umbringen?» Er droht.<br />

Die Fahnder können seinen Anruf der Antenne Binn zuorten. Beamte<br />

durchforsten das weiträumige Gebiet. Längst in der Sackgasse <strong>und</strong> am Ende,<br />

droht Ostoja ein letztes Mal.<br />

Um 19 Uhr 30 hört die Verhandlungsführerin in Bern am Telefon, wie<br />

Aleksander seinen Vater bittet, aufzuhören. Dann hört sie einen Schuss.<br />

Als die Walliser Polizei den Täter um 19 Uhr 38 erstmals sichtet, hält dieser<br />

ein Mobiltelefon in der einen Hand, in der andern eine Waffe, beides auf<br />

Kopfhöhe. Er bricht die Verhandlungen ab. Das Auto hat er die Böschung<br />

hinunter gestossen. Ostoja, der sich für diese Zeit eigentlich in Bern zum<br />

Essen mit Fre<strong>und</strong>en verabredet hatte, tigert lange auf dem Plateau hin <strong>und</strong><br />

her. «Er schrie, es klang wie Wolfsgeheul», sagt Einsatzleiter Franziskus<br />

Escher.<br />

Um 23 Uhr 30 stapft Ostoja die Böschung hinunter zum Golf. Die Polizei<br />

sieht, wie das Wageninnere hell wird. Ostoja betrachtet seine toten Kinder.<br />

Auf den Vordersitzen liegt Aleksandra, hinten, im Fussraum, sein Sohn. Er<br />

heult auf <strong>und</strong> schiesst sich in den Kopf. Am Sonntagmorgen um 3 Uhr 50<br />

erliegt Ostoja im Inselspital Bern seinen Verletzungen.<br />

Verstehen, warum Väter morden<br />

Die erste Statistik zu Tötungen in der Familie erscheint im Herbst.<br />

Fachleute aber fordern eine spezifische Studie zu Männern, die<br />

sich <strong>und</strong> ihr Umfeld auslöschen. Von David Hesse<br />

Noch kann keine Statistik die Frage beantworten, ob tatsächlich laufend mehr<br />

Männer ihre Familien <strong>und</strong> danach sich selbst auslöschen. Und eine Studie,<br />

die das Phänomen gesondert untersuchte, gibt es in der Schweiz nicht. Nötig<br />

wäre sie auf jeden Fall, findet Andreas Frei, Oberarzt des forensischen<br />

Dienstes des Kantonsspitals Luzern. «Man müsste die Akten durchforsten,<br />

mit Angehörigen sprechen <strong>und</strong> Quervergleiche anstellen, anstatt den Fall<br />

nach drei Wochen abzuschliessen.» Zu finden hofft Frei einen roten Faden,<br />

der sich durch die Einzelfälle zieht.<br />

Im September will das Schweizer B<strong>und</strong>esamt für Statistik nun erstmals eine<br />

nationale Studie zu Tötungsdelikten in der Familie für den Zeitraum von<br />

2000 bis 2004 veröffentlichen. Hierfür wurden Fragebogen an die<br />

kantonalen Polizeibehörden verschickt, die teilweise bereits eigene Statistiken<br />

zur häuslichen Gewalt führen.<br />

In der Kriminologie gilt der Mord an der Familie <strong>und</strong> an sich selbst als<br />

«erweiterter Suizid». «Dazu kommt es typischerweise in vier Situationen»,<br />

sagt Christopher Milroy, Direktor der forensischen Pathologie der Universität


Sheffield, England. «Erstens beim Auseinanderbrechen von Ehen <strong>und</strong><br />

Beziehungen, zweitens bei älteren oder kranken Menschen als eine Form der<br />

aktiven Sterbehilfe, drittens bei Geisteserkrankungen <strong>und</strong> erst viertens bei<br />

finanziellem <strong>und</strong> sozialem Stress.» In den meisten Fällen sind die Mörder<br />

Männer. Die Herkunft der Beteiligten sei unwesentlich, sagt Milroy: «Eher als<br />

die nationale Kultur ist das jeweilige Waffengesetz von Bedeutung. Ist eine<br />

Waffe im Haus, dann vergrössert dies die Chance auf Eskalation.»<br />

Für die Zürcher Staatsanwältin Silvia Steiner haben «Statistiken vor allem<br />

dann einen Sinn, wenn man aus ihnen Strategien entwickeln kann». Sie ist<br />

überzeugt, dass manche Risikofaktoren <strong>und</strong> Warnzeichen erkannt <strong>und</strong><br />

entsprechende präventive Polizeimassnahmen ergriffen werden können.<br />

Im deutschen B<strong>und</strong>esland Baden- Württemberg (10,7 Millionen Einwohner)<br />

setzt die Polizei seit Frühjahr 2004 auf «Gefährderansprachen». Wenn eine<br />

Frau der Polizei meldet, dass sie von ihrem Partner bedroht wird, dann<br />

suchen Beamte sofort das Gespräch mit dem Mann. Hierfür sei keine Anzeige,<br />

kein Strafverfahren nötig, sagt Kriminaldirektor Uwe Stürmer: «Gerade<br />

Bedroher, die nie zuvor auffällig waren, lassen sich von der Polizei<br />

beeindrucken. Manche wachen regelrecht auf <strong>und</strong> erschrecken, auf welchem<br />

​Trip​ sie da sind.»<br />

Potenzielle Täter?<br />

Das baden-württembergische Landeskriminalamt untersucht die<br />

Tötungsdelikte in Paarbeziehungen seit drei Jahren auch statistisch. Eine<br />

Zunahme sei nicht bemerkbar, sagt Stürmer. R<strong>und</strong> die Hälfte der Täter habe<br />

vor der Tötung absolut unauffällig gelebt. Was aber nicht heisse, dass ihre<br />

Taten sich nicht ankündigten: «Auf dem Weg in die Eskalation kommt es fast<br />

immer zu Warnsignalen.» Bei 59 vollendeten <strong>und</strong> versuchten Tötungen in<br />

Partnerschaften im Jahr 2003 war die Tat in 22 Fällen angekündigt worden;<br />

gegenüber dem Opfer oder dem weiteren Umfeld.<br />

Auch das Umfeld müsse deshalb lernen, woran potenzielle Täter zu erkennen<br />

sind. Stürmer: «Den Leuten muss klar werden: Der Mörder ist nicht der<br />

Gärtner, sondern der Partner. Und es kommt nicht irgendwann einmal zur<br />

Eskalation, sondern in bestimmten kritischen Momenten: Bei der Trennung.<br />

Wenn der Möbelwagen vorfährt. Während der letzten Aussprache.»<br />

Aus heiterem Himmel<br />

Schwieriger wird es, wenn keine Beziehungsprobleme, sondern Schulden oder<br />

Überforderung Auslöser der Katastrophe sind: «In diesen Fällen dringt viel<br />

weniger nach aussen», so Stürmer. Und Andreas Frei vom Kantonsspital<br />

Luzern ist der Ansicht, dass «spontane» Familienmörder sich von chronisch<br />

gewalttätigen Ehepartnern eben darin unterschieden, dass Ersteren die<br />

Vorgeschichte fehlt. «Aber wer weiss, wenn man tiefer grübe, vielleicht fände<br />

man auch da etwas.» Frei jedenfalls hat im Mordfall von Escholzmatt die Akte<br />

studiert <strong>und</strong> kommt zum Schluss: «Der Fall war nicht voraussehbar.»<br />

Die Staatsanwältin Silvia Steiner hat andere Erfahrungen gemacht: «Bei<br />

einigen Familiendramen der vergangenen Jahre hatte ich doch den Eindruck,<br />

dass eindeutige Indizien auf eine Eskalation hingewiesen haben.» Ein<br />

Problem sei die fehlende Vernetzung all jener Stellen, die entsprechende<br />

Beobachtungen machen könnten, also etwa Schulen <strong>und</strong> Gemeindebehörden.<br />

«In der Schweiz werden die Daten nicht erschöpfend ausgewertet - aus


Gründen des Datenschutzes <strong>und</strong> des Berufsgeheimnisses.» Erst wenn es zu<br />

spät sei, erfahre man, welche Anzeichen bereits bekannt gewesen seien. Was<br />

Einzelnen wie eine Eskalation aus heiterem Himmel vorkomme, hätte ein<br />

Spezialist vielleicht früher erkennen können, so Steiner.<br />

Dass übersensibilisierte Bürger bald bei jedem lauten Streit der Nachbarn die<br />

Polizei alarmieren, hält Kriminaldirektor Uwe Stürmer für unwahrscheinlich.<br />

Klar ist aber auch, dass viele erwiesene Risikofaktoren (Arbeitslosigkeit,<br />

Stress, Alkohol- <strong>und</strong> Drogenabhängigkeit) für sich alleine kein Gr<strong>und</strong> sein<br />

können für präventive polizeiliche Interventionen. Und auf häusliche Gewalt<br />

wiederum kann auch in der Schweiz nur reagiert werden, wenn sie der Polizei<br />

gemeldet wird.<br />

Ein Risikofaktor ist schliesslich die mediale Präsenz der Morde, die, so<br />

Andreas Frei, zur Nachahmung, zum Werther-Effekt führen könne. In der<br />

Innerschweiz habe man seit dem Zuger Amoklauf von 2001 regelmässig mit<br />

«Drohungen <strong>und</strong> Bezügen auf Leibacher» zu tun. Es sei wichtig, in den<br />

Medien auch bei Familiendramen «möglichst negativ, ohne Verständnis für<br />

den Täter» zu berichten.<br />

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen od<br />

vorherige ausdrückliche Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet.


32 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | GESELLSCHAFT 33<br />

Auf ewig mein<br />

Daniela T. liebte ihren Walter so sehr, dass sie ihn nicht ziehen lassen konnte. Sie erschoss <strong>und</strong> verbrannte<br />

ihn. Sie verscharrte den Toten wie einen H<strong>und</strong>. Seit vier Jahren narrt die Täterin die Ermittler, seit vier Jahren ist<br />

sie auf freiem Fuss. Die Geschichte einer mörderischen Liebe <strong>und</strong> eines <strong>Justiz</strong>-Debakels. Von Balz Rigendinger<br />

Daniela <strong>und</strong> Walter im Jahr 2000: Ihre Welt bestand aus ihr selbst, fünf Pferden, ihrer Mutter <strong>und</strong> Walter, der ersten grossen Liebe.<br />

E<br />

ine Kugel blieb im Hals stecken; sie<br />

hatte zuvor die Unterlippe zerfetzt<br />

<strong>und</strong> den Unterkiefer zertrümmert.<br />

Tödlich aber war ein zweiter Schuss – der<br />

Schuss in den Rücken: Er bohrte sich knapp<br />

an der Wirbelsäule vorbei ins Fleisch. Abgefeuert<br />

wurde das Geschoss mit einem<br />

Revolver Kaliber 38, aus kürzester Distanz;<br />

womöglich gar als «Kontaktschuss», wie<br />

die Rechtsmediziner später festhielten. Auf<br />

dem Küchenboden eines Chalets im freiburgischen<br />

Ueberstorf lag der Leichnam<br />

von Walter Plüschke, 26. Es war der Vormittag<br />

des 16.Oktobers 2000, ein Montag,<br />

geschossen hatte Daniela T., damals 30.<br />

Die Bluttat markierte das Ende einer Beziehung<br />

– nicht aber einer Liebe.<br />

Denn davon erzählt diese Geschichte:<br />

von Liebe, die angeblich über den Tod<br />

hinaus währt. Hat je geliebt, wer dies nicht<br />

kennt?<br />

Dass sie Walter aus der Welt geschafft<br />

habe, könne sie nicht begreifen, sagte<br />

Daniela später. Ebenso wenig könne sie<br />

sich daran erinnern. Daniela spricht noch<br />

heute von einem Unfall, von einer Art<br />

Notwehr. Sie wickelte die Leiche in eine<br />

Wolldecke <strong>und</strong> schleifte das Bündel, 65 Kilo<br />

schwer, nach draussen – aus der Küche<br />

durch das Wohnzimmer, durch den Hinterausgang<br />

in den Garten, über den Kiesweg<br />

auf den Acker. Dort griff sie sich eine<br />

Schaufel. Sie hob eine Grube aus, 35 Zentimeter<br />

tief. Weich war der Boden nicht. Die<br />

Pferde, Danielas Lieblinge, hatten ihn hart<br />

getrampelt, schwarze, nasse Erde. Eine<br />

Beerdigung? Nein, das wollte Walter nie.<br />

Daniela holte einen Kanister <strong>und</strong> einen<br />

Deckbettüberzug, sie bettete den Leichnam<br />

in die Grube; darüber kam die Decke<br />

zu liegen. Dann übergoss Daniela den noch<br />

warmen Körper mit Benzin, zündete ihn<br />

an. Sie liess Walter verbrennen; die Einäscherung<br />

war ein bizarrer letzter Liebesdienst.<br />

Walter hatte einst gesagt, er wolle<br />

Eine Beerdigung wollte er nie.<br />

Die Einäscherung war ein<br />

bizarrer letzter Liebesdienst.<br />

kremiert werden im Falle seines Todes. Als<br />

das Feuer aus war, packte Daniela wieder<br />

die Schaufel <strong>und</strong> schloss das Grab. Walter<br />

würde ihr nun für immer nahe sein.<br />

Seit vier Jahren beunruhigt – <strong>und</strong><br />

fasziniert – der ungeheuerliche Fall die<br />

Öffentlichkeit. Zu schleppend arbeitete die<br />

<strong>Justiz</strong>. Noch heute bleibt offen, ob die Frau<br />

je sühnen muss. Daniela ist in Freiheit, sie<br />

führte bislang alle an der Nase herum.<br />

Selbst die <strong>Justiz</strong>.<br />

Ihre Welt war klein <strong>und</strong> verknorzt. Sie<br />

bestand aus ihr selbst, fünf Pferden, ihrer<br />

Mutter <strong>und</strong> Walter, der ersten grossen Liebe.<br />

Sonst war da nichts. Es sieht nach einer<br />

einfachen, nach einer alten Geschichte<br />

aus: Ein Mann will eine Frau verlassen –<br />

<strong>und</strong> sie muss ihn töten, damit er ihr nicht<br />

entkommt. Es sieht nach Mord aus.<br />

Aber: Angeklagt ist Daniela wegen<br />

vorsätzlicher Tötung, genauer: «alternativ<br />

wegen vorsätzlicher Tötung, eventuell<br />

Mordes, oder wegen fahrlässiger Tötung.»<br />

Das ist genauso vage, wie es klingt. Ab dem<br />

17. Januar sollte sich Daniela vor den<br />

Schranken des Bezirksgerichts der Sense<br />

in Tafers FR verantworten. Doch sicher ist<br />

nicht einmal dies. Seit zwei Wochen harrt<br />

eine staatsrechtliche Beschwerde beim<br />

B<strong>und</strong>esgericht der Erledigung. Danielas<br />

Richter wird diese Woche entscheiden, ob<br />

er den Prozess deshalb verschiebt. Macht<br />

die Freiburger <strong>Justiz</strong> wieder einen Fehler?<br />

Tappt sie in eine formaljuristische Falle?<br />

Die Befürchtung, Daniela könnte sich endgültig<br />

dem Gefängnis entziehen, wächst.<br />

Es war nie Pflicht der Rechtsprechung,<br />

rasch zu urteilen – aber innert nützlicher<br />

Frist. Die <strong>Justiz</strong> muss gerecht sein <strong>und</strong><br />

präzise. In diesem Fall bedeutet dies: Sie<br />

muss alle Zweifel an Danielas Schuld<br />

würdigen. Es gilt also auch einer Frau<br />

Gehör zu schenken, die oft, zu oft gelogen<br />

hat. Das Gericht hat zwölf Tage anberaumt,<br />

um das vermeintlich Unfassbare zu<br />

klären. Es wird nicht einfach sein, denn<br />

Daniela – sie ist die einzige Zeugin ihrer<br />

Tat – lässt weiterhin alles im Dunkeln.<br />

Bereits am 28. Oktober 2000, zwölf<br />

Tage nach der Einäscherung Walters,<br />

sprach Daniela über ihre Tat wie über <br />

Bilder der Tatrekonstruktion («Blick» vom Mai 2001): «Es kann sein, dass ich Erde auf etwas schaufle.»<br />

FACTS 30. Dezember 2004<br />

30. Dezember 2004 FACTS


34 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | GESELLSCHAFT 35<br />

eine beinahe schon verlorene Erinnerung.<br />

Mühsam schien sie Bruchstücke aus den<br />

Tiefen ihres Unterbewusstseins in die<br />

Wirklichkeit des Polizeiverhörs zu holen:<br />

«Ich glaube, ich ziehe eine schwere<br />

Last. Ich ziehe die Last aus dem Haus. Ich<br />

mache ein Loch bei den Pferden. Die Pferde<br />

kommen zu mir.»<br />

So steht es im Polizeiprotokoll. Es<br />

klingt, als sei sie nur daneben gestanden.<br />

Die Sätze lüfteten immerhin ein Rätsel, das<br />

die Polizei tagelang auf Trab gehalten hatte:<br />

Wo ist Walter? Was ist ihm geschehen?<br />

In jenen Tagen galt Walter als verschw<strong>und</strong>en.<br />

Entführt oder getürmt – das konnte<br />

keiner wissen, ausser Daniela.<br />

«Es kann sein, dass ich Erde auf etwas<br />

schaufle. Ich glaube, es ist Walp. Walp muss<br />

im Matsch liegen. In der nassen Erde.»<br />

Sie nannte ihn Walp. Walter Plüschke<br />

wuchs mit sieben Geschwistern in Australien<br />

auf. Dorthin waren seine Eltern, ein<br />

Mediziner aus Schweden <strong>und</strong> eine Laborassistentin<br />

aus dem Appenzellischen, ausgewandert.<br />

Später zog es den Sohn <strong>und</strong><br />

zwei weitere Geschwister zurück in die<br />

Schweiz, zum Studium. Auf der Neuroradiologie<br />

des Berner Inselspitals, wo Walter<br />

ein Praktikum absolvierte, lernt er<br />

1998 Daniela kennen.<br />

Daniela tippt als kaufmännische Angestellte<br />

in einer Halbtags-Anstellung<br />

Arztberichte ab. Sie ist zwar vier Jahre älter<br />

als Walter <strong>und</strong> in einfachen Verhältnissen<br />

aufgewachsen, doch beide lieben<br />

die Natur, <strong>und</strong> beide meiden Partys. Sie<br />

teilen auch eine Abneigung gegen die feine<br />

Gesellschaft. Lieber tragen sie verwaschene<br />

Jeans <strong>und</strong> karierte Holzfällerhemden.<br />

Daniela <strong>und</strong> Walter verlieben sich.<br />

Nach einem halben Jahr muss sich die<br />

Liebe am Alltag messen. Walter absolviert<br />

Zeit raubende Prüfungen. Was für ihn<br />

selbstverständlich ist, wird für sie zur Belastung.<br />

Sei doch froh, Daniela, tröstet sie<br />

zwar ihre Mutter, so bleibt dir mehr Zeit für<br />

die Pferde. Daniela überzieht alles, was<br />

Walter tut, mit ihrer Eifersucht. Sie wird<br />

dem Medizinstudenten zur Last. Im Frühling<br />

1999, eineinhalb Jahre vor seinem<br />

Tod, zieht er um, aus seinem Zimmer bei<br />

Danielas Mutter in die Stadt, nach Bern.<br />

Walter sei ein Mensch gewesen, der<br />

einiges für sich behalten habe, sagt Eva<br />

Plüschke, die Schwester: «Er gab nicht<br />

gern zu, wenn es bei ihm nicht richtig lief.»<br />

Doch einmal klagte er Eva, dass Daniela bei<br />

einem nächtlichen Auftritt vor den Toren<br />

des Studentenheims alle geweckt habe. Bis<br />

Walter es nicht mehr aushielt. Dann habe<br />

er sie reingelassen, ins Kolpinghaus an der<br />

Berner Mattenhofstrasse, wo er wohnte.<br />

«Ich mischte mich nie in das Leben meines<br />

Bruders ein», sagt Eva Plüschke – heute<br />

wirft sie sich genau dies vor.<br />

Daniela fiel als gute Schülerin<br />

auf. Mit 13 Jahren war sie<br />

hübsch, sportlich <strong>und</strong> beliebt.<br />

Walter, wir haben ein Kind verloren<br />

Vielleicht erhoffen sich Walter <strong>und</strong><br />

Daniela von der Australienreise Ende<br />

1999, dass die Beziehung wieder ins Lot<br />

kommt. In den letzten Monaten haben<br />

selbst nichtige Anlässe zu zermürbenden<br />

Streitereien geführt. Jedenfalls will Walter<br />

Daniela nach Canberra mitnehmen, in der<br />

Weihnachtszeit. Daniela beginnt Geld zu<br />

sparen. Sie freut sich. Im November aber<br />

sagt sie einer Bekannten, die Reise falle ins<br />

Wasser: Walter <strong>und</strong> sie seien nicht mehr<br />

zusammen. Auch Walter lässt gegenüber<br />

Dritten durchblicken, dass er alleine<br />

fliege. Schliesslich reisen doch beide ab,<br />

zur Überraschung aller. Vielleicht geht es<br />

Walter auch um eine letzte Chance, um<br />

einen Test. Die Frage, ob eine Partnerin<br />

sich vorstellen kann, dereinst mit ihm<br />

zurück nach Australien zu ziehen, beschäftigte<br />

ihn schon lange.<br />

Walters Familie fällt auf, dass die Fre<strong>und</strong>in<br />

wenig Englisch spricht, obwohl sie es<br />

eigentlich könnte. Daniela scheut sich, Fehler<br />

zu machen. Sonst aber sind sich die<br />

Plüschkes <strong>und</strong> Daniela sympathisch. Die<br />

Akademiker-Familie habe sie, das einfache<br />

Mädchen, aufgenommen wie eine Tochter,<br />

wird Daniela später erzählen. Und das<br />

Gr<strong>und</strong>stück, auf dem das Landhaus der Familie<br />

Plüschke steht, ist nach ihren Träumen.<br />

Ein stiller Weiher, auf den Hügeln <strong>und</strong><br />

in den Wiesen knorrige Bäume: Es wäre ein<br />

guter Ort für ihre Pferde.<br />

Doch dann sagt Daniela: Walter, wir<br />

haben ein Kind verloren.<br />

Monate später erzählt Walter einem<br />

Fre<strong>und</strong> von den belastenden Tagen in<br />

Australien. «Die Abortslüge hat ihn sehr<br />

beschäftigt», erinnert sich dieser. «Er litt<br />

extrem.» Seiner Schwester vertraut Walter<br />

im Nachhinein auch an, dass Daniela nie<br />

nach Canberra ziehen werde, das habe sie<br />

ihm gesagt, wegen der Quarantäne, die<br />

ihren Pferden blühen würde.<br />

Pferdenärrin Daniela (Ausriss «Blick»):<br />

«Dann bringe ich die Tiere lieber um.»<br />

Ich kann kein halbes Jahr ohne die<br />

Pferde sein. Sechs Monate? Dann bringe<br />

ich die Tiere lieber um.<br />

Wie zurechnungsfähig ist diese Frau?<br />

Dass das psychiatrische Gutachten über sie<br />

höchst geheim ist, irritiert selbst den Freiburger<br />

Strafrechtsprofessor Franz Riklin.<br />

«Natürlich ist es für einen Gutachter heikel,<br />

wenn er einen Täter beurteilen muss, der<br />

die Tat bestreitet», sagt Riklin, «die Quintessenz<br />

des Gutachtens aber sollte man trotzdem<br />

bekannt geben können.» Der «Blick»<br />

betitelte Daniela als «eiskalten Racheengel»<br />

<strong>und</strong> holte beim Gerichtspsychiater Josef<br />

Sachs eine Ferndiagnose ein. In Daniela,<br />

sagte dieser, habe es gebrodelt «wie in einem<br />

Dampfkochtopf mit verstopftem Ventil».<br />

Für Walters Fre<strong>und</strong>e steht fest, dass sich<br />

Daniela «schon im Lauf der Beziehung kalt<br />

berechnend verhielt», wie einer sagt, <strong>und</strong><br />

darum sei sie «eine Gefahr für jeden, der mit<br />

ihr zusammenkommt». Daniela selbst ist<br />

nicht zu sprechen. Sie hätte «genug gelitten»,<br />

sagt die Mutter.<br />

In der Schule fiel Daniela als gute<br />

Schülerin auf. Mit 13 Jahren war sie hübsch,<br />

sportlich, umgänglich <strong>und</strong> beliebt auch bei<br />

den Knaben. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt<br />

Das Paar in Australien, 1999: Monate später erzählt Walter einem Fre<strong>und</strong> von den belastenden Tagen.<br />

ein Mädchen mit ebenmässigen Zügen, das<br />

vergnügt aus blauen Augen blinzelt. Dieses<br />

Mädchen ritt aus, sooft es konnte.<br />

Traumatisches Erlebnis<br />

Ein Pferd lag angefahren am Strassenrand.<br />

Es zuckte. Daniela, die kleine Reiterin,<br />

stand daneben. Männer erreichten die<br />

Unfallstelle. Das Mädchen musste mitansehen,<br />

wie dem Tier eine Kugel in den<br />

Kopf gejagt wurde. «Dieser Vorfall hat sie<br />

wahnsinnig mitgenommen», erinnert sich<br />

eine Kollegin. Von da an sei Daniela nicht<br />

mehr dieselbe gewesen. «Ich glaube, dass<br />

ihr die Mutter das erste Pferd kaufte, um<br />

der Tochter über dieses Trauma hinwegzuhelfen.»<br />

Für das Pferd arbeitete die Mutter<br />

abends als Küchenhilfe. Seltsam kam den<br />

Klassenkameradinnen danach vor, dass<br />

Daniela alle Mitschülerinnen des Neids bezichtigte.<br />

Ich bin zu gut in der Schule, ich<br />

habe ein Pferd, ihr mögt mich nicht: So<br />

habe sie dahergeredet. «Sie isolierte sich»,<br />

sagt die Klassenkameradin. Dann bin eben<br />

ich deine Fre<strong>und</strong>in, tröstete die Mutter.<br />

Im Lauf der Jahre kaufte die Mutter<br />

ihrer Tochter zur Stute «Suleika» vier<br />

weitere Pferde, einen Jeep <strong>und</strong> einen Anhänger.<br />

In der Schule fragte man sich,<br />

warum Daniela trotzdem ständig klagte,<br />

dass ihre Schwester es besser hätte. Immerhin<br />

litt Danielas Schwester – sie zog<br />

früh von zu Hause weg – an Bulimie. Und<br />

als sie heiratete, erschienen die Eltern<br />

nicht zur Hochzeit. «Wir hatten den Eindruck,<br />

Däneli sei in den Augen der Mutter<br />

alles gewesen – ihre Schwester dagegen<br />

wie Luft», erzählt eine Bekannte.<br />

Daniela begann eine kaufmännische<br />

Lehre in einem Treuhandbüro. Sie klagte<br />

oft über Kopfschmerzen <strong>und</strong> liess ihre<br />

Amalgamfüllungen entfernen. Wenige<br />

Wochen vor der Lehrabschlussprüfung<br />

schmiss Daniela den Bettel hin. Wegen des<br />

Kopfwehs, wie sie sagte.<br />

Als die Eltern sich trennten, blieb die<br />

Tochter beim Vater, einem kauzigen Sattler.<br />

Ich kann ihn nicht mehr ausstehen,<br />

vertraute Daniela einst einer Fre<strong>und</strong>in an,<br />

als sie eine Männergeschichte beendete:<br />

Er ist wie mein Vater. Aber beim Vater,<br />

direkt vor der Tür, weideten ihre Pferde.<br />

Sie ritt aus auf schmalen Strassen, vorbei<br />

an verschlafenen Weilern, bis zum Tobel,<br />

wo das Rauschen des Flusses Sense nach<br />

oben dringt, über sanft geschwungene<br />

Hügel, durch grün gedüngte Äcker. Die<br />

Umgebung von Ueberstorf hat die Beschaulichkeit<br />

einer Modelleisenbahnlandschaft.<br />

Auf dem Hügel, den man Bergli<br />

nennt, steht ein kleines, dunkles Chalet<br />

mit vorhangverzierten Fenstern, Danielas<br />

Heim. Dahinter erheben sich trutzig hohe<br />

Tannen, davor stehen Hecken <strong>und</strong> ein<br />

hüfthoher Holzzaun.<br />

Strafklage gegen den Chefermittler<br />

Dort auf dem Bergli fand im Mai 2001 die<br />

Tatrekonstruktion statt, mit einer Darstellerin,<br />

weil Daniela selbst sich verweigerte.<br />

Den ersten beiden Anläufen zur Tatrekonstruktion<br />

war sie ferngeblieben. Danach<br />

reichte sie Strafklage ein: Der Untersuchungsrichter<br />

habe das Amtsgeheimnis<br />

verletzt, die Rekonstruktion sei für alle,<br />

auch die Presse, einsehbar gewesen, klagte<br />

sie, der Ermittler müsse deshalb in den<br />

Ausstand treten. In dem Plan, den Prozess<br />

hinauszuzögern, war dies der sonderbarste<br />

Winkelzug von Danielas Verteidigung.<br />

Nicht aber der erste.<br />

Daniela beantragte ihre Entlassung<br />

aus der Untersuchungshaft. Der Haftrichter<br />

folgte dem Argument, dass weder<br />

Verdunkelungs- noch Flucht- <strong>und</strong> auch<br />

keine Wiederholungsgefahr bestünde. Am<br />

12. Januar 2001 kam Daniela frei. Walters<br />

Kollegen schrieben dem Haftrichter: «Wir<br />

sind fassungslos <strong>und</strong> sehr wütend.» Hatten<br />

sie es geahnt? Die Freilassung sollte das<br />

Verfahren nachhaltig verzögern. Am Ende<br />

führte sie dazu, dass das Gutachten über<br />

Daniela auf der langen Bank landete.<br />

Volker Dittmann, renommierter Gerichtspsychiater<br />

in Basel, erhielt den Auftrag,<br />

das Gutachten zu verfassen, Ende<br />

2000. Bis die Expertise definitiv vorlag,<br />

zogen dreieinhalb Jahre ins Land. Dittmann<br />

begründet die Dauer einerseits mit<br />

der massiven Überlastung der Schweizer<br />

Gerichtspsychiater <strong>und</strong> sagt: «Wir müssen<br />

die Prioritäten bei den Haftfällen setzen.<br />

Wenn jemand auf freiem Fuss ist, fällt<br />

dieser Druck dann weg.» Anderseits: Als<br />

Dittmann nach zwei Jahren eine erste Fassung<br />

ablieferte, schoss die Verteidigung<br />

einen nächsten Torpedo ab. Sie stellte<br />

Zusatzfragen. Eine Schikane? «Meiner<br />

Meinung nach waren all diese Fragen im<br />

ersten Gutachten beantwortet», erklärt<br />

jedenfalls Dittmann. Zufrieden war die<br />

Verteidigung noch immer nicht. Sie beantragte,<br />

Dittmann zur Einvernahme vorladen<br />

zu lassen, blitzte damit aber ab. <br />

FACTS 30. Dezember 2004<br />

30. Dezember 2004 FACTS


36 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | GESELLSCHAFT 37<br />

Erst im Mai 2004 konnte die Untersuchungsbehörde<br />

den Fall abschliessen.<br />

Daniela bemängelte den Bericht <strong>und</strong> reichte<br />

Beschwerde ein. Der Untersuchungsrichter<br />

musste nochmals über das Schlussdokument.<br />

Doch das reichte nicht, Daniela<br />

beschwerte sich erneut. Diesmal verlangte<br />

sie den Ausstand des Präsidenten der<br />

Freiburger Strafkammer. Diese Strafkammer<br />

– sie musste sich mit den Beschwerden<br />

herumschlagen – antwortete entnervt:<br />

Das Ausstandsbegehren sei «unbegründet,<br />

ja mutwillig». Daniela blitzte wieder<br />

ab, doch sie zog den Fall weiter. Jetzt muss<br />

das B<strong>und</strong>esgericht beurteilen, ob die Freiburger<br />

Strafkammer befangen ist.<br />

Selbstmorddrohung, Pariser <strong>und</strong> Pille<br />

Es ist Frühling im Jahr 2000, Daniela klebt<br />

die Fotos von Australien in ein Album.<br />

Spricht man sie auf Walter an, sagt sie<br />

manchmal, sie hätten Streit, dann wieder,<br />

sie seien auseinander. Sie wirkt bedrückt.<br />

Sie schreibt einen Brief an Walters Mutter.<br />

Darin behauptet sie, Walter habe sie zu einer<br />

Abtreibung gezwungen. Auf der Radiologie<br />

des Berner Inselspitals hat sie Zugriff<br />

auf Ultraschallbilder, irgendwann reibt sie<br />

Walter das Bild eines Fötus unter die Nase.<br />

Walter erzählt einem Fre<strong>und</strong> davon: Daniela<br />

habe ein Kind abgetrieben.<br />

Um den Prüfungs- <strong>und</strong> Beziehungsstress<br />

hinter sich zu lassen, schwingt sich<br />

Walter in jeder freien Minute auf sein Velo.<br />

Im letzten Sommer seines Lebens werden<br />

ihm diese Fluchten immer wichtiger. Er<br />

hat die schriftlichen Prüfungen hinter sich<br />

<strong>und</strong> will für ein paar Tage wegfahren. Am<br />

Tag vor seiner Abreise erscheint Daniela<br />

im Studentenheim, im Kolpinghaus. Sie<br />

fleht. Er dürfe nicht gehen. Am nächsten<br />

Tag ist sein Fahrrad verschw<strong>und</strong>en. Studienkollegen<br />

raten Walter, er solle sie zur<br />

Rede stellen. «Wir beknieten ihn, er solle<br />

endlich glauben, dass Daniela hinter dem<br />

Diebstahl steckt», erinnert sich einer. Doch<br />

Walter beschwichtigt. Er meldet den Verlust<br />

der Polizei. Er telefoniert auch nach<br />

Australien, schildert die Enttäuschung seiner<br />

Mutter. Kann es sein, fragt die Mutter<br />

skeptisch, dass das Velo bei Daniela ist?<br />

Walter antwortet: Nein, so gemein kann sie<br />

nicht sein.<br />

Daniela ruft Walter an. Ich stehe auf<br />

der Brücke <strong>und</strong> mache Schluss. Walter<br />

redet durchs Telefon auf sie ein. Sie treffen<br />

sich. Walter bittet sie, zu einem Psychiater<br />

zu gehen. Daniela schreibt ihm einen Brief:<br />

Das Chalet der Familie auf dem Bergli: Die Beschaulichkeit einer Modelleisenbahnlandschaft.<br />

Bilderbuch-Foto (Ausriss «SonntagsZeitung»):<br />

Ihr Schwangerschafts-Attest ist eine Fälschung.<br />

«Ich habe verstanden; dein Ziel ist es, mir<br />

zu helfen, aus diesem Loch zu kommen, damit<br />

wir nachher die Trennung vornehmen<br />

können. Schöne Aussichten.»<br />

Walter wendet sich an Danielas Mutter.<br />

Wegen des Selbstmord-Geschwätzes? Da<br />

mach dir mal keine Gedanken, damit<br />

drohte sie schon als Kind. Schliesslich<br />

überzeugt er Daniela doch <strong>und</strong> begleitet<br />

sie zum Psychiater. Daniela erzählt es<br />

einer Fre<strong>und</strong>in: Walter spinnt. Oder hast<br />

du das Gefühl, ich sei ein Fall für den<br />

Psychiater?<br />

Mit dieser Fre<strong>und</strong>in nimmt Daniela<br />

wiederholt Kontakt auf. Jedes Mal fragt sie:<br />

Bist du schwanger? Ende September treffen<br />

sie sich, auch jetzt fragt Daniela: Bist du<br />

schwanger? Daniela hat ein Fotoalbum<br />

dabei, die Bilder aus Australien. «Walter<br />

existierte in diesem Album nicht», erinnert<br />

sich die Fre<strong>und</strong>in. Alle Fotos, auf<br />

denen auch Walter abgebildet war, sind<br />

zerschnitten. Walter? Vergiss ihn, das<br />

Arschloch hat mich nur genervt.<br />

Walter klaubt einen Zettel aus dem<br />

Portemonnaie. «Schwangerschaftstest positiv»<br />

steht darauf, darunter eine Unterschrift,<br />

darüber die Adresse eines Gynäkologen.<br />

Walter zeigt den Zettel einem<br />

Fre<strong>und</strong>. Sie ist schon wieder schwanger,<br />

sagt er, doch ich kann nicht bei ihr bleiben.<br />

Die Fre<strong>und</strong>e sprechen über Alimente, über<br />

die endgültige Trennung, sie erwägen<br />

Möglichkeiten. Dann wird der Kollege<br />

stutzig <strong>und</strong> schaut den Zettel nochmals an.<br />

Der ist gefälscht, sagt der Kollege,<br />

das schreibt kein Arzt auf den Rezeptblock<br />

– <strong>und</strong> Walter, sag mal, wie verhütet ihr<br />

eigentlich? Mit Pariser <strong>und</strong> Pille, antwortet<br />

Walter. Dann ist es unmöglich, dass<br />

sie dreimal schwanger war. Walter<br />

schweigt <strong>und</strong> schaut zu Boden. «Er hatte<br />

Daniela gegenüber ein brandschwarzes<br />

Gewissen», sagt der Fre<strong>und</strong>. Walter habe<br />

im Ernst geglaubt, er hätte Daniela drei<br />

Schwangerschaften <strong>und</strong> all die Krisen<br />

eingebrockt. Das Attest erweist sich als<br />

Fälschung. Gegenüber der Polizei gibt<br />

FOTO: TOMAS WÜTHRICH<br />

FOTO: BALZ RIGENDINGER<br />

Daniela später zu, niemals schwanger<br />

gewesen zu sein.<br />

Am 11. Oktober wird Walter von seinen<br />

Fre<strong>und</strong>en zum letzten Mal gesehen. Am<br />

12. Oktober trifft er sich mit Daniela. Sie<br />

streiten. Walter hat sich entschieden, die<br />

Schweiz zu verlassen. Er wird auf eine<br />

Assistenzarzt-Stelle im Taferser Regionalspital<br />

verzichten <strong>und</strong> nach seinem Abschluss<br />

nach Australien ziehen. Er teilt<br />

dies Daniela mit. Diese schreibt in einem<br />

Brief: «WALP hier noch was für Dich! Ich<br />

kann nicht MEHR! Ich gehe – ja, Du hast<br />

recht, Du hast nicht viel zu verlieren. Ich<br />

bitte Dich nicht mehr um Hilfe – ich bitte<br />

Dich um nichts mehr! Ich war einfach eine<br />

dumme, kleine, naive Träumerin… Ich<br />

habe Dich sehr geliebt, aber ich habe auch<br />

viele Fehler gemacht! Ich werde nun loslassen.<br />

Vielleicht bringt Dir das Leben, was<br />

Du Dir von ihm erhoffst – für mich ist es<br />

nicht mehr zu ertragen! Tschüss. In Liebe –<br />

die nicht mehr stark genug war, um das<br />

alles durchzustehen. Bye.»<br />

Am Wochenende kündet Walter an,<br />

dass er am Montag mit ihr zum Gynäkologen<br />

gehen wolle. Falls sie wirklich<br />

schwanger sei, dann werde er für das Kind<br />

aufkommen. Daniela schreibt den Eltern:<br />

Ich bin schwanger <strong>und</strong> nicht stark genug,<br />

allein erziehende Mutter zu werden.<br />

Am Montagmorgen wird Daniela im<br />

Dorf gesichtet. Mit einem Fläschchen Urin<br />

in der Hand kommt sie aus einem Coiffeurgeschäft,<br />

in dem eine Schwangere arbeitet.<br />

Urin? Sie braucht ihn. Sei es, um Walter<br />

Der Verteidiger wird Walter<br />

wohl dämonisieren <strong>und</strong> Daniela<br />

als Opfer darstellen.<br />

von seinem Plan mit dem Gynäkologen<br />

abzubringen, sei es, um dort den Test zu<br />

fälschen. Was dann geschieht, ist unklar.<br />

Denkbar sind folgende Varianten:<br />

Die fahrlässige Tötung: Daniela droht<br />

Walter mit Selbstmord <strong>und</strong> richtet eine<br />

Pistole gegen sich. Es kommt zum Handgemenge.<br />

Walter wird angeschossen.<br />

Daniela «erlöst» ihn mit einem «Gnadenschuss».<br />

Die vorsätzliche Tötung: Vor der Tat notiert<br />

Daniela Walters Effekten: «Uhr, Geld<br />

(Hose), Schlüssel, Ohrstecker», Dinge, die<br />

mittels Metalldetektor zu einer versteckten<br />

Leiche führen könnten. Sie legte den<br />

Revolver wie auch das Benzin bereit, plante<br />

also Walters Tod.<br />

Der Mord: Sie exekutiert Walter kaltblütig,<br />

weil ihr klar wurde, dass sie ihn<br />

nicht halten kann, <strong>und</strong> weil, wer weiss, der<br />

Traum vom Arzt an ihrer Seite aus war.<br />

Danielas Anwalt Patrik Gruber hält<br />

sich über seine Stategie bedeckt. Dass<br />

Daniela immer nur zugab, was man beweisen<br />

konnte, kommt ihm entgegen. Gruber<br />

wird Walter wohl dämonisieren <strong>und</strong> Daniela<br />

als Opfer darstellen. Sicher aber wird<br />

er Zweifel streuen. Gelingt ihm dies, muss<br />

das Gericht nach dem Gr<strong>und</strong>satz «im Zweifel<br />

für den Angeklagten» entscheiden. Die<br />

Sorge, Daniela müsse nie sühnen, ist<br />

berechtigt, denn die Wahrheit der <strong>Justiz</strong> ist<br />

nie das Offensichtliche. Die Wahrheit der<br />

<strong>Justiz</strong> ist das Zweifelsfreie. Nach vier<br />

Jahren kann selbst die Wahrheit einer<br />

Lügnerin zur Wahrheit werden.<br />

Schmauchspuren an der rechten Hand<br />

Nach der Tat meldet sich Daniela bei ihrer<br />

Mutter, mit einer Schussw<strong>und</strong>e am linken<br />

Oberarm. Mami, wenn du wüsstest, was<br />

passiert ist. Sie erzählt, Walter <strong>und</strong> sie seien<br />

überfallen worden. Zwei Maskierte<br />

hätten Walter entführt. «Wohin würde Walter<br />

gehen, wenn er sich zurückziehen<br />

will?», fragt die Polizei Walters Schwester.<br />

– «Warum?», fragt diese zurück. – «Mit seiner<br />

Fre<strong>und</strong>in ist etwas passiert», erklärt<br />

die Polizei. – «Mit Daniela? Die sind längst<br />

auseinander», sagt Eva.<br />

Walters Fre<strong>und</strong>e fahren ins Bergli. Sie<br />

glauben, dass Daniela ihn dort eingeschlossen<br />

hat, um zu verhindern, dass er die Prüfungen<br />

beenden kann. Eine Zeitung fragt:<br />

«Schoss Arzt auf seine Fre<strong>und</strong>in?» Daniela<br />

sagt, Walter habe sie vergewaltigen wollen,<br />

sie habe die Trennung von ihm gesucht, er<br />

habe sie die ganze Zeit gedemütigt, er habe<br />

unappetitliche Sexpraktiken verlangt. Bei<br />

Daniela findet man Walters Mountainbike.<br />

Walters Portemonnaie. Seine Brille. Blutbeschmutzte<br />

Kleider. Die Briefe. Notizen.<br />

Auch eine bereits verfasste Geburtsanzeige.<br />

An Danielas rechter Hand stellt die Polizei<br />

Schmauchspuren fest. Die Beamten fahren<br />

Daniela ins Bergli, spät am Abend; es<br />

regnet in Strömen. Im Schein von 1500-<br />

Watt-Scheinwerfern zeigt sie die Grube,<br />

das Grab. Dann bricht sie zusammen.<br />

Die Überreste von Walter Alfred Leonard<br />

Plüschke, «Walp» genannt, befinden<br />

sich in Australien. Dort lebt mit ihren Eltern<br />

Walters Schwester Anja. Manchmal,<br />

sagt Anja, sitze sie wortlos da. In der Hand<br />

die Urne ihres Bruders.<br />

<br />

STRAFUNTERSUCHUNG<br />

«Unschuldig»<br />

Daniela T.s Verteidiger<br />

rechtfertigt, warum seine<br />

Klientin frei herumläuft.<br />

FACTS: Herr Gruber, warum wollen<br />

Sie den Prozess verzögern?<br />

PATRIK GRUBER: Wer die Akten<br />

kennt, sieht klar, dass die lange<br />

Verfahrensdauer nicht der Verteidigung<br />

in die Schuhe geschoben<br />

werden kann. Vielmehr mussten alle<br />

Parteien endlos lange auf das<br />

psychiatrische Gutachten warten.<br />

FACTS: Die Tatsache, dass Daniela<br />

noch immer auf freiem Fuss ist, wirkt<br />

störend. Können Sie das verstehen?<br />

PATRIK GRUBER: Sicher. Doch bei<br />

allem Verständnis, auch für die<br />

Angehörigen des Opfers, kann ich<br />

Gruber: «Endlos lange auf das<br />

psychiatrische Gutachten gewartet.»<br />

mich nicht unter Druck setzen lassen,<br />

schon gar nicht von der Öffentlichkeit.<br />

Das Verfahren gestaltet sich<br />

vielschichtiger, als es bis anhin dargestellt<br />

wurde.<br />

FACTS: Hätte Daniela ihre Haft nicht<br />

besser längst angetreten?<br />

PATRIK GRUBER: Das hängt von der<br />

Urteilsprognose ab. Wenn feststeht,<br />

dass ihr eine lange Strafe droht, kann<br />

man natürlich über den vorzeitigen<br />

Haftantritt nachdenken. Das würde<br />

die Öffentlichkeit aber als Schuldeingeständnis<br />

verstehen. Wenn meine<br />

Klientin nun sagt, dass ihre Tatempfindung<br />

anders ist, so ist es ihr gutes<br />

Recht, erst dann ins Gefängnis zu<br />

gehen, wenn sie rechtskräftig<br />

verurteilt ist. Vor einem Urteil kann<br />

Daniela sagen: «Ich gehöre nicht ins<br />

Gefängnis, ich bin unschuldig.»<br />

FACTS 30. Dezember 2004<br />

30. Dezember 2004 FACTS


38 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | GESELLSCHAFT 39<br />

Sex, Lügen, Nacktbilder<br />

Im Prozess gegen Daniela T. inszenierte der Verteidiger Patrik<br />

Gruber ein Schmierentheater. Er verunglimpfte den Getöteten, die<br />

Angehörigen – <strong>und</strong> entblösste sogar seine eigene Mandantin.<br />

G<br />

ebückt <strong>und</strong> starren Blicks sass er<br />

da, verbarrikadiert hinter einem<br />

Berg von Ordnern. Es schien, als<br />

wälze er alle diese Papiere gleichzeitig in<br />

seinem Kopf. Seine Hände massierten<br />

Stirn <strong>und</strong> Augen. Wenn er aufstand, um<br />

das Wort zu ergreifen, ballten sie sich zu<br />

Fäusten; der Mann sagte jeweils: «Ich habe<br />

schon noch ein paar Fragen.» Das war<br />

ziemlich untertrieben.<br />

In den Tagen des Aufsehen erregenden<br />

Mordprozesses gegen Daniela T. vor dem<br />

Freiburger Bezirksgericht Tafers stellte<br />

Rechtsanwalt Patrik Gruber gleich H<strong>und</strong>erte<br />

von Fragen; darunter viele, deren<br />

Sinn einzig ihm selbst erschliessbar ist.<br />

Ein Pflichtverteidiger,<br />

der von weit mehr als seiner<br />

Pflicht getrieben scheint.<br />

Der Fall Daniela T., 34, die Pferdenärrin,<br />

die im Oktober 2000 den Medizinstudenten<br />

Walter Plüschke, 26, erschoss,<br />

dann verbrannte <strong>und</strong> in der Erde verscharrte,<br />

weil er sie verlassen wollte, beschäftigte<br />

die Schweiz während Jahren.<br />

Vor allem deshalb, weil die Täterin die Haft<br />

nicht vorzeitig antrat <strong>und</strong> ihr Verteidiger<br />

die <strong>Justiz</strong>behörden mit einer beispiellosen<br />

Salve von Einsprachen <strong>und</strong> Strafanzeigen<br />

auf Trab hielt (FACTS 53/2004).<br />

Dieser Verteidiger, Patrik Gruber, 41<br />

Jahre alt, auch SP-Lokalpolitiker in Düdingen<br />

FR <strong>und</strong> Jugendrichter, ist ein Fall für<br />

sich. Der mittelgrosse, grau gelockte Jurist<br />

versuchte von Anbeginn, einen Mordprozess<br />

in ein Schmierentheater um Sex, Lügen<br />

<strong>und</strong> Nacktbilder zu verwandeln. Er<br />

machte aus der Täterin das Opfer. Und das<br />

Opfer zum Täter. Unabhängig vom Urteil<br />

der Richter hat Gruber mit seiner Strategie<br />

nicht nur der Familie des Opfers geschadet<br />

<strong>und</strong> die Freiburger <strong>Justiz</strong> ins Zwielicht gebracht,<br />

sondern auch seine eigene Mandantin<br />

öffentlich blossgestellt.<br />

Zuletzt plädierte Gruber auf eine bedingte<br />

Strafe – für eine Frau, die ihren<br />

Fre<strong>und</strong> gequält, getötet <strong>und</strong> als «Meisterin<br />

der Täuschung» («Blick») Fre<strong>und</strong>e, Polizei<br />

<strong>und</strong> Psychologen belogen hatte. Gruber<br />

FOTOS: © BLICK/PHILIPPE ROSSIER<br />

Verteidiger Patrik Gruber, Angeklagte Daniela T..<br />

attackiert seit vier Jahren alle aufs Heftigste:<br />

Ermittler, <strong>Justiz</strong>, den Gerichtspsychiater,<br />

der ein Gutachten über Daniela erstellt<br />

hat. Am Prozess sagte Staatsanwältin<br />

Alessia Chocomeli lakonisch: «Er hat sich<br />

wirklich sehr bemüht – man kann nicht<br />

mehr sagen, Daniela T. habe kein faires<br />

Verfahren erhalten.»<br />

Selbst während des Prozesses unterstellte<br />

Gruber den aussagenden Fachleuten<br />

Pfusch, so auch wieder dem Gerichtspsychiater<br />

Volker Dittmann, einem<br />

ausgewiesenen Experten seines Fachs.<br />

«Konnten Sie sich noch an die Gespräche<br />

mit Daniela T. erinnern, als Sie das Gutachten<br />

schrieben?», fragte Gruber <strong>und</strong> warf<br />

Dittmann «Standesdünkel» vor. Dieser parierte<br />

kühl: «Ein tödlich endender Beziehungskonflikt<br />

ist meist nicht sehr komplex.»<br />

Daniela T.s Pflichtverteidiger – der allerdings<br />

von mehr als nur seiner Pflicht getrieben<br />

scheint – hatte keine Skrupel, den<br />

Getöteten postum auf die Anklagebank zu<br />

setzen. Er zeichnete Plüschke als sexbesessenes<br />

Monstrum, das Daniela T. mit fiesen<br />

«Spielchen» geradezu zu ihrer ungeheuerlichen<br />

Tat getrieben habe. Zeugen widersprachen<br />

dem zwar heftig – dafür sei<br />

Plüschke viel zu naiv gewesen. Doch Gruber<br />

zog in seinem Furor unbeirrt weiter<br />

über den Getöteten her. Beobachter konnten<br />

nur noch den Kopf schütteln. Schlimmer<br />

war es für die Angehörigen des Opfers:<br />

Sie brachen in Tränen aus, einzelne verliessen<br />

den Saal.<br />

Als zweiten Pfeiler seiner Strategie<br />

startete Gruber einen Angriff auf Danielas<br />

Vater ein. Der habe seine Tochter missbraucht,<br />

insinuierte er. Belegen sollten diesen<br />

massiven Vorwurf Fotos aus Danielas<br />

Kindheit: Sie zeigen das kleine Mädchen<br />

nackt; Vater <strong>und</strong> Mutter hatten die Bilder<br />

geschossen. Nur: Beweist das einen Missbrauch?<br />

Auch in diesem Punkt versuchte Gruber<br />

bloss vom kalten Tatbestand der Tötung<br />

abzulenken. Diesmal um den Preis,<br />

dass bisher Unverdächtige öffentlich denunziert<br />

wurden.<br />

Der Anwalt der Familie des Opfers übte<br />

sich trotz der Taktik von Pflichtverteidiger<br />

Gruber beflissen in Gelassenheit. Gegenüber<br />

der Presse gab der Berner Jurist Rolf<br />

P. Steinegger ein Bismarck-Zitat zum Besten:<br />

«Höflich bis zur letzten Galgensprosse,<br />

aber gehängt wird doch.»<br />

Balz Rigendinger


40 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

KRIMINALITÄT | GESELLSCHAFT 41<br />

Das schwarze Netz<br />

Afrikanische Kriminelle unterwandern die Schweiz. Sie schmuggeln Drogen, verschieben<br />

Autos, agieren global. Ihr <strong>und</strong>urchdringliches Netzwerk ist eine neue Form des organisierten<br />

Verbrechens – die Geschichte der «Businessmen» vom Stamm der Ibo. Von Balz Rigendinger<br />

A<br />

m 25. Mai 2004 bemerkt ein<br />

Grenzwächter eigenartiges Gepäck.<br />

Im Intercity Stuttgart–Mailand<br />

schleppt eine Passagierin Bauchweh-Medizin,<br />

Durchfall-Tabletten <strong>und</strong><br />

Präservative mit, dazu Puder <strong>und</strong> eine<br />

«Melkfett-ähnliche Salbe»: Gleitcrème. Die<br />

Beamten nehmen die Afrikanerin fest,<br />

<strong>und</strong> wenig später scheidet sie unter Bewachung<br />

33 Wachs-Eier aus. Jedes Ei, das<br />

ins Klo plumpst, enthält 9 bis 10 Gramm<br />

Kokain. 330 Gramm hatte sie im Bauch,<br />

20 Gramm in der Vagina.<br />

Die Frau heisst Kate O., kommt aus<br />

Westafrika <strong>und</strong> gehört zu den Ibo. Diese<br />

Volksgruppe gerät zunehmend in den Fokus<br />

europäischer Polizeistellen: Die Ibo<br />

gelten heute als herrschende Grösse im<br />

Drogenhandel, weltweit. «Westafrikanische<br />

organisierte <strong>Kriminalität</strong>» lautet der<br />

Titel einer Analyse, die das deutsche B<strong>und</strong>eskriminalamt<br />

BKA soeben abgeschlossen<br />

hat. Die Auswertung – Arbeitsname:<br />

«Inwestor» – dauerte drei Jahre. Offen<br />

benennen die Experten darin, wer sich in<br />

Rekordzeit an die Spitze des internationalen<br />

organisierten Verbrechens setzte:<br />

«Die meisten Straftäter sind Ibo.»<br />

FACTS 17. März 2005<br />

Reis, Plastiktöpfe <strong>und</strong> Drogen<br />

Ibo? Die Volksgruppe stammt aus dem Süden<br />

Nigerias, zählt 35 Millionen Angehörige<br />

<strong>und</strong> ist ein Händlervolk mit langer Tradition.<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert exportierten Ibo<br />

berauschende Kolanüsse nach Brasilien.<br />

In Nigeria, wo noch 450 weitere Volksgruppen<br />

leben, ist «Ibo» heute ein anderes<br />

Wort für Händler. Nun beschert dieses<br />

Volk dem Elendskontinent Afrika eine<br />

zeitgenössische Erfolgsgeschichte: Denn<br />

die Ibo handeln nicht nur geschickt mit<br />

Reis <strong>und</strong> Plastiktöpfen, sondern auch mit<br />

Heroin. Und vor allem mit Kokain.<br />

In der Schweiz werden jährlich elf Tonnen<br />

Koks konsumiert. Westafrikaner kontrollieren<br />

den Markt zu 80 bis 90 Prozent,<br />

so Polizeischätzungen. Bei einem Kilopreis<br />

von 60000 Franken ergäbe das einen<br />

Jahresumsatz von 530 Millionen. Ein<br />

Grossvolumen, doch wenn Ibo involviert<br />

sind, ist es zugleich auch Kleinstgewerbe:<br />

Denn anders als die straffen Drogensyndikate<br />

früherer Jahre handeln die Westafrikaner<br />

nach einem flexiblen Franchising-<br />

Prinzip: viele Akteure – doch jeder arbeitet<br />

Ibo-Angehöriger in Nigeria: Ein Händlervolk<br />

mit langer Tradition.<br />

recht unabhängig; <strong>und</strong> jeder stellt sich<br />

unauffällig in den Dienst des Ganzen.<br />

Ende Januar, Obergericht Schaffhausen:<br />

Kate O., die Frau aus dem Intercity-<br />

Zug, erzählt ihre Geschichte. Sie habe in<br />

Deutschland Verwandte besuchen wollen.<br />

Dann aber zwang man sie, die ominösen<br />

Wachs-Eier zu schlucken; eine Mehlsuppe<br />

wurde dazu gereicht. Von Stuttgart aus<br />

hätten die namenlosen Übeltäter sie dann<br />

Richtung Schweiz geschickt. Eine abenteuerliche<br />

Geschichte: Professionelle Körperschmuggler<br />

wissen, was sie erzählen müssen,<br />

falls man sie fasst. Und dass sie sich<br />

beim Transport besser aufrecht halten.<br />

Wer sich bückt, läuft Gefahr, dass ein Koks-<br />

Ei platzt – Todesgefahr.<br />

Kate O. kommt nach der Berufungsverhandlung<br />

frei; sie war nicht vorbestraft.<br />

Ihre zweijährige Zuchthausstrafe wurde<br />

in eine bedingte umgewandelt. Ein Landesverweis<br />

blieb bestehen. Die Verfahrens<strong>und</strong><br />

Anwaltskosten von Kate O. beliefen<br />

sich auf 10000 Franken. Jemandem war<br />

die Verteidigung der Frau so viel wert.<br />

«Möglich, dass sie solche Transporte schon<br />

zwanzigmal unternommen hat», sagt der<br />

Schaffhauser Staatsanwalt Peter Sticher.<br />

Die Gewinne aus dem Drogengeschäft<br />

fliessen teils in die Niederlande, teils<br />

direkt nach Nigeria. In diesen beiden<br />

Ländern sitzen die Organisatoren. Als die<br />

Geldtransfer-Firma Western Union noch<br />

Einblick in die Bücher gewährte, zeigte<br />

sich dort ein bemerkenswertes Bild: Von<br />

Europa aus war Nigeria die Geld-Destination<br />

Nummer eins. «Gemessen an der Zahl<br />

der Ausland-Nigerianer floss erstaunlich<br />

viel Geld», sagt ein Drogenpolizist. Inzwischen<br />

hält Western Union die Zahlen geheim.<br />

Daneben reisen auch Geldkuriere<br />

nach Westafrika, <strong>und</strong> vor allem haben<br />

die westafrikanischen Drogennetzwerke<br />

eine sehr effiziente Form der Geldwäsche<br />

aufgezogen: Sie investieren das Drogengeld<br />

in Gebrauchtwagen, füllen diese mit<br />

alten Haushaltgeräten – insbesondere<br />

Kühlschränken – <strong>und</strong> verschiffen das<br />

Ganze von Rotterdam <strong>und</strong> Hamburg nach<br />

Lagos oder Cotonou in Benin. Dort verkaufen<br />

sie die Güter mit zusätzlichem Gewinn.<br />

In Nigeria selbst erzählt man sich gern<br />

fabelhafte Geschichten. Eine davon beschreibt<br />

den Fuhrpark eines neureichen<br />

Ibo-Händlers: Seine Frau wählt die Autos<br />

täglich nach der Farbe ihrer Kleider. Wenn<br />

sie jeden Tag einen andern Wagen <br />

FOTOS: KAPO LUZERN, BRUNO BARBEY/MAGNUM PHOTOS<br />

1 Drogendeal auf der Luzerner Seebrücke (Polizeivideo): Verkäufer (l.), K<strong>und</strong>e. 2 Der Dealer bleibt stehen, der K<strong>und</strong>e übergibt Geld – knapp 50 Franken.<br />

3 Der Dealer steckt das Geld ein. 4 Er klaubt ein in Zellophan gehülltes Drogenkügelchen aus seinem M<strong>und</strong>.<br />

5 Der Dealer schiebt dem Käufer die Ware unauffällig zu. 6 Nach wenigen Sek<strong>und</strong>en ist der Deal vorbei – kein Passant hats gemerkt.<br />

17. März 2005 FACTS


42 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

KRIMINALITÄT | GESELLSCHAFT 43<br />

fährt, benötigt sie ein halbes Jahr, um alle<br />

Flitzer ihres Gatten einmal zu benutzen.<br />

Wie wahr solch eine Geschichte auch sein<br />

mag: Sie verfehlt ihre Wirkung nicht. «Es<br />

ist der Traum jedes Ibo-Kindes, Businessman<br />

zu werden», schreibt das deutsche<br />

B<strong>und</strong>eskriminalamt. «Die Ibo mischten<br />

sich immer friedlich unter andere Ethnien»,<br />

heisst es weiter. «Sie sind geübt, sich<br />

in fremden Gesellschaften zu etablieren<br />

<strong>und</strong> sich über Einheirat zu integrieren.<br />

Durch die weltweiten, verwandtschaftlichen<br />

Beziehungen sichern sie sich länderübergreifend<br />

ihre Entfaltungsgebiete.»<br />

Die Organisation Ibo-Defense sieht das<br />

ähnlich; sie ist eine Mischung aus Gewerbeverein<br />

<strong>und</strong> Stammeslobby, modern organisiert<br />

samt Internet-Auftritt. «Ibo handeln<br />

mit der ganzen Welt», meldet Ibo-Defense<br />

dort: «Sie unterhalten Geschäftssitze<br />

in vielen fremden Ländern <strong>und</strong> sind sehr<br />

fleissig. Was sie verbindet, ist die Yamswurzel,<br />

deren Ernte sie mit heiteren Festen<br />

feiern. Obwohl der Handel noch immer die<br />

Haupttätigkeit des Stammesangehörigen<br />

ist, sind auch Bildung, Industrie <strong>und</strong> organisierte<br />

Kapitalanlagen Gebiete, auf welchen<br />

die Ibo Interesse bek<strong>und</strong>en.»<br />

Markus Crecelius, Verfasser der «Inwestor»-Analyse,<br />

sichtet bei den Ibo-Logistikern<br />

bestes Managementverhalten: «Es<br />

ist ein immer wieder neues Zusammenführen<br />

von Personen nach Angebot <strong>und</strong> Nachfrage»,<br />

sagt der Polizeiexperte, «wie auf<br />

dem freien Markt.» Zu einem fast schon<br />

bew<strong>und</strong>ernden Urteil kommt auch der<br />

Schweizer Dienst für Analyse <strong>und</strong> Prävention<br />

DAP: «Westafrikanische organisierte<br />

<strong>Kriminalität</strong> ist durch ausgesprochene<br />

Kreativität, Opportunismus, Flexibilität<br />

<strong>und</strong> Innovation gekennzeichnet.»<br />

Das Verbrechen kommt aus einer<br />

Ecke, von der man es kaum erwartet hätte,<br />

<strong>und</strong> es arbeitet besser, als man es je erwarten<br />

konnte. Vom «Prototyp zukünftiger<br />

Das System der Ibo ist<br />

Franchising, ähnlich<br />

McDonald’s oder Starbucks.<br />

Die globale Logistik der Afrikaner-Clans<br />

Heroin aus Asien für die USA, Kokain aus Südamerika für Europa:<br />

Alles Geld fliesst zu den Drahtziehern – nach Amsterdam <strong>und</strong> Lagos.<br />

Ibo-Täter betreiben «Filialen» in<br />

allen Ländern, wo Drogengeschäfte<br />

zu machen sind. Sie finanzieren<br />

Kokainkäufe über Heroinimporte<br />

<strong>und</strong> arbeiten stets eng mit Mafia-<br />

Organisationen zusammen – in<br />

Kolumbien mit den Kartellen, in<br />

Afrika mit Italienern <strong>und</strong> in den<br />

USA mit chinesischen Verbrechern.<br />

<strong>und</strong> neuer Ausprägung organisierter <strong>Kriminalität</strong>»<br />

ist die Rede – sowie von einem<br />

«Kind der Globalisierung». Man könnte<br />

auch sagen: Die Ibo haben das Verbrechen<br />

erst so richtig globalisiert. Ihre Stärke<br />

ist die Logistik. Ihr System dabei das Franchising,<br />

ähnlich McDonald’s oder Starbucks.<br />

Jedes Glied des Netzwerks macht<br />

sein Business weitgehend autonom. Es<br />

gibt weder grosse Operationen noch hierarchische<br />

Kommandoketten. Weltweit<br />

geht es zu wie auf dem Markt in Afrika:<br />

kleine Geschäfte in hoher Frequenz. «Den<br />

Tätern kommt es nicht darauf an, legal<br />

oder illegal Geschäfte zu machen», sagt<br />

BKA-Analyst Crecelius.<br />

Dieses Franchising-System hat unschlagbare<br />

Vorteile: doppelte Risikominimierung.<br />

Fliegt ein Kurier auf, hält<br />

sich der Verlust in Grenzen. Und da dabei<br />

wenig Stoff sichergestellt wird, ermittelt<br />

die Polizei nur selten. In Holland werden<br />

«Bodypackers» erst belangt, wenn sie 2,5<br />

Kilogramm Kokain oder mehr mitführen;<br />

USA<br />

Südamerika: Ausgehobenes Kokainlabor.<br />

Bogotá<br />

KOLUMBIEN<br />

Karibik<br />

Curaçao (NL)<br />

BRASILIEN<br />

São Paulo<br />

3000 km<br />

doch im Schnitt bringt ein Kurier nur<br />

1,8 Kilo ins Land.<br />

Viele Schneeflocken ergeben auch eine<br />

Lawine. Als der Zoll in Amsterdam<br />

unlängst drei Flieger aus der Karibik filzte,<br />

entdeckte er 31 Schmuggler, die im Auftrag<br />

von Nigerianern unterwegs waren,<br />

<strong>und</strong> 55 Kilo Kokain – macht pro Flug im<br />

Schnitt 18 Kilo. 35 Flüge pro Woche ergeben<br />

im Jahr über 30 Tonnen. Darin sind die<br />

Schmuggler nicht eingerechnet, die etwa<br />

in Curaçao die Maschine nach Holland gar<br />

nicht erst betreten dürfen, weil sie nicht<br />

zu einem Körper-Check bereit sind. 13000<br />

solche Verweigerer wurden 2003 registriert,<br />

die Polizei von Curaçao sanktioniert<br />

sie mit einem Flugverbot für zwei Tage.<br />

FOTO: FERDINANDO SCIANNA/MAGNUM PHOTOS<br />

FOTOS: YOSHIKO KUSANO/KEYSTONE, AFP PHOTO, ISSOUF SANOGO/AFP<br />

EU-RAUM<br />

Amsterdam<br />

NIEDERLANDE<br />

SCHWEIZ<br />

NIGERIA<br />

Afrika: Geldwäsche mit importierten Kühlschränken.<br />

«Die weltweite Präsenz der nigerianischen<br />

Community, deren Gr<strong>und</strong>pfeiler<br />

die Loyalität zum Clan ist, bildet das F<strong>und</strong>ament<br />

für die internationale Zusammenarbeit<br />

der Netzwerke», schreibt das BKA.<br />

Grosse Streugemeinden leben in Brasilien<br />

<strong>und</strong> Kolumbien. «Dadurch ist der Zugang<br />

zur weltweit grössten Kokain produzierenden<br />

Region gewährleistet», so das BKA.<br />

Der Bericht erwähnt auch die Schweiz<br />

als Sitz nigerianischer Tätergruppen <strong>und</strong><br />

damit als Einfallstor für Kokain nach Europa.<br />

Die Kantonspolizei Zürich stellte am<br />

Europa: Boomender Markt für Kokain.<br />

AFGHANISTAN<br />

BENIN<br />

Lagos<br />

Nigerdelta<br />

PAKISTAN<br />

BURMA (MYANMAR)<br />

NIGER<br />

NIGERIA<br />

Abuja<br />

Stammesgebiet der Ibo<br />

Quelle: BKA, Kapo ZH, Uno, Dea FACTS-Grafik<br />

Flughafen Kloten letztes Jahr<br />

179 Kilo Koks sicher, fasste 84<br />

Schmuggler. «Die Westafrikaner<br />

rekrutieren Kuriere im Ausgangsland,<br />

<strong>und</strong> sie sind in der Schweiz für<br />

den Empfang zuständig», weiss Norbert<br />

Klossner, Leiter der Abteilung Rauschgift<br />

der Kantonspolizei Zürich.<br />

Das billigste Heroin der Welt<br />

Ibo-Händler holen Koks aus Südamerika<br />

für Europa, <strong>und</strong> sie transportieren Heroin<br />

aus Asien nach Amerika. Erich Leimlehner,<br />

Analyst beim DAP, sagt: «Über ihre<br />

Diaspora in Burma, Laos <strong>und</strong> Thailand hätten<br />

die Westafrikaner das Potenzial, Europa<br />

<strong>und</strong> damit auch die Schweiz mit Heroin<br />

Asien: Verhaftete Ibo-Heroinschmuggler in Pakistan.<br />

KAMERUN<br />

250 km<br />

THAILAND<br />

LAOS<br />

Kokain<br />

Heroin<br />

Rückfluss Geld<br />

Mit Drogengeld<br />

finanzierte Waren<br />

zu versorgen.» Interessanter ist derzeit<br />

aber Pakistan, denn von dort kommt das<br />

billigste Heroin, das heute auf dem Markt<br />

ist. Auch dort leben H<strong>und</strong>erte Nigerianer.<br />

Über den Markt von Peshawar, Pakistan,<br />

schlendert Ishar Anwar Ahmed, 38.<br />

Als ein Nigerianer auf ihn zutritt, ist ihm<br />

bald, als habe Allah seine Gebete erhört.<br />

«Geh nach Nigeria», sagt der Schwarze,<br />

«dort kriegst du lukrative Arbeit.» Ishar<br />

kratzt seine letzten Rupien zusammen:<br />

Flugticket, Visum, selbst für den Arbeitsvertrag<br />

muss er bezahlen. Im Oktober<br />

2004 fliegt er, zum ersten Mal überhaupt,<br />

mit wenig Gepäck. Die Tasche gibt ihm<br />

der Nigerianer. Am Flughafen von Lagos<br />

angekommen, passiert es: Ishar wird <br />

FACTS 17. März 2005<br />

17. März 2005 FACTS


44 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

KRIMINALITÄT | GESELLSCHAFT 45<br />

durchsucht. «Ich habe zwei Kilo Heroin<br />

transportiert, <strong>und</strong>, bei Allah, ich habe es<br />

nicht gewusst», sagt er. Er landet im Knast,<br />

Tage später öffnet ein Uniformierter die<br />

Zellentür, Kamerascheinwerfer leuchten<br />

in ein verängstigtes Gesicht. Ishar schildert<br />

seine Odyssee. Dann zieht der Uniformierte<br />

Quartalsbilanz. Er ist Chef der<br />

Flughafenpolizei: «Dieser Pakistaner ist<br />

nur einer aus einem Dutzend. Wir arbeiten<br />

immer besser», verkündet er. Und fordert:<br />

«Wir müssen Nigeria vom Stigma befreien,<br />

wir seien alles Drogenschmuggler.»<br />

Doch dabei hat der Polizeichef ein<br />

Problem: «Die Hintermänner haben kein<br />

Gesicht.» Es ist ein Problem, das er mit allen<br />

teilt, die sich mit den Ibo befassen. An<br />

die Bosse kommt keiner ran. Italiens Mafia,<br />

Kolumbiens Kartelle – dort existieren<br />

Fahndungsfotos der Paten. Die Polizei<br />

kennt Aufenthaltsorte, hat Fahndungsdossiers.<br />

Fast jede Razzia führt zu neuen<br />

Erkenntnissen. Doch bei den Afrikanern<br />

fehlen selbst die Namen. «Es ist einfacher,<br />

in eine feste Struktur hineinzuermitteln»,<br />

sagt Carl-Ernst Brisach; er leitet die Gruppe<br />

«Auswertung Rauschgift» des BKA.<br />

Kolumbianischer Kartellboss: Fahnder hatten Fotos, Fahndungsdossiers, Aufenthaltsorte.<br />

Täter mit bis zu sechs Nationalitäten<br />

Das Gewusel um den Globus verwirrt. Unzählige<br />

Aliasnamen verwischen jede Spur.<br />

Über Fingerabdrücke konnten einzelnen<br />

Ibo-Tätern bis zu zwanzig Personalien <strong>und</strong><br />

sechs Nationalitäten zugeordnet werden.<br />

«Auch die Funktionen ändern ständig»,<br />

weiss Brisach, «ein Kleindealer ist das<br />

nächste Mal Kurier, dann wieder einer, der<br />

so viel hat, dass er Kuriere schicken kann.»<br />

Die Uno warnt bereits, dass sich Afrika<br />

zum «House of Drugs» entwickle. Und Interpol<br />

berichtet, das Operationsniveau der<br />

Afrikaner stehe jenem der europäischen<br />

Mafias <strong>und</strong> der lateinamerikanischen Kartelle<br />

in nichts nach. Indiz dafür ist das Tempo,<br />

mit dem die Ibo den Aufstieg in die Super<br />

League des Verbrechens schafften. «In<br />

der Schweiz kannten wir das Phänomen<br />

bis 1997 nur vom Hörensagen», sagt Erich<br />

Leimlehner. Kurz darauf war das Phänomen<br />

auch schon ein Problem. Man erinnert<br />

sich: die «Chügelidealer».<br />

Wie aus dem Nichts tauchten Ende der<br />

Neunzigerjahre Afrikaner in den Strassen<br />

auf. An zahllosen Orten verkauften sie<br />

Koks, eingeschweisst in Zellophan-Kugeln.<br />

Die Chügeli steckten im M<strong>und</strong>. Kam<br />

die Polizei, schluckten sie das Corpus Delicti<br />

runter. Mehrfach versuchte die Staatsmacht,<br />

der Sache mit grossen Polizeieingriffen<br />

beizukommen: Aktion Schneeball,<br />

Aktion Fortissimo, Aktion Ameise – der<br />

<strong>Justiz</strong>minister Christoph<br />

Blocher greift hart durch –<br />

<strong>und</strong> behält es für sich.<br />

träfere Name wäre stets Aktion Sisyphus<br />

gewesen. Kehrte an einem Ort Ruhe ein,<br />

tauchten die Dealer woanders auf.<br />

«Wir kamen an den Rand unserer Möglichkeiten,<br />

weil wir nichts nachweisen<br />

FOTO: AFP PHOTO<br />

FOTO: KARL MATHISIKEYSTONE<br />

Kleinkrimineller Asylbewerber in Lugano: «Hintermänner haben kein Gesicht.»<br />

konnten», erinnert sich Eugen Rentsch,<br />

Abteilungsleiter Rauschgift der Kantonspolizei<br />

Sankt Gallen, «das verstand die Bevölkerung<br />

nicht.» Rentsch hatte das grösste<br />

Problem mit den Ameisenhändlern, vor<br />

allem in Buchs im Sankt-Galler Rheintal.<br />

Ladenbesitzer klagten, dass K<strong>und</strong>en ausblieben.<br />

Das Volk forderte mehr Polizeipräsenz,<br />

drohte gar mit Bürgerwehr. «Wir verstärkten<br />

die Kontrollen», erzählt Rentsch,<br />

«die Wirkung aber war nur kurzfristig.»<br />

Darum änderte die Kantonspolizei<br />

Sankt Gallen Ende 2003 ihre Taktik. Inzwischen<br />

setzt sie – eine Schweizer Premiere –<br />

auf Scheinkäufe. Polizisten in Zivil gehen<br />

auf die Angebote der Dealer ein. Nach<br />

dem Deal schnappen die Handschellen<br />

zu. Fahnder Rentsch: «Das gibt eine saubere<br />

Beweislage.» Seine Bilanz fürs Jahr<br />

2004: 104 Festnahmen. 101 Dealer offerierten<br />

Koks, 98 kamen aus westafrikanischen<br />

Staaten.<br />

Die Lage in Buchs hat sich inzwischen<br />

beruhigt. Das Beispiel macht jetzt Schule.<br />

Andere Polizeikorps übernehmen die<br />

Scheinkauf-Taktik. «Die Kantone berichten<br />

von einer Beruhigung», erklärt DAP-<br />

Analyst Erich Leimlehner.<br />

Als <strong>Justiz</strong>minister Christoph Blocher<br />

vor einem Jahr Buchs besuchte, um Bilanz<br />

über seine ersten h<strong>und</strong>ert Amtstage zu<br />

ziehen, sagte er: «Hier zeigen sich beispielhaft<br />

die ungelösten Probleme im Asylwesen.»<br />

Er meinte dabei die «mit illegaler Einwanderung<br />

zusammenhängende <strong>Kriminalität</strong>».<br />

Das war umständlich ausgedrückt<br />

– <strong>und</strong> sehr diplomatisch. Doch Blocher<br />

setzte ein deutliches Zeichen.<br />

An seiner Seite sass die Sankt-Galler<br />

Polizeidirektorin Karin Keller-Sutter, eine<br />

Frau der klaren Sprache. Sie prangerte<br />

den «gezielten Missbrauch des Asylrechts<br />

durch kriminelle Elemente» an. Heute sagt<br />

sie: «Manchmal steinigte man mich dafür<br />

fast.» Flüchtlingsheime als Pfeiler der<br />

Koks-Logistiker? Carl-Ernst Brisach vom<br />

BKA analysiert trocken: «Eine gute Möglichkeit,<br />

in Europa Geschäfte zu betreiben,<br />

ist, sich als Asylbewerber auszugeben.<br />

Und zwar eines Staats, in dem gerade Bürgerkrieg<br />

herrscht.» Das sei reine Pragmatik:<br />

«Um Business zu machen, ist ein längerer<br />

Aufenthalt an einem Ort von Vorteil.»<br />

Minenfeld aus Politik <strong>und</strong> Diplomatie<br />

Pragmatisch ist auch <strong>Justiz</strong>minister Blocher.<br />

Er greift hart durch – <strong>und</strong> behält es<br />

für sich. Das Thema ist heikel. Wer sich<br />

auf das Terrain begibt, betritt zugleich ein<br />

Minenfeld aus Politik <strong>und</strong> Diplomatie.<br />

Unter Blocher macht die Schweiz den<br />

Weg für Ausschaffungen frei. Sie schliesst<br />

Rückübernahme-Abkommen ab – ohne<br />

Aufsehen zu erregen. 2004 starteten sechs<br />

Sonderflüge Richtung Afrika – unbemerkt<br />

von der Öffentlichkeit. Ausgeschafft wurden<br />

dabei 17 Afrikaner, ernüchternd wenig.<br />

Anfang Monat dann charterte der<br />

B<strong>und</strong> einen Swiss-Airbus mit 150 Plätzen,<br />

um gerade mal zehn Nigerianer auszuschaffen<br />

– auch das wurde erst durch die<br />

Sendung «10 vor 10» bekannt. Zuvor


46 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

KRIMINALITÄT | GESELLSCHAFT 47<br />

erging aus dem Inlandnachrichtendienst<br />

DAP eine Analyse: Mit polizeilichen Massnahmen<br />

<strong>und</strong> Rayon-Verboten sei den Westafrikanern<br />

nicht mehr beizukommen – das<br />

Papier war vertraulich.<br />

Seit Anfang dieses Jahres gibt Blochers<br />

B<strong>und</strong>esamt für Migration jedem Asylbewerber<br />

aus Nigeria mindestens 2000 Franken,<br />

wenn er heimkehrt, ausbezahlt in<br />

Lagos, bar <strong>und</strong> in lokaler Währung. Das ist<br />

so viel, wie einem Kokain-Kurier für einen<br />

Transatlantik-Flug geboten wird, das Fünffache<br />

eines Durchschnittseinkommens.<br />

Zwischenbilanz des Projekts: Fünf meldeten<br />

sich an. Heimgereist ist bis jetzt einer.<br />

Blocher, Regierungsrätin Keller-Sutter<br />

2004 in Buchs SG: Zeichen gesetzt.<br />

Schweizern droht die Isolation<br />

Die Massnahmen genügen offenbar nicht.<br />

Jetzt will Blocher den Fürsorgestopp im<br />

Asylwesen ausdehnen. Und er kämpft<br />

für Schengen. Mit gutem Gr<strong>und</strong>. Die Polizeieinheiten<br />

Europas schliessen sich<br />

gegen die Westafrikaner zusammen. Den<br />

Schweizern droht die Isolation. Über die<br />

Ergebnisse von «Inwestor» tagten zum Beispiel<br />

letzte Woche Spitzenleute der Polizei<br />

aus zehn Ländern. Zum Treffen reisten<br />

auch Schweizer. Ziel des Treffs war die Lancierung<br />

eines europäischen Konter-Netzwerks<br />

unter Federführung des BKA. «Wir<br />

haben in zehn Jahren einen Datenbestand<br />

Ausschaffungsgefängnis in Zürich-Kloten: Zurückgeschickte<br />

gelten offiziell als «renitent», aber nie als «kriminell».<br />

aufgebaut, in dem fast jeder etwas findet,<br />

der mit kriminellen Westafrikanern zu tun<br />

hat», erklärt BKA-Analyst Crecelius. Die<br />

Polizeieinheiten sollen Hintergründe <strong>und</strong><br />

Anknüpfungspunkte für Ermittlungen erhalten<br />

sowie Erkenntnisse austauschen.<br />

FOTOS: DOMINIC BÜTTNER/PIXSIL.COM, EDDY RISCH/KEYSTONE<br />

«Was Geschwindigkeit <strong>und</strong> Qualität<br />

der Informationen anbelangt, arbeiten<br />

wir mit der Schweiz bereits sehr gut zusammen»,<br />

sagt Crecelius. Deutschland hat<br />

im EU-Fahndungssystem SIS einen Platz<br />

für die Schweiz reserviert – für den Fall,<br />

dass das Land einmal beitreten sollte.<br />

Derweil haben einflussreiche Ibo-<br />

Kreise die nächste Finte bereits gelegt. Es<br />

ist das Dekret 33 von Nigeria, dem korruptesten<br />

Staat Afrikas. Das Gesetz besagt,<br />

dass Bürger wegen «Schädigung des Rufs<br />

Nigerias im Ausland» belangt werden können,<br />

wenn sie fern der Heimat straffällig<br />

werden. Dekret 33 ist in Europa berüchtigt,<br />

denn es beisst sich mit einem Gr<strong>und</strong>satz,<br />

der in allen westlichen Rechtssystemen<br />

gilt: Bestrafe nie zweimal für dasselbe<br />

Vergehen. Exakt dies aber würde Nigeria<br />

tun, wenn es kriminell gewordene Asylbewerber<br />

retour erhält. Wird ausgeschafft,<br />

reden Schweizer Behörden darum nur<br />

von «renitenten Asylbewerbern», nie von<br />

«kriminellen». Ausserdem halten es Fahnder<br />

wegen Dekret 33 oft für klüger, auf<br />

die Zusammenarbeit mit Interpol Nigeria<br />

zu verzichten.<br />

Der britische Rechtsprofessor Philip<br />

Ahire schreibt im Buch «Imperial Policing»:<br />

«Die Ursprünge nigerianischer Polizeitätigkeit<br />

finden sich im Bedürfnis der<br />

Briten, Profit aus dem Land zu ziehen,<br />

nicht aber im Bedürfnis der Nigerianer,<br />

das Recht aufrechtzuerhalten.» So gesehen<br />

ist das Problem mit den Afrikanern eine<br />

Spätfolge der Kolonisation. Und Europa<br />

Europa wird gerade von der<br />

Retourkutsche für die<br />

Ausbeutung Afrikas überrollt.<br />

wird gerade von der Retourkutsche für die<br />

Ausbeutung Afrikas überrollt – auf dem<br />

Kutschbock sitzen Ibo. Solange der Elendskontinent<br />

Afrika Heere von Glücksrittern<br />

stellt, denen sonst nur Armut bliebe, wird<br />

auch ein ausgedehnter Fürsorgestopp im<br />

Asylwesen daran wenig ändern.<br />

Bei den Einfuhrzöllen indes kämpft<br />

die Schweiz in der Welthandelsorganisation<br />

zuvorderst gegen Produkte, die aus billigeren<br />

Ländern ihren Platz auf dem Weltmarkt<br />

suchen. Wer den fairen Handel nicht<br />

will, muss sich zumindest nicht w<strong>und</strong>ern,<br />

wenn Afrika nun Wege sucht, die besser<br />

funktionieren. Und Mittel findet, die unsereinem<br />

auch nicht fair erscheinen. <br />

«Asylbewerber-Heime sind Logistikzentren»<br />

Norbert Klossner, Leiter der Abteilung Rauschgift der Kantonspolizei<br />

Zürich, über Vertrieb <strong>und</strong> Marktverhalten der Westafrikaner.<br />

FACTS: Herr Klossner, die Zürcher Kantonspolizei<br />

stellte letztes Jahr 248 Kilo<br />

Kokain sicher. 179 Kilo allein am<br />

Flughafen Kloten, fast doppelt so viel wie<br />

2003. Woher kam der Stoff?<br />

Norbert Klossner: Aus den unterschiedlichsten<br />

Ländern. Die Kuriere<br />

versuchen oft, ihr Abgangsland zu verschleiern,<br />

indem sie über verschiedene<br />

Routen fliegen. Doch die sensiblen Ausgangsländer<br />

liegen sicher in Südamerika.<br />

FACTS: Im letzten Quartal 2004 fasste<br />

die Polizei sieben Bodypacker. Auf welchen<br />

Routen reisten diese?<br />

Klossner: Sie kamen ausnahmslos aus<br />

São Paulo, Brasilien. Sie hatten unterschiedliche<br />

Nationalitäten – eine Brasilianerin,<br />

eine Deutsche, zwei Spanier, ein Tansanier,<br />

ein Brasilianer <strong>und</strong> ein Brite. Grössere<br />

Mengen, Pakete von sechs bis sieben Kilo,<br />

stellten wir bei Personen sicher, die von<br />

Buenos Aires her über Mailand oder Paris<br />

nach Zürich flogen.<br />

FACTS: Waren keine Kuriere aus Westafrika<br />

darunter?<br />

Klossner: Es sind nicht unbedingt die<br />

Westafrikaner, die das Kokain transportieren.<br />

Die Westafrikaner organisieren <strong>und</strong><br />

halten sich dabei im Hintergr<strong>und</strong>. Sie<br />

rekrutieren die Kuriere im Ausgangsland<br />

<strong>und</strong> sind in der Schweiz für den Empfang<br />

zuständig.<br />

FACTS: Was passiert mit den Lieferungen,<br />

wenn sie den Flughafen verlassen?<br />

Klossner: Meistens suchen die Kuriere<br />

ein Hotel auf, wo sie von den Abnehmern<br />

kontaktiert werden. Grössere Mengen stellt<br />

die Polizei vor allem in Privatwohnungen<br />

sicher, kleinere in Asylbewerber-Heimen.<br />

Die Asylbewerber-Zentren sind ein Pfeiler<br />

der Logistik, was den Strassenhandel<br />

anbelangt. Wir haben immer wieder das<br />

Problem, dass im Umfeld dieser Heime<br />

gehandelt wird. Ausserdem wird der Stoff<br />

dort gelagert. Der Vorteil ist die Anonymität.<br />

Der Stoff liegt in irgendeinem Kasten, der<br />

am Ende niemandem gehört. Das macht es<br />

manchmal schwierig, die F<strong>und</strong>e zuzuordnen.<br />

<br />

FACTS: Wie oft wird bei Kokain-F<strong>und</strong>en<br />

eigentlich weiter ermittelt?<br />

Klossner: Das versuchen wir natürlich<br />

jedesmal, wenn wir einen Kurier fassen.<br />

Über deren Reiseroute <strong>und</strong> andere Indizien<br />

ergeben sich nicht selten Zusammenhänge<br />

zu zurückliegenden, ähnlich gelagerten<br />

Fällen. Die Ermittlungen zielen darauf, die<br />

Hinterleute aufzuspüren.<br />

FACTS: Und was sind die Erkenntnisse<br />

bezüglich der Westafrikaner?<br />

Klossner: Sie sind einerseits bei der<br />

Organisation der Transporte involviert,<br />

«Die Schwarzen operieren<br />

jetzt viel vorsichtiger. Sie<br />

kontrollieren die Käufer.»<br />

anderseits ist auch der Strassenhandel,<br />

also die unterste Stufe, in den Händen<br />

der Afrikaner.<br />

FACTS: Die Kantonspolizei Sankt Gallen<br />

kauft zum Schein Kokain. Wie sieht das<br />

in Zürich aus?<br />

Klossner: Wir haben die Scheinkauf-<br />

Taktik vor einem Jahr eingeführt. Sie zielt<br />

auf den Strassenhandel ab <strong>und</strong> führt zu<br />

einer starken Verunsicherung der Dealer.<br />

FACTS: Konkret?<br />

Klossner: Konkret stellen wir fest,<br />

dass die Schwarzen jetzt viel vorsichtiger<br />

operieren. Sie kontrollieren den Käufer.<br />

Ein Drogendeal läuft inzwischen meist<br />

über drei bis vier Mittelspersonen ab.<br />

FACTS: Und die Erfolge?<br />

Klossner: Es gab Dutzende Verhaftungen.<br />

Und auf der Strasse wurde es ruhiger.<br />

FACTS: Gibt es Anzeichen dafür, dass<br />

die Afrikaner – wie etwa in Wien geschehen<br />

– auch den Handel mit Heroin<br />

an sich reissen wollen?<br />

Klossner: Bis jetzt gibt es keine Hinweise<br />

darauf, dass sie im grossen Stil<br />

in den Heroinmarkt einsteigen wollen. Nur<br />

in Einzelfällen haben wir festgestellt,<br />

dass afrikanische Strassendealer sowohl<br />

Kokain wie auch Heroin verkaufen.<br />

Offenbar ist ihre Konkurrenz recht stark.<br />

* Die Aktion läuft vom 1.3. bis 30.6.2005. Das Angebot ist gültig bei teilnehmenden Händlern <strong>und</strong> abhängig von der Verfügbarkeit der einzelnen Modelle.<br />

17. März 2005 FACTS


44 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

KRIMINALITÄT | GESELLSCHAFT 45<br />

Nerven wie Drahtseile<br />

Pünktlich zum Herbstanfang melden sich die Bancomat-Knacker<br />

zurück. Die Banken wähnten sich gewappnet, doch die dreiste Bande<br />

benutzt ein neues Tatwerkzeug: Den 28-Tonnen-Laster.<br />

E<br />

rst am fünften Tatort gelingt der<br />

Verbrecherbande ein Coup. Die<br />

Räuber befestigen ein Stahlseil<br />

am gestohlenen 28-Tonner <strong>und</strong> legen eine<br />

Schlaufe um den Bancomaten der UBS von<br />

Flawil SG. Dann gibt der Fahrer Gas. Der<br />

Automat reisst aus der Verankerung. Die<br />

Räuber hieven das Gerät in einen bereit<br />

stehenden Lieferwagen. Knapp zwei Minuten<br />

dauert die ganze Aktion, dann verschwindet<br />

der Wagen in der Dunkelheit, es<br />

ist morgens kurz vor zwei. Die Beute sei<br />

«beträchtlich», meldet die Kantonspolizei<br />

Sankt Gallen tags darauf, ebenso der Sachschaden.<br />

Die «Bancomaten-Knacker» sind<br />

zurück – erstmals in diesem Jahr auch wieder<br />

mit Erfolg.<br />

Mit beflügelndem Erfolg offenbar,<br />

denn schon in der folgenden Nacht schlagen<br />

sie in Diessenhofen TG zu. Sie erbeuten<br />

wieder Zehntausende von Franken <strong>und</strong><br />

hinterlassen die typische Verwüstung:<br />

geborstenes Glas, verbogenes Metall, geknickte<br />

Betonpfeiler.<br />

Die Diebe, nach Erkenntnissen der<br />

Ermittler sind es Rumänen, wurden im<br />

letzten Herbst bekannt, als sie innerhalb<br />

von wenigen Wochen neun Bancomaten<br />

knackten, einige h<strong>und</strong>erttausend Franken<br />

erbeuteten <strong>und</strong> dabei einen Schaden von<br />

700000 Franken anrichteten. Fahnder<br />

<strong>und</strong> Banken mussten die bis dahin kaum<br />

gekannte Dreistigkeit baff zur Kenntnis<br />

nehmen. «Das sind Profis», staunte etwa<br />

Polizeisprecher Meinrad Stöcklin, «jeder<br />

Handgriff sitzt, wie in der Boxengasse der<br />

Formel 1.»<br />

Der jüngste Tatort, die Raiffeisenbank<br />

von Diessenhofen, war den Verbrechern<br />

bestens vertraut. Bereits im September<br />

2003 transportierten sie am selben Ort den<br />

Bancomaten ab. Mit einem Personenwagen<br />

zerrten sie den Automaten aus der Verankerung,<br />

karrten ihn per Lieferwagen zu<br />

einem Feld bei Uerschhausen TG <strong>und</strong><br />

weideten ihn dort mit Axt <strong>und</strong> Vorschlaghammer<br />

aus, ungestört in finsterer Nacht.<br />

Im Vorfeld zu dieser Tat offenbarten<br />

sie – zum ersten <strong>und</strong> bisher einzigen Mal –<br />

sogar einen Hauch von Kreativität. In der<br />

Nacht vor dem Raub demontierten sie das<br />

FOTOS: ROLF MÜLLER/KAPO TG (2), FRANCO BOTTINI/SONNTAGSBLICK/RDB<br />

Geknackt (September 2003), neu installiert (Oktober 2003), wieder gestohlen (Oktober 2004): Der Tatort in Diessenhofen war den Verbrechern bestens vertraut.<br />

Treppengeländer; es würde bei der geplanten<br />

Hauruck-Aktion stören. «Wir nahmen<br />

diesen Vandalenakt zuerst als Nachtbubenstreich<br />

zur Kenntnis», erinnert sich<br />

Rolf Müller, Mediensprecher der Kantonspolizei<br />

Thurgau, «24 St<strong>und</strong>en später wurden<br />

wir eines Besseren belehrt.»<br />

Doch dieses Jahr, am Sonntag, 10. Oktober<br />

um 2.40 Uhr, lassen die Knacker das<br />

Geländer intakt. Für das neuste Tatwerkzeug<br />

der Rumänen stellt weder ein Ziergeländer<br />

noch ein Betonpfeiler ein Hindernis<br />

dar. Die Diebe sind auf schweres<br />

Gefährt umgestiegen.<br />

Das war auch nötig. Die diesjährige<br />

Raubserie lief harzig an. Sie beginnt am<br />

28. September in Bannwil BE, wo die Verankerung<br />

des Bancomaten der Zugkraft<br />

des gestohlenen Lieferwagens standhält.<br />

Alarm wird ausgelöst, die Räuber fliehen.<br />

Am 1. Oktober versuchen sie es erneut,<br />

nun bei der UBS in Aarberg BE, doch auch<br />

hier vergeblich: der Automat gibt keinen<br />

Zentimeter nach, wieder Alarm, wieder<br />

müssen sie fliehen.<br />

Verfolgungsjagd mit Blaulicht<br />

Der dritte Anlauf schliesslich, er erfolgt<br />

am 5. Oktober, gerät zum Katz-<strong>und</strong>-Maus-<br />

Spiel mit der Polizei. Der Gelddispenser<br />

der Raiffeisenbank Signau BE lässt sich<br />

zwar ins Freie reissen, doch als die Räuber<br />

das Gerät in den Lieferwagen hieven, alarmiert<br />

ein Augenzeuge die Polizei. Ein Patrouillenfahrzeug<br />

ist der fliehenden Bande<br />

Den Durchbruch erhoffen sich<br />

die Ermittler von einem<br />

Zeltlager, das Jäger entdeckten.<br />

schon kurz darauf auf den Fersen. Rasant<br />

preschen die Verbrecher im wiederkehrenden<br />

Schein des Blaulichts auf einem<br />

schmalen Emmentaler Strässchen Richtung<br />

«Chuderhüsi», einem beliebten regionalen<br />

Aussichtspunkt. Wohl um den Streifenwagen<br />

abzuschütteln, lassen sie ihre<br />

Beute unvermittelt durch die Hintertür<br />

auf die Strasse krachen. Mit knapper Not<br />

kann die Polizeipatrouille das Hindernis<br />

umfahren.<br />

«Den entscheidenden Vorsprung sicherten<br />

sie sich erst, als sie das Begleitfahrzeug,<br />

einen Personenwagen, quer zur<br />

Strasse stellten», sagt der Berner Polizeisprecher<br />

Peter Abelin. Die Verfolger sind<br />

blockiert, die Verbrecher nehmen Reissaus,<br />

es ist morgens kurz vor zwei.<br />

Im Zug der letztjährigen Raubwelle<br />

rief die Kantonspolizei Baselland eine Sonderkommission<br />

ins Leben, immerhin war<br />

ihr Kanton damals dreimal von der Serie<br />

betroffen. Zehn Kriminalbeamte arbeiten<br />

seither an der Aufklärung der Verbrechen.<br />

«Der Nachrichtenaustausch zwischen den<br />

betroffenen Kantonen <strong>und</strong> dem benachbarten<br />

Ausland funktioniert gut», hält<br />

Meinrad Stöcklin fest; er ist Sprecher der<br />

Kantonspolizei Baselland. Allein, der<br />

Fahndungserfolg lässt auf sich warten.<br />

Den Durchbruch erhoffen sich die<br />

Ermittler nun von einem Zeltlager, auf das<br />

Jäger Anfang Woche stiessen. Aus dem Tobel<br />

bei Waldkirch SG konnten die fünf<br />

Räuber zwar fliehen, sie hinterliessen aber<br />

viele Spuren. Bei den Ermittlern wächst<br />

die Zuversicht.<br />

Immerhin war es auch das dritte Mal,<br />

dass die Bande der Polizei nur knapp entkam,<br />

denn schon am 7. Oktober, beim vierten<br />

Versuch nach der missglückten Auftaktserie<br />

im Bernischen, fehlte der Polizei<br />

sehr wenig. Das war in Wittenbach SG. Erst<br />

sorgte ein Wachmann dafür, dass die Bande<br />

den Bancomaten liegen lassen musste,<br />

dann verunfallte sie mit ihrem Fluchtfahrzeug<br />

<strong>und</strong> musste zu Fuss das Weite suchen.<br />

Doch – Pech für die Fahnder – die Verfolgung<br />

verlief trotz eingesetztem Polizeih<strong>und</strong><br />

auch diesmal ergebnislos.<br />

Am effizientesten scheinen die Massnahmen<br />

der Banken zu greifen. Praktisch<br />

alle Institute liessen ihre Geldautomaten<br />

inzwischen zusätzlich verankern. «Nach<br />

jedem Vorfall haben wir Verbesserungen<br />

vorgenommen», sagt etwa Raiffeisen-Sprecher<br />

Franz Würth. Pfosten wurden errichtet,<br />

Kameras montiert. Nur um festzustellen,<br />

dass sich jetzt auch die Räuber<br />

angepasst haben? Denn im Gegensatz zur<br />

letzten Saison agieren sie nun maskiert,<br />

ihre Methoden sind brachialer. Raiffeisen-<br />

Sprecher Franz Würth klingt resigniert:<br />

«Wenn sie mit 30-Tonnern auffahren, wird<br />

es langsam schwierig.» Balz Rigendinger<br />

14. Oktober 2004 FACTS


JUSTIZ | SCHWEIZ 25<br />

Bis aufs Blut<br />

Der Thaiboxer Bashkim Berisha tötet einen Unbekannten – einfach<br />

so. Schon zuvor fällt er durch Brutalität auf. Doch keiner reagiert. Porträt<br />

eines notorischen Schlägers. Von Hanspeter B<strong>und</strong>i <strong>und</strong> Balz Rigendinger<br />

eingebettet ist. Berishas Vergangenheit ist<br />

ein Trümmerhaufen. Er hat nichts ausser<br />

seiner Jugend <strong>und</strong> seiner Kraft, <strong>und</strong> er reagiert<br />

so, wie er schon oft reagiert hat: mit<br />

Gewalt. Diesmal schlägt er nicht nur zu,<br />

diesmal holt er eine Pistole aus dem Auto,<br />

tötet R. R. mit einem gezielten Schuss in die<br />

in die alte Heimat, um seine Familie zu sehen<br />

<strong>und</strong> am grossen Haus zu bauen, in dem<br />

später einmal alle wohnen würden. Wenn<br />

der Vater da war, wurden Feste gefeiert,<br />

<strong>und</strong> Bashkim erhielt von den Onkeln <strong>und</strong><br />

älteren Cousins Geld, damit er sich mit einem<br />

seiner Kollegen prügle. Bis aufs Blut.<br />

Das war die Bedingung.<br />

Im Alter von elf Jahren kamen Bashkim<br />

<strong>und</strong> sein Zwillingsbruder B. in die<br />

Schweiz. Oder besser: 1991 wurden sie aus<br />

dem bäuerlichen Kosovo in die Zürcher<br />

Agglomeration verpflanzt. «Möglicherweise<br />

hat der harte Schnitt damals seine<br />

Anlagen verstärkt», sagt Jendreyko heute.<br />

Er weiss, dass es eine Vermutung ist.<br />

In der Schweiz verhielt sich Berisha<br />

gleich von Anfang an auffällig. Schlägereien<br />

an der Schule. Schlägereien auf der<br />

FOTO: FRENETIC FILMS<br />

Es geht um mehr als um zwei<br />

Parkfelder. Es geht um ein Revier,<br />

um Männlichkeit <strong>und</strong> um Ehre.<br />

Als Bashkim Berisha in der Nacht<br />

auf Freitag, den 11. Februar vor<br />

der Disco «Starlight 2000» in Dübendorf<br />

einen Mann erschoss, beging er<br />

genau die Gewalttat, vor der Silvio Stierli,<br />

Bezirksanwalt in Winterthur, schon lange<br />

gewarnt hatte. «Man sah, dass er sein Aggressionspotenzial<br />

nicht im Griff hatte»,<br />

sagt Stierli vier Tage nach der Tat. «Jemand,<br />

der Polizisten niederschlägt, bei dem<br />

stimmt einiges nicht mehr.» Berisha selber<br />

sagte früher einmal von sich: «Wenn jemand<br />

so nahe kommt» – er zeigte es mit der<br />

Hand –, «dann mache ich peng, so, <strong>und</strong><br />

dann schlage ich. Dann kann ich mich einfach<br />

nicht beherrschen.» Die Szene ist Teil<br />

eines Dokumentarfilms, den der Basler<br />

Filmemacher Vadim Jendreyko über Bashkim<br />

Berisha gedreht hat.<br />

Der Film zeigt Berisha als gut aussehenden<br />

Macho, als halt- <strong>und</strong> heimatlosen<br />

Immigranten, als erfolgreichen Thaiboxer<br />

<strong>und</strong> als notorischen Schläger. «Dann kann<br />

ich mich einfach nicht beherrschen.» Das<br />

gilt wohl auch für die Gewalttat in Dübendorf.<br />

Mit der Selbstverständlichkeit des<br />

kräftigen Machos, der für sich viel Raum in<br />

Anspruch nimmt, stellt Bashkim Berisha,<br />

24, den Peugeot 605 seines Bruders schräg<br />

auf zwei Parkfelder. Der Mazedonier R. R.,<br />

der auf der Suche nach einem Parkplatz ist,<br />

fordert ihn auf, den Wagen anders zu parkieren.<br />

Darüber, wie er das tut, ob höflich<br />

oder aggressiv, gibt es zwei Versionen. Sicher<br />

ist, dass der Konflikt schnell einen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Charakter bekommt. Es<br />

geht um mehr als um zwei Parkfelder. Es<br />

geht um ein Revier, um Männlichkeit <strong>und</strong><br />

um Ehre.<br />

Das ist eine hochexplosive Mischung<br />

vor allem, wenn sie nicht abgefedert <strong>und</strong><br />

Thaiboxer Bashkim Berisha: «Dann mache ich peng, so, <strong>und</strong> dann schlage ich.»<br />

Brust <strong>und</strong> flieht. Ein <strong>Justiz</strong>beamter spricht<br />

FACTS gegenüber Klartext: «Berisha ist ein<br />

brutaler Kerl, ein unsympathischer Zeitgenosse.<br />

Er hat ein wahnsinniges Gewaltpotenzial,<br />

<strong>und</strong> er ist extrem unberechenbar.»<br />

Das Tötungsdelikt von Dübendorf ist<br />

die letzte Windung einer Gewaltspirale,<br />

die schon in Berishas ersten Schuljahren<br />

zu drehen begann. Oder noch früher, als er<br />

mit seiner Mutter, seinen Brüdern, mit Onkeln<br />

<strong>und</strong> Grosseltern in Peja lebte, einem<br />

Bauerndorf im Kosovo. Der Vater war 1968<br />

zum Arbeiten in die Schweiz ausgereist,<br />

<strong>und</strong> einmal im Jahr kam er für einen Monat<br />

Strasse <strong>und</strong> in Dancings. Bandenmässiger<br />

Diebstahl. Einbrüche in Autos. Fahren ohne<br />

Führerausweis. Freiheitsberaubung<br />

<strong>und</strong> Raub einer Kreditkarte. Und immer<br />

wieder Schlägereien. Es sind Delikte <strong>und</strong><br />

Brutalitäten, die in einer toleranten Gesellschaft<br />

allzu oft als jugendliche Dummheiten<br />

<strong>und</strong> Bagatellfälle durchgehen.<br />

Auch kräftigere Gegner chancenlos<br />

Parallel zu seinem Leben als Gesetzloser<br />

arbeitet Bashkim an seiner Karriere als<br />

Thaiboxer. Videoaufnahmen aus jener Zeit<br />

zeigen einen schlanken, kräftig gebauten<br />

<strong>und</strong> quirligen Jungen, gegen den auch <br />

17. Februar 2005 FACTS


26 SCHWEIZ | JUSTIZ<br />

kräftigere Gegner keine Chance haben.<br />

Einer, der im entscheidenden Moment explodieren<br />

kann. «Wenn er es beim Boxen<br />

nicht könnte, würde er es irgendwo anders<br />

machen», sagte der Winterthurer Boxtrainer<br />

Reinhard Meier später. Die meisten<br />

Kämpfe gewinnt er durch K. o. Das bringt<br />

ihm im Thaiboxen einen Weltmeistertitel<br />

ein, <strong>und</strong> auch im Boxen könnte er es weit<br />

bringen. Der Boxtrainer Sadik Saglam<br />

sagte vor vier Jahren: «Bashkim ist sehr<br />

gut. Er ist sehr, sehr stark. Bashkim ist für<br />

den Boxsport perfekt.»<br />

Er habe von Natur aus gern geboxt, sagt<br />

die Mutter. Er sei ein Kraftpaket, sagte Alfred<br />

Gut, Fahnder der Winterthurer Stadtpolizei,<br />

im Dokumentarfilm über Bashkim.<br />

«Einen grausamen Hammer hat er<br />

gehabt.» Damals, Jahre vor den tödlichen<br />

Schüssen, sagte er das lächelnd, <strong>und</strong> in<br />

seiner Stimme schwang so etwas wie Bew<strong>und</strong>erung<br />

mit. Doch Gut warnte auch.<br />

Bashkim habe sich nicht im Griff. Er solle<br />

im Ring kämpfen, dort sei es recht, wenn<br />

er ausraste.<br />

Polizist bewusstlos geschlagen<br />

Für Bashkim ist die Trennung zwischen<br />

Ring <strong>und</strong> Strasse nur theoretisch. Egal, ob<br />

ein Ringrichter oder ein Kollege oder<br />

überhaupt niemand neben ihm steht. Er<br />

explodiert. Im Juli 1999 schlägt Bashkim<br />

Berisha mit der Handkante einen Polizeibeamten<br />

bewusstlos, der ihn wegen einer<br />

Falschgeld-Angelegenheit kontrollieren<br />

will. Das ist nicht mehr jugendlicher<br />

Leichtsinn. Das ist ein Verbrechen. Berisha<br />

wird in Untersuchungshaft gesetzt, wo<br />

sein Vater ihn besucht. «Wärest du hier<br />

Seine Delikte werden<br />

mit zunehmendem Alter immer<br />

schwerer <strong>und</strong> gefährlicher.<br />

nicht reingekommen, würdest du nie ein<br />

Mensch werden», sagt der Vater. Er ist ein<br />

feingliedriger Mann mit einem besorgten<br />

Gesicht, einer, der sich seinen Lebensunterhalt<br />

mit Arbeit verdient, die Ordnung<br />

respektiert <strong>und</strong> versucht, im fremden<br />

Bashkim Berisha (4. von l.) mit Familie in Peja, Kosovo: Viel, viel früher einmal Heimat.<br />

Land, das ihm Arbeit gibt, möglichst nicht<br />

anzuecken. So wie fast alle Väter will er,<br />

dass seine Söhne es mit den Regeln ebenso<br />

halten. «Vielleicht dringt jetzt ein für alle<br />

Mal etwas Gutes in deinen Kopf ein», sagt<br />

er seinem Sohn. Es ist der Seufzer eines<br />

Mannes, der den Einfluss auf seinen Sohn<br />

schon verloren hat.<br />

«Es ist auch zu prüfen, ob man bei<br />

jemandem, der da in der Schweiz so dermassen<br />

oft delinquent war, nicht einmal<br />

sagen müsste, jetzt ist genug, jetzt muss<br />

man so jemanden ausweisen», sagt Staatsanwalt<br />

Stierli, der die Anklage führt, <strong>und</strong><br />

fordert für Berisha eine Gefängnisstrafe<br />

von zwei Jahren, dazu einen zehnjährigen<br />

Landesverweis. Das Urteil lautet auf eineinhalb<br />

Jahre Gefängnis <strong>und</strong> zehn Jahre<br />

Landesverweis, beides bedingt. Bashkim<br />

Berisha, dessen Delikte mit zunehmendem<br />

Alter immer schwerer <strong>und</strong> immer<br />

gefährlicher wurden, kann in der Schweiz<br />

bleiben. «Eine allerletzte Chance», sagt<br />

der Richter. Stierli legte Berufung ein, die<br />

später von der Staatsanwaltschaft zurückgezogen<br />

wird. Stierli ist heute noch konsterniert<br />

<strong>und</strong> fragt sich, warum das Migrationsamt<br />

nicht von sich aus tätig wurde,<br />

um Berisha auszuweisen.<br />

Belohnung von 10 000 Franken<br />

Der lässt die «allerletzte Chance» links<br />

liegen. Weitere Schlägereien, einige gerichtsnotorisch,<br />

andere nicht. Fahren ohne<br />

Führerausweis. Im Thaiboxen wird er von<br />

einem Gegner so schwer <strong>und</strong> gezielt am<br />

Knie attackiert, dass er den Sport aufgeben<br />

muss. Aber auch im Ring bekommt er eine<br />

allerletzte Chance.<br />

Reinhard Meier, Präsident des Box<br />

Club Winterthur, vertraut Berishas Beteuerungen,<br />

er wolle sich auf den Sport<br />

konzentrieren, <strong>und</strong> nimmt ihn drei Jahre<br />

später unter Vertrag. «Er ist ein derart begnadeter<br />

Faustkämpfer, dass er jederzeit<br />

mit jedem Gegner fertig geworden wäre»,<br />

sagt Meier in einem Interview bei «10 vor<br />

10».<br />

Doch Berisha lässt auch diese Chance<br />

fahren. Er erschiesst den Mazedonier R. R.<br />

<strong>und</strong> flieht mit seinem Zwillingsbruder.<br />

Bashkim Berisha wird international gesucht.<br />

Für seine Ergreifung hat die Polizei<br />

eine Belohnung von 10000 Franken ausgesetzt.<br />

Bleibt die Frage, ob nicht alles ganz<br />

anders hätte kommen können. Die Antwort<br />

gibt Bashkims Zwillingsbruder B. Er<br />

ist nicht so stark <strong>und</strong> nicht so hübsch wie<br />

Bashkim. Aber er hat in der Schule bessere<br />

Leistungen erbracht, war nie in Raufhändel<br />

verwickelt <strong>und</strong> ging bis vor kurzem<br />

seiner Arbeit nach. Jetzt sind die beiden<br />

miteinander auf der Flucht. Wahrscheinlich<br />

im Kosovo, irgendwo in der Gegend<br />

von Peja, die ihnen viel, viel früher einmal<br />

Heimat war.<br />

Für die Schweiz ist der Fall Bashkim<br />

Berisha damit aller Voraussicht nach erledigt.<br />

Allerdings zum Preis eines Menschenlebens.<br />

<br />

«Bashkim», ein Dokumentarfilm von Vadim Jendreyko,<br />

2001 bei Frenetic Film, Zürich.<br />

FOTO: FRENETIC FILM<br />

FACTS 17. Februar 2005


26 SCHWEIZ | ERZIEHUNG<br />

Fluchtpunkt Fre<strong>und</strong>in<br />

Fünf Jugendliche fliehen aus einem Erziehungsheim in Spanien <strong>und</strong> sorgen<br />

für Medienrummel. Als Anführer der Aktion gilt Mauro. Wie kam er ins «Folter-Camp»?<br />

Ein Junge <strong>und</strong> sein schwieriges Leben. Von Balz Rigendinger<br />

An die Drogensucht seiner Mutter<br />

erinnert sich der 16-Jährige vage:<br />

Er, Mauro, ist acht <strong>und</strong> sein Mami<br />

kommt am Morgen mit dem Taxi heim. Sie<br />

hat wie so oft kein Geld. Mauro liegt im<br />

Bett. Der Stiefvater muss das Taxi bezahlen.<br />

«Ich hörte den Lärm, wie sie klingelte,<br />

<strong>und</strong> dann den Streit. Manchmal ging mein<br />

Stiefvater danach zu seinen Eltern, drei<br />

oder vier Tage lang, um sich abzuregen.»<br />

2001 reist die Mutter zurück in ihre<br />

Heimat, nach Nicaragua. Da ist Mauro elf.<br />

Er bleibt bei seinem Stiefvater in Wädenswil<br />

ZH. Fünf Jahre später bezeichnen ihn<br />

Pädagogen als «schwer erziehbar». Er ist<br />

einer der Jugendlichen, die aus einem<br />

Erziehungslager in Spanien flüchteten.<br />

Zurzeit wohnt Mauro mit seiner Fre<strong>und</strong>in<br />

Natalie bei deren Mutter.<br />

Natalie ist 17. Sie schmiegt sich an ihn.<br />

Mauro ist Natalies Held, ihre erste Liebe.<br />

Und für ihn ist Natalie noch viel mehr:<br />

Heimat, er will nichts anderes.<br />

Mauro P. wird 1990 in Managua, der<br />

Hauptstadt Nicaraguas, geboren. Den Vater<br />

kennt er nicht, <strong>und</strong> was die Mutter beruflich<br />

tat, erfährt er nie. «Ich weiss nur,<br />

dass sie schon immer drogensüchtig war.»<br />

1996 versucht Mutter Coralia, ihre Sucht<br />

zu kurieren, in einer Therapiestation in<br />

Miami. Dort lernt sie einen Schweizer<br />

kennen. Die beiden verlieben sich. Coralia<br />

reist mit ihrem sechsjährigen Sohn Mauro<br />

<strong>und</strong> ihrer achtjährigen Tochter Carmen in<br />

die Schweiz.<br />

«Seine Hirnzellen begannen zu spinnen»<br />

An seinem ersten Schultag spricht Mauro<br />

nur Spanisch. Er kommt in die Einführungsklasse.<br />

Den Schulweg geht er mit<br />

zwei gleichaltrigen Schweizern aus der<br />

Nachbarschaft. Mit ihnen lernt er Deutsch.<br />

Bald ist er ein guter Schüler. «Bis zur sechsten<br />

war ich im Sport gut, auch in Mathe,<br />

Deutsch war mit der Zeit in Ordnung.»<br />

2001 kehrt Schwester Carmen mit der<br />

Mutter nach Nicaragua zurück. «Sie fragte<br />

mich, ob ich mitkommen will.» Doch Mau-<br />

Mauro: Der 16-Jährige gilt bei Pädagogen als «schwer erziehbar».<br />

ro bleibt in Wädenswil, beim Stiefvater,<br />

einem gut situierten Staatsbeamten. Als<br />

Mutter <strong>und</strong> Schwester ihn verlassen, hat<br />

der Knabe mit Fussball angefangen, kickt<br />

im FC Wädenswil <strong>und</strong> im FC Horgen. Er hat<br />

Fre<strong>und</strong>e. «Ich fühlte mich daheim.» Problemlos<br />

schafft er den Übertritt in die Sek.<br />

«In der Oberstufe war ich nicht mehr so<br />

gut in der Schule. Ich fand, ich kann es ja so<br />

oder so.» Mauro kifft. Er hat neue Kollegen.<br />

Ab <strong>und</strong> zu hilft er das Schulhaus putzen.<br />

Mit dem Geld kauft er sich einen Puch.<br />

Er frisiert den Motor. Das Mofa läuft siebzig<br />

St<strong>und</strong>enkilometer. Mauro fährt ohne<br />

Helm. Die Polizei erwischt ihn. Der Vater<br />

tobt. «Von da an begannen seine Hirnzellen<br />

zu spinnen», sagt Mauro.<br />

Das Zerwürfnis mit seinem Vater<br />

nimmt seinen Lauf, als dieser die Schwester<br />

seiner Mutter in die Schweiz holt. «Meine<br />

Tante mit meinem Vater, ich hasste sie<br />

von Anfang an.» Die beiden lernten <br />

Komplott im «Folter-Camp»<br />

Ein Bauernhof im spanischen Sant<br />

Llorenç de la Muga dient Schweizer<br />

Kindern als pädagogische Auffangstation.<br />

Am 5. April gerät das Heim in<br />

die Schlagzeilen, nachdem fünf Kinder<br />

ausbrachen <strong>und</strong> der Polizei berichteten,<br />

sie seien im Wildschweinkäfig<br />

gehalten <strong>und</strong> mit Eisenstangen geschlagen<br />

worden. Ein Komplott, wie<br />

einer der Beteiligten im Nachhinein<br />

versichert: Sie hätten sich gegenseitig<br />

blaue Flecken zugefügt, um ihre Flucht<br />

zu legitimieren. Das Sozialamt der<br />

Stadt Zürich leitete zwei Untersuchungen<br />

ein. Die erste entlastet<br />

die Sozialpädagogen. Die zweite<br />

läuft noch.<br />

FOTO: SIGGI BUCHER [M]<br />

FACTS 20. April 2006


28 SCHWEIZ | ERZIEHUNG<br />

Umstrittenes Camp in Spanien: «Wir hatten Angst vor den Erziehern.»<br />

sich in Nicaragua kennen, flirteten im Internet.<br />

Mauro ist überfordert. 2004 heiratet<br />

der Vater die Tante. «Ich wollte es ihm<br />

verbieten, konnte aber nicht.» Die Hochzeit<br />

verlässt Mauro während des Mahls. Der<br />

Vater fragt: «Wo gehst du hin?» Mauro antwortet:<br />

«Zu Kollegen.» Der Vater sagt:<br />

«Okay, dann rufst du später an.»<br />

«Von da an war nichts mehr gut zu<br />

Hause. Ich verschloss mich, sprach nur<br />

noch das Nötigste, war nur noch draussen.»<br />

«Ein bisschen Gras dabei»<br />

Dann kriegt Mauro es mit der Jugendanwaltschaft<br />

zu tun. Er sagt, das sei wegen<br />

der Geschichte mit dem Mofa geschehen,<br />

«gut, dann war da noch der Diebstahl.»<br />

Ein Kettchen aus dem Manor, es kostete elf<br />

Franken. Mauro nahm es sich, wieder Polizei.<br />

Der Vater ist hilflos. «Ein bisschen Gras<br />

hatte ich auch dabei.» Mauro hasst den Vater.<br />

Er zieht zu einem Fre<strong>und</strong>, einen Monat<br />

lang, das war in den Sommerferien 2005.<br />

Dem Schulpsychologen sagt Mauro,<br />

er halte es beim Vater nicht mehr aus.<br />

Eine Sozialarbeiterin wird eingeschaltet.<br />

Mauro kifft täglich. «Ich galt als drogengefährdet.<br />

Die Sozialarbeiterin beschloss,<br />

dass ich zu einer Gastfamilie darf.» Doch<br />

sie findet keine in der Nähe, holt Hilfe bei<br />

Beat Dünki aus Zürich; dessen Firma Time<br />

Out ist auf Fremdplatzierungen spezialisiert.<br />

Dünki, 52, organisiert eine Familie<br />

im Nachbardorf. Der Stiefvater lässt ihn gehen.<br />

«Ich fühlte mich komisch dort, aber da<br />

war ich schon mit Natalie zusammen.»<br />

Natalie sagt: «Er gefiel mir schon auf<br />

dem Pausenplatz. Er war lustig. Dann kam<br />

er mal zu mir, da machten wir rum.»<br />

Sie sind verliebt. Ein paar Mal<br />

schleicht Mauro nachts durchs Fenster ab,<br />

um sie zu treffen, um bei ihr zu schlafen.<br />

Ein paar Mal schleicht sich Natalie nachts<br />

in sein Zimmer. Natalies Mutter sagt: «Der<br />

Junge war viel zu streng kontrolliert. Die<br />

Gastfamilie musste jedes Detail dem Dünki<br />

melden.» Mauro sagt: «Tüpflischiisser,<br />

so empfand ich das.»<br />

Ein paar Mal schwänzt er die Schule;<br />

ihm droht der finale Rausschmiss. Ein paar<br />

Mal erscheint er nicht zum Fussballtraining.<br />

Dann schleicht er wieder zu Natalie.<br />

Natalies Mutter sagt:<br />

«Der Junge war viel zu streng<br />

kontrolliert.»<br />

«Ich hatte ein Verbot, bei ihr zu schlafen.»<br />

Am nächsten Morgen klingelt es bei Natalies<br />

Mutter. Beat Dünki holt ihn ab, 8. Februar,<br />

<strong>und</strong> bringt ihn in den Kanton Uri.<br />

«Es kam mir vor wie eine Entführung.»<br />

Mit einer Gondel geht es von Amsteg<br />

hinauf, dann zu Fuss durch den Schnee zu<br />

einem Bauernhof, 1370 Meter über Meer.<br />

Mauro trotzt, lügt den Betreuer an: Er hat<br />

sein Handy dabei, das dürfte er nicht, wieder<br />

ein Regelverstoss. Ein Bauer <strong>und</strong> dessen<br />

Mutter nehmen den Jungen in Empfang.<br />

Er spricht kein Wort. «Dann, im Zimmer,<br />

weinte ich, weil ich weg von Natalie<br />

war.» Der Bauer weckt Mauro täglich um<br />

sieben. Dann arbeitet er mit dem Jungen<br />

bis halb neun, dann Pause, dann bis zwölf,<br />

dann Pause, dann bis fünf, dann Pause,<br />

dann bis acht: Vieh, Haushalt <strong>und</strong> Hof.<br />

«Beim Balkon hatte das Handy Empfang.<br />

Um mit Natalie zu telefonieren,<br />

machten wir Zeiten aus. Manchmal schauten<br />

wir gen Himmel <strong>und</strong> sahen das Gleiche,<br />

das waren die schönen Augenblicke. Oft<br />

aber weinten wir.»<br />

«Es hiess: keine Briefe, kein Telefon»<br />

Gegenüber der Mutter des Bauern verhält<br />

sich Mauro laut Dünki respektlos. Sie<br />

kommt mit ihm nicht zurecht. «Sie war<br />

etwa 70, sie wurde immer schwieriger.»<br />

Der Bauer macht ihm klar, dass es so nicht<br />

gehen kann. Dünki holt Mauro ab. «Gib mir<br />

das Handy», sagt er, «du hast mich hintergangen.»<br />

Mauro liess einmal das Ladegerät<br />

liegen. Das hatte der Bauer gesehen.<br />

Von Amsteg fährt ihn Dünki nach<br />

Frankreich. Tags darauf, ein Donnerstag<br />

im März, kommt Mauro in Spanien an. «Ich<br />

war nur hässig. Es hiess: keine Briefe, kein<br />

Telefon, keinen Kontakt zur Aussenwelt.»<br />

Natalie denkt, Mauro sei noch auf dem<br />

Berg. Dann erzählt ihr Dünki, er sei nun in<br />

Spanien. Sie zittert.<br />

In Spanien büxt Mauro aus. «Wir hatten<br />

Angst vor den Erziehern.» Er trampt<br />

nach Frankreich, spricht ein Paar an. «Sie<br />

gaben mir zehn Euro.» Natalies Handy<br />

klingelt, eine Nummer aus Frankreich.<br />

«Hey Schatz, ich bins.» Natalies Herz klopft<br />

bis zum Hals. «Sie fragte mich, ob all das<br />

stimme, was Dünki ihr über ihn erzählt<br />

hat. Ich sagte Nein. Nein, wenn ich es dir<br />

sage, dann lüge ich dich nicht an.»<br />

Mauro trampt weiter, in die Schweiz. In<br />

Lausanne lernt er einen Jungen kennen.<br />

Er schläft bei ihm, darf dessen Handy benutzen.<br />

Er ruft Natalie an. Sie fährt nach<br />

Lausanne, holt ihn zu sich nach Hause.<br />

Mauro ruft den Stiefvater an. «Warum<br />

unterschreibst du so Sachen mit Heimen<br />

<strong>und</strong> so?» Der Stiefvater gibt keine Antwort.<br />

Mauro sagt: «Vielleicht, ich weiss<br />

nicht, ob es ein Fehler war oder nicht, aber<br />

vielleicht hätte ich damals mit der Mutter<br />

gehen sollen.» Natalie schmiegt sich an<br />

ihn. Noch enger. Mauro hält sie fest.<br />

In Zürich gab einer der Geflohenen zu<br />

Protokoll: «Wenn Mauro nicht gewesen wäre,<br />

dann wären wir alle nicht gegangen.»<br />

Mauro sagt, die Flucht aus dem «Folter-<br />

Camp» sei kein Komplott gewesen.<br />

<br />

FOTO: ROBIN TOWNSEND/EPA/KEYSTONE<br />

FACTS 20. April 2006


28<br />

KRIMINALITÄT | SCHWEIZ 29<br />

Gerold Stadler <strong>und</strong> Corinne Rey-Bellet kurz nach der Geburt ihres Sohns Kevin: Differenzen dringen nicht nach aussen.<br />

Fuss zu fassen. Das Paar wohnt in einer<br />

weiten Attikawohnung mit Säntisblick,<br />

bald kommt Sohn Kevin zur Welt, <strong>und</strong> im<br />

Ort kennt man beide als sympathisch, integriert,<br />

engagiert. Ihr Leben wirkt erfolgreich.<br />

Falls in der Familie Differenzen klaffen,<br />

dringen sie nicht nach aussen.<br />

Fast jede Woche ein Opfer<br />

Glattfelden, 30. März: Ein Mann erschiesst<br />

seine Fre<strong>und</strong>in. St. Gallen,<br />

9. Februar: Eine Frau sagt ihrem<br />

Mann, dass sie ausziehen will; er erschiesst<br />

sie <strong>und</strong> wenig später sich<br />

selbst. Onex, 7. Februar: Ein Mann erschiesst<br />

seine Frau, dann richtet er<br />

sich selbst. In der Schweiz sterben<br />

r<strong>und</strong> vierzig Frauen pro Jahr, weil ihr<br />

Mann durchdreht <strong>und</strong> sie tötet – oft,<br />

weil er sie nicht alleine leben lassen<br />

will. In den Beziehungsmorden zeigt<br />

sich der dramatische Gipfel der häuslichen<br />

Gewalt. Familienmorde begehen<br />

oft Männer aus dem Mittelstand:<br />

«Nicht selten», so Gerichtspsychiater<br />

Andreas Frei jüngst in der «Neuen<br />

Luzerner Zeitung», seien die Täter<br />

«Aufsteiger, die Gefahr laufen, ihre<br />

Errungenschaften zu verlieren».<br />

In Abtwil bemerkte niemand eine Krise<br />

Dass Gerold Stadler – wie die Polizei jetzt<br />

vermutet – am 30. April 2006 seine Frau<br />

erschiesst, dass er zugleich ihren Bruder<br />

Alain tötet <strong>und</strong> ihre Mutter Verena schwer<br />

verletzt, all das wirkt völlig unabsehbar.<br />

Nach der Bluttat berichten die Nachbarn in<br />

Abtwil den Medien einhellig, sie hätten<br />

nichts gemerkt von einer Krise, gar nichts.<br />

Was Fachleute nicht überrascht. «Wie die<br />

Erfahrung zeigt, kommen solche Taten<br />

auch in Familien vor, die nach aussen intakt,<br />

ja ideal erscheinen», sagt Gerichtspsychiater<br />

Volker Dittmann. «Entscheidend<br />

ist die innere Familienstruktur.»<br />

Die Familienstruktur: Da ist auf der<br />

einen Seite Gerold Stadler, der mutmassliche<br />

Täter. Er wird als gewissenhaft <strong>und</strong><br />

fleissig beschrieben, vielleicht etwas unsicher,<br />

aber enorm ehrgeizig <strong>und</strong> karriereorientiert;<br />

ein ehemaliger Schulkollege<br />

nennt ihn «autoritätsgläubig». Als Bub engagiert<br />

er sich bei den Pfadfindern, später<br />

präsidiert er den Studentenrat seiner<br />

HWV, in der Armee steigt er auf bis zum<br />

Hauptmann. Doch Fre<strong>und</strong>e findet er kaum.<br />

In Stadler schwingt eine überrationale,<br />

gestrenge, pedantische Saite. Er läuft<br />

auffallend oft rot an, nicht im Zorn, eher<br />

weil er Gefühle unterdrückt. Als «überkontrolliert»<br />

erlebt ihn eine Bekannte.<br />

Sein Denken illustriert ein Zettel, den die<br />

Polizei nach der Bluttat von Les Crosets in<br />

der Wohnung in Abtwil findet. Es ist eine<br />

Lis-te, auf der Stadler die Probleme seiner<br />

Ehe zusammengefasst hat – säuberlich,<br />

rational <strong>und</strong> in seiner Wahrnehmung<br />

folglich lösbar.<br />

Die Frau ist das Gegenteil: Rey-Bellet<br />

vertraute im Skizirkus ganz ihrer Intuition<br />

(was ihr auf der Piste oft Vorteile verschaffte).<br />

«Sie hatte ein sehr feinfühli- <br />

Kein Mann fürs Leben<br />

Hier die gefühlsbetonte Frau, da der pendantische Gatte: Die Ehe von Corinne Rey-Bellet<br />

sollte den Graben zwischen zwei sehr unterschiedllichen Menschen überwinden.<br />

Liegt hier ein Gr<strong>und</strong> für den Mord am Skistar? Von Gilles Berreau*, Balz Rigendinger <strong>und</strong> Sibylle Stillhart<br />

E<br />

s ist eine Geschichte, in der<br />

scheinbar schöne Klischees im<br />

Drama münden. Sie dreht sich um<br />

Liebe auf den ersten Blick, erzählt vom<br />

Glauben an die ewige Ehe <strong>und</strong> handelt von<br />

Gegensätzen, die sich ebenso anziehen wie<br />

verzehren: Emotion trifft auf Verstand.<br />

Da ist Corinne Rey-Bellet, 33, von Bekannten<br />

als «bauchig intuitiv» <strong>und</strong> feinfühlig<br />

beschrieben, ein Ski-Ass aus dem<br />

Wallis, Vizeweltmeisterin in der Abfahrt.<br />

Der Mann ist Ostschweizer: Gerold Stadler,<br />

33, Prokurist bei der Credit Suisse, entstammt<br />

so genannt ordentlichen Verhältnissen.<br />

Sein Vater Automechaniker in Abtwil,<br />

die Mutter kaufmännische Angestellte<br />

<strong>und</strong> gemeinnützig sehr engagiert. Beide<br />

sind tief verankert im katholischen Milieu.<br />

Corinne Rey-Bellet <strong>und</strong> Gerold Stadler<br />

begegnen sich im Januar 2001. Der Banker<br />

hat die Aufgabe, Sportler als K<strong>und</strong>en zu gewinnen,<br />

<strong>und</strong> reist in diesen Wochen dem<br />

Skizirkus nach. In Cortina d’Ampezzo trifft<br />

er auf die Leaderin des Schweizer Speed-<br />

Teams. Dabei funkt es gehörig, bald schon<br />

ist die Beziehung eng geknüpft. «Er ist<br />

mein Mann fürs Leben», erzählt Rey-Bellet<br />

Corinne Rey-Bellet gewichtet<br />

die Partnerschaft mit Gery bald<br />

höher als Podestplätze.<br />

ihrer Trainerin Marie-Theres Nadig drei<br />

Monate später. Gerold Stadler verlässt für<br />

sie seine langjährige Fre<strong>und</strong>in, mit der er<br />

zuvor Pläne zum Bau eines Hauses geschmiedet<br />

hatte.<br />

Nur ein Jahr nach der Begegnung in<br />

Cortina steigt die Hochzeit. Die Feier im<br />

Mai 2002 – ganz klassisch, sie im weissen<br />

Schleier, er in Smoking <strong>und</strong> Stehkragen –<br />

läutet das Ende ihrer Skikarriere ein. Der<br />

Fahrerin wird die Beziehung mit Gery zusehends<br />

wichtiger als Podestplätze. «Sie<br />

hatte Pläne», sagt Trainerin Nadig, «sie<br />

sprach viel von Kindern, sah die Familie<br />

als etwas Harmonisches <strong>und</strong> wollte nicht<br />

mehr mit dem Zirkus herumreisen, zu weit<br />

weg von diesem Mann.» Am Ende der folgenden<br />

Saison, nach ihrer Silbermedaille<br />

an den Weltmeisterschaften von St. Moritz<br />

im Januar 2003, tritt Rey-Bellet zurück.<br />

Es ist Frühling. Sie zieht zu ihm nach<br />

Abtwil <strong>und</strong> will sich zur Kinesiologin ausbilden<br />

lassen. Corinne Stadler-Rey-Bellet,<br />

wie sie sich nun nennt, soll keine Bedenken<br />

gehabt haben, das Wallis zu verlassen,<br />

im Gegenteil: Laut einem Bekannten war<br />

es ihr ausdrücklicher Wille, im Unterland<br />

FOTO: FRANCESCA AGOSTA/TI-PRES<br />

FACTS 4. Mai 2006


Reines Bündner<br />

Bergquellwasser.<br />

Auch mit Hopfen<br />

<strong>und</strong> Malz.<br />

30 KRIMINALITÄT<br />

Die katholisch geprägte<br />

Idealvorstellung einer Ehe<br />

bleibt lange verbindend.<br />

ges Kostüm», erinnert sich Nadig.<br />

Die Trainerin fand den Draht zu<br />

Rey-Bellet auf Anhieb. Das war wesentlich,<br />

denn Rey-Bellet fühlte<br />

sich immer wieder missverstanden<br />

– von Publikum, Medien, Trainer.<br />

«Sie sagte oft: ‹Weisst du,<br />

Maite, mich versteht man nicht›»,<br />

erinnert sich Nadig, «dabei waren<br />

ihre Signale sehr klar. Wer sie gut<br />

kannte, merkte vieles.»<br />

Wie gut kannte Gerold Stadler<br />

seine Frau? Konnte er ihre Persönlichkeitsstruktur<br />

überhaupt verstehen?<br />

Hier der statusbedachte<br />

Vermögensverwalter, da die Frau<br />

mit Flair für Alternativmedizin –<br />

in den Differenzen steckte wohl<br />

Zündstoff. Doch etwas blieb lange<br />

verbindend: das katholisch geprägte<br />

Ideal einer Ehe, die nicht<br />

enden darf.<br />

Sie wirkte locker <strong>und</strong> fröhlich<br />

Nach aussen wahrt das Paar sehr<br />

lange den Schein. «Seit sie ihr Kind<br />

hatte, erschien Corinne viel entspannter»,<br />

sagt die Präsidentin ihres<br />

Fanklubs, Rose-Marie Durier.<br />

Verborgen blieb, wann die Krise<br />

einsetzte <strong>und</strong> wie heftig sie war.<br />

Noch am 22. April, gut eine Woche<br />

vor ihrem Tod, wirkte Corinne bei<br />

einem Plauschrennen in Les Crosets<br />

locker <strong>und</strong> fröhlich – vielleicht,<br />

weil sie hier schon die Trennung<br />

vollzogen hatte. Sicher ist:<br />

Corinne Rey-Bellet hatte sich den<br />

Entscheid nicht einfach gemacht.<br />

«Sie war keine, die vor Problemen<br />

davonläuft», sagt Nadig.<br />

Am vergangenen Sonntag<br />

bricht Gerold Stadler auf, um seine<br />

Frau im Wallis zur Rückkehr zu<br />

bewegen – ausgestattet mit Argumenten.<br />

Ausgestattet auch mit einer<br />

Schusswaffe. Vielleicht fordert<br />

er Erklärungen. Und Corinne Rey-<br />

Bellet, die sich ihrer Entscheidung<br />

sicher ist, kann ihm keine geben,<br />

die er verstehen würde. <br />

*Gilles Berreau ist Reporter von «Le Nouvelliste»<br />

FOTO: DOMINIK LABHARDT<br />

«Töten ist in uns angelegt»<br />

Der Psychiater Volker Dittmann erklärt, warum<br />

Männer bei Konflikten in der Familie durchdrehen.<br />

FACTS: Wenn eine Familie<br />

ausgelöscht wird, beunruhigt<br />

uns das besonders. Weil wir<br />

fürchten, so etwas könnte auch<br />

bei uns selbst geschehen?<br />

Volker Dittmann: Kategorisch<br />

ausschliessen würde ich<br />

das weder für Sie noch für<br />

mich. Ich kenne zu viele Menschen,<br />

die sich vor ihrer Tat<br />

niemals vorgestellt hätten, dass<br />

sie in der nächsten Minute<br />

jemanden umbringen. Aber wir<br />

müssen unsere Familien<br />

deshalb nicht gleich in Alarmstimmung<br />

versetzen.<br />

FACTS: Weil wir in geordneten<br />

Verhältnissen leben?<br />

Dittmann: Nein. Entscheidend<br />

ist die Persönlichkeitsstruktur<br />

des Täters. Oft ist es<br />

ein unsicherer Mann. Meistens<br />

sind vorher schon Konflikte<br />

aufgebrochen. Sei es, dass die<br />

Frau keine Lust mehr hat, ihm<br />

dauernd Stütze zu sein, sei es,<br />

dass sie eine andere Beziehung<br />

hat. Eine Trennung ist beabsichtigt<br />

oder vollzogen. Oft ist<br />

Alkohol im Spiel; er verstärkt die<br />

Familienproblematik massiv.<br />

«Meist sind vorher<br />

schon Konflikte<br />

aufgebrochen.»<br />

Die Kinder nähern sich bewusst<br />

oder unbewusst immer weiter<br />

der Mutter an. Der Mann fühlt<br />

sich immer mehr isoliert. Seine<br />

besondere Persönlichkeitsstruktur<br />

hindert ihn daran,<br />

ausserhalb der Familie Hilfe zu<br />

suchen. Er würde das als<br />

Schwäche erleben: Ich bin<br />

nicht im Stande, meine Familie<br />

zusammenzuhalten.<br />

FACTS: Es wird langsam eng<br />

um den Täter.<br />

Dittmann: Ja, es wird eng.<br />

Hinzu kommt, dass sich oft<br />

auch ausserhalb der Familie<br />

Probleme zeigen. Am Arbeitsplatz,<br />

wo er nicht mehr sehr gut<br />

arbeitet, könnte er entlassen<br />

werden. Schulden drohen. In<br />

einer solchen Situation kommen<br />

nicht nur narzisstisch<br />

gestörte Männer zur Überzeugung,<br />

sie seien von allen Seiten<br />

eingekreist <strong>und</strong> im Gr<strong>und</strong> habe<br />

alles gar keinen Wert mehr.<br />

FACTS: Ein Gefühl, das viele<br />

kennen. Doch sie bringen nicht<br />

ihre Frau um. Was passiert also<br />

in den Momenten vor der Tat?<br />

Dittmann: Das ist eines der<br />

grossen Rätsel der Psychiatrie.<br />

Obwohl ich mit vielen Mördern<br />

gesprochen habe, kann ich es<br />

nicht beantworten. Und meine<br />

Kollegen auch nicht. Anhand<br />

Tausender Mordfälle kann man<br />

feststellen, dass sich die allermeisten<br />

Mörder noch wenige<br />

Minuten vor der Tat nicht vorstellen<br />

konnten, dass sie so<br />

etwas wirklich tun würden.<br />

FACTS: Beunruhigend.<br />

Dittmann: Ja <strong>und</strong> nein. Die<br />

Fähigkeit, unsere eigenen<br />

Artgenossen zu töten, ist<br />

tatsächlich in uns angelegt. Der<br />

KRIMINALITÄT | SCHWEIZ 31<br />

Volker Dittmann, 54, ist Professor für Forensische Psychiatrie an der<br />

Psychiatrischen Universitätsklinik in Basel <strong>und</strong> einer der bekanntesten<br />

Gerichtsgutachter der Schweiz.<br />

Wunsch ist auch da, immer<br />

wieder. Aber die Tötung eines<br />

Artgenossen ist bei Menschen<br />

ein extrem seltenes Ereignis.<br />

Jedenfalls in Friedenszeiten.<br />

FACTS: Von aussen her kann<br />

man nicht eingreifen?<br />

Dittmann: Als Nachbar zum<br />

Beispiel? Das ist sehr heikel.<br />

Ich weiss gar nicht, was ich<br />

raten soll. Ist es wirklich Zivilcourage,<br />

wenn man bei einem<br />

Streit in der Nachbarswohnung<br />

eingreift? Oder richtet man<br />

damit noch mehr Schaden an?<br />

Das ist sehr, sehr heikel. Ich<br />

glaube, diese Ungewissheit ist<br />

der Preis, den wir für einen weit<br />

gehenden Schutz unserer<br />

Privatsphäre zahlen müssen.<br />

Interview: Hanspeter B<strong>und</strong>i<br />

FACTS 4. Mai 2006


24<br />

Tatort in Grenchen: 18 Zentimeter lange Klinge.<br />

FOTO: BALZ RIGENDINGER<br />

Blut auf der<br />

Lindenstrasse<br />

Ein elfjähriges Kind tötet<br />

den Onkel. Man ahnt Fehde<br />

<strong>und</strong> Blutrache – zu Recht?<br />

Ein elfjähriger Albaner ersticht<br />

mit der Schwester, 16, den Onkel<br />

auf offener Strasse. Damit<br />

musste die Schweiz diese Woche den<br />

jüngsten Täter zur Kenntnis nehmen,<br />

der je an einem Tötungsdelikt beteiligt<br />

war. Nicht nur deswegen wird der Fall<br />

die Öffentlichkeit noch lange beschäftigen:<br />

Er ist auch voller Klischees. Bereits<br />

am Dienstag, als die Polizei über die Tötung<br />

informierte, stellten Journalisten<br />

das Motiv «Blutrache» in den Raum.<br />

Auch Jugendgewalt, ein medialer Dauerbrenner,<br />

bietet sich neu zur Debatte an<br />

genauso wie die Integration von jungen<br />

Ausländern.<br />

Dabei ist wohl nichts anderes passiert,<br />

als dass ein kleiner Bruder seine<br />

Schwester vor einem Mann verteidigen<br />

wollte, den er schon lange hasste.<br />

Es beginnt am Montag Nachmittag<br />

in Grenchen SO. Vor den Augen der Kinder<br />

fuchtelt der Vater mit einer Eisenstange<br />

herum – er bedroht seinen<br />

Schwager, den Onkel der Kinder. Es geht<br />

um Geld. Der arbeitslose Vater steht bei<br />

seinem Schwager offenbar mit Tausenden<br />

Franken in der Kreide.<br />

Der Onkel lässt sich die Drohgebärde<br />

mit der Eisenstange nicht bieten. Er geht<br />

zur Polizei. Diese holt den Vater zu Hause<br />

ab, auch das vor den Augen der Kinder.<br />

Kurz darauf machen sich die Geschwister<br />

auf zum Polizeiposten. Im Gepäck ein<br />

Küchenmesser, 31 Zentimeter lang, 18<br />

Zentimeter Klingenlänge.<br />

Sie warten vor dem Polizeigebäude,<br />

doch ihr Vater kommt nicht, nur ihr Onkel.<br />

Sofort entsteht ein Streit, den eine<br />

Polizeibeamtin schlichtet. Der Onkel<br />

steigt ins Auto <strong>und</strong> fährt los. Fünf Minuten<br />

später <strong>und</strong> einige h<strong>und</strong>ert Meter weiter<br />

bemerkt eine Passantin an der Lindenstrasse<br />

einen Mann, der torkelt <strong>und</strong><br />

schreit. Er kniet vor sein parkiertes Auto,<br />

greift sich mit der Hand zum Rücken <strong>und</strong><br />

zieht ein Messer aus dem Körper. Blut<br />

quillt aus dem M<strong>und</strong>. Der Mann steht<br />

auf, wankt wenige Meter weit <strong>und</strong> bricht<br />

zusammen. Minuten später ist er tot.<br />

«Die Täter vor Rache schützen»<br />

In der Nacht gehen die Kinder erneut zur<br />

Wache, diesmal, um sich zu stellen. Jugendanwalt<br />

Bruno Hug, der sie einvernimmt,<br />

hört Folgendes: Die Kinder seien<br />

dem Onkel zufällig wieder begegnet.<br />

Dieser wollte die 16-Jährige in sein Auto<br />

zerren. Es kam zum Gerangel. Als der Jugendanwalt<br />

am Dienstag die Medien informierte,<br />

wollte er nicht sagen, ob das<br />

Mädchen oder der Knabe zustach. Es war<br />

wohl der Knabe, der seine Schwester verteidigte<br />

– <strong>und</strong> einem Mann ein Messer in<br />

den Rücken rammte, den er durch seinen<br />

Vater zu hassen gelernt hatte. Das Messer<br />

trugen die Geschwister schon Monate<br />

auf sich, aus Angst vor ihrem Onkel.<br />

Blutrache?<br />

Nein. Aber möglich ist vieles. Bruno<br />

Hug sagt: «Die Kinder sind an einem sicheren<br />

Ort. Man muss sie vor Erwachsenen<br />

schützen, die allenfalls Rachegedanken<br />

haben könnten.» Balz Rigendinger<br />

A<br />

7. J u l i 2 0 0 5 FACTS


26 SCHWEIZ | JUSTIZ<br />

kräftigere Gegner keine Chance haben.<br />

Einer, der im entscheidenden Moment explodieren<br />

kann. «Wenn er es beim Boxen<br />

nicht könnte, würde er es irgendwo anders<br />

machen», sagte der Winterthurer Boxtrainer<br />

Reinhard Meier später. Die meisten<br />

Kämpfe gewinnt er durch K. o. Das bringt<br />

ihm im Thaiboxen einen Weltmeistertitel<br />

ein, <strong>und</strong> auch im Boxen könnte er es weit<br />

bringen. Der Boxtrainer Sadik Saglam<br />

sagte vor vier Jahren: «Bashkim ist sehr<br />

gut. Er ist sehr, sehr stark. Bashkim ist für<br />

den Boxsport perfekt.»<br />

Er habe von Natur aus gern geboxt, sagt<br />

die Mutter. Er sei ein Kraftpaket, sagte Alfred<br />

Gut, Fahnder der Winterthurer Stadtpolizei,<br />

im Dokumentarfilm über Bashkim.<br />

«Einen grausamen Hammer hat er<br />

gehabt.» Damals, Jahre vor den tödlichen<br />

Schüssen, sagte er das lächelnd, <strong>und</strong> in<br />

seiner Stimme schwang so etwas wie Bew<strong>und</strong>erung<br />

mit. Doch Gut warnte auch.<br />

Bashkim habe sich nicht im Griff. Er solle<br />

im Ring kämpfen, dort sei es recht, wenn<br />

er ausraste.<br />

Polizist bewusstlos geschlagen<br />

Für Bashkim ist die Trennung zwischen<br />

Ring <strong>und</strong> Strasse nur theoretisch. Egal, ob<br />

ein Ringrichter oder ein Kollege oder<br />

überhaupt niemand neben ihm steht. Er<br />

explodiert. Im Juli 1999 schlägt Bashkim<br />

Berisha mit der Handkante einen Polizeibeamten<br />

bewusstlos, der ihn wegen einer<br />

Falschgeld-Angelegenheit kontrollieren<br />

will. Das ist nicht mehr jugendlicher<br />

Leichtsinn. Das ist ein Verbrechen. Berisha<br />

wird in Untersuchungshaft gesetzt, wo<br />

sein Vater ihn besucht. «Wärest du hier<br />

Seine Delikte werden<br />

mit zunehmendem Alter immer<br />

schwerer <strong>und</strong> gefährlicher.<br />

nicht reingekommen, würdest du nie ein<br />

Mensch werden», sagt der Vater. Er ist ein<br />

feingliedriger Mann mit einem besorgten<br />

Gesicht, einer, der sich seinen Lebensunterhalt<br />

mit Arbeit verdient, die Ordnung<br />

respektiert <strong>und</strong> versucht, im fremden<br />

Bashkim Berisha (4. von l.) mit Familie in Peja, Kosovo: Viel, viel früher einmal Heimat.<br />

Land, das ihm Arbeit gibt, möglichst nicht<br />

anzuecken. So wie fast alle Väter will er,<br />

dass seine Söhne es mit den Regeln ebenso<br />

halten. «Vielleicht dringt jetzt ein für alle<br />

Mal etwas Gutes in deinen Kopf ein», sagt<br />

er seinem Sohn. Es ist der Seufzer eines<br />

Mannes, der den Einfluss auf seinen Sohn<br />

schon verloren hat.<br />

«Es ist auch zu prüfen, ob man bei<br />

jemandem, der da in der Schweiz so dermassen<br />

oft delinquent war, nicht einmal<br />

sagen müsste, jetzt ist genug, jetzt muss<br />

man so jemanden ausweisen», sagt Staatsanwalt<br />

Stierli, der die Anklage führt, <strong>und</strong><br />

fordert für Berisha eine Gefängnisstrafe<br />

von zwei Jahren, dazu einen zehnjährigen<br />

Landesverweis. Das Urteil lautet auf eineinhalb<br />

Jahre Gefängnis <strong>und</strong> zehn Jahre<br />

Landesverweis, beides bedingt. Bashkim<br />

Berisha, dessen Delikte mit zunehmendem<br />

Alter immer schwerer <strong>und</strong> immer<br />

gefährlicher wurden, kann in der Schweiz<br />

bleiben. «Eine allerletzte Chance», sagt<br />

der Richter. Stierli legte Berufung ein, die<br />

später von der Staatsanwaltschaft zurückgezogen<br />

wird. Stierli ist heute noch konsterniert<br />

<strong>und</strong> fragt sich, warum das Migrationsamt<br />

nicht von sich aus tätig wurde,<br />

um Berisha auszuweisen.<br />

Belohnung von 10 000 Franken<br />

Der lässt die «allerletzte Chance» links<br />

liegen. Weitere Schlägereien, einige gerichtsnotorisch,<br />

andere nicht. Fahren ohne<br />

Führerausweis. Im Thaiboxen wird er von<br />

einem Gegner so schwer <strong>und</strong> gezielt am<br />

Knie attackiert, dass er den Sport aufgeben<br />

muss. Aber auch im Ring bekommt er eine<br />

allerletzte Chance.<br />

Reinhard Meier, Präsident des Box<br />

Club Winterthur, vertraut Berishas Beteuerungen,<br />

er wolle sich auf den Sport<br />

konzentrieren, <strong>und</strong> nimmt ihn drei Jahre<br />

später unter Vertrag. «Er ist ein derart begnadeter<br />

Faustkämpfer, dass er jederzeit<br />

mit jedem Gegner fertig geworden wäre»,<br />

sagt Meier in einem Interview bei «10 vor<br />

10».<br />

Doch Berisha lässt auch diese Chance<br />

fahren. Er erschiesst den Mazedonier R. R.<br />

<strong>und</strong> flieht mit seinem Zwillingsbruder.<br />

Bashkim Berisha wird international gesucht.<br />

Für seine Ergreifung hat die Polizei<br />

eine Belohnung von 10000 Franken ausgesetzt.<br />

Bleibt die Frage, ob nicht alles ganz<br />

anders hätte kommen können. Die Antwort<br />

gibt Bashkims Zwillingsbruder B. Er<br />

ist nicht so stark <strong>und</strong> nicht so hübsch wie<br />

Bashkim. Aber er hat in der Schule bessere<br />

Leistungen erbracht, war nie in Raufhändel<br />

verwickelt <strong>und</strong> ging bis vor kurzem<br />

seiner Arbeit nach. Jetzt sind die beiden<br />

miteinander auf der Flucht. Wahrscheinlich<br />

im Kosovo, irgendwo in der Gegend<br />

von Peja, die ihnen viel, viel früher einmal<br />

Heimat war.<br />

Für die Schweiz ist der Fall Bashkim<br />

Berisha damit aller Voraussicht nach erledigt.<br />

Allerdings zum Preis eines Menschenlebens.<br />

<br />

«Bashkim», ein Dokumentarfilm von Vadim Jendreyko,<br />

2001 bei Frenetic Film, Zürich.<br />

FOTO: FRENETIC FILM<br />

FACTS 17. Februar 2005


28 SCHWEIZ | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | SCHWEIZ 29<br />

«Dann habe ich ihn abgestochen»<br />

Ein Berufsunteroffizier der Schweizer Armee tötete mit seinem deutschen Komplizen einen<br />

15-jährigen Jungen. Die beiden Männer planten den Mord bis ins Detail –<br />

<strong>und</strong> führten ihn mit einer beispiellosen Kaltblütigkeit aus. Von Balz Rigendinger <strong>und</strong> Urs Zurlinden<br />

D<br />

ie erste Einvernahme unmittelbar<br />

nach seiner Verhaftung dauerte<br />

keine eineinhalb St<strong>und</strong>en. Dann,<br />

um 18.29 Uhr an jenem Freitagabend des<br />

27. August 2004 im Schloss Thun, war<br />

dem zuständigen Untersuchungsrichter,<br />

der Aktuarin <strong>und</strong> den beiden ebenfalls<br />

anwesenden Kantonspolizisten klar: Die<br />

abscheulichste Version eines Sexualtriebes<br />

muss neu beschrieben werden – als<br />

das Fehlen jeglicher Gefühlsregung.<br />

Ohne irgendwelche Emotionen <strong>und</strong><br />

frei von Anteilnahme beschrieb Rolf H.*,<br />

was knapp sieben Wochen zuvor auf einer<br />

Waldlichtung bei Donauwörth-Wörnitzstein<br />

(D) geschah. «Für mich war klar, dass<br />

wir diesen Jungen umbringen. Dies ist geplant<br />

gewesen», gab er freimütig zu Protokoll.<br />

Und bestätigte umgehend, als ob er<br />

um Anerkennung für eine getane Arbeit<br />

ersuche: «Es war unser Ziel, diesen Jungen<br />

umzubringen, dies war abgesprochen gewesen.»<br />

An Empfindungen mochte sich H.<br />

hingegen kaum erinnern. «Ehrlich gesagt<br />

kann ich nicht mehr sagen, was ich dabei<br />

gefühlt habe», beschied er dem Untersuchungsrichter<br />

<strong>und</strong> sprach von einem<br />

«Black-out». «Anfangs hat es mich ein<br />

bisschen sexuell erregt. Es war aber gar<br />

nichts.» Bei der Schilderung des Tathergangs<br />

fand er zu Sachlichkeit <strong>und</strong> Detailgenauigkeit<br />

zurück: «Der Junge hat ein<br />

bisschen gestrampelt, als wir ihn gewürgt<br />

haben. Nach dem Würgen dachten wir, er<br />

sei tot. Er begann aber wieder zu atmen,<br />

<strong>und</strong> dann habe ich ihn mit dem Bajonett<br />

abgestochen.»<br />

Aus, Ende, Ziel erreicht, Schwamm<br />

drüber, Vergessen erlaubt: «Als er tot<br />

war, liessen wir ihn liegen <strong>und</strong> fuhren davon.<br />

Wir gingen in ein Restaurant, tranken<br />

einen Schnaps. Danach haben wir uns<br />

verabschiedet.»<br />

Jetzt wird sich Rolf H. wieder erinnern<br />

müssen. Für den grausamen, vorsätzlich<br />

geplanten <strong>und</strong> kaltblütig ausgeführten<br />

Mord an einem 15-Jährigen muss er sich<br />

vor Gericht verantworten. Von Mittwoch<br />

bis voraussichtlich Freitag kommender<br />

Woche wird sich das Kreisgericht Thun mit<br />

der bestialischen Tat zweier Extremsadisten<br />

befassen. Das Tötungsdelikt in der Homosexuellenszene<br />

sorgte wiederholt für<br />

mediales Aufsehen. Am 6. August 2004<br />

schaltete die Polizei des bayrischen Landkreises<br />

Dillingen an der Donau die ZDF-<br />

Sendung «Aktenzeichen XY…: ungelöst»<br />

ein, zeigte ein Phantombild des deutschen<br />

Komplizen. Der Schweizer Haupttäter Rolf<br />

H. stand damals noch gar nicht im Fokus.<br />

Und am 25. Juli 2005 wurde H.s Mittäter,<br />

der heute 43-jährige Mathias B*., vom Landgericht<br />

Augsburg verurteilt: Zu lebenslanger<br />

Haft <strong>und</strong> anschliessender Sicherungsverwahrung<br />

– die höchste Strafe, die das<br />

deutsche Recht kennt. «Als der Junge ohnmächtig<br />

war, ging ich weg, hinter das Auto»,<br />

erzählte der arbeitslose B. mit klarer, auffallend<br />

hoher Stimme <strong>und</strong> emotionslos vor<br />

Gericht. «Von dort hörte ich Röcheln <strong>und</strong><br />

das Rascheln von Ästen. Dann kam H. hervor<br />

<strong>und</strong> sagte: ‹Ich hab ihn abgestochen.›»<br />

Einer der Täter <strong>und</strong> das Opfer<br />

Der Deutsche Mathias B. (oben auf einem im Internet veröffentlichten Foto), der Komplize<br />

des Schweizers Rolf H., wurde im Juli 2005 vom Landgericht Augsburg zur Höchststrafe nach<br />

deutschem Recht verurteilt: lebenslange Haft <strong>und</strong> anschliessende Sicherungsverwahrung.<br />

An Mordopfer Murat erinnerten seine Mitschüler unter anderem mit einem Foto <strong>und</strong> Briefen.<br />

FOTO: STEFAN SISULAK/DONAUWOERTHER-ZEITUNG<br />

16. Juli 2004: An diesem Freitag gegen<br />

18.10 Uhr entdecken Reiter in der lichten<br />

Bewaldung vom Enderlesholz bei Donauwörth<br />

die Leiche des seit drei Tagen<br />

von seiner Mutter als vermisst gemeldeten<br />

Murat Yildiz. Der Körper des Hauptschülers,<br />

der sich heimlich in der Homosexuellenszene<br />

anbot, war grausam zugerichtet.<br />

«Die Leiche zeigte Strangulationsspuren<br />

<strong>und</strong> r<strong>und</strong> 30 Messerstiche», hielt<br />

der erste Bericht der Kriminalpolizeiinspektion<br />

Dillingen Donau fest. In einzelne<br />

W<strong>und</strong>en wurde, das ergaben die gerichtsmedizinischen<br />

Untersuchungen, bis zu 14-<br />

mal hineingestochen. Die Anordnung der<br />

Stichw<strong>und</strong>en fiel den Gerichtsmedizinern<br />

auf: In den Körper war ein Kreuz geschlitzt.<br />

Tagelang tappte die 25-köpfige Sonderkommission<br />

der Polizei im Dunkeln. Über<br />

220 Vernehmungen wurden protokolliert,<br />

435 Spuren verfolgt, die sich aus 325 Hinweisen<br />

ergaben. Die Untersuchungsbehörden<br />

werteten 18 Speichelproben aus, um<br />

auszuschliessen, dass eine an der Leiche<br />

gef<strong>und</strong>ene DNA-Spur von einem Angehörigen<br />

stammte. Bis das Phantombild von Mathias<br />

B. endlich auf die Spuren Nr. 44 <strong>und</strong><br />

349 führte: Der Wirt einer Szenekneipe<br />

hatte B. auf dem Foto einer Kontaktanzeige<br />

einer Website für Homosexuelle erkannt.<br />

Ein zerrissener E-Mail-Ausdruck<br />

führte zu Rolf H., der umgehend<br />

ein Geständnis ablegte.<br />

Beweise lagen rasch vor: Im Keller von B.s<br />

Wohnung fand die Polizei Murats Nokia-<br />

Mobiltelefon. Ein zerrissener E-Mail-Ausdruck<br />

führte in die Schweiz, ins Berner<br />

Oberland nach Heimberg bei Thun, zum<br />

Wohnort von Rolf H., der umgehend ein<br />

umfassendes Geständnis ablegte. Die am<br />

Tatort gesicherten Fahrzeugspuren brachten<br />

die Bestätigung: Sie wiesen auf den<br />

Reifentyp Michelin M+S 255/65R16XPC,<br />

auf den Landrover Discovery 2 mit Berner<br />

Kontrollschildern – auf H.s geländetauglichen<br />

Wagen.<br />

«Ich habe bei der Tat nichts gespürt,<br />

weder Leid noch Reue», hatte Rolf H. in den<br />

Voruntersuchungen erklärt. Eine Aussage,<br />

die angesichts des Tathergangs an Kälte<br />

kaum zu übertreffen ist. Montag, 12. Juli<br />

2004 gegen 18 Uhr. Das Wetter im Raum<br />

Bodensee-Süddeutschland ist feucht <strong>und</strong><br />

grau, alles andere als sommerlich fre<strong>und</strong>lich.<br />

Schauerartige Niederschläge <strong>und</strong><br />

Windböen ziehen übers Land, tagsüber<br />

steigen die Temperaturen nicht über 18<br />

Grad, nachts sinds bloss um die 11 Grad.<br />

Via SMS haben Rolf H. <strong>und</strong> Mathias B. einen<br />

Treffpunkt abgemacht: die Pizzeria<br />

«Presto» beim Bahnhof Donauwörth. Zuvor<br />

hatte B. im Internet einen Text platziert:<br />

«Hey alle zusammen, suche net- <br />

FACTS 13. April 2006


30 SCHWEIZ | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | SCHWEIZ 31<br />

tes Live im Raum ND, IN oder A, Don».<br />

Murat meldet sich per Mail auf das Blinddate.<br />

Man wird handelseinig, der 15-jährige<br />

Jüngling ist für je 150 Euro pro Person<br />

sogar bereit zu Sexspielchen mit Würgen<br />

<strong>und</strong> dergleichen.<br />

Rolf verspätet sich, bleibt im Stau<br />

stecken, reist erst gegen 20.30 Uhr an. Im<br />

Kofferraum seines Landrovers führt er diverse<br />

Utensilien mit: Handschuhe aus Latex,<br />

wie sie im OP eines Spitals verwendet<br />

werden, Grösse 8, eine rot-schwarz-weiss<br />

karierte Picknickdecke, eine 30 Meter lange<br />

Wäscheleine, ein weisses Frotteehandtuch,<br />

eine H<strong>und</strong>eleine. Und ein Bajonett,<br />

passend zum Sturmgewehr 57 der Schweizer<br />

Armee. Die Fahrt vom Bahnhof in den<br />

Wald dauert nicht lange, es sind vielleicht<br />

fünf Kilometer. Dort können die Sexspiele<br />

beginnen, auf dem Waldboden, auf der<br />

ausgelegten Decke. Zuerst sanft mit Berührungen,<br />

Streicheln im Genitalbereich, Fesseln<br />

der Hände, leichtem Würgen. Murat<br />

wird im Glauben gelassen, er könne jederzeit<br />

das Ende der sadomasochistischen<br />

Praktiken bestimmen. Originalton H.,<br />

nachzulesen im Einvernahmeprotokoll:<br />

«Mathias packte den Jungen, würgte ihn<br />

immer wieder. Langsam haben wir den<br />

Jungen ausgezogen. Wir zogen ihn während<br />

des ‹Herumspielens› aus. Wir haben<br />

dann gewechselt, <strong>und</strong> ich habe ein bisschen<br />

gewürgt. Ich habe dann fester gewürgt,<br />

<strong>und</strong> ich bin derjenige, der den Jungen<br />

effektiv umgebracht hat.»<br />

Ausgeblendet bleibt in dieser kühlen<br />

Schilderung der grässlichste Teil des tödlichen<br />

Spiels. Von einem «reinen Gemetzel»<br />

sprach die Vorsitzende des Augsburger<br />

Landgerichts. Die beiden Sadisten drücken<br />

immer kräftiger zu. Murat japst nach<br />

Luft, beginnt zu hyperventilieren, drängt<br />

Das Duo hört nicht auf, agiert<br />

wie besessen, will vollbringen,<br />

was ausgemacht war.<br />

gegen 21.30 Uhr, er müsse nach Hause.<br />

Doch das Duo hört nicht auf, agiert wie besessen,<br />

will vollbringen, was ausgemacht<br />

war. Erneut schleppen sie ihr Opfer hinter<br />

das Auto, legen ihm Handschellen an.<br />

Dann packt Rolf H. von hinten zu, legt seinen<br />

rechten Arm um Murats Hals, nimmt<br />

ihn in den Schwitzkasten, drückt. Murat<br />

fällt zu Boden, wehrt sich, strampelt wild.<br />

Mathias hält die zappelnden Beine fest, minutenlang,<br />

bis der Junge ohnmächtig wird.<br />

Er kommt wieder zu sich, beginnt zu stöhnen,<br />

wird von Rolf wieder <strong>und</strong> wieder gewürgt,<br />

mit blossen Händen, dann mit einem<br />

Holzstock direkt auf den Kehlkopf<br />

pressend. Bis zur Bewusstlosigkeit, aber<br />

nicht bis zum Tod. «Ich hab ihm das T-Shirt<br />

in den M<strong>und</strong> gestopft, damit er nicht so laut<br />

schreit», beschreibt er in der Einvernahme<br />

den Todeskampf. Auch die um den Hals zugezogene<br />

H<strong>und</strong>eleine führt nicht zum Ende.<br />

Mit Atemgeräuschen gibt Murat zu erkennen:<br />

Noch lebt er. Da dreht Rolf H. vollends<br />

durch, greift nach dem Bajonett im<br />

Kofferraum, sticht zu, immer <strong>und</strong> immer<br />

wieder, durch den M<strong>und</strong> in den Rachen,<br />

von oben nach unten, vom Hals bis zum<br />

Genitalbereich. Bis nach einem Stich in die<br />

Seite des gesch<strong>und</strong>enen Körpers, kaum<br />

hörbar, ein letztes Luftgeräusch entweicht.<br />

Kann ein Mensch, ohne Hass, allein um<br />

seiner Fantasien willen, so brutal sein? Wie<br />

weit muss sich jemand von der Realität entfernen,<br />

um so gar nichts zu empfinden? Keine<br />

Abscheu, keine Erregung, kein Mitleid,<br />

nichts. «Er kann kein menschliches Leben<br />

schätzen», sagte die Augsburger Gerichtspräsidentin<br />

über den Mittäter Mathias B..<br />

Eine falsche Fährte gelegt<br />

Was folgte, hätten Profikiller wohl ebenso<br />

gemacht. Mit den Autoscheinwerfern wird<br />

das Waldstück sorgfältig nach übersehenen<br />

Kleidungsstücken <strong>und</strong> verräterischen<br />

Gegenständen abgesucht. Im Restaurant<br />

«Jägerburg» im benachbarten Tapfheim<br />

gibts den Schnaps, um 22.45 trennen<br />

sich die beiden. Rolf H. fährt nach Güntsburg<br />

zur Autobahnraststätte Leipheim, ins<br />

Rastplatzhotel, das er von früheren Fahrten<br />

kennt, trifft dort um etwa 23.30 Uhr ein,<br />

legt sich schlafen. Die Tat habe ihn im<br />

Nachhinein auch nicht belastet, sollte H.<br />

später vor dem Haftgericht festhalten. Anderntags<br />

reist er nach Hause, nach Heimberg,<br />

freie Sicht auf die Berner Alpen. Allerdings<br />

wählt er nicht den direkten Weg in die<br />

«Mehr Zeit, ihn zu killen»<br />

Der in Thun angeklagte Schweizer Rolf H. (Foto) <strong>und</strong><br />

sein deutscher Komplize Mathias B. schickten sich<br />

vor dem Mord am 15-jährigen Murat zahlreiche<br />

E-Mails. Darin malten sich die beiden Männer<br />

die Details der geplanten Bluttat aus.<br />

heimische Sicherheit, sondern fährt über<br />

Garmisch-Partenkirchen, wo er auf einem<br />

Parkplatz die mitgeführten Kleider von<br />

Murat deponiert, eine falsche Fährte legt.<br />

In den folgenden Tagen tauschen die<br />

beiden Extremsadisten in Mails ihre Eindrücke<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen aus <strong>und</strong> schmieden<br />

neue Mordpläne, weil B. jammert, er<br />

habe «zu wenig von der Tat an Murat gehabt».<br />

Er wolle selbst Hand anlegen. «Die<br />

Krönung des Ganzen war», so die Augsburger<br />

Gerichtsvorsitzende in ihrer Urteilsbegründung,<br />

«dass man immer noch<br />

nicht genug hatte.» Und zur Gemütslage<br />

des Angeklagten Mathias B., der sich<br />

während des Prozesses herausreden <strong>und</strong><br />

die Schuld auf seinen Schweizer Komplizen<br />

H. abwälzen wollte, hielt die Richterin<br />

fest: «Irgendwelche menschlichen Gefühle<br />

scheinen dem Angeklagten fremd zu sein.»<br />

Und Rolf H.? In seinem Lebenslauf<br />

finden sich keine klaren Hinweise, dass er<br />

zum brutalen Sexualmörder werden sollte.<br />

«Ges<strong>und</strong>heitlich geht es mir gut. Ich fühle<br />

mich fit», sagte er zu Beginn der Einvernahme<br />

auf dem Thuner Schlossberg.<br />

Aufgewachsen ist Rolf H., geboren am<br />

5. November 1971, in Winterthur. Ohne<br />

wirklich glückliche Kindheit zwar, aber<br />

auch ohne aufzufallen. Der Vater, ein eher<br />

zurückgezogener Mensch, Betriebsdisponent<br />

bei den SBB, stritt viel mit der Mutter.<br />

Trennung von der Familie, nach sieben<br />

Jahren die Scheidung. Die Mutter, gelernte<br />

Coiffeuse, arbeitete dann bei der Post <strong>und</strong><br />

nahm Pflegekinder in das zu grosse 9-Zimmer-Haus<br />

auf, später auch ältere psychisch<br />

kranke Menschen, weswegen wenig Zeit<br />

für den eigenen Buben blieb. Die Schwester<br />

hatte wenig Kontakt zu ihrem zwei<br />

Jahre jüngeren Bruder Rolf – normal.<br />

Maler, Nachtwächter, Berufsmilitär<br />

Bei den Wölfli <strong>und</strong> Pfadfindern machte er<br />

mit, bei den Verkehrskadetten, stieg dort<br />

zum Materialverwalter auf. Es folgte eine<br />

Lehre als Maler, sein treuester Fre<strong>und</strong> war<br />

ein Belgischer Schäferh<strong>und</strong>, ein «Angstbeisser»,<br />

den er deswegen abtun musste.<br />

Rolf ging zur Securitas nach Zürich <strong>und</strong><br />

jobbte als Nachtwächter. Gleichzeitig stieg<br />

er in diversen WKs vom Korporal zum<br />

Technischen Feldweibel auf. Ab 2002 liess<br />

er sich von der Armee anstellen, zuerst<br />

als Zeitmilitär in der Kaserne Jassbach,<br />

schaffte dann die Prüfung zum Berufsmilitäraspiranten,<br />

liess sich in Herisau<br />

zum Berufsunteroffizier ausbilden, Anfangslohn<br />

65000 Franken im Jahr,<br />

schliesslich 68000 plus Spesen <strong>und</strong> ein<br />

Opel Astra Combi.<br />

Sexualität war im Hause H. kein Thema.<br />

Mit zehn Jahren onaniert Rolf im


32 SCHWEIZ | JUSTIZ<br />

Online gef<strong>und</strong>en, real getötet<br />

Menschen mit den abstrusesten Fantasien kommunizieren im<br />

Internet. Schreiten sie zur Tat, sind sie oft voll zurechnungsfähig.<br />

Auf der Suche nach Männern<br />

trat Murat Yildiz in einschlägigen<br />

Foren unter dem Namen «teenix»<br />

auf. Er betrieb auch eine gleichnamige<br />

Webseite. Sie ist noch immer<br />

online. Bekannte <strong>und</strong> Familie machten<br />

sie nach seinem Tod zur Gedenkseite.<br />

Ins Gästebuch der Homepage<br />

schrieb Mörder Mathias B. kurz nach<br />

seiner Verurteilung: «Ich möchte<br />

mich nicht dafür entschuldigen, was<br />

Armin Meiwes: Fand im Internet<br />

einen Mann, den er verspeisen sollte.<br />

mit Murat passiert ist, ich gestehe<br />

meine Schuld ein, dass ich Murat<br />

mit Rolf H. zusammengebracht habe.<br />

Ich bin aber nicht schuldig, dass<br />

Murat getötet wurde, der wahre<br />

Schuldige ist Rolf H.!»<br />

Noch derbere Geschmacklosigkeiten<br />

verbreitete Mathias B. schon<br />

vor dem Mord im Internet. Seine offen<br />

geäusserten sadistischen Fantasien<br />

brachten die Polizei schliesslich<br />

auf seine Spur. «Das Internet spielt<br />

bei solchen Tätern die Rolle des Tatauslösers»,<br />

sagt Gerichtspsychiater<br />

Frank Urbaniok, «es kann Täter zusammenführen,<br />

die sich sonst nicht<br />

finden <strong>und</strong> die allein nicht zwingend<br />

zur Tat schreiten würden.»<br />

Den Fall eines andern mutmasslichen<br />

Extremsadisten wird das<br />

Berner Kreisgericht IV in Aarwangen<br />

noch diesen Monat beurteilen.<br />

Der Angeschuldigte hatte in einem<br />

SMS-Chat Frauen gesucht, die sich<br />

Die Staatsanwaltschaft<br />

will eine Verurteilung von<br />

Meiwes wegen Mordes.<br />

von ihm enthaupten oder auf diverse<br />

Arten hätten hinrichten lassen wollen.<br />

Treffen wurden zwar vereinbart,<br />

aber ausgeführt hat der auch wegen<br />

Pornografie <strong>und</strong> Gewaltdarstellungen<br />

Angeklagte die Taten nie. Jetzt<br />

wird er sich wegen strafbarer Vorbereitungshandlungen<br />

zur Tötung<br />

verantworten müssen.<br />

Vorbereitungshandlungen hatte<br />

auch der Deutsche Armin Meiwes<br />

vorgenommen; später wurde er als<br />

der «Kannibale von Rotenburg» bekannt.<br />

Unter den 430 Internet-Bekanntschaften,<br />

die Meiwes in Kannibalen-Foren<br />

kontaktiert hatte, fand<br />

er ein Opfer, das geschlachtet <strong>und</strong><br />

verspeist werden wollte. «Ich hoffe,<br />

du meinst es ernst, weil ich es<br />

wirklich will», schrieb Meiwes-Opfer<br />

Jürgen Brandes seinem späteren<br />

Schlächter. Aus der Einwilligung des<br />

Opfers zur Bluttat vom März 2001<br />

leitete Meiwes zunächst ab, dass<br />

es sich bei der Tat nicht um Mord,<br />

sondern um Tötung auf Verlangen<br />

handelte. Das Urteil lautete auf achteinhalb<br />

Jahre für Totschlag.<br />

Doch der Prozess ist jetzt in Revision,<br />

ein neues Urteil wird für den<br />

9. Mai erwartet. Die Staatsanwaltschaft<br />

will eine Verurteilung wegen<br />

Mordes. Es geht um die Frage, ob der<br />

als voll zurechnungsfähig geltende<br />

Meiwes nicht an der Zurechnungsfähigkeit<br />

seines Opfers hätte zweifeln<br />

müssen. Als zurechnungsfähig<br />

gelten auch die Täter im Fall um<br />

Murat – so krank ihre Seelen erscheinen<br />

mögen. «Abstruse Fantasien<br />

allein sind noch kein Gr<strong>und</strong>,<br />

Täter nicht als zurechnungsfähig zu<br />

beurteilen», sagt Gerichtspsychiater<br />

Urbaniok.<br />

Wohnzimmer erstmals, ab 1993, in der<br />

eigenen Wohnung, leiht er regelmässig<br />

Videos aus, irgendwann auch Filme mit<br />

Gewaltszenen. Im Netz knüpft er Kontakte<br />

zu Strichern, das Internet liefert ihm die<br />

Bestätigung, dass er mit seinen perversen<br />

Fantasien nicht allein ist. «Eine feste Beziehung<br />

hatte ich noch nie», sagt Rolf H., nur<br />

«Eintagsfliegen». Er habe schon «fast<br />

ewig solche Fantasien» gehabt, gab er in<br />

den Einvernahmen zu bedenken. Die seien<br />

«wie Schübe» gekommen. Vor allem<br />

Schussverletzungen reizten ihn, <strong>und</strong> wenn<br />

er ein Messer in einem Körper stecken sehe.<br />

Tatsächlich fand die Polizei in H.s Wohnung<br />

einige tausend aus dem Internet heruntergeladene<br />

Bilder, die gestellte Todesszenen<br />

von Knaben <strong>und</strong> jungen Männern<br />

darstellten. Zum Beispiel das Bild jenes<br />

zwölfjährigen Buben in schwarzer Badehose,<br />

dem H. drei rote Punkte auf den<br />

Oberkörper malte – Schussw<strong>und</strong>en.<br />

Auch Mathias B. steht auf extremen<br />

Brutalo für den ultimativen Kick. «Würger<br />

gesucht. Ich stehe auf Würgen <strong>und</strong> Strangulieren,<br />

auch bis zur Bewusstlosigkeit»,<br />

schreibt er in ein Internetforum für<br />

Schwule. Ende Juni 2004 meldet sich Rolf<br />

H. aus Heimberg. Man versteht sich rasch.<br />

«Wollen wir uns mal so nen Bengel schnappen<br />

<strong>und</strong> es mit ihm treiben?», schreibt B.<br />

am frühen Nachmittag des 2. Juli an seinen<br />

Gesinnungskumpel in der Schweiz, «ich<br />

meine damit, wollen wir ihn würgen <strong>und</strong><br />

Schussverletzungen reizten ihn,<br />

<strong>und</strong> wenn er ein Messer<br />

in einem Körper stecken sah.<br />

strangulieren?» Die Antwort kommt postwendend.<br />

«Da wäre ich sofort dabei. Den<br />

richtig würgen wäre geil, bis er sich nicht<br />

mehr regt», mailt H. zurück, «was würdest<br />

du dann mit dem tun?» Und nur Minuten<br />

später schildert wiederum ein nun vollends<br />

aufgeheizter Rolf H. szenisch präzis:<br />

«Wird immer geiler mit dir …, mein Traum<br />

ist es, mal so einen aufzuschlitzen, wenn<br />

er schon ohnmächtig ist. Ihn aber vorher<br />

noch zu missbrauchen, wie du es dir vorstellst.<br />

Bin ich dir zu krass?»<br />

Was so im Internet begann, endete<br />

genau zehn Tage später in der schier <strong>und</strong>enkbaren<br />

Tat – im Mord an Murat Yildiz,<br />

geboren 1989, im Enderlesholz bei<br />

Donauwörth-Wörnitzstein.<br />

<br />

* der Redaktion bekannt.<br />

FOTO: MICHAEL PROBST/AP/KEYSTONE<br />

FACTS 13. April 2006


22 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

Nachts kommt die Ohnmacht<br />

In der Nordwestschweiz quält ein Mann jeden zweiten Tag ein Tier. Die Bauern wollen seinen<br />

Tod. Die Polizei jagte lange den Falschen. Erst jetzt sind die Fahnder dem Ritzer auf<br />

der Spur – sie wissen endlich, wie er tickt. Von Monica Fahmy, Balz Rigendinger (Text) <strong>und</strong> Stefan Walter (Fotos)<br />

A<br />

uf dem Hof, wo alles begann,<br />

will man ihn tot<br />

sehen. Tot machen. Und<br />

dann verscharren. Niemand werde<br />

ihn vermissen. «Einfach zum Verschwinden<br />

bringen», sagt der Bauer,<br />

«dann ist wieder Ruhe. Vorher<br />

nicht.» Der Bauer will anonym bleiben.<br />

Er hat starke Arme, <strong>und</strong> auf<br />

seinen Wangen klebt Feldstaub,<br />

der vermischt mit Schweiss herunterrinnt.<br />

Es ist dreissig Grad, das<br />

Heu wird eingebracht.<br />

Die Stimme des Landwirts aus<br />

Schönenbuch BL klingt so unerschütterlich,<br />

wie er selbst dasteht:<br />

vor seinem Traktor, breitbeinig,<br />

die Füsse in Wanderschuhen, über<br />

dem grünen «Landi»-Leibchen die<br />

verschränkten Arme. «Der Schänder<br />

soll nur kommen. Es ist sein<br />

Todesurteil.» Der rostbraune<br />

Schnurrbart bewegt sich keinen<br />

Millimeter.<br />

Sie nennen ihn auch Ritzer, Irrer,<br />

Psychopath. Alles, was sie von<br />

ihm wissen, ist: Er muss Tiere hassen.<br />

Er ritzt Kühe, Pferde, Schafe;<br />

er köpft Katzen <strong>und</strong> Lämmer. In zehn Wochen<br />

trat er dreissig Mal in Erscheinung,<br />

<strong>und</strong> auf dem Hof, wo alles begann, zeigte er<br />

gleich seine ganze Brutalität: Er stach einer<br />

Kuh in das Euter. Das war im September<br />

2004.<br />

Krisensitzung im «Frohsinn»<br />

In diesen Tagen treffen sich von Basel bis<br />

Bettlach, vom Rhein bis tief ins Mittelland<br />

Landwirte zu Krisensitzungen, etwa im<br />

Restaurant «Frohsinn» in Himmelried SO.<br />

Sie sitzen zusammen bis knapp vor Mitternacht<br />

– aber was können sie eigentlich tun?<br />

Sie können nur warten <strong>und</strong> wachsam sein.<br />

Nachts patrouillieren Polizisten in Zivilkleidung<br />

<strong>und</strong> in zivilen Autos über die<br />

Weg zum Tatort: Den Fahndern fehlen Resultate.<br />

Strassen <strong>und</strong> Wege des Nordwestschweizer<br />

Krisengebiets. Verdachtsmeldungen<br />

treffen im St<strong>und</strong>entakt ein. Die Schweiz<br />

erlebt die grösste Serie von Tierschändungen,<br />

die je publik wurde. Bloss: Den Fahndern<br />

aus drei Kantonen fehlen die Resultate.<br />

Immer noch. Und es fehlt ihnen an Wissen,<br />

an einschlägiger Erfahrung; der seriell<br />

agierende Tierquäler ist noch wenig erforscht,<br />

die Kriminologie wandte sich ihm<br />

erst vor kurzem zu. Man weiss zwar, dass<br />

Serien von Tierquälereien Mord- <strong>und</strong> Vergewaltigungsserien<br />

ähneln. Aber das ist<br />

nicht viel – auch deshalb ist es eine Jagd<br />

nach einem Phantom.<br />

Die Bevölkerung ist aufgebracht, nicht<br />

bloss Bauern machen kaum mehr einen<br />

Unterschied zwischen Tierquälern<br />

<strong>und</strong> Kapitalverbrechern. Bei einer<br />

Erhebung in Deutschland forderten<br />

die Befragten nur unwesentlich<br />

tiefere Strafen für Tierquäler als<br />

für Vergewaltiger, Kinderschänder<br />

oder Mörder. Einer, der Tieren etwas<br />

antut, vergreift sich an einem<br />

Symbol der Unschuld. Und er wirft<br />

auch die eine Frage auf, welche die<br />

Schweiz seit Wochen beschäftigt:<br />

Wie kann ein Mensch so grausam<br />

sein?<br />

Wie ein Pferdeflüsterer<br />

Wer der langen Spur des Ritzers<br />

folgt, wird am Ende einen Mann<br />

der Widersprüche ausmachen. Einen<br />

Mann, der meist kühl kalkulierend<br />

vorgeht, manchmal aber auch<br />

scheinbar chaotisch. Der Tiere zu<br />

behandeln weiss wie ein Pferdeflüsterer<br />

– nur um sie dann zu<br />

malträtieren. Der bei aller Unberechenbarkeit<br />

auch furchtbar banal<br />

agiert. Am Ende der langen Spur<br />

verfestigt sich das dunkle Bild eines<br />

Mannes, der vielleicht sogar gegen<br />

den Blutrausch, der ihn antreibt, anzukämpfen<br />

versucht.<br />

Auf dem Hof in Schönenbuch BL, dort<br />

wo alles beginnt, verenden kurz nach dem<br />

Vorfall mit dem aufgeschnittenen Euter<br />

zwei Schweine <strong>und</strong> eine Katze. Die toten<br />

Tiere weisen keine W<strong>und</strong>en auf. «Ich habe<br />

mir nicht viel dabei gedacht, es gibt immer<br />

Neider, die einem vielleicht Tiere vergiften»,<br />

sagt der Bauer heute. Er entsorgte die<br />

Kadaver. Eine Bedeutung sollen die Tierleichen<br />

erst später erhalten – es ist möglich,<br />

dass der Ritzer im September 2004 an den<br />

Schweinen <strong>und</strong> der Katze, an Tieren von<br />

unterschiedlichem Gewicht, mit Betäubungsmitteln<br />

experimentierte. Mittlerweile<br />

vermuten Bauern <strong>und</strong> Tierärzte, <br />

Marianne Stebler: Auf ihrem Reiterhof Sonnenfeld verletzt der Ritzer am 26. Mai eine Stute.<br />

FACTS 4. August 2005<br />

4. August 2005 FACTS


24 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

dass der Ritzer seine Opfer jeweils betäubt,<br />

wehrlos macht, um sie ungestört quälen zu<br />

können.<br />

Nach Schönenbuch herrscht acht Monate<br />

lang Ruhe. Der Ritzer scheint seinen<br />

perversen Trieb kontrollieren zu können.<br />

Dann aber, zwischen Sonntag, 22. Mai<br />

<strong>und</strong> Montag, 23. Mai suchte der Ritzer eine<br />

Pferdeweide in der Laufentaler Gemeinde<br />

Nenzlingen heim. Zwei Tage später bittet<br />

ein Pferdehalter aus Muttenz BL den Tierarzt<br />

um Hilfe. Dessen Diagnose: Die Stute<br />

«Sulamith» wurde mit «einem scharfen Gegenstand,<br />

eventuell einem Messer, am linken<br />

Vorderbein verletzt». Und dann heisst<br />

es noch in der Polizeimeldung, das Tier sei<br />

«im Genitalbereich mit Stichverletzungen<br />

misshandelt» worden.<br />

In der Anzeige gegen Unbekannt, die<br />

der Tierarzt erstattete, steht: Als der Pferdehalter,<br />

ein 66-jähriger Allgemeinmediziner<br />

aus Muttenz, am Montagmorgen seine<br />

Pferde füttern wollte, bemerkte er, dass<br />

«Sulamith» verletzt ist. Er brachte das<br />

Pferd nach Muttenz, «wo er es selber zu<br />

verarzten versuchte. Am 25. Mai zog er<br />

schliesslich den Tierarzt bei, welcher die<br />

Stute tierärztlich behandelte <strong>und</strong> um 14.27<br />

Uhr die Polizei anvisierte.»<br />

Scharfe Kritik an der Polizei<br />

Nenzlingen BL. Ein Traktor keucht den kiesigen<br />

Feldweg zum Dorf hinauf. Die Pferdeweide<br />

«Mühlerain» liegt in einer Mulde;<br />

kein Ort, den man im Vorbeigehen findet.<br />

Eine Anwohnerin sagt: «Nur einmal am<br />

Tag kommt jemand vorbei.» Es ist der Pferdehalter<br />

oder seine ledige Schwester. In einem<br />

verwitterten Bretterverschlag stehen<br />

zwei Pferde, eine weisse Stute <strong>und</strong> ein<br />

brauner Hengst. Sie sind abgemagert, ihr<br />

Fell ist stumpf. Dem Tierschutzbeauftragten<br />

beider Basel ist der Rösseler, ein ehemaliger<br />

Train-Soldat, ein Dorn im Auge.<br />

Der Mann würde seine Tiere schon lange<br />

vernachlässigen, sagte der Tierschützer<br />

gegenüber Tele Basel.<br />

Der Ritzer erkürt die ohnehin vernachlässigte<br />

«Sulamith» zu seinem ersten Opfer<br />

in diesem Jahr. Er muss von der Schnellstrasse<br />

Basel–Delémont Richtung Nenzlingen<br />

abgebogen sein. Fährt dann bergwärts,<br />

durchs Dorf, um in ein Strässchen<br />

einzubiegen. Über einen Feldweg gelangt<br />

er an einem Fahrverbotsschild zum<br />

«Mühlerain». Dort endet der Weg. In das<br />

Gebiet fährt niemand ohne Absicht – es ist<br />

so abgelegen, dass sich auch die Polizei<br />

nicht dorthin verirrte: Die Anwohnerin ist<br />

nie von Beamten befragt worden.<br />

Nicht nur deshalb steht die Polizei heute<br />

in scharfer Kritik. «Es wurde viel zu lange<br />

gepfuscht», sagt Antoine F. Goetschel, Geschäftsleiter<br />

der Stiftung Tier im Recht.<br />

«Und die offenbar ungenügende Spurensicherung<br />

zeigt, dass die Ermittlungen monatelang<br />

von der Haltung geprägt waren,<br />

es gehe ja bloss um ein paar Tiere.»<br />

«Es wurde zu lange gepfuscht»,<br />

sagt Antoine F. Goetschel<br />

von der Stiftung Tier im Recht.<br />

Eine Lanze? Oder ein Skalpell?<br />

Zullwil SO. «Er muss uns vorher beobachtet<br />

haben», sagt Marianne Stebler. Die 31-<br />

jährige Frau mit den kurzen roten Haaren<br />

<strong>und</strong> den blauen Augen lebt mit ihrer Familie<br />

auf dem Reiterhof Sonnenfeld. Im Nike-<br />

Top <strong>und</strong> in Dreiviertelhosen sitzt sie an<br />

einem Holztisch <strong>und</strong> erzählt vom Ritzer –<br />

zweimal hat er auf ihrem Gestüt zugeschlagen.<br />

«Nach meinen vier Kontrollgängen<br />

konnte man die Uhr stellen. Ich machte sie<br />

immer zur selben St<strong>und</strong>e.» Die Zeit zwischen<br />

zwei R<strong>und</strong>gängen nutzt der Ritzer,<br />

um am Nachmittag des 26. Mai die Stute<br />

«Valessia» am Genitale zu verletzen. Da es<br />

geschehen kann, dass ein Pferd sich an Büschen<br />

oder an Zäunen selber verletzt,<br />

«dachten wir uns zuerst noch nichts dabei»,<br />

sagt Stebler.<br />

Doch vier Tage später kehrt der Ritzer<br />

zurück <strong>und</strong> schneidet den Wallach «Paddy»<br />

ins linke Hinterbein. Da alarmiert der<br />

zugezogene Tierarzt die Polizei. Diesmal<br />

suchen die Beamten die Weiden ab – aber<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

Saisonale Schwankungen<br />

Anzahl verletzte oder getötete<br />

Tiere in Deutschland (Jahresdurchschnitt<br />

1993 bis 1999)<br />

Monat<br />

0<br />

J F M A M J J A S O N D<br />

Quelle: Dissertation Stupperich FACTS-Grafik<br />

sie finden nichts. «Paddy» stirbt nach der<br />

Behandlung durch den Tierarzt – als der<br />

Wallach aus der Narkose erwacht, reagiert<br />

er panisch, bricht sich einen Lauf <strong>und</strong><br />

muss eingeschläfert werden.<br />

Auch Stebler glaubt, dass der Ritzer die<br />

Tiere betäubt oder dass er zumindest viel<br />

von Pferden versteht. «Sonst hätte unser<br />

‹Paddy› ihn nie so nahe herangelassen.»<br />

Sie erfuhr von der Polizei, dass der Ritzer<br />

eine zweischneidige Waffe verwendet, eine<br />

Lanze oder ein Skalpell. Und sie zog<br />

Konsequenzen: «Tagsüber sind wir ständig<br />

auf Patrouille, <strong>und</strong> nachts wachen die<br />

H<strong>und</strong>e.»<br />

Am 3. Juni wird der Ritzer wieder von<br />

seiner eigentlichen Obsession gepackt.<br />

Am helllichten Tag schneidet er der Kuh<br />

«Babette» in eine Zitze. Er tut dies wieder in<br />

Schönenbuch, auf dem Hof, wo alles begann.<br />

In ihrer Mitteilung bittet die Polizei<br />

nun «alle Tierhalter nochmals um erhöhte<br />

Aufmerksamkeit».<br />

Am Samstag, den 11. Juni sticht er in<br />

Möhlin AG einer Kuh in die Schulter,<br />

dann zerlegt er in Bottmingen BL eine<br />

schwarze Katze. Am Sonntag ritzt er in<br />

Hemmiken BL eine Kuh. Die Polizei sucht<br />

weiter Zeugen.<br />

Der Kanton Baselland setzt 5000 Franken<br />

Belohnung aus, Kopfgeld für Hinweise,<br />

die zur Ergreifung des Ritzers führen.<br />

Gesucht: Wartburg Kombi<br />

Weshalb die Katze? Das Büsi, das erst am<br />

Sonntagmittag im Garten eines Einfamilienhauses<br />

ohne Kopf <strong>und</strong> Schwanz gef<strong>und</strong>en<br />

wird, will auf den ersten Blick nicht ins<br />

Tatmuster passen. Es sieht danach aus, als<br />

ob der Ritzer dieses Mal seine Untat nicht<br />

sorgfältig plante, als ob er in einem Ausbruch<br />

von Brutalität unkontrolliert handelte.<br />

Denn es genügte ihm nicht, die Katze<br />

zu quälen. Er wollte sie vernichten. Und<br />

ihren abgetrennten Kopf nahm er sich als<br />

Trophäe.<br />

Arisdorf BL. Der Ritzer überschreitet<br />

eine weitere Grenze. Er schneidet einem<br />

Rind zwanzig Mal in Beine, Bauch <strong>und</strong><br />

Schwanz, vier Tage nach der Katze. Bauer<br />

Hans Häring erinnert sich: «Das Rindli war<br />

nach der Tat kein bisschen scheu. Vielleicht<br />

hat es den Schmerz gar nicht gemerkt,<br />

weil es betäubt war.» Am selben Tag<br />

trennt der Schänder in Gipf-Oberfrick AG<br />

einer Kuh die Schwanzquaste ab <strong>und</strong><br />

nimmt sie mit. Wieder vier Tage später verletzt<br />

er eine Kuh in Hemmiken BL am <br />

Bauer Hans Häring mit seinem Sohn: Auf ihrem Hof schneidet der Ritzer am 15. Juni einem Rind zwanzig Mal in Beine, Bauch <strong>und</strong> Schwanz.<br />

FACTS 4. August 2005<br />

4. August 2005 FACTS


26 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

Qual ohne Kampf?<br />

Es ist nicht so leicht, Kühe<br />

zu ritzen. Vielleicht hat der<br />

Peiniger die Tiere betäubt.<br />

Lautes Aufbrüllen, hastiges Röcheln<br />

<strong>und</strong> ein Fluchtversuch — so müssen die<br />

Kühe wohl reagiert haben, als ihnen<br />

der Tierquäler ins Fleisch schnitt.<br />

Säugetiere nehmen Schmerzen gleich<br />

wahr wie Menschen, sagt Peter<br />

Kronen vom Tierspital Bern. «Was<br />

uns weh tut, tut auch dem Tier weh»,<br />

sagt der Anästhesiologe. Lange Zeit<br />

wurden Tiere unbetäubt operiert, da<br />

gute Betäubungsmethoden fehlten,<br />

<strong>und</strong> man glaubte, dass sie nicht unter<br />

den Schmerzen litten.<br />

Heute weiss man, dass Säugetiere<br />

physiologisch wie Menschen<br />

reagieren: Atmung <strong>und</strong> Herzschlag<br />

beschleunigen sich, der Blutdruck<br />

schiesst in die Höhe. Das verengt die<br />

Schnitt ins<br />

Euter:<br />

Geschändete<br />

Kuh in<br />

Seltisberg,<br />

Juni 2005.<br />

Gefässe, um den Blutverlust gering<br />

zu halten. Viel Blut muss geflossen<br />

sein, als der Tierquäler den Kühen ins<br />

gut durchblutete Euter schnitt. Sind<br />

Kühe sehr schwer verletzt, kann<br />

sogar ihr Kreislauf kollabieren.<br />

Das Verhalten des Tiers verrät<br />

dem Kenner, ob es leidet. Die Kühe,<br />

Pferde <strong>und</strong> Schafe werden versucht<br />

haben, ihrem Peiniger zu entfliehen.<br />

«Ein Pferd wirft den Kopf hoch <strong>und</strong><br />

schlägt aus», sagt Kronen. Kühe<br />

versuchen etwas weniger temperamentvoll,<br />

sich der Pein zu entziehen.<br />

Wie der Tierquäler die Genitalien der<br />

Tiere zerstümmeln konnte, ist Kronen<br />

schleierhaft. «Es ist nicht so einfach,<br />

an die Kühe heranzukommen», sagt<br />

er. «Ohne starke Betäubung<br />

scheint mir das unmöglich.» bk<br />

Euter <strong>und</strong> tags darauf eine Kuh in Seltisberg<br />

BL – das elfte Opfer in einem Monat.<br />

Der Druck auf die Ermittler wächst.<br />

Tierfre<strong>und</strong>e erhöhen das Kopfgeld auf<br />

6100 Franken. Nach DNA-Spuren des Ritzers<br />

oder auch nach Sperma hat die Polizei<br />

bislang nicht gesucht. Die getöteten Tiere<br />

sind entsorgt, verbrannt.<br />

Am 22. Juni sprechen die Fahnder erstmals<br />

von einer Tatserie <strong>und</strong> veröffentlichen<br />

einen Fahndungsaufruf. «Gesucht<br />

wird: ein Personenwagen des Typs Wartburg<br />

Kombi mit vermutlich deutschen<br />

Kontrollschildern, beginnend mit ASL (für<br />

Aschersleben).» Die Polizei publiziert zwei<br />

Fotos eines solchen Fahrzeugs <strong>und</strong> hängt<br />

Bilder bei Tankstellen in der Nordwestschweiz<br />

auf. Aber weshalb sucht die Baselländer<br />

Polizei nach diesem Wagen?<br />

Einen Hinweis aus der Bevölkerung gibt es<br />

nicht; es sind die «Erkenntnisse <strong>und</strong> Ermittlungen»<br />

der Beamten, die das Fahrzeug<br />

in «engen Zusammenhang mit den<br />

Tierquälereien» setzen.<br />

Auf der falschen Spur<br />

Doch was im Polizeibulletin nach einem<br />

Durchbruch bei den Ermittlungen klingt,<br />

ist in Tat <strong>und</strong> Wahrheit eine Fahndungspanne.<br />

Die Basler Polizei sucht den<br />

falschen Mann.<br />

Die Beamten veröffentlichen exakt dieselben<br />

Fotos, mit denen das deutsche Landeskriminalamt<br />

(LKA) Niedersachsen seit<br />

1999 nach dem berüchtigten Pferderipper<br />

von Hannover fahndet. Ihm werden 37<br />

Tiermorde angelastet, für mehr als 40 weitere<br />

Taten kommt er in Betracht.<br />

Nur: Gesehen hat diesen Täter selbst in<br />

Deutschland noch niemand. Und alles, was<br />

die «Ermittlungsgruppe Pferd» über ihn in<br />

Händen hat, sind zwei Lanzen, die er<br />

Lanzen des Pferderippers von Hannover: Gesehen hat den Täter noch niemand.<br />

zurückliess, sowie den Hinweis auf den<br />

weissen Wartburg Kombi. Der Tipp kommt<br />

von einem Zeugen, der ein solches Auto zuerst<br />

in der Nähe eines deutschen Tatorts<br />

gesehen haben will. Doch später ist sich<br />

derselbe Zeuge nicht mehr sicher.<br />

Dennoch fahnden die Beamten in Liestal<br />

fast drei Wochen lang nach einem seltenen<br />

Wartburg Kombi mit dem Kennzeichen<br />

ASL, also nach dem Pferderipper von<br />

Hannover. «Da muss etwas schief gelaufen<br />

sein, wohl eine Fehlinformation», w<strong>und</strong>ert<br />

man sich beim LKA Niedersachsen. Die<br />

Pressestelle der Polizei Basel-Landschaft<br />

schreibt später kryptisch: «Die Suche nach<br />

diesem Fahrzeug geniesst keine wirkliche<br />

Priorität mehr.»<br />

Auch gefährlich für Menschen?<br />

Das lange Verfolgen einer falschen Spur<br />

wirft ein grelles Licht auf die Ratlosigkeit<br />

der Beamten in Liestal. Der deutsche Täter<br />

ist «ganz offensichtlich ein anderer», heisst<br />

es beim LKA. Der deutsche Ripper vergeht<br />

sich ausschliesslich an Pferden. Der Nordwestschweizer<br />

Ritzer aber quält auch andere<br />

Tiere.<br />

Aufschlussreich ist der deutsche Tierquäler<br />

in anderer Hinsicht. Nicht zuletzt<br />

wegen seiner Untaten entstand ihm Jahr<br />

2000 eine Doktorarbeit über «schwere Gewaltdelikte<br />

an Pferden». Es ist die erste Dissertation<br />

im deutschsprachigen Raum, die<br />

sich mit Tierquälerei-Serien auseinander<br />

setzte. Die Verfasserin Alexandra Stupperich<br />

arbeitet heute in der forensischen Psychiatrie<br />

<strong>und</strong> befragt Tierschänder. Sie will<br />

wissen, wie gefährlich diese Verbrecher<br />

allenfalls Menschen werden können. Und<br />

sie will wissen, wie sie ticken. «Es fällt auf,<br />

dass viele aus Familien stammen, in denen<br />

Gewalt an der Tagesordnung ist, wobei ihr<br />

FOTOS: POLIZEI NIEDERSACHSEN, POLIZEI BASELLAND<br />

Rolf Müller <strong>und</strong> Hans Gerber: Am 21. Juni erlitt eine ihrer Kühe Schnitte ins Euter.<br />

Verhältnis zum Vater generell problematischer<br />

ist als jenes zur Mutter.»<br />

Zu der Gefahr, die von Tierquälern<br />

auch für Menschen ausgeht, gibt es Untersuchungen<br />

aus den USA, etwa eine Langzeitstudie<br />

mit zwei Probandengruppen.<br />

Sie kommt zum Schluss: 38 Prozent der<br />

Tierquäler waren auch in ein Gewaltdelikt<br />

gegen Menschen verwickelt; bei der Vergleichsgruppe<br />

waren es fünfmal weniger.<br />

Das Tier, ein Stellvertreteropfer<br />

Zentral für das Verständnis von Tierquälern<br />

sei deren Motivation, schreibt<br />

Stupperich in ihrer Arbeit. Und liefert eine<br />

interessante These: Frustration führt bei<br />

Gewalttätern zur Aggression, wobei Tierquäler<br />

nicht den eigentlichen Frustrator<br />

bestrafen, sondern ein Tier als Stellvertreter<br />

wählen. So etwa Fritz L., ein in Deutschland<br />

gefasster Pferdeschänder: Er dachte<br />

bei den Taten an seine Ehefrau, die sich von<br />

ihm trennte. Oder Frank Gust, ein Vierfachmörder,<br />

der mit Tierquälereien begann:<br />

Er hasste seine Mutter.<br />

Auch hinter dem Ritzen scheinen solche<br />

Stellvertreterstrafen zu stehen. Von<br />

700 in Deutschland geschändeten Tieren<br />

wurden 383 geschnitten <strong>und</strong> 304 gestochen.<br />

Nur 52 geschlagen. Mit Abstand am<br />

meisten, nämlich 25 Prozent, wurden im<br />

Genitalbereich verletzt. Drei von vier Tieren<br />

waren weiblich. Daraus schliesst Stupperich:<br />

«Während sich bei männlichen Tieren<br />

ein eher kämpferischer Kontext abzeichnet,<br />

werden Stuten von den Tätern<br />

häufig in sexuell konnotierter Weise angegangen.<br />

Insofern ist die Vermutung, weibliche<br />

Pferde könnten Stellvertreteropfer<br />

Pferdeschänder Fritz L. dachte<br />

bei den Taten an seine Ehefrau,<br />

die sich von ihm trennte.<br />

für Sexualdelikte am Menschen sein, nicht<br />

von der Hand zu weisen.»<br />

Am 27. Juni, nach elf Vorfällen, holt die<br />

Polizei den Basler Gerichtspsychiater<br />

Marc Graf ins Ermittlungsteam.<br />

Dass es dem Ritzer immer wieder gelingt,<br />

so nahe an die Tiere heranzukommen,<br />

ist für Graf von entscheidender Bedeutung:<br />

«Er kennt sich mit Tieren hervorragend<br />

aus.» Möglich sei, dass der Tierquäler auch<br />

«Gefahren bewusst in Kauf nimmt».<br />

Am 28. oder 29. Juni fügt der Ritzer in<br />

Arisdorf BL einem Schaf eine 17 Zentime-<br />

Urs Kamber: Der Bauer findet am Morgen des 22. Juni einen Lammkadaver.<br />

ter lange Schnittw<strong>und</strong>e in die Schulter zu.<br />

Einen Tag später schneidet er in Gipf-Oberfrick<br />

AG einer Kuh im Stall die Schwanzspitze<br />

ab. Wieder tags darauf ritzt er in Olsberg<br />

AG einer weidenden Kuh das Euter.<br />

Alles <strong>und</strong> jeder ist verdächtig<br />

«Es gibt nach wie vor keine konkreten Hinweise»,<br />

schreibt die Polizei am 7. Juli – trotz<br />

vieler Anrufe aus der «enorm betroffenen»<br />

Bevölkerung. Der Bauernverband hat das<br />

Kopfgeld auf 10 000 Franken erhöht. Das<br />

Fahndungsfieber steigt. Täglich erhält die<br />

Polizei bis zu dreissig Anrufe. Pendler <strong>und</strong><br />

Tierflüsterer bieten ihre Dienste an. Bauern<br />

organisieren Patrouillen. Rentner wollen<br />

sich auf die Lauer legen. Nachbarn denunzieren<br />

sich. Und in Schönenbuch, auf dem<br />

Hof, wo alles begann, beobachtet auch der<br />

Bauer mit dem rostbraunen Schnurrbart<br />

etwas Verdächtiges: ein deutsches Fahrzeug,<br />

ein Mann am Steuer, eine Frau auf dem<br />

Beifahrersitz. «Sie hielten am Strassenrand,<br />

bei der Weide», sagt der Bauer. «Als ich auf<br />

sie zuging, verschwanden sie mit Vollgas<br />

Richtung deutsche Grenze.» Wo die Angst<br />

umgeht, wird jeder <strong>und</strong> alles verdächtig.<br />

Was bloss geht im Kopf des Ritzers vor?<br />

Was ist seine Strategie?<br />

<br />

FACTS 4. August 2005<br />

4. August 2005 FACTS


28 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

INTERVIEW<br />

«Kopf als Trophäe»<br />

Mark Rissi, 57, Sprecher<br />

des Tierschutzes, zur<br />

mysteriösen Ritzer-Serie.<br />

FACTS: Herr Rissi, das Entsetzen<br />

über den Ritzer ist gross. Doch ist die<br />

gewerbsmässige Tierquälerei bei<br />

der Haltung oder dem Transport von<br />

Nutztieren nicht schlimmer?<br />

Mark Rissi: Auf jeden Fall ist sie<br />

verbreiteter. Aber diese schreckliche<br />

Serie dringt viel mehr ins Bewusstsein<br />

der Öffentlichkeit. Uns erreichen<br />

«Es gibt sehr<br />

viel mehr<br />

Fälle, als die<br />

Öffentlichkeit<br />

wahrnimmt»:<br />

Mark Rissi.<br />

Telefonate von Tierschützern, die<br />

ausser sich sind.<br />

FACTS: Was sagen Sie ihnen?<br />

Rissi: Wir raten von Selbstjustiz ab.<br />

FACTS: Geht die Wut so weit?<br />

Rissi: Ja. Man muss das verstehen.<br />

Es gibt sehr viel mehr Fälle von<br />

Tierquälereien, als die breite Öffentlichkeit<br />

wahrnimmt. Es sind lokale<br />

Fälle. Was auffällt: Es sind immer<br />

wieder Vorfälle, bei denen Tiere<br />

geköpft werden. Und der Täter den<br />

Kopf als Trophäe mitnimmt.<br />

FACTS: Wie soll der Ritzer bestraft<br />

werden?<br />

Rissi: Meiner Meinung nach müsste<br />

man ihn unter Umständen verwahren.<br />

So dass er seine Untaten nie<br />

mehr wiederholen kann.<br />

FACTS: Ist es eigentlich ein<br />

Widerspruch, wenn man sich über<br />

den Ritzer empört – aber gleichzeitig<br />

nicht auf Fleischkonsum verzichtet?<br />

Rissi: Es kann ein Widerspruch sein<br />

– wenn man Billigfleisch kauft aus<br />

nicht tierschonender Haltung. mma<br />

Psychiater Marc Graf: «Er will unbedingt<br />

unentdeckt bleiben.» In der Kriminologie<br />

wird dieser Gewalttäter-Typus als<br />

«organisiert <strong>und</strong> prozessorientiert» beschrieben,<br />

im Unterschied zu «planlos <strong>und</strong><br />

tatorientiert» agierenden.<br />

Kriminologin Alexandra Stupperich:<br />

«Der organisiert <strong>und</strong> prozessorientiert<br />

vorgehende Täter hegt dieselben feindlichen<br />

Gefühle wie der planlose Täter, seine<br />

zerstörerische Absicht ist aber ausgeprägter.»<br />

Er drücke seine Feindseligkeit gegenüber<br />

der Gesellschaft in scheinbar<br />

sinnlosen Handlungen aus <strong>und</strong> falle bereits<br />

im Kindesalter als «Störenfried» auf.<br />

Dieser Täter ist ein Mensch, «der nur an<br />

sich selber denkt».<br />

Stupperich weiter: «Die Motivation für<br />

seine Tat findet sich in dem Bedürfnis nach<br />

Realisierung des projektierten Thrill-Erlebnisses.»<br />

Mit andern Worten: Dem Ritzer<br />

geht es nicht nur um sadistische Quälereien.<br />

Er gewinnt auch Lust aus dem Versteckspiel<br />

mit der Öffentlichkeit <strong>und</strong> dem<br />

Ausspähen der Tatorte. All das ist zu einem<br />

Teil seines abartigen Rituals geworden.<br />

Kein Kopf, bloss ein Kadaver<br />

Die grössten Schlagzeilen erhält der Ritzer<br />

für das Abschlachten der Katze («Tierquäler<br />

schlitzt Büsi auf»). Als spornte ihn<br />

das öffentliche <strong>und</strong> veröffentlichte Entsetzen<br />

zusätzlich an, zerlegt <strong>und</strong> köpft er in<br />

der Vollmondnacht auf den 21. Juli ein<br />

Lämmchen auf einem Hof in Himmelried.<br />

Es war kurz vor Mitternacht, als Bauer<br />

Urs Kamber seinen «Barry» bellen hörte.<br />

Am nächsten Morgen findet er den Lammkadaver.<br />

Vom Kopf fehlt jede Spur, wie bei<br />

der Katze. Bei Nachbar Hans Gerber, so erfährt<br />

Kamber, schlug der Ritzer in derselben<br />

Nacht ebenfalls zu – das Übliche:<br />

Schnitte am Euter.<br />

Die Belohnung für Hinweise zur Ergreifung<br />

des Ritzers nähert sich der<br />

20000-Franken-Marke. Eine Frau aus dem<br />

Bündnerland spendet 1000 Franken. Und<br />

Bauer Kamber fragt: «Merkt dieser<br />

Mensch überhaupt, dass er ein Lämmlein<br />

köpft? Und wenn er ein Baby köpfen würde?<br />

Wäre das für ihn ein Unterschied?»<br />

In der Nacht auf den 23. Juli schneidet<br />

der Ritzer in Selzach SO einem Rind die<br />

Scheide weg <strong>und</strong> lässt es verbluten; am Tatort<br />

fand man ein Pferdehalfter.<br />

Dann, am 27. Juli, teilt die Polizei mit,<br />

bis dato seien 30 Tiere geritzt worden. Es<br />

ist die letzte Behördenmeldung, welche die<br />

Öffentlichkeit zum Fall erhält. Es herrscht<br />

Kommunikationssperre – um den Täter<br />

nicht weiter anzustacheln.<br />

Der Ritzer gewinnt auch<br />

Lust aus dem Versteckspiel<br />

mit der Öffentlichkeit.<br />

Ein sonderbarer Krieg<br />

Ein Mann, der sich mit Tierquälern auskennt,<br />

ist Jost Dietrich Ort, Oberstaatsanwalt<br />

aus Hanau (D); er hat zahlreiche Ritzer<br />

vor Gericht gebracht. «Die gefassten<br />

Verbrecher wohnten meist im Tatgebiet.<br />

Jüngere Täter agieren meistens aus Lust an<br />

der Grausamkeit. Bei älteren Delinquenten<br />

steht die Triebhaftigkeit im Vordergr<strong>und</strong>.»<br />

Wenn Ort die gefassten Tierquäler<br />

nach dem Weshalb fragt, antworten die<br />

meisten: «Es kam über mich.»<br />

Der Basler Gerichtspsychiater Graf<br />

vermutet hinter den Taten des Nordwestschweizer<br />

Ritzers sexuelle Motive. Doch<br />

inwieweit dieser eigentliche sexuelle<br />

Handlungen an den Tieren vornimmt,<br />

bleibt ungewiss. Spermaspuren wurden<br />

nach Polizeiangaben nie gef<strong>und</strong>en. Für<br />

Kriminologin Stupperich ist dies allerdings<br />

kein Widerspruch: «Da es sehr vielen<br />

Tierquälern um Machterlebnisse geht,<br />

muss eine vollzogene sexuelle Befriedigung<br />

nicht im Vordergr<strong>und</strong> stehen. Der Täter<br />

erlebt die Ohnmacht des Tieres – <strong>und</strong><br />

setzt sie gleich mit eigener Omnipotenz.»<br />

Das Bild, das sich Experten vom Ritzer<br />

machen, wird klarer. Doch immer noch<br />

geht er ungehindert um. Über ein Dutzend<br />

Beamte jagen ihn. In Liestal erhält die Polizei<br />

zurzeit mehr Hinweise, als sie verfolgen<br />

kann. Gerüchte über weitere Schändungen<br />

<strong>und</strong> Verhaftungen machen die R<strong>und</strong>e.<br />

Das ausgesetzte Kopfgeld hat 22000<br />

Franken überschritten.<br />

Auf dem Hof, wo alles begann, in Schönenbuch<br />

BL, sagt der Bauer: «Wir hatten<br />

lange genug Geduld.» Wenn die Polizei zu<br />

wenig unternehme, müsse man nun selbst<br />

zum Rechten schauen. Er besteigt den<br />

Traktor, dreht den Zündschlüssel <strong>und</strong> sagt:<br />

«Jetzt ist Krieg.»<br />

Es ist ein sonderbarer Krieg, den die<br />

Bauern führen – warten <strong>und</strong> wachsam<br />

sein. Ohnmacht.<br />

<br />

FACTS ONLINE EXKLUSIV Die Position der Tierschützer, die<br />

Studien, die Verbrechens-Chronik auf: www.facts.ch/exklusiv<br />

FOTO: JUERG MUELLER/KEYSTONE<br />

FACTS 4. August 2005


KRIMINALITÄT | GESELLSCHAFT 41<br />

FOTOS: POLIZEI BASELLAND<br />

Die Spur des Schänders<br />

Er ritzt Pferde, Schafe, Katzen <strong>und</strong> am liebsten Kühe. Er sticht den<br />

Tieren in den Bauch, die Scheide <strong>und</strong> die Zitzen. Psychogramm<br />

des Tierquälers aus der Nordwestschweiz. Von Balz Rigendinger<br />

Auch der Psychopath liest<br />

Zeitung. Damit er über die<br />

Jagd nach ihm nichts erfährt,<br />

informiert die Polizei nur<br />

noch im Telegrammstil über die<br />

jüngsten Vorfälle einer Serie von<br />

Tierschändungen: «Seltisberg BL:<br />

Einer Kuh auf der Weide am Euter<br />

Schnittverletzungen zugefügt.<br />

Arisdorf BL: Einem weidenden<br />

Schaf eine etwa 17 cm lange Stichw<strong>und</strong>e<br />

zugefügt. Gipf-Oberfrick<br />

AG: Bei einer Kuh die Schwanzquaste<br />

abgeschnitten. Olsberg AG:<br />

Einer Kuh auf der Weide am Euter<br />

Schnittverletzungen zugefügt.»<br />

Auf den Serientäter, der in der<br />

Nordwestschweiz in nur sechs Wochen<br />

mutmasslich 14 Tiere ritzte,<br />

ist eine eigentliche Taskforce angesetzt.<br />

Sie prüft weitere Hinweise.<br />

Die Zeit eilt: Fachleute befürchten,<br />

dass der Täter früher oder später<br />

auch Frauen angreifen könnte.<br />

10000 Franken Belohnung sind<br />

auf ihn ausgesetzt, <strong>und</strong> Meinrad<br />

Stöcklin, Sprecher der Polizei Basel-Landschaft,<br />

beantwortet selbst<br />

Fragen wie jene nach den Tatzeiten<br />

monoton mit: «Keine weiteren Details,<br />

aus taktischen Gründen.»<br />

Der zu Rate gezogene Basler Gerichtspsychiater<br />

Marc Graf lässt verlauten: Der<br />

Unbekannte handle aus sexuellen Motiven.<br />

Der Tätertypus, der Tiere schändet,<br />

dabei an Frauen denkt <strong>und</strong> Lust empfindet,<br />

ist in der Kriminologie bekannt.<br />

«Wir wissen auch, dass es Täter gibt,<br />

die Tiere quälen <strong>und</strong> später Frauen morden<br />

– unbekannt ist aber, wie gross diese<br />

Überschneidung ist», sagt der deutsche<br />

Kriminalpsychologe Jens Hoffmann. Er<br />

nennt einen ganzen Katalog von Fragen,<br />

die sich den Ermittlern in Baselland in diesen<br />

Tagen stellen: «Welche Taten gehören<br />

zusammen? Wie kam der Täter zum Tatort?<br />

Nenzlingen: Schnittverletzungen am Bein eines Pferdes.<br />

Seltisberg: Schnittverletzungen am Euter einer Kuh.<br />

Welches Risiko ging er ein? Wieso wählte<br />

er gerade dieses Opfer aus? Gab es ein Tier,<br />

das ihm Ärger machte? Falls ja, wie reagierte<br />

er darauf?»<br />

Sammelt der Psychopath Trophäen?<br />

Das Schwierige bei der aktuellen Serie von<br />

Tierschändungen ist, dass ein klares Tatmuster<br />

fehlt. Falls ein einziger Täter am<br />

Werk ist, scheint er die Opfer zufällig auszuwählen,<br />

zumindest ungeachtet der Tierart.<br />

Malträtiert wurden zwei Stuten, ein<br />

Hengst, ein Schaf, eine Katze <strong>und</strong> – doch<br />

eine Vorliebe? – zehn Kühe. Auf den ersten<br />

Blick lässt auch die Handlungsweise des<br />

Ritzers wenig Gemeinsames erkennen.<br />

Dreimal wurden den Tieren die Schwänze<br />

abgetrennt, dreimal in den Bauch gestochen,<br />

zweimal in die Schulter.<br />

Und einmal, Anfang Juni in Bottmingen,<br />

weidete der Tierschänder eine Katze<br />

aus: Er schnitt dem Tier den Bauch auf, den<br />

Kopf ab <strong>und</strong> ebenso den Schwanz. Passanten<br />

fanden ein Schwanzteil. Vom Büsikopf<br />

fehlt bis heute jede Spur. Verschw<strong>und</strong>en<br />

bleiben auch die beiden Kuhschwänze, die<br />

in Oberfrick AG abgeschnitten wurden.<br />

Sammelt der Psychopath Trophäen? Kriminologen<br />

würde das nicht überraschen.<br />

Die Polizei ist indes nicht einmal sicher, ob<br />

bei allen Quälereien dieselbe Waffe zum<br />

Einsatz kam. Und doch fällt auf: Viermal<br />

wurden Kühen die Euterzitzen angeschnitten,<br />

dreimal weiblichen Tieren mit einem<br />

spitzen Gegenstand in das Genitale gestochen<br />

– das ist kaum Zufall, eher eine Besessenheit.<br />

Als die Serie Ende Mai begann, schien<br />

es noch, dass der Täter die Nachmittagszeit<br />

bevorzugt. Doch seit dem Wochenende<br />

vom 11. auf den 12. Juni schlägt er auch<br />

nachts zu: Binnen 48 St<strong>und</strong>en schändete er<br />

damals zwei Kühe <strong>und</strong> schlachtete die Katze<br />

– er wütete enthemmt wie nie. Doch seine<br />

Befriedigung hielt nicht lange an. Schon<br />

Der Tätertypus, der Tiere<br />

schändet <strong>und</strong> dabei an<br />

Frauen denkt, ist bekannt.<br />

vier Tage später, am 16. Juni, stach <strong>und</strong> ritzte<br />

er wieder Kühe.<br />

Insgesamt schlug er bisher an fünf<br />

Orten zweimal zu, oft gar auf derselben<br />

Weide. Jens Hoffmann sieht in der Analyse<br />

dieses räumlichen Verhaltens, dem Geo-<br />

Profiling, eine Möglichkeit, den Täter zu<br />

fassen. «Beim Geo-Profiling kann man alle<br />

Tatorte in statistische Programme einspeisen.»<br />

Durch das Verhältnis der Orte zueinander<br />

können dann Rückschlüsse gezogen<br />

werden. Die Software berücksichtigt<br />

Verkehrsverbindungen <strong>und</strong> liefert Zonen,<br />

in denen der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

lebt. «Um seinen Wohnort zu ermitteln,<br />

sind die ersten Tatorte am relevantesten»,<br />

so Hoffmann weiter, «denn die<br />

meisten Serientäter begehen Verbrechen<br />

in der Frühphase oft an vertrauten Orten.»<br />

Den Auftakt zur Serie bildete eine einzelne<br />

Kuhschändung in Schönenbuch BL<br />

im September 2004; kurz zuvor hatte <br />

14. Juli 2005 FACTS


42 GESELLSCHAFT | KRIMINALITÄT<br />

Mysteriöse Tierschändungen: Untaten am helllichten Tag<br />

Schönenbuch 1<br />

Im September 2004<br />

wird eine Kuh massiv<br />

am Genitale verletzt,<br />

zwei Schweine <strong>und</strong><br />

eine Katze sterben<br />

kurz darauf eines<br />

ungeklärten Todes.<br />

Schönenbuch 2<br />

Am 22. Juni 2005<br />

wird auf demselben<br />

Hof die 15-jährige<br />

Kuh «Babette» an der<br />

Euterzitze verletzt<br />

<strong>und</strong> stark blutend<br />

aufgef<strong>und</strong>en.<br />

Bottmingen<br />

In der Nacht auf den<br />

12. Juni wird einer<br />

Katze Schwanz<br />

<strong>und</strong> Kopf abgetrennt,<br />

der Bauch aufgeschnitten.<br />

Der Kopf<br />

bleibt unauffindbar.<br />

Arisdorf<br />

16. Juni: Einer Kuh<br />

wird in die Beine <strong>und</strong><br />

den Bauch geschnitten.<br />

Zwölf Tage später<br />

wird einem Schaf eine<br />

17 Zentimeter lange<br />

Stichw<strong>und</strong>e zugefügt.<br />

Olsberg<br />

Am Freitag, 1. Juli,<br />

wird eine weidende<br />

Kuh mit Schnitten<br />

am Euter verletzt.<br />

Möhlin<br />

In der Nacht auf den<br />

12. Juni wird eine<br />

draussen weidende<br />

Kuh mit einem<br />

spitzen Gegenstand<br />

an der rechten<br />

Schulter verletzt.<br />

Möhlin<br />

Olsberg<br />

Schönenbuch<br />

Bottmingen<br />

Arisdorf<br />

Hemmiken<br />

Oberfrick<br />

Liestal<br />

Nenzlingen<br />

Seltisberg<br />

Zullwil<br />

Tatort<br />

Doppeltatort<br />

Polizei<br />

Nenzlingen<br />

Am Sonntagmorgen,<br />

22. Mai, wird die<br />

Stute «Sulamith» ins<br />

Genitale <strong>und</strong> Bein<br />

geschnitten. Es ist<br />

der erste Fall der<br />

Serie in diesem Jahr.<br />

Zullwil<br />

Am 26. Mai wird einer<br />

Stute ins Genitale gestochen,<br />

vier Tage<br />

später einem Hengst<br />

in die Beine geschnitten<br />

– das Tier wir<br />

eingeschläfert.<br />

Seltisberg<br />

Am Mittwoch,<br />

22. Juni, werden<br />

einer Kuh auf der<br />

Weide Schnittverletzungen<br />

am<br />

Euter zugefügt.<br />

Liestal<br />

Am 27. Juni zieht die<br />

Polizei Baselland den<br />

Psychiater Marc Graf<br />

zu Rate. Mehrere<br />

Ermittler beschäftigen<br />

sich mit der<br />

mysteriösen Serie.<br />

Hemmiken<br />

Am Nachmittag des<br />

12. Juli wird die Kuh<br />

«Bianca» am Bauch<br />

verletzt. Eine Woche<br />

später wird der Kuh<br />

«Comtesse» das<br />

Euter aufgeschlitzt.<br />

Oberfrick<br />

Einer Kuh wird am<br />

22. Juni die Schwanzquaste<br />

abgeschnitten.<br />

Analoger Vorfall zwei<br />

Wochen später. Die<br />

abgeschnittenen Teile<br />

bleiben unauffindbar.<br />

im Thurgau eine Serie von Kuhschändungen<br />

plötzlich aufgehört. Zog dieser Ritzer<br />

Richtung Basel? Immerhin kommt Zitzenschneiden<br />

nur äusserst selten vor. Zuletzt<br />

fällt auf: Der Täter mag Sonne. Daten von<br />

Meteoschweiz zeigen, dass viele der Untaten<br />

unter wolkenlosem Himmel geschahen.<br />

Doch den Gesuchten muss eher etwas<br />

Dunkles treiben. Ein Geheimnis wie jenes,<br />

das der vierfache Frauenmörder Frank<br />

Gust, bekannt als «Rhein-Ruhr-Ripper», in<br />

sich trug. Dieser gestand im Jahr 2000 eine<br />

Serie von Tierschändungen. Sie hätten<br />

seine Mordlust kanalisiert, sagte er den<br />

Richtern. Zunächst hatte er seine Schlachtfantasien<br />

nur an Pferden, Schafen <strong>und</strong> Rindern<br />

ausgelebt. Aus seiner Zelle schrieb<br />

Gust später, wie er als Kind das Töten lernte.<br />

Er stellte sich ein Tier als eine verhasste<br />

Bekannte namens Iris vor: «Alles in mir<br />

sträubte sich. Doch dann stellte ich mir vor,<br />

dass das Tier Iris sei. Ich holte eine Steinplatte<br />

<strong>und</strong> warf sie drauf. Der Bauch platzte<br />

auf, Eingeweide quollen raus. Iris war<br />

bestraft.» Das Tier, an dem Gust damals<br />

seine Fantasie entlud, war sein Meerschweinchen.<br />

<br />

FACTS 14. Juli 2005


KRIMINALITÄT | SCHWEIZ 17<br />

Lauern <strong>und</strong> Hellsehen<br />

Die Polizei will über die Tierschändungen in der Nordwestschweiz<br />

keine Informationen mehr herausgeben. Dutzende von Hobbyfahndern<br />

machen Vorschläge, wie die Täterschaft gefasst werden könnte.<br />

FOTO: POLIZEI BASELLAND<br />

Zwei dämonische Schlachtungen<br />

binnen nur zwei Tagen: Die mysteriöse<br />

Serie von Tierschändungen<br />

in der Nordwestschweiz hat eine neue<br />

Qualität erreicht. Letzte Woche köpfte der<br />

Ritzer ein Lamm <strong>und</strong> weidete es aus. 48<br />

St<strong>und</strong>en später schnitt er einer Kuh die<br />

Scheide ab; die siebzehnte Schandtat seit<br />

Ende Mai – <strong>und</strong> die vierte mit tödlichem<br />

Ausgang. Das Tier verblutete.<br />

Die Abscheu gegenüber dem Ritzer<br />

kennt kaum noch Grenzen. «Wir erhalten<br />

täglich bis zu dreissig Anrufe», sagt Meinrad<br />

Stöcklin, Sprecher der Polizei Basel-<br />

Landschaft, die den Fall koordiniert. «Alle<br />

finden es schrecklich. Es ist auch schrecklich,<br />

doch das bringt uns nicht weiter.» Die<br />

Folge: «Wir mussten uns entschliessen,<br />

die Kommunikation über allfällige weitere<br />

Vorfälle für den Moment einzustellen.»<br />

Nächtliche Patrouillen von Bauern<br />

Taktischer Hintergr<strong>und</strong> der Informationssperre:<br />

Die Polizei befürchtet, die allgemeine<br />

Aufregung <strong>und</strong> die Schlagzeilen<br />

könnten den Täter zu weiteren Untaten anstacheln<br />

– <strong>und</strong> Experten schliessen nicht<br />

aus, dass der Ritzer bald auch Frauen angreifen<br />

könnte (FACTS 28/2005).<br />

Die Bauernverbände der Kantone Solothurn<br />

<strong>und</strong> Baselland forderten ihre<br />

Schnittverletzung am Bein eines Pferdes:<br />

Die Abscheu kennt kaum noch Grenzen.<br />

Mitglieder inzwischen zu nächtlichen<br />

Patrouillen auf. Pendler, Hellseher <strong>und</strong><br />

Tierflüsterer boten der Polizei ihre Dienste<br />

an. Ein Anrufer legte den Einsatz von<br />

Psychometrie als Fahndungsmittel nahe.<br />

«Ein anderer brachte den Vorschlag, die<br />

Armee einzusetzen, um die Weiden zu<br />

überwachen», berichtet Stöcklin. Auf die<br />

Lauer legen wollen sich auch Pensionäre.<br />

«Sie fragen, wo sie hin sollen», erzählt<br />

Die Belohnung ist mittlerweile<br />

höher als der Betrag, der<br />

bei einem Mordfall üblich ist.<br />

der Polizeisprecher, «doch das ist ja genau<br />

die Krux, das wissen wir leider auch<br />

nicht.»<br />

«Wieso keine Satellitenbilder nutzen?»,<br />

fragt ein Leser der FACTS-Website,<br />

«es müsste doch möglich sein, herauszufinden,<br />

wie er anreist <strong>und</strong> wohin er verschwindet.»<br />

Brauchbare Hinweise auf den Schänder<br />

fehlen nach wie vor, trotz stetig aufgestockter<br />

Belohnung. Am Dienstag betrug<br />

die Summe, die Kanton, Bauernverbände,<br />

Private <strong>und</strong> Firmen zusammentrugen,<br />

19700 Franken – mehr, als bei Mordfällen<br />

üblicherweise ausgesetzt wird.<br />

Ob diese Summe zum Erfolg führt, ist<br />

fraglich. Das zeigt der Fall der geschändet<br />

<strong>und</strong> ertränkt vorgef<strong>und</strong>enen Bastardhündin<br />

«Jessy» vor einem Jahr. Obwohl nach<br />

wie vor die Rekordbelohnung von 28420<br />

Franken für die Klärung des Falls «Jessy»<br />

winken, lässt der entscheidende Hinweis<br />

auf sich warten. Anderseits erinnert sich<br />

Polizeisprecher Stöcklin an eine in Brand<br />

gesteckte Katze aus dem Jahr 2002. Damals<br />

führten 7000 Franken zur Ergreifung<br />

eines 15-Jährigen.<br />

«Wir müssen jetzt in Ruhe arbeiten»,<br />

sagt Stöcklin, «<strong>und</strong> melden uns, wenn er<br />

verhaftet ist.»<br />

Balz Rigendinger<br />

28. Juli 2005 FACTS


24 SCHWEIZ | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | SCHWEIZ 25<br />

Sonderkommission im Provinzpuff<br />

Vier Milieu-Männer kommen vor Gericht. Der Vorwurf: Menschenhandel,<br />

Zuhälterei <strong>und</strong> Sex mit Kindern. Die Opfer: Teenager <strong>und</strong> junge Frauen aus Osteuropa.<br />

Selten ermittelte die Polizei so akribisch im ländlichen Rotlichtmilieu.<br />

D<br />

er Chef schickt Mischa S. nach<br />

Wien, er soll Katrin K. holen. Ein<br />

Tscheche wartet dort. Mischa S.,<br />

ein 28-jähriger Schweizer, übergibt dem<br />

Mann ein Couvert. Ob Geld darin ist, weiss<br />

er nicht. Er fährt die Frau nach Selzach SO.<br />

Dort, im Hotel «Schönegg», trägt Mischa S.<br />

die Tschechin als Touristin ein. Katrin K.s<br />

Pass verrät, dass sie 16 ist. Mischa S. ruft<br />

seinen Chef an: «Hey, die Katrin, die ist viel<br />

zu jung.» Der Chef herrscht ihn an: «Sei ruhig.<br />

Das ist nicht dein Problem.» Kurz darauf<br />

schreitet die Polizei zur Razzia.<br />

S.’ Fahrt nach Wien vom September<br />

2004 taxiert die Anklage nun als Menschenhandel<br />

oder Gehilfenschaft zum<br />

Menschenhandel. Die Akten der Berner<br />

<strong>Justiz</strong> füllen 30 dicke Ordner. Darin dokumentiert:<br />

Telefonprotokolle, Kontoauszüge<br />

<strong>und</strong> Zeugenaussagen von Opfern; einige<br />

von ihnen sind minderjährige Frauen. Es<br />

ist schweres Geschütz, das der Staatsanwalt<br />

ab Montag vor dem Kreisgericht Biel<br />

auffahren kann. Selten recherchierte die<br />

Polizei derart akribisch in den unauffälligen<br />

Puffs auf dem Lande. Mischa S. ist angeklagt<br />

in einem Fall, der ein grelles Licht<br />

auf das Sexmilieu in der Provinz wirft.<br />

Hotel «Schönegg» in Solothurn: Hinter den Fassaden herrschen Zwang, Abzocke, Gewalt.<br />

se Weise traktierten sie auch Minderjährige<br />

in mindestens drei Fällen. Die Jüngste<br />

war 15, nach Gesetz noch ein Kind.<br />

S. wirft die Anklage «sexuelle Handlungen<br />

mit einem Kind, Förderung der<br />

Prostitution <strong>und</strong> Menschenhandel» vor,<br />

Delikte, die selten geahndet werden; lediglich<br />

vier Verurteilungen wegen Menschenhandels<br />

schafft die <strong>Justiz</strong> im Schnitt<br />

pro Jahr. Auch die beiden andern Aufpasser<br />

sind angeklagt. Im Vordergr<strong>und</strong> steht<br />

aber der Besitzer der Bars, ein Schweizer<br />

jugoslawischer Herkunft. Dragan M., 38,<br />

nannte die Frauen Hühner. Ihm droht das<br />

Zuchthaus.<br />

«Das wird überall so gemacht»<br />

Mischa S., ein grosser, kräftiger Hilfsarbeiter,<br />

sieht sich als Gehilfe. Er sagt: «Das wird<br />

überall so gemacht. Ich ging davon aus,<br />

dass es legal sei.» Sein Verteidiger Krishna<br />

Müller beschreibt ihn als «labil, kein Bösartiger».<br />

S. sei durch Schulden <strong>und</strong> Gelegenheitsjobs<br />

ins Netz von Dragan M. geraten.<br />

«Mich stört», sagt Anwalt Müller, «dass<br />

Taurina D. versuchte, ihren<br />

ersten Freier zu befriedigen. Sie<br />

schaffte es nicht <strong>und</strong> floh.<br />

H<strong>und</strong>erte, wenn nicht Tausende Kontakt-<br />

Bars, wo die gleichen Methoden herrschen,<br />

über Jahre florierten, ohne dass die<br />

Polizei je eingegriffen hätte.»<br />

Tatsächlich ist, was in Biel verhandelt<br />

wird, in Kontakt-Bars üblich. Doch die Polizei<br />

steht dem neuen Milieu-Phänomen<br />

hilflos gegenüber. Werden Dirnen verhört,<br />

schweigen sie aus Angst. Und den «Hoteliers»<br />

können Fahnder kaum je nachweisen,<br />

dass sie Frauen zur Prostitution zwingen.<br />

«Ich stelle nur Zimmer zur Verfügung»,<br />

redete sich Dragan M. stets heraus,<br />

wenn Polizei im Haus war.<br />

Um ihn überführen zu können, ermittelte<br />

die Polizei ungewöhnlich intensiv. 50<br />

Personen befragten die Fahnder der «Sonderkommission<br />

Max», 14 Häuser durchsuchten<br />

sie, reisten nach Lettland <strong>und</strong><br />

nach Tschechien. Zwei Monate lang überwachten<br />

sie die Telefone der Verdächtigen.<br />

Die Ermittlungen hatte eine Lettin ins<br />

Rollen gebracht, die 2003 in Biel die Aufmerksamkeit<br />

der Polizei erregte. Sie machte<br />

glaubhaft, dass sie aus dem Hotel<br />

«Schloss» geflohen sei <strong>und</strong> ihr Pass noch<br />

dort im Tresor liege. Taurina D. war<br />

Anfang 2003 als 23-Jährige in die Schweiz<br />

gekommen, weil ihr Arbeit als Bardame<br />

versprochen worden war. Die Alleinerziehende<br />

gab ihr Kind in Obhut <strong>und</strong> flog nach<br />

Zürich. Dragan M. holte sie ab, brachte sie<br />

ins Hotel «Schloss». Noch am selben Abend<br />

versuchte Taurina D., ihren ersten Freier zu<br />

bedienen. Sie schaffte es nicht. Sie floh <strong>und</strong><br />

hielt sich mit Diebstählen über Wasser.<br />

Bei der Razzia im Hotel «Schloss» fand<br />

die Polizei den Pass von Taurina D., was<br />

ihre Geschichte bestätigte. Doch vor Gericht<br />

kann die Lettin ihr Schicksal nicht<br />

bezeugen. Die Ermittler konnten sie nicht<br />

finden. Zuletzt gesehen worden war sie in<br />

Biel: HIV-positiv, verwahrlost <strong>und</strong> süchtig<br />

nach Heroin.<br />

Balz Rigendinger<br />

Kontakt-Bars locken mit tiefen Preisen<br />

Dort boomt die Rotlicht-Branche, nistet<br />

sich ein in heruntergekommenen Hotels<br />

<strong>und</strong> abgelegenen Gasthöfen <strong>und</strong> füllt deren<br />

Zimmer mit Dirnen, die dann als Hotelgäste<br />

gelten. «Kontakt-Bars» heisst das Modell.<br />

Wie viele es gibt, wissen nicht einmal<br />

die Kantonspolizeien. Kontakt-Bars locken<br />

Freier mit tiefen Preisen <strong>und</strong> leutseliger<br />

Atmosphäre. Im Fall um Mischa S. trugen<br />

die Bars unverfängliche Namen wie Hotel<br />

«Schönegg», Dancing «Blue Lamp» <strong>und</strong><br />

Hotel «Schloss». S. war Aufpasser im<br />

«Schönegg». Er <strong>und</strong> zwei weitere Männer<br />

überwachten die Dirnen. Hinter den unscheinbaren<br />

Fassaden der Etablissements<br />

herrschten Zwang, Abzocke, Gewalt.<br />

Ging eine mit einem Freier nach oben,<br />

musste sie dies melden. Danach knüpften<br />

«Schloss» (links) in Selzach <strong>und</strong> «Blue Lamp» in Nidau: In der Provinz boomt die Rotlicht-Branche.<br />

ihnen die Aufpasser einen Teil des Dirnenlohns<br />

ab: Im Hotel «Schönegg» waren es<br />

100 Franken Zimmermiete pro Tag, dazu<br />

pro Freier 25 Franken, im Hotel «Schloss»<br />

200 Franken Miete sowie 40 Franken für<br />

jeden Freier. Und die Dirnen mussten täglich<br />

für 80 Franken Alkohol konsumieren.<br />

Die Betriebe verdienten so an einer Frau<br />

400 Franken am Tag. In den Kontakt-Bars<br />

in Selzach, Nidau BE <strong>und</strong> Solothurn lebten<br />

meist je 15 Frauen, die aus Lettland oder<br />

Tschechien gekommen waren.<br />

Wenn sie am Glücksspiel-Automaten<br />

trödelten, telefonierten, anstatt sich um<br />

Freier zu kümmern, oder zu spät zur Arbeit<br />

kamen, gab es Bussen. Konnte eine<br />

Dirne nicht bezahlen, bot man ihr an, die<br />

Schuld mit Sex zu begleichen. Die Aufpasser<br />

nahmen «einzelnen Frauen als Druckmittel<br />

bei Schulden oder zur Verhinderung<br />

der Abreise den Pass weg» <strong>und</strong> «drohten<br />

<strong>und</strong>/oder schlugen Einzelne, um sie einzuschüchtern»,<br />

heisst es im Überweisungsbeschluss<br />

der Staatsanwaltschaft. Auf die-<br />

FOTOS: PATRICK LÜTHY/IMAGO PRESS, ANDRE ALBRECHT<br />

FACTS 16. Februar 2006


32 SCHWEIZ | FRAUENHANDEL<br />

FRAUENHANDEL | SCHWEIZ 33<br />

Gewalt im Freudenhaus<br />

Beim Schlag gegen Bordellbetreiber im Raum Olten wurde die B<strong>und</strong>esanwaltschaft<br />

erstmals in einem grösseren Fall von Menschenhandel aktiv. Es geht um Frauen, die<br />

in Brasilien als «Hotelangestellte» rekrutiert <strong>und</strong> hier zur Prostitution gezwungen wurden.<br />

Joy’s Waldhaus: Im Provinzpuff wurden Brasilianerinnen wie Sklavinnen gehalten.<br />

Geschlossene Bordelle in Olten <strong>und</strong> in Wangen: Schäbige, baufällige Liegenschaften.<br />

D<br />

er kleine Grillplatz ist gesichert<br />

wie ein Knast: Bewegungssensoren<br />

lösen Flutlicht aus, Videokameras<br />

erfassen jeden Winkel, <strong>und</strong> ein<br />

mannshoher Lattenzaun, an dessen Innenseite<br />

rollenweise Stacheldraht genagelt ist,<br />

verunmöglicht jeden Versuch, nach draussen<br />

zu gelangen. Der Betreiber des Sex-<br />

Etablissements Joy’s Waldhaus in Wolfwil<br />

SO sah sich zu diesen Massnahmen gezwungen<br />

– seine Dirnen, Brasilianerinnen<br />

meist, wollten raus.<br />

Sie hatten keine Chance. «Als sie ankamen,<br />

nahm man ihnen die Pässe weg», sagt<br />

Clyton Xavier, Menschenrechtsbeauftragter<br />

der brasilianischen B<strong>und</strong>espolizei. Und<br />

fährt fort: «Sie lebten in einem Gefängnis,<br />

wurden offenbar vergewaltigt, unter Drogen<br />

gesetzt <strong>und</strong> mit Essensentzug bestraft.<br />

Zum Teil wurden sie anscheinend in andere<br />

Lokale verbracht. Wie Sexsklavinnen.»<br />

Jetzt steht Joy’s Waldhaus leer. Blaues<br />

Klebeband haftet an der Tür <strong>und</strong> über dem<br />

Schlüsselloch. Neben die Logos für Visa,<br />

Mastercard <strong>und</strong> Postcard brachte die Polizei<br />

am Eingang ein Papier an. Es warnt<br />

davor, die amtlichen Siegel zu entfernen.<br />

Joy’s Waldhaus, das Provinzpuff an der<br />

Aare, sei von der B<strong>und</strong>eskriminalpolizei<br />

geschlossen worden, steht darauf. Beantragende<br />

Behörde: die B<strong>und</strong>esanwaltschaft.<br />

Das ist eine Premiere. «Es ist das erste<br />

grössere Strafverfahren mit Schwerpunkt<br />

internationalem Menschenhandel», sagt<br />

Sprecher Hansjürg Mark Wiedmer.<br />

Er soll zahllose Frauen importiert haben<br />

Am Tag der Razzia, dem 28.März, stürmten<br />

Dutzende Polizisten das Etablissement, das<br />

dem Ex-Metzger Heinz H.*, 58, gehört. Die<br />

Aktion war von langer Hand vorbereitet:<br />

Zeitgleich drang die Polizei in zwei weitere<br />

Bordelle ein; schäbige, baufällige Häuser<br />

an der Landstrasse. Im Einsatz waren h<strong>und</strong>ert<br />

Mann. In Brasilien schwärmten am<br />

selben Tag fünfzig Polizisten aus <strong>und</strong> nahmen<br />

acht brasilianische Staatsangehörige<br />

fest, darunter vier Frauen. Die Operation<br />

trug den Namen «Tarot».<br />

In der Schweiz sitzt Heinz H. in Haft,<br />

der Bordellbetreiber aus Wangen bei Olten,<br />

zusammen mit seinem Kumpel Mario<br />

G.* sowie zwei Brasilianerinnen. Alle sollen<br />

Mittäter in einem florierenden Frauenhandel<br />

gewesen sein, den Heinz H. zwischen<br />

Brasilien <strong>und</strong> der Schweiz etabliert<br />

haben soll.<br />

«Heinz H. importierte seit 2003 wohl<br />

mehr als 75 Frauen», sagt Danilo Salas,<br />

ein brasilianischer B<strong>und</strong>espolizist: «Er bezahlte<br />

für jede Frau, die ihm sein brasilianischer<br />

Kontakt organisierte, 400 Franken,<br />

manchmal mehr.» Zudem soll Heinz<br />

H. die Dirnen betrogen haben: Vor der Abreise<br />

in Brasilien wurde ihnen gesagt, sie<br />

müssten die Reisekosten von 4000 Franken<br />

bezahlen. Als sie in Zürich landeten,<br />

habe die Schuld plötzlich 10000 Franken<br />

betragen. Um sie abzustottern, blieb den<br />

Frauen die Zeit eines Touristenvisums,<br />

drei Monate. Neun Frauen befreite die Polizei<br />

bei den Razzien um Olten.<br />

FOTOS: BALZ RIGENDINGER<br />

Bei den Festnahmen in den brasilianischen<br />

Städten Belo Horizonte <strong>und</strong> Contagem<br />

fand die Polizei Pässe, gefälschte<br />

Arbeitsbescheinigungen, Kataloge mit<br />

Fotos der verdingten Brasilianerinnen <strong>und</strong><br />

«eine grosse Menge» Vaginalkondome.<br />

Die Schlüsselfigur in Brasilien ist Daniela<br />

G.* «Sie organisierte die Frauen für Heinz<br />

H.», sagt Polizist Salas. Das Ganze habe<br />

wohl in der Schweiz begonnen, wo Daniela<br />

G. zweimal als Prostituierte arbeitete. Einmal<br />

war sie mit Heinz H. liiert, einmal mit<br />

Mario G. Damit sie in der Schweiz bleiben<br />

konnte, habe Daniela G. zunächst eine<br />

Schwangerschaft vorgetäuscht.<br />

Observation in Brasilien<br />

Dann kehrte sie nach Brasilien zurück<br />

<strong>und</strong> schaltete Zeitungsanzeigen, in denen<br />

sie «Personal für Hotels in der Schweiz»<br />

suchte. Oder sie beauftragte Komplizen,<br />

die örtlichen Bordelle nach Huren abzuklappern.<br />

Das Geld für Daniela G.s Dienste<br />

überwies Heinz H. nach Brasilien. Er<br />

selbst reiste laut Salas «wahrscheinlich<br />

Roschachers Versprechen<br />

Kurz nach seinem Amtsantritt<br />

2001 versprach<br />

B<strong>und</strong>esanwalt Valentin<br />

Roschacher, er werde im<br />

Kampf gegen den Menschenhandel<br />

einen<br />

Schwerpunkt setzen. Fünf<br />

einige Male nach Brasilien», wie auch<br />

Komplize Mario G., zuletzt vor einigen<br />

Wochen. Dort observierten ihn die Beamten<br />

der brasilianischen B<strong>und</strong>espolizei.<br />

Der Auftrag dazu kam aus der Schweiz:<br />

Ende 2005 war eine Delegation der Schweizer<br />

B<strong>und</strong>eskriminalpolizei in die Hauptstadt<br />

Brasilia geflogen, um den Kollegen<br />

den Fall zu unterbreiten. Wie die Ermittler<br />

auf das Netzwerk stiessen, behält die<br />

B<strong>und</strong>esanwaltschaft vorerst für sich. Klar<br />

Jahre später hat er seinen<br />

ersten Fall – einen kleinen,<br />

der den krassen Alltag im<br />

boomenden Provinz-Milieu<br />

spiegelt. «Dieser Deliktsbereich<br />

musste wegen der<br />

Terrorermittlungen leider<br />

scheint, dass sie Telefone, Konti <strong>und</strong> Komplizenschaft<br />

des mutmasslichen Haupttäters<br />

Heinz H. intensiv überwachte. Sprecher<br />

Wiedmer sagt: «Bislang arbeiteten<br />

die Kantone in der Bekämpfung des Menschenhandels<br />

viel <strong>und</strong> gut. Die B<strong>und</strong>esbehörden<br />

wirken bei diesen Anstrengungen<br />

nun mit.» Die Kantonspolizei Solothurn,<br />

die den Fall wohl eingeleitet hatte, nimmt<br />

keine Stellung.<br />

Balz Rigendinger<br />

* Namen der Redaktion bekannt<br />

zurückstehen», sagt B<strong>und</strong>esanwaltschaftssprecher<br />

Hansjürg Mark Wiedmer.<br />

Roschacher hat jetzt offenbar<br />

das Milieu auf dem<br />

Land entdeckt. Dort gibt<br />

es viel zu tun.<br />

FACTS 6. April 2006


32 G E S E L L S C H A F T | T I T E L<br />

T I T E L | G E S E L L S C H A F T 33<br />

Das Verkehrschaos<br />

Zu viele Dirnen, zu viele Ostfrauen, zu viele Puffs. Selbst Milieu-Manager fürchten<br />

sich vor brutalen Verteilungskämpfen. Und fordern nun, was Feministinnen einst wollten:<br />

Mehr Kontrolle, mehr Staat. Von Balz Rigendinger<br />

D<br />

er Mann, der den Preiskrieg anzettelte,<br />

trägt nur noch Schwarz.<br />

Nicht aus Trauer – sondern aus<br />

Protest: «Der Staat zwingt mich <strong>und</strong> die<br />

Frauen in die Illegalität, darum geschäfte<br />

ich schwarz. Und ziehe mich auch so an.»<br />

Der Mann, optisch eine Mischung aus<br />

Jasspapst Wysel Gyr <strong>und</strong> Westernstar John<br />

Wayne, sitzt in einem Restaurant, das<br />

«Schützenhaus» heisst. Wo, spiele keine<br />

Rolle. Die Bordelle, die er betreibt: Nebensache.<br />

Sein Werdegang? Er sei nicht im Rotlicht<br />

gross geworden. Doch vor 15 Jahren<br />

habe er das Gefühl gehabt, dass man Milieu-<br />

Wie viel? Auch das spiele keine Rolle.<br />

Jedenfalls habe er die Grossen der Branche<br />

unter Druck gesetzt: «Sie sassen zusammen<br />

<strong>und</strong> schmiedeten Pläne.» Bis er bei ihnen<br />

vorsprach <strong>und</strong> den Tarif durchgab: Sollte<br />

ihm etwas zustossen, werde es ungemütlich.<br />

Die Grossen hätten rasch realisiert,<br />

dass sie ihn nicht loswerden konnten. Er<br />

zeigte keine Amateur-Allüren. Die Grossen<br />

mussten anders reagieren. Und so kam es,<br />

so die Theorie dieser Milieu-Figur, dass in<br />

der Schweiz für immer weniger Geld immer<br />

mehr Sex erhältlich wurde. «Auch ein<br />

bisschen mein Verdienst», behauptet er.<br />

mit den Preisen noch tiefer unten rein. «Die<br />

bieten schon im Inserat ein Sex-Programm<br />

an, das kein Meitli mehr gern macht.»<br />

Dann nennt er die ganze Angebotspalette<br />

des diversifizierten Milliardenmarkts, von<br />

Hardcore bis Romantik: «Oral ohne, anal<br />

ohne, Rudel, quälen, küssen.» Es gehe zu<br />

wie auf dem freien Markt, «nur: Es sind<br />

Menschen im Spiel <strong>und</strong> nicht irgendeine<br />

Handelsware». Der Mann meint die Frauen,<br />

mit denen er sein Geld verdient – <strong>und</strong> dass<br />

er für sie Partei nimmt, ist Kalkül. Sein Geschäft<br />

läuft besser, wenn die Dirnen zufrieden<br />

sind. «Glückliche Hühner legen bessere<br />

Eier.»<br />

Glücklich scheinen derzeit allerdings<br />

nur die Freier zu sein. Die käufliche Liebe<br />

ist aldisiert, die Schweiz ein Sexschnäppchen-Land.<br />

Eine Einwicklung wie im Luftverkehr,<br />

wo Billigfluglinien zur Erschliessung<br />

neuer K<strong>und</strong>ensegmente führten. Erst<br />

kitzelt die Nachfrage das Angebot wach,<br />

<strong>und</strong> dann drückt das Überangebot die Preise<br />

in den Keller. In Basel hat sich die Zahl<br />

der Prostituierten in den letzten zehn Jah-<br />

Razzia im Bordell, Trimbach SO: «Sie führten die Mädchen ab wie Schwerverbrecher.»<br />

Glücklich scheinen derzeit nur<br />

die Freier zu sein. Die<br />

käufliche Liebe ist aldisiert.<br />

Geschäfte auch anders organisieren könne.<br />

«Ich schaute mich um <strong>und</strong> sagte: ‹Es gibt<br />

doch kein Loch, das 500 Franken Wert ist.›»<br />

Also eröffnete er einen Klub mit sagenhaft<br />

günstigen Preisen. Wenn der Freier<br />

ein zweites oder drittes Mal wollte, unterbot<br />

der Discounter sogar die 100-Franken-<br />

Marke pro Verkehr. Er hatte volles Haus,<br />

<strong>und</strong> die Dumping-Strategie bescherte dem<br />

Mann im schwarzen Adidas-Trainer ein<br />

paar Annehmlichkeiten: einen satten Urlaubsteint,<br />

der das Grau seiner Haare veredelt,<br />

eine Jacht dazu, eine Golduhr <strong>und</strong><br />

einen Haufen Bargeld.<br />

Doch inzwischen grassiert das Geschäft<br />

mit dem käuflichen Sex derart, dass<br />

es selbst dem Preisbrecher im «Schützenhaus»<br />

nicht mehr geheuer ist. «Hier kann<br />

wirklich jeder Löli etwas machen», sagt<br />

er, «jedes heruntergekommene Provinz-<br />

Spüntli, das nicht mehr läuft, wird zum<br />

Puff, von Gurtnellen bis Bettenhausen.»<br />

Entwicklung wie bei Billigfliegern<br />

Der Sex-Manager im Trainingsanzug sagt,<br />

nirgends in Europa kriege ein Freier so viel<br />

für sein Geld wie in der Schweiz, <strong>und</strong> doch<br />

habe jeder Zuhälter das Gefühl, er müsse<br />

ren verdreifacht, <strong>und</strong> aus Zürich meldet<br />

die Polizei eine neue Rekordzahl von Prostituierten:<br />

3800. Sepp Scheuber, Stellvertretender<br />

Chef Milieu Sexualdelikte der<br />

Stadtpolizei Zürich, sagt: «Die Überzahl<br />

der Dirnen macht die Preise verhandelbar.<br />

In der Strassenprostitution gibts heute Sex<br />

für dreissig Franken.»<br />

Darum hat sich die Branche die Provinz<br />

erschlossen. Wenigstens dort herrscht<br />

noch so was wie Goldgräberstimmung.<br />

Aber: «Amateure», faucht der Mann in<br />

Schwarz, «hier mischen plötzlich Leute mit,<br />

die vor zehn Jahren nie daran gedacht <br />

FOTOS: TELE M1<br />

Als Touristinnen eingereiste ausländische Prostituierte: «Es sind Menschen im Spiel <strong>und</strong> nicht irgendeine Handelsware.»<br />

F A C T S 2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5<br />

2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5 F A C T S


34 G E S E L L S C H A F T | T I T E L<br />

T I T E L | G E S E L L S C H A F T 35<br />

Saunaklub in der Innerschweiz: Sexarbeiterinnen aus Drittstaaten sollen Arbeitsbewilligungen erhalten.<br />

In Bad Ragaz SG brannte im Juli ein Salon: Nach einem Säure- <strong>und</strong> einem Brandanschlag war es die dritte Attacke auf ein Bordell in diesem Dorf.<br />

hätten, ins Sexgeschäft einzusteigen.» Ein<br />

Wildwuchs, <strong>und</strong> im knallharten Verdrängungsmarkt<br />

gibts immer mehr Puff.<br />

Schüsse, Säure, Feuer<br />

In Bad Ragaz SG brannte im Juli ein Salon.<br />

Nach einem Säure- <strong>und</strong> einem Brandanschlag<br />

war es die dritte Attacke auf ein Bordell<br />

in diesem Dorf. «Der Konkurrenzkampf<br />

hat sich verschärft», sagt der Sankt-<br />

Galler Kripo-Chef Bruno Fehr, «das führt<br />

zu Gewalt.» Zwanzig Kilometer weiter, in<br />

Buchs SG, wurde der Betreiberin eines Etablissements<br />

innert wenigen Monaten dreimal<br />

deutlich klar gemacht, dass sie ihren<br />

Laden besser schliesse – erst mit Luftgewehrschüssen<br />

auf den Salon, dann mit einer<br />

Würgeattacke auf sie selbst <strong>und</strong><br />

schliesslich mit vier Schüssen grossen Kalibers<br />

durch die Tür.<br />

Gefahr wittert auch der Mann in<br />

Schwarz. Er gibt ein Beispiel: «In der Zentralschweiz<br />

<strong>und</strong> im Mittelland steigen unzählige<br />

mit null Erfahrung ein», sagt er.<br />

«Kurz vor Eröffnung finden sie dann raus:<br />

Oh, wir haben keine Frauen. Wenn dann<br />

ein Ostblock-Schlepper kommt <strong>und</strong> fragt:<br />

‹Brauchen du Frauen?›, dann sind die<br />

dankbar. Nur: Wir wissen etwa von bulgarischen<br />

Schleppern, die Mitspracherechte<br />

«Der Konkurrenzkampf hat sich<br />

verschärft», sagt der Sankt-<br />

Galler Kripo-Chef Bruno Fehr.<br />

suchen.» Seine Prognose: Komme erst eine<br />

«ernsthaft böse Ostblockvereinigung», habe<br />

sie mit wenig Aufwand gute Chancen<br />

«den Laden aufzumischen». Mit «Laden»<br />

meint er den Prostitutionsmarkt Schweiz.<br />

«Im Vergleich zum Ausland sind wir<br />

hier noch alles Laien», sagt ein anderer<br />

Milieu-Kenner. «Das ist das Gefährliche. Es<br />

macht den Markt anfällig.» Der Mann verdient<br />

sein Geld seit Jahrzehnten in Zürich<br />

als Tänzerinnen-Agent. Die Umwälzung auf<br />

dem Prostitutionsmarkt zeige sich an den<br />

neusten Sexklubs: «Da stecken deutsche Investoren<br />

dahinter. Die Rotlicht-Grössen aus<br />

Frankfurt haben Fuss gefasst.» Das Fazit<br />

des Zürcher Cabaret-Tänzerinnen-Vermittlers:<br />

«Entweder regelt jetzt die Politik das<br />

Business – oder die Ausländer werden es<br />

auf ihre Weise organisieren.»<br />

Aber auch Schweizer Milieu-Figuren<br />

hegen finstere Pläne <strong>und</strong> geben sich einem<br />

kalten Gedankenspiel hin: Es gehe darum,<br />

wie man das Business redimensionieren<br />

könnte, um es in die Gewinnzone zurückzuführen,<br />

erzählt ein Ostschweizer Milieu-<br />

Mann. Dafür müssten die Amateure weg.<br />

«Stell dir vor», sagt er, <strong>und</strong> sein Gesicht<br />

nimmt einen konspirativen Ausdruck an:<br />

«Stell dir vor, eines Tages werden vier<br />

zufällig ausgewählte Bordellbetreiber er-<br />

FOTO: THOMAS SCHWIZER/SARGANSERLÄNDER<br />

schossen, einfach so.» Er drückt seine Zigarette<br />

aus. «Bei allen andern reicht dann ein<br />

Brief.»<br />

Das Geschäft droht aus dem Ruder zu<br />

laufen, <strong>und</strong> plötzlich fordern Männer, die<br />

sich bisher kaum um Gesetze scherten,<br />

Ordnung, Recht <strong>und</strong> Regeln. «Lasst die<br />

Mädchen legal arbeiten», sagt der Mann in<br />

Schwarz. Der Bordellbesitzer aus der Ostschweiz<br />

fordert gar ein «Gütesiegel für saubere<br />

Betriebe». Und ein Klubmanager aus<br />

dem Mittelland ruft nach «Gesetzen, die<br />

der Realität entsprechen». Er meint: Sexarbeiterinnen<br />

aus Drittstaaten sollen Arbeitsbewilligungen<br />

für ihre Tätigkeit in<br />

der Schweiz erhalten.<br />

Der wahre Feind ist die Kontakt-Bar<br />

Es mag erstaunen, dass ausgerechnet Milieu-Bosse<br />

in ein Lied einstimmen, das vorher<br />

bloss Frauenrechtlerinnen sangen. Die<br />

überraschenden Alliierten kämpfen denn<br />

auch aus unterschiedlichen Motiven. Die<br />

Milieu-Männer wollen eine staatliche Regelung,<br />

um einen weiteren Preiszerfall zu<br />

stoppen. Ein Dorn im Auge ist ihnen vor allem<br />

das jüngste Geschäftsmodell im Sexgewerbe:<br />

die so genannte Kontakt-Bar, die<br />

in den Dörfern wuchert wie ein Unkraut.<br />

Dabei sieht das Gewächs eher harmlos aus,<br />

In den Ferien kommt Linda<br />

als Touristin in die<br />

Schweiz zum Anschaffen.<br />

einzeln betrachtet. Das «Porky’s» in Sattel<br />

SZ etwa wirkt von aussen wie eine Land-<br />

Bar. An der Türe steht «Members only»,<br />

doch die Beschränkung gilt nur, wenn eine<br />

wenig versprechende Klientel anklopft.<br />

Drinnen im «Porky’s» tigern sechs Frauen<br />

um die Barhocker. Golf-Fahrer <strong>und</strong> Landwirte<br />

lassen ihre Blicke schweifen: Russland,<br />

Tschechien, Ukraine. Linda kommt<br />

aus Sankt Petersburg. Das Bier kostet vier<br />

Franken, <strong>und</strong> Linda legt bald ihre Hand<br />

aufs Knie. Eine warme Hand, die den Hals<br />

des Gastes sanft umklammert, wenn ihre<br />

Lippen seine Wangen küssen. Linda<br />

haucht Komplimente <strong>und</strong> erzählt, wie sie<br />

als Cabaret-Tänzerin im Tessin arbeitete,<br />

bis sie den Mut fand auszusteigen. Man<br />

hatte sie betrogen. Sie erhielt an Stelle der<br />

zugesagten 2300 Franken nur 700 im Monat.<br />

Heute lebt die allein erziehende Mutter<br />

in London <strong>und</strong> sagt, sie studiere. In den<br />

Ferien kommt sie als Touristin in die<br />

Schweiz zum Anschaffen.<br />

Sex mit Linda kostet 100 Franken. Etwa<br />

so viel kostet auch ihr Zimmer, das sie<br />

täglich mietet. Was in Kontakt-Bars sonst<br />

an Geld fliesst, hat bisher weder Polizei<br />

noch Steuerbehörden interessiert. Denn<br />

offiziell ist Linda ein Hotelgast, <strong>und</strong> offiziell<br />

gibt ein Hotelgast keinen Dirnen- <br />

F A C T S 2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5<br />

2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5 F A C T S


36 G E S E L L S C H A F T | T I T E L<br />

T I T E L | G E S E L L S C H A F T 37<br />

lohn ab. Nach zwanzig Minuten lehnt Lindas<br />

Kopf an der Schulter. «Kommst du nach<br />

oben?», fragt sie. Sagt der Gast Nein, ist Linda<br />

rasch weg. Und macht einer Dame aus<br />

Tschechien Platz, die das Geld aus der<br />

Schweiz zur Renovation ihrer Wohnung<br />

einsetzen will. Sie sagt: «Ich mag zärtlich<br />

Sex.» Und später: «Nach zwei Wochen hier<br />

muss ich heim, sonst wird mir schlecht.»<br />

Die Damen sind zum Arbeiten hier. Freiwillig.<br />

Sie haben diesen Deal gewählt.<br />

Es gibt auch andere, Billigere. Die aus<br />

dem so genannten Russenbus. Ein Klubbetreiber<br />

erzählt, wie der Mann mit dem Russenbus,<br />

der ab <strong>und</strong> zu vorfährt, seine Ware<br />

anpreist. «Brauchst du Frauen? Habe ich<br />

im Auto, was du willst. Bulgarisch, ungarisch,<br />

rumänisch, habe ich alles.» Und:<br />

Einen habe er gekannt. «Er war auf Rumäninnen<br />

mit falschen Pässen spezialisiert.<br />

Fünfzig Prozent waren für ihn, fünfzig für<br />

die Mädchen.» Der Russenbus ist auch der<br />

Sittenpolizei Bern bekannt. Er mache ab<br />

<strong>und</strong> zu an der Guisanstrasse beim Hotel<br />

«Brauchst duFrauen? Habe ich<br />

im Auto,was du willst.Bulgarisch,<br />

ungarisch, rumänisch.»<br />

«Ibis» Halt, erzählt ein Polizist: «Die Frauen<br />

betreiben zwei Nächte Strassenstrich,<br />

dann fahren sie wieder weiter.»<br />

Ist das die berüchtigte Ostmafia, gegen<br />

die sich das B<strong>und</strong>esamt für Polizei Ende<br />

der Neunzigerjahre mit grossem Aufwand<br />

wappnete? Offenbar nicht. Milieu-Kenner<br />

sind sich einig, dass der Anteil von Frauen,<br />

die organisiert zur Prostitution gezwungen<br />

werden, verschwindend klein ist. Entwarnung<br />

gibt auch Bruno Fehr, Kripochef<br />

der Kantonspolizei Sankt Gallen: «Man<br />

sprach lange von der Russenmafia <strong>und</strong> deren<br />

Zuführung von Prostituierten. Im ursprünglich<br />

befürchteten Mass ist dies aber<br />

nicht feststellbar.»<br />

Noch bis Anfang der Neunziger ging es<br />

im Schweizer Sexmilieu vergleichsweise<br />

beschaulich zu <strong>und</strong> her. Es gab Milieu-<br />

Könige, Milieu-Barone. Sicher, dubios war<br />

auch da einiges. So erzählt etwa ein Cabaret-Betreiber:<br />

«Um an die Mädchen ranzukommen,<br />

hatte man zu Beginn Beziehungen<br />

zu einem Typen aus dem Osten.<br />

Der öffnete den Katalog. Mit der Zeit<br />

schaute man die Bilder nicht mehr an.<br />

Man sagte: ‹Bring, du weisst, was wir wollen.›»<br />

Doch immerhin, die Sache war grösstenteils<br />

geregelt. Die Behörden hatten<br />

den Überblick.<br />

Dann kamen die Ostfrauen, «nach<br />

Mauerfall <strong>und</strong> Perestroika», erinnert sich<br />

Franco Taiana, der im Zürcher Kreis 4 für<br />

Bewilligungen von Cabaret-Tänzerinnen<br />

zuständig ist, «zuvor reisten vor allem<br />

Frauen aus Südamerika <strong>und</strong> Asien ein».<br />

Aber bereits 1996 waren die Ostfrauen<br />

in der Mehrzahl. Das Produkt war blond,<br />

billig, willig <strong>und</strong> in Massen verfügbar. Es<br />

brachte den Markt zum Brummen. Das<br />

Produkt war auch klug. Der Tänzerinnen-<br />

Agent aus Zürich schwärmt noch heute:<br />

«Es gab damals zu wenig Blondinen im Milieu,<br />

<strong>und</strong> anfangs kam die russische Elite,<br />

Klasseweiber, sehr gebildet.» Just von diesem<br />

Edel-Artikel hatte die Branche nun<br />

plötzlich Überschuss. Sie konnte neue Absatzmärkte<br />

schaffen. Das Rotlicht verliess<br />

die Zentren.<br />

Die Erschliessung der Provinz begann<br />

entlang den Verkehrsadern. Bei den Autobahnausfahrten,<br />

in den Industriegebieten,<br />

entstanden so genannte Saunaklubs. «Sakura»<br />

in Oberengstringen ZH war 1992 der<br />

erste, dann folgten Klubs mit Namen wie<br />

«Römerbad», «Bolero», «Zeus», «Freubad»<br />

– <strong>und</strong> Dutzende kleinere, die meisten nach<br />

1995. Ihr wichtigstes Inventar waren die<br />

Frauen aus dem Osten, <strong>und</strong> die Besitzer gaben<br />

sich Mühe, der Prostitution den Ruch<br />

des Schmuddels wegzunehmen. Was ihnen<br />

gelang: Das Puff heisst heute Erlebnisoase,<br />

Sex nennt sich Entspannung, <strong>und</strong> die<br />

Klubs sind vormittags geöffnet.<br />

Zehn Millionen Umsatz pro Tag<br />

Geradezu epidemisch verbreitete sich das<br />

Rotlicht-Business von den Verkehrsadern<br />

aus weiter über die Landstrassen in die<br />

Dörfer. Ein «Cleopatra» oder ein «El Harem»<br />

lockt nun alle zwanzig Kilometer, <strong>und</strong> dem<br />

Freier winken tausend<strong>und</strong>eine Alternative.<br />

Aus dem einst beschaulichen Milieu wurde<br />

ein entfesselter Milliardenmarkt, auf dem<br />

sich die Anbieter kannibalisieren. Die Discount-Revolution<br />

frisst ihre Kinder.<br />

Schuld an diesem Boom sei die Zeitung<br />

«Cash», behauptet der Mann in Schwarz allen<br />

Ernstes. Diese nämlich schreibe regelmässig<br />

von «Traumrenditen», die im Sexgewerbe<br />

zu verdienen seien. Im Juni titelte<br />

die Wirtschaftszeitung: «Sex-Report: Im<br />

Rotlicht-Geschäft liegen Renditen von über<br />

30 Prozent drin.» Es war der vierte Bericht<br />

seit 2002 mit ähnlicher Stossrichtung.<br />

Diesmal schätzte das Blatt, dass die <br />

Tod einer<br />

Tänzerin<br />

Als Striptease-Girl erfüllt sich<br />

die Ukrainerin Alla Garkun in<br />

Zürich den Traum vom guten<br />

Leben. Sie findet einen Fre<strong>und</strong>.<br />

Sie nennt ihn «Schatzi» – dann<br />

bringt er Alla bestialisch um.<br />

D<br />

en Leuten sagen die Garkuns,<br />

Alla sei bei einem Autounfall<br />

gestorben. Was sollten sie<br />

auch sonst sagen? Antonina <strong>und</strong> Oleg<br />

Garkun, beide 51, waren von Anfang<br />

an dagegen. Und ihre Tochter Alla<br />

wusste, dass es den Eltern nicht gefällt,<br />

als sie im Dezember 2001 aufbrach in<br />

ein neues, hoffentlich besseres Leben;<br />

Alla wusste auch, worauf sie sich einliess.<br />

Zu Hause erzählte sie, dass sie als<br />

Nachtkassiererin in einer Bank arbeiten<br />

werde. Die Eltern versuchten es zu<br />

glauben.<br />

«Cabaret-Tänzerinnen sind Personen,<br />

die sich im Rahmen musikalisch unterlegter<br />

Showprogramme mehrere Male<br />

ganz oder teilweise entkleiden.»<br />

FOTOS: STEPHAN HILLE (2)<br />

Tänzerin Alla in Zürich, die Eltern am Grab ihrer Tochter in der Ukraine, Fotos von Alla in ihrem Zuhause in Mena: «Mama, mach den Sekt auf. Ich habe es geschafft.»<br />

(B<strong>und</strong>esamt für Migration,<br />

Weisungen über die Cabaret-Tänzerinnen)<br />

Mena, im Norden der Ukraine, hart an der russischen<br />

Grenze. Ein trostloses Nest mit 14000<br />

Seelen. Arbeit, ausser der im eigenen Gemüsegarten,<br />

gibt es hier kaum. «Mena», knurrt ein<br />

Taxifahrer, «ist ein Alptraum.»<br />

«Macht euch keine Sorgen»<br />

Ihren Heimatort hatte Alla als 17-jährige nach<br />

der Schule hinter sich gelassen, wie die meisten<br />

in ihrem Alter auch. In Tschernigow, der<br />

nächstgrösseren Stadt, studierte sie Finanz<strong>und</strong><br />

Kreditwesen. Nebenbei arbeitete sie vier<br />

Jahre in einer Bank für umgerechnet 100<br />

Dollar im Monat. Das ist selbst in der Ukraine<br />

zu wenig für eine junge Frau, die längst auf eigenen<br />

Füssen steht, die in der eigenen Einzimmerwohnung<br />

leben möchte <strong>und</strong> die wie<br />

ihre Fre<strong>und</strong>innen Wert auf ihr Äusseres legt.<br />

Inna, eine Fre<strong>und</strong>in, war bereits als Tänzerin<br />

in der Schweiz gewesen <strong>und</strong> schwärmte<br />

gegenüber Alla vom reichen Land fern der armen<br />

Ukraine. Sie half Alla, damals 23, die<br />

nötigen Dokumente auszufüllen <strong>und</strong> einen<br />

Vertrag mit einer Agentur in der Schweiz abzuschliessen.<br />

Ein Foto zeigt Alla in verführerischer Pose<br />

vor einer Spiegelwand in einem Schweizer<br />

Nachtklub: Eine hübsche Frau in einem glänzenden,<br />

grünen Kleid, tiefer Ausschnitt. Das<br />

Kleid, sagt Mutter Antonina Alexandrowna,<br />

habe Alla in der Ukraine selbst genäht. Den<br />

Leuten in Mena sagte die Mutter immer, dass<br />

ihre Tochter in Zürich in einer Bank arbeite.<br />

Alla rief jedes Wochenende zu Hause an.<br />

«Bis zuletzt hat sich Alla daran gehalten, auf<br />

sie war immer Verlass», schluchzt die Mutter.<br />

Am Telefon hörten die Eltern ihre Tochter<br />

schwärmen. Alles sei so sauber <strong>und</strong> ordentlich<br />

in der Schweiz. Die Menschen seien so<br />

fre<strong>und</strong>lich untereinander. Was Alla am meisten<br />

beeindruckte: Die Menschen achten das<br />

Gesetz. In der Schweiz, sagte Alla, könne ihr<br />

nichts passieren.<br />

«Alla hatte das Gefühl, im Paradies gelandet<br />

zu sein. Es muss für sie wie im Märchen<br />

gewesen sein», erzählt Vater Oleg Petrowitsch<br />

mit stockender Stimme. Seine Hände<br />

zittern. Über ihre Arbeit in Nachtklubs erzählte<br />

Alla nichts. Nur: «Alles okay. Macht<br />

euch keine Sorgen.»<br />

«Die Art der zu erbringenden Leistung muss aus<br />

dem Vertrag ersichtlich sein (z. B. Striptease<br />

integral oder partiell). […] Der Cabaret-Tänzerin ist<br />

eine schriftliche Lohnabrechnung auszuhändigen.»<br />

(B<strong>und</strong>esamt für Migration,<br />

Weisungen über die Cabaret-Tänzerinnen)<br />

Nach acht Monaten, im August 2002, endet ihre<br />

Aufenthaltsberechtigung. Sie fährt zum ersten<br />

Mal wieder zurück zu den Eltern nach Mena.<br />

R<strong>und</strong> 3700 Franken hatte sie monatlich<br />

verdient. Zuerst bezahlt Alla ihre Schulden.<br />

Den Eltern kauft sie einen neuen Fernseher,<br />

ein Videogerät <strong>und</strong> eine Musikanlage dazu.<br />

«Das war natürlich schön, aber gleichzeitig<br />

war es uns unangenehm», erinnert sich Oleg.<br />

In der Schule hatte Mutter Antonina einst etwas<br />

Deutsch gelernt. Auf einer der Abrechnungen<br />

entdeckt die Mutter das Wort «Tänzerin».<br />

«Ich mache nicht das, was ihr denkt»<br />

«Du hast uns angelogen!» Die Mutter ist entsetzt,<br />

Alla bricht in Tränen aus. Auf den Knien<br />

der Mutter entschuldigt sie sich. «Denke<br />

nicht, dass ich so tief falle <strong>und</strong> das mache, was<br />

du denkst», versichert Alla. Niemand dürfe<br />

sie gegen ihren Willen auch nur anfassen.<br />

Antonina fleht ihre Tochter an, nicht in die<br />

Schweiz zurückzukehren. Aber Alla weiss: In<br />

der Ukraine wird sie nicht bleiben. Sie kann<br />

aus dem neuen Leben nicht mehr zurück.<br />

«Ich werde euch immer helfen», verspricht<br />

sie. «Ihr könnt doch das Geld gut gebrauchen.»<br />

Die Garkuns können das Geld gut<br />

gebrauchen, Antonina leidet seit Jahren an<br />

Diabetes. Sie muss eine strenge Diät halten,<br />

braucht zweimal täglich eine Insulinspritze.<br />

Ihre Rente beträgt umgerechnet 75 Dollar. Alle<br />

zwei Monate überweist Alla ihren Eltern<br />

r<strong>und</strong> 200 Dollar, das Doppelte eines durchschnittlichen<br />

Monatsgehalts in Mena. Oleg<br />

arbeitet für umgerechnet 150 Dollar im Monat<br />

auf dem Arbeitsamt in Mena. Zum ersten<br />

Mal in ihrem Leben haben die Garkuns nun<br />

eine Waschmaschine. Regelmässig kommen<br />

Päckchen an aus Zürich, darin Spielzeug,<br />

Kleidung sowie Süssigkeiten für Allas Nichten<br />

Nastja, 4, <strong>und</strong> Julia, 12.<br />

<br />

F A C T S 2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5<br />

2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5 F A C T S


38 G E S E L L S C H A F T | T I T E L<br />

T I T E L | G E S E L L S C H A F T 39<br />

Ihren Eltern erzählt Alla im Frühjahr<br />

2003, sie arbeite nicht mehr als Tänzerin,<br />

sondern als Barfrau hinter der Theke.<br />

Im Sommer ist sie wieder für ein paar<br />

Monate in Mena. Der älteren Schwester<br />

Natascha kauft sie für 1200 Dollar ein<br />

heruntergekommenes altes Holzhäuschen<br />

mit vier Zimmern. «Natürlich war<br />

mir das unangenehm», sagt Natascha,<br />

30, heute. Neidisch auf die jüngere<br />

Schwester sei sie nie gewesen, im Gegenteil:<br />

«Ich freute mich für sie, weil sie offenbar<br />

glücklich war <strong>und</strong> in der Schweiz<br />

das erreicht hatte, was sie sich erträumt<br />

hatte.» Wären da nicht die beiden Kinder,<br />

wäre sie wohl auch gegangen, sagt Natascha,<br />

als niemand im Raum ist.<br />

Geheiratet, geschlagen, erwürgt<br />

Sie sei nun Klubmanagerin, erzählt Alla<br />

im Frühjahr vergangenen Jahres. Und sie<br />

sei mit Ali S. zusammen. Ali, 26 Jahre alt,<br />

ein verheirateter Schweizer iranischer<br />

Herkunft, arbeitete als Geschäftsführer<br />

im Klub «Le Royal». Ein kleines Striplokal<br />

im Zürcher Kreis 4 ohne besonderen<br />

Ruf.Alla <strong>und</strong> Ali wohnen direkt darüber im<br />

ersten Stock. Sie schickt den Eltern ein Video:<br />

Alla hat Ali am Zürichsee gefilmt. Das<br />

Video zeigt einen gut aussehenden grossen<br />

Mann im dunklen Anzug. Auf dem Video<br />

ist nur ihre Stimme zu hören. Alla<br />

klingt glücklich. Sie nennt Ali «Schatzi».<br />

Zum letzten Mal sehen die Eltern ihre<br />

Tochter am 9. März. Sie kommt für einen<br />

Tag, hat es eilig. Alla will heiraten, <strong>und</strong><br />

für die bevorstehende Hochzeit braucht<br />

sie Dokumente. Am 13. Mai, dem Tag ihrer<br />

Hochzeit, ruft sie die Eltern an: «Mama,<br />

mach den Sekt auf. Ich habe es geschafft,<br />

ich habe jetzt das ständige Aufenthaltsrecht.»<br />

Erst Wochen später kommen mit der<br />

Post Hochzeitsfotos. Alla trägt ein langes,<br />

Tut gut.<br />

rosafarbenes Kleid. Doch der Mann an ihrer<br />

Seite ist nicht Ali. Er heisst David.<br />

«Mama, es ging nicht anders.» Die Scheinhochzeit<br />

bricht den Eltern schier das Herz.<br />

Im Juni berichtet Alla am Telefon unter<br />

Tränen, dass Ali sie geschlagen habe.<br />

Es sei schrecklich. Sie müsse inzwischen<br />

allein die ganze Arbeit machen. «Du<br />

musst dich von ihm trennen, er wird dich<br />

wieder schlagen», fleht die Mutter. Alla<br />

sagt, sie habe so viel in die gemeinsame<br />

Wohnung investiert. Sie müsse das erst<br />

alles regeln.<br />

Den Absprung wagt Alla erst in der<br />

Nacht zum 5. August. Es soll ihr Todestag<br />

werden. Die Mutter vermutet, dass ihre<br />

Tochter inzwischen einen anderen Mann<br />

kennen gelernt hat. Was Alla genau in<br />

dieser Nacht im «Le Royal» sagt, kann nur<br />

Ali selbst sagen. Wenn er sich denn vor<br />

Gericht erinnern will. Polizei <strong>und</strong> Rettungssanitäter<br />

finden Alla am frühen<br />

Morgen im «Le Royal» mit eingeschlagenem<br />

Schädel <strong>und</strong> ausgeschlagenen<br />

Zähnen. Sie wurde erdrosselt. Daneben<br />

liegt Ali, unansprechbar <strong>und</strong> völlig betrunken.<br />

Zuvor soll er nie getrunken haben.<br />

Ali hat die Tat inzwischen gestanden.<br />

Er sitzt in Untersuchungshaft.<br />

Auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer<br />

von Antonina <strong>und</strong> Oleg steht eine Vase<br />

mit frischen Astern. Nach orthodoxem<br />

Ritus stehen daneben ein Glas Wasser,<br />

Obst <strong>und</strong> ein paar Süssigkeiten. Und das<br />

Foto der Hochzeit, die keine war.<br />

«Das Schlimmste war, dass ich nicht<br />

selbst in die Schweiz fahren konnte, um<br />

mir ein Bild zu machen», schluchzt die<br />

Mutter. Nun ist Alla wieder in Mena. Das<br />

Grab ist nur vierh<strong>und</strong>ert Meter vom Haus<br />

der Eltern entfernt. Ein Berg von Kränzen<br />

<strong>und</strong> Plastikblumen liegt in der Sonne.<br />

Und im Dorf zerreissen sich die Leute<br />

das Maul.<br />

Stephan Hille<br />

R<strong>und</strong> 20 000 Dirnen kommen<br />

aus Drittstaaten – das grösste<br />

Schwarzarbeiterheer im Land.<br />

Sexbranche zehn Millionen pro Tag umsetzt,<br />

so viel wie die Fleisch-<strong>und</strong>-Wurst-<br />

Branche. Und so wählerisch wie in der<br />

Metzgerei bedient sich auch der K<strong>und</strong>e.<br />

Die käufliche Liebe im Jahr 2005: enttabuisiert<br />

<strong>und</strong> demokratisiert. Verboten – das<br />

ist die Krux – bleibt sie nur den Dirnen.<br />

Auszug aus einer Polizeimeldung: «Die<br />

Polizei Kanton Solothurn führte eine Kontrolle<br />

im ‹Aquapark Kolosseum› durch. Zu<br />

Tage kamen Widerhandlungen gegen das<br />

B<strong>und</strong>esgesetz über Aufenthalt <strong>und</strong> Niederlassung<br />

der Ausländer (Anag) sowie Betäubungsmittel.<br />

Elf Frauen, wovon eine minderjährig,<br />

<strong>und</strong> der Betreiber sind in Haft.»<br />

Der Fall ist beispielhaft. Den grössten Teil<br />

des Milieu-Umsatzes erwirtschaften Dirnen,<br />

die schwarz arbeiten <strong>und</strong> oft illegal in<br />

der Schweiz sind. Der Sexmarkt ist auf r<strong>und</strong><br />

20000 Dirnen aus Drittstaaten angewiesen<br />

– das grösste Schwarzarbeiterheer im Land.<br />

Bloss: Diese Frauen haben keine Rechte.<br />

Denn die Gesetze, einst zum Schutz der Frau<br />

erschaffen, sind hoffnungslos veraltet.<br />

Der Parasit sollte verschwinden<br />

Sie stammen von 1992, aus der Zeit vor<br />

dem Boom. Damals regelte der Gesetzgeber<br />

die Angelegenheit durch ein reines<br />

Zuhälterei-Gesetz. Dieser – per definitionem<br />

– Parasit sollte verschwinden. Artikel<br />

195 im Strafgesetzbuch legt fest, dass bestraft<br />

wird, wer Dirnen «unter Ausnützung<br />

ihrer Abhängigkeit oder wegen eines Vermögensvorteils<br />

der Prostitution zuführt».<br />

Strafbar macht sich auch, wer Dirnen<br />

«überwacht oder Ort, Zeit, Ausmass oder<br />

andere Umstände der Prostitution bestimmt».<br />

Bestraft wird ausserdem – Artikel<br />

196 –, wer mit Menschen handelt.<br />

Faktisch verstösst jeder Milieu-Manager<br />

gegen Artikel 195. Er legt Arbeitszeiten<br />

Burgerstein Vitamine<br />

Erhältlich in Ihrer Apotheke <strong>und</strong> Drogerie.<br />

www.burgerstein.ch<br />

FOTOS: STEFAN JÄGGI, KAPO SG<br />

Etablissement in Buchs SG: Schüsse auf die Salontür.<br />

Wenn heute überhaupt jemand<br />

noch in die Mühlen der <strong>Justiz</strong><br />

gerät, dann sind es die Frauen.<br />

fest. Er schaut auf die Uhr, wenn die Dirne<br />

K<strong>und</strong>schaft hat, <strong>und</strong> er verdient dabei sein<br />

Geld. Doch das ist alles schwer nachzuweisen;<br />

die Milieu-Figuren haben sich arrangiert.<br />

Sie sind jetzt Hoteliers, Hauswarte<br />

oder Gastgeber. «Unsere Kontrolle beschränkt<br />

sich auf die Sauberkeit <strong>und</strong> die<br />

Einhaltung der Hausordnung», sagt etwa<br />

Olivier Morand, Betreiber des Saunaklubs<br />

«Zeus», «wir haben nichts zu verstecken.»<br />

Sein Klub sei ein Ort der Begegnung, <strong>und</strong><br />

«die Art dieser Begegnung interessiert uns<br />

nur insofern, als dass wir ein bisschen Umsatz<br />

machen wollen».<br />

Der Mann in Schwarz wird allerdings<br />

deutlicher: «Was wir mit der Polizei machen,<br />

ist ein Schachspiel, da entscheiden<br />

die Fehler. Wir machen keinen Fehler<br />

mehr.» Wenn heute überhaupt jemand<br />

noch in die Mühlen der <strong>Justiz</strong> gerät, dann<br />

sind es die Frauen. «Sie führten die<br />

Mädchen ab wie Schwerverbrecher», erinnert<br />

sich ein Bordellbetreiber, der Razzien<br />

<strong>und</strong> Haft erlebte. «Ich schüttelte den Kopf<br />

<strong>und</strong> sagte: ‹Es ist doch eine perverse Welt.<br />

Ihr wollt mich <strong>und</strong> führt diese Mädchen in<br />

Handschellen ab.›» Ein anderer lästert:<br />

«Polizisten sind wie Freier. Beide sind beseelt<br />

von der Idee, sie müssten Frauen retten.»<br />

Man sehe das an den Fragen, wenn<br />

mal wieder Razzia sei: Wurden Sie gezwungen?<br />

Sind Sie im Besitz ihrer Papiere?<br />

Er erinnert sich an einen Fall, in dem Frauen,<br />

die auspackten, drei Jahre Landesverweis<br />

erhielten – <strong>und</strong> jene, die schwiegen,<br />

nur zwei Jahre.<br />

Ironie daran ist, dass die meisten Dirnen<br />

mit den Klubbetreibern kooperieren,<br />

Interieur einer «Erlebnisoase»: Alle zwanzig Kilometer lockt ein «El Harem».<br />

meist aus freien Stücken; sie kämpfen<br />

gleichsam um ihren Arbeitsplatz. Denn:<br />

«Es fällt auf, dass sie den Honigtopf geniessen<br />

wollen wie andere auch», sagt Sepp<br />

Scheuber, der Milieu-Fahnder der Zürcher<br />

Stadtpolizei.<br />

Kommt dazu, dass das Gesetz schleichend<br />

die Strukturermittlung gehemmt<br />

hat: Hierarchie <strong>und</strong> Systematik des Gewerbes<br />

können kaum noch durchleuchtet werden.<br />

Sepp Scheuber klagt stellvertretend<br />

für seinen Stand, wenn er sagt: «Seit 1992<br />

sind die Verfahren viel komplexer geworden,<br />

aufwändiger <strong>und</strong> auch teurer.» Sein<br />

Kollege, der Sankt-Galler Kripo-Chef Bruno<br />

Fehr, bekräftigt dies <strong>und</strong> gesteht offen ein:<br />

«Gr<strong>und</strong>sätzlich beeinflussen wir das Milieu<br />

nicht.» Es sei denn, es finde im öffentlichen<br />

Raum statt oder es komme zu Gewalt.<br />

Im Kanton Aargau verbot das <strong>Justiz</strong>departement<br />

der Polizei sogar, ihr Register<br />

über die Rotlicht-Betriebe weiterzu- <br />

2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5 F A C T S


T I T E L | G E S E L L S C H A F T 41<br />

FOTO: GERSTER/LAIF<br />

führen – wegen dem Datenschutz. Den<br />

Überblick verloren haben aber auch jene,<br />

die ein Register führen dürfen, allen voran<br />

der B<strong>und</strong>. Vor drei Jahren noch richtete<br />

Bern eine «Koordinationsstelle gegen Menschenhandel»<br />

ein. Man wollte die Kantone<br />

im Kampf gegen Menschenhändler unterstützen,<br />

denn dieser habe «unsägliches<br />

Leid» zur Folge. Heute teilt die Koordinationsstelle<br />

im B<strong>und</strong>esamt für Polizei Ernüchterndes<br />

mit: «Wir verfügen leider über keine<br />

gesamtschweizerischen Zahlen über<br />

eröffnete Strafverfahren. Die letzten verfügbaren<br />

Zahlen zu Strafurteilen sind von<br />

2003.» Da gab es sieben Verurteilungen<br />

wegen Menschenhandels <strong>und</strong> fünf wegen<br />

Förderung der Prostitution. In Anbetracht<br />

der Dirnen-Heere, die illegal in der<br />

Schweiz arbeiten, sagen diese Zahlen so<br />

gut wie gar nichts aus.<br />

Doppelmoral bremst Politiker<br />

«Was ist Menschenhandel?», fragt ein Klubbetreiber.<br />

«Wenn du einen Laden hast <strong>und</strong><br />

ich ruf dich an, ob du mir ein Meitli hast?<br />

Das ist Personalvermittlung. Die Krux ist<br />

nur, die Dirne ist kein Personal, es gibt ja<br />

keine Prostituierten.» Es mag überraschen,<br />

doch der Beruf existiert tatsächlich nicht.<br />

Genau das ärgert Nationalrätin Christa<br />

Markwalder (FDP, Bern): «Der Staat ist<br />

zwar bereit, Steuern abzuschöpfen, rechtlich<br />

aber haben die Prostituierten gewaltige<br />

Nachteile.» Sie zählt auf: «Keine Sozialversicherung,<br />

keine Arbeitsversicherung,<br />

null Sicherheit, ja nicht einmal den Dirnenlohn<br />

können sie einklagen, weil dieser<br />

sittenwidrig ist.»<br />

Markwalder schlug Ende 2004 im Parlament<br />

die Anerkennung des Prostituiertenberufs<br />

vor. Erfolglos. Der B<strong>und</strong>esrat räumte<br />

zwar ein, dass dem Staat durch die Halblegalität<br />

der Branche knapp eine Milliarde<br />

Franken Steuern flöten gingen. Dann aber<br />

hielt er trocken fest: «Der B<strong>und</strong>esrat sieht in<br />

diesen Bereichen keinen Handlungsbedarf.»<br />

Markwalder ist enttäuscht. Keiner wage einen<br />

Schritt, «weil viele in der Doppelmoral<br />

unserer Gesellschaft verhaftet sind».<br />

In der Tat. Während sich die Gesellschaft<br />

in Sachen Sex freizügig bis zur<br />

Schmerzgrenze zeigt, kann die Politik ihre<br />

Berührungsangst mit dem ältesten aller<br />

Gewerbe nicht ablegen. «Einer müsste mal<br />

den Mut haben, 10000 Kontingente für<br />

Prostituierte aus Drittstaaten zu fordern»,<br />

sagt ein Milieu-Mann. Ein Arbeitsvertrag<br />

in einem Puff? Es wäre Zuhälterei.<br />

<br />

«Die Frauen haben Angst um ihre Familie»<br />

Jürgen Roth, Journalist mit dem Spezialgebiet Ost-<strong>Kriminalität</strong>,<br />

über Zwangsprostitution <strong>und</strong> Schutzgelder.<br />

FACTS: Herr Roth, die Grenzen zu den<br />

Ländern des ehemaligen Ostblocks werden<br />

durchlässiger. Hat das Auswirkungen auf die<br />

<strong>Kriminalität</strong> in der Rotlicht-Branche?<br />

Jürgen Roth: Das Thema wird zwar von<br />

den Rechten besetzt, doch leider teile ich<br />

die Befürchtungen. Die <strong>Kriminalität</strong> ist zwar<br />

jetzt schon grenzüberschreitend da, denken<br />

Sie an die organisierte <strong>Kriminalität</strong> <strong>und</strong> den<br />

Kriminaltourismus. Würden erst Länder wie<br />

Autor Jürgen Roth, 64: «90 Prozent<br />

der Rumäninnen kommen nicht freiwillig.»<br />

Bulgarien <strong>und</strong> Rumänien hinzukommen,<br />

wäre es eine Katastrophe, weil es dort noch<br />

nicht einmal ansatzweise eine Bürgergesellschaft<br />

gibt <strong>und</strong> der Staat teilweise mit den<br />

kriminellen Syndikaten zusammenarbeitet.<br />

FACTS: Sie erwähnen zwei Nationen, aus<br />

denen sehr viele Prostituierte kommen.<br />

Roth: Zumindest bei den Rumäninnen<br />

stecken ausschliesslich kriminelle Strukturen<br />

dahinter. 90 Prozent von ihnen kommen<br />

nicht freiwillig. Da werden die Frauen in den<br />

Dörfern rekrutiert <strong>und</strong> eingeschleust durch<br />

kriminelle Organisationen. Über diese<br />

bestehen nicht die geringsten Erkenntnisse.<br />

Das gilt für alle kriminellen Syndikate aus<br />

dem Osten. Einerseits sagen die Frauen<br />

nicht aus, weil sie Angst um die Familie<br />

haben. Anderseits sagen mir Polizisten <strong>und</strong><br />

Staatsanwälte, dass Richtung Osten nicht<br />

mehr ermittelt wird, weil Experten fehlen.<br />

FACTS: Wie sieht es bei den Frauen aus<br />

den GUS-Staaten aus?<br />

Roth: Da gibt es seitenlange Anzeigen von<br />

Bordellbesitzern aus der Schweiz mit einer<br />

Nummer, die man in der Schweiz anrufen<br />

kann, der so genannte Ostkontakt. Der nennt<br />

Kontaktpersonen in der Heimat. Von da an<br />

beginnt die Logistik. Das ist alles halbwegs<br />

legal, bis auf allfällig gefälschte Papiere.<br />

FACTS: Sie kommen aber freiwillig …<br />

Roth: … auf Gr<strong>und</strong> der katastrophalen<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse. Doch auch<br />

dafür braucht es Strukturen. Sie brauchen<br />

etwa ein Visum. Das wird zumindest seit<br />

einem Jahr restriktiv gehandhabt. Bei der<br />

Botschaft in Kiew gibt es Vermittlungsagenturen,<br />

die mit gefälschten Einladungsschreiben<br />

fungieren. Hier kommt das Prinzip<br />

Korruption ins Spiel. Man kann zum Beispiel<br />

nicht ausschliessen, dass in der Schweizer<br />

Botschaft in Kiew korrupte Einheimische<br />

arbeiten. Generell schätze ich, dass nur die<br />

Hälfte aller Frauen aus dem Osten wirklich<br />

ohne Zwang ins Milieu reist.<br />

FACTS: Werden im Milieu Schutzgelder<br />

bezahlt?<br />

Roth: Ich gehe davon aus, dass Betriebe,<br />

die von ethnischen Gruppen geleitet werden,<br />

Schutzgeld bezahlen. Es ist vollkommen<br />

unglaubwürdig, wenn ein solcher Klubbesitzer<br />

das Gegenteil behauptet. Vor kurzem<br />

flog in Deutschland der Chef eines Sicherheitsunternehmens<br />

auf. Er erpresste bei<br />

150 Betrieben Schutzgelder. Und keiner von<br />

denen hat vorher etwas gesagt.<br />

«Richtung Osten wird<br />

nicht mehr ermittelt,<br />

weil die Experten fehlen.»<br />

FACTS: Im Gegensatz zu Deutschland sieht<br />

das Schweizer Milieu harmlos aus.<br />

Roth: Mag sein. Das Stigma der gekauften<br />

Sexualität hat sich gewandelt, es ist ein<br />

Warengeschäft wie jedes andere. Doch das<br />

Problem beim Rotlicht ist immer auch,<br />

dass Wirtschaftsleute <strong>und</strong> Politiker mit<br />

drin hängen, nicht nur als K<strong>und</strong>en, sondern<br />

auch als Financiers. Darum kann die Polizei<br />

oft schlecht ermitteln.<br />

Das neue Buch des deutschen Mafia-Experten<br />

Jürgen Roth: «Aneta M. – Gejagt von der Polenmafia».<br />

Aufgezeichnet von Jürgen Roth.<br />

Eichborn, erscheint im Herbst, 34.90 Franken.<br />

2 2 . S e p t e m b e r 2 0 0 5 F A C T S


42 G E S E L L S C H A F T | T I T E L<br />

Kommt dazu, dass ein Politiker, der das<br />

Thema aufgreifen würde, Gefahr läuft, sich<br />

selbst zu erledigen.<br />

Keiner will sich die Finger verbrennen<br />

Bern, eine Bar 200 Meter entfernt vom<br />

B<strong>und</strong>eshaus: Treffen mit einem Nationalrat.<br />

Der Politiker ist bürgerlich <strong>und</strong> geht regelmässig<br />

in ein Bordell, das für Ostfrauen<br />

bekannt ist. Wird der Parlamentarier darauf<br />

angesprochen, streitet er erst mal alles<br />

ab. Dann aber wischt er sich den Schweiss<br />

von der Stirn <strong>und</strong> spricht verlegen von «privaten<br />

Eskapaden». Schliesslich räumt er<br />

auch ein: «Man müsste sicher etwas politisch<br />

unternehmen. Aber das müssen die<br />

Frauen machen. Ein Mann kann sich das<br />

politisch nicht leisten.»<br />

Keiner mag sich am dringenden Thema<br />

Prostitution die Finger verbrennen. Es<br />

verw<strong>und</strong>ert kaum, dass auch der Staatsanwalt,<br />

der eigentlich eine Berufsanerkennung<br />

für Prostituierte als einzige richtige<br />

Lösung sieht, anonym bleiben will. «Mit einer<br />

gesetzlichen Regelung», sagt er, «könnte<br />

man den Schutz der Frauen massiv verbessern.»<br />

Der Tänzerinnen-Agent aus Zürich<br />

glaubt sogar, dass die Branche nur darum<br />

so viel Geld macht, «weil Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Gesetze krank <strong>und</strong> verlogen sind. Die<br />

Branche profitiert von der herrschenden<br />

Doppelmoral.»<br />

Seltsam genug, dass ausgerechnet die<br />

Schweiz einst eine weltweit vorbildliche Arbeitsregelung<br />

im Rotlicht schuf; sie betraf<br />

Vorbildliche Schweiz: Seit 1990<br />

wird jeder Tänzerin ein<br />

Mindest-Nettolohn garantiert<br />

die Tänzerinnen. 1990 einigten sich Cabaret-Betreiber<br />

<strong>und</strong> Behörden auf Arbeitsverträge.<br />

Jeder Tänzerin wird seither ein Mindest-Nettolohn<br />

garantiert. Der Arbeitgeber<br />

bezahlt AHV, Versicherung, Steuern, Reisekostenentschädigung.<br />

Arbeitszeiten sind<br />

geregelt. Sogar eine Ombudsstelle existiert.<br />

Das alles schützt zwar nicht vor Missbrauch.<br />

Und auch nicht davor, dass sich<br />

Tänzerinnen prostituieren. Doch der Deal<br />

ist halbwegs fair. «Die Gagen hier sind zwar<br />

tiefer als in Deutschland», sagt der Tänzerinnen-Agent<br />

aus Zürich, «doch das Land<br />

ist für sie attraktiv, weil sie legal arbeiten<br />

können.»<br />

Und: Den Behörden ermöglicht dieser<br />

Sozialvertrag einen Überblick. So weiss etwa<br />

das B<strong>und</strong>esamt für Migration, dass im<br />

letzten Jahr exakt 5890 Tänzerinnen in die<br />

Schweiz einreisten. Legal einreisten.<br />

Doch auch dieser Deal stammt von vor<br />

dem Boom. Heute schreiben die teuren Cabarets<br />

rote Zahlen. Gefragt sind Dirnen.<br />

«Früher hatten wir Tänzerinnen, die sich<br />

prostituierten», sagt der Agent aus Zürich,<br />

«jetzt haben wir Nutten, die probieren zu<br />

tanzen.» Und morgen? Alles eine Frage des<br />

Arrangements, immerhin eine Kernkompetenz<br />

der Branche.<br />

Arrangiert haben sich bereits die Milieu-Manager.<br />

Sie stellen sich auf tiefere<br />

Gewinne ein. «Man kann sich nicht darauf<br />

verlassen», sagt der Mann im schwarzen<br />

Adidas-Trainer, «dass der K<strong>und</strong>e treu ist.»


46 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

JUSTIZ | GESELLSCHAFT 47<br />

atelier zuppinger nyon<br />

Die eingebildeten Opfer<br />

Ein bizarres Delikt beschäftigt zunehmend die Polizei: Vor allem<br />

junge Frauen täuschen ihre eigene Entführung vor. Was oft aus<br />

Hilflosigkeit geschieht, bringt sie erst recht in grosse Nöte.<br />

W<br />

as die schwangere Frau auf der<br />

Polizeiwache von Olten zu Protokoll<br />

gibt, lässt die Beamten<br />

aufhorchen. Aufgelöst berichtet Maria S.,<br />

26, Krankenschwester von Beruf, wie sie<br />

am helllichten Tag entführt worden sei. Im<br />

Zeugenaufruf schreibt die Kantonspolizei<br />

Solothurn Ende September: «Als sich das<br />

Opfer um 6.50 Uhr vor dem Fussgängerstreifen<br />

befand, hielt ein Van-artiger Personenwagen<br />

an. Daraus stiegen zwei maskierte<br />

Männer <strong>und</strong> zerrten sie auf den Rücksitz,<br />

wo sie ihr eine Augenbinde anlegten.»<br />

Gemessen am ungeheuerlichen Akt<br />

der Entführung war allerdings das Verbrechen,<br />

das der Portugiesin im Auto widerfahren<br />

sein soll, erstaunlich harmlos. Die<br />

Täter hätten ihr den Goldschmuck abgenommen,<br />

steht im Protokoll.<br />

Man fand die Kidnapper nie. Denn es<br />

gab sie nicht. Maria S. hatte das Drama, in<br />

dem sie die Opferrolle spielte, erf<strong>und</strong>en.<br />

Wen schaudert es nicht ob der Vorstellung,<br />

der Gewalt eines Entführers ausgesetzt<br />

zu sein? Tatsächliche Freiheitsberaubungen<br />

kommen in der Schweiz allerdings<br />

fast nie vor. Die bekanntesten Fälle der<br />

letzten zehn Jahre sind die Kindsentführung<br />

Kuvet (2000) <strong>und</strong> die Entführung<br />

des Tessiner Milliardärs Geo Mantegazza<br />

(1995). Die Polizei muss sich ungleich häufiger<br />

mit inszenierten Versionen von Entführungen<br />

beschäftigen. In den letzten vier<br />

Jahren narrten vorwiegend junge Frauen<br />

die Fahnder knapp ein Dutzend Mal; mit<br />

kaum einem andern Delikt gegen Leib <strong>und</strong><br />

Leben wird so oft Unfug getrieben.<br />

Die Fälle binden Kräfte der Polizei <strong>und</strong><br />

spielen Achterbahn mit dem Mitgefühl der<br />

Öffentlichkeit. Umso erstaunlicher, dass<br />

kaum ein Beamter grollt, wenn sich eine<br />

Opfergeschichte im Nachhinein als Lug<br />

<strong>und</strong> Trug erweist. Die Frauen werden<br />

wegen Irreführung der Rechtspflege zu Täterinnen,<br />

doch letztlich sind sie Opfer.<br />

«Hinter diesen Fällen stecken meist extreme<br />

seelische Nöte», urteilt Psychologe Norbert<br />

Hänsli, 44, Leiter der Jugendseelsorge<br />

Zürich. Maria S. etwa hatte Schulden <strong>und</strong><br />

ein schlechtes Gewissen. Beides wollte sie<br />

vor ihrer Familie verheimlichen – <strong>und</strong> ging<br />

BACARDI and the Bat Device are registered trademarks of Bacardi & Company Limited.<br />

FOTOS: KEYSTONE<br />

dafür noch weiter, als bloss eine<br />

Entführung vorzutäuschen.<br />

Eine Woche nach Marias Auftritt<br />

in der Oltner Wache berichtet<br />

eine Arbeitskollegin, die Krankenschwester<br />

sei erneut verschw<strong>und</strong>en.<br />

Allmählich wird die Polizei<br />

auf die Probleme der Vermissten<br />

aufmerksam. Maria könnte von<br />

sich aus davongelaufen sein, erwägen<br />

die Fahnder. Dennoch publizieren<br />

sie eine Vermisstmeldung.<br />

Bald darauf berichtet ein Reisebüroinhaber,<br />

Maria S. habe einen<br />

Flug nach Portugal gebucht. Von<br />

dort reist sie schliesslich nach einigen<br />

Tagen heim – <strong>und</strong> gesteht der<br />

Polizei beschämt, die St<strong>und</strong>en ihrer<br />

fingierten Entführung in einem<br />

Hotelzimmer verbracht zu haben.<br />

Die Gründe, die junge Menschen<br />

ihre eigene Verschleppung<br />

in Szene setzen lassen, sind oft erstaunlich<br />

trivial. «Es sind Kurzschlusshandlungen»,<br />

urteilt Psychologe<br />

Hänsli. «Am Anfang steht<br />

der impulsive Wunsch nach Mitleid<br />

oder Aufmerksamkeit.» Doch<br />

die Folgen sind gravierend: «Sind<br />

die Behörden erst eingeschaltet,<br />

geraten die Opfer in einen Teufelskreis<br />

aus der Scham zu gestehen<br />

<strong>und</strong> dem Zwang, ihre Geschichte<br />

durchzuziehen.»<br />

Sich selber fesseln<br />

Ein vierzehnjähriger Knabe, den<br />

ein Spaziergänger im Frühling in<br />

Herisau an eine Holzbeige geb<strong>und</strong>en<br />

fand, litt unter Stress in der<br />

Schule <strong>und</strong> Problemen zu Hause.<br />

Er hatte sich selbst gefesselt.<br />

Im Jahr 2000 behauptete eine<br />

junge Sankt-Gallerin, sie sei mit<br />

gezückter Pistole quer durch die<br />

Schweiz entführt worden. Ursprünglich<br />

hatte sie nur die Arbeit<br />

schwänzen wollen. Als sie dann<br />

hörte, dass sie vermisst gemeldet<br />

war, erfand sie das Kidnap-<br />

Märchen.<br />

In Deutschland fahndete diesen Frühling<br />

die Polizei nach dem Entführer einer<br />

19-Jährigen. Einen Monat später stellte<br />

sich heraus, dass die Schülerin die Geschichte<br />

erf<strong>und</strong>en hatte, um bequem von<br />

einer Party nach Hause zu kommen. Aus<br />

Geldmangel wählte sie die Notrufnummer<br />

Schwangere Maria S.: Die St<strong>und</strong>en ihrer fingierten<br />

Entführung in einem Hotelzimmer verbracht.<br />

Urnäscher Serviceangestellte: Die Volksseele grollte, im<br />

Restaurant ihres Vaters erschienen kaum noch Gäste.<br />

<strong>und</strong> erzählte, was ihr gerade in den Sinn<br />

kam.<br />

Die US-Studentin Audrey Seiler, 20,<br />

sorgte in Wisconsin für Schlagzeilen,<br />

nachdem man sie diesen Frühling in Embryostellung<br />

gefesselt in einem Sumpf entdeckt<br />

hatte. Sie brachte sich selber in diese<br />

Lage – um das Interesse ihres Fre<strong>und</strong>es<br />

zurückzugewinnen. Möglichst viel Aufmerksamkeit<br />

suchte auch die 13-Jährige,<br />

die vor vier Jahren die Kantonspolizei Solothurn<br />

auf Trab hielt. Sie sei in ein Auto gestossen<br />

<strong>und</strong> vergewaltigt worden, erzählte<br />

sie. Die Polizei fertigte ein Phantombild an.<br />

Der Fantasie des Mädchens entsprang ein<br />

Junge mit vollen Lippen <strong>und</strong> treuem Blick,<br />

ein Schönling, der bei einem Boyband-Casting<br />

gute Chancen gehabt hätte. 50 Hinweise<br />

auf konkret existierende Personen erhielten<br />

die Fahnder auf Gr<strong>und</strong> der Skizze,<br />

elf Polizisten waren während Wochen damit<br />

beschäftigt, die Verdächtigen zu überprüfen.<br />

Bei 14 Personen schien die Ähnlichkeit<br />

mit dem Phantombild hoch genug,<br />

um sie zur Einvernahme vorzuladen. Nach<br />

acht Wochen brach das Lügengebäude<br />

zusammen; das Mädchen wurde zum Fall<br />

für die Jugendanwaltschaft.<br />

Es blieb nicht der einzige Fall, der eine<br />

verhängnisvolle, allen Beteiligten entgleitende<br />

Dynamik entwickelte. Vor drei Jahren<br />

führte eine Serviceangestellte in Urnäsch<br />

AR Polizei <strong>und</strong> Öffentlichkeit an der<br />

Nase herum. Der Name der jungen Frau<br />

soll nicht wieder an die Öffentlichkeit<br />

getragen werden, wünscht Willi Moesch,<br />

Polizeisprecher in Trogen. Zur Serviertochter,<br />

die mit ihrem Verschwinden landesweit<br />

die Schlagzeilen beherrschte, sagt<br />

er heute: «Sie hat viel durchgemacht, litt<br />

lange.» Im Polizeikorps zürne ihr niemand<br />

Mit sich selber zugefügten<br />

W<strong>und</strong>en versuchte die Frau,<br />

Glaubwürdigkeit zu erlangen.<br />

– im Gegenteil: Es herrsche ein «gewisses<br />

Verständnis» für ihre damals schwierige<br />

Situation. «Sie hatte Probleme mit der Familie,<br />

<strong>und</strong> mit den Beziehungen klappte es<br />

auch nie recht», sagt Moesch. Wegen des<br />

Hilfeschreis einer Hilflosen mobilisierte<br />

die Polizei in einer Suchaktion Helikopter,<br />

H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> 270 Beamte. Der Name <strong>und</strong> ein<br />

Foto der Serviertochter wurden öffentlich.<br />

Sie selbst verfolgte die Nachrichten über<br />

die Fandung derweil bei einem Bekannten.<br />

Ihr blieb schliesslich nur, zurückzukehren<br />

<strong>und</strong> eine Geschichte aufzutischen,<br />

welche die galoppierenden Fantasien der<br />

Öffentlichkeit bediente. Man habe sie festgehalten,<br />

sie habe aus einem Blechnapf einen<br />

Brei essen müssen. Ihr Vater spekulierte<br />

im «SonntagsBlick», die «Sex-Mafia»<br />

habe seine Tochter entführt. Mit sich selber<br />

zugefügten W<strong>und</strong>en versuchte die <br />

Best enjoyed in moderation<br />

4. November 2004 FACTS


48 GESELLSCHAFT | JUSTIZ<br />

Frau, Glaubwürdigkeit zu erlangen. Vergeblich.<br />

Für den «Blick» war sie nach ihrem<br />

Geständnis nur noch die «Lügnerin». Die<br />

Volksseele grollte, im Restaurant ihres<br />

Vaters erschienen kaum noch Gäste. Sie<br />

selbst verlor gänzlich den Boden unter den<br />

Füssen. «Man kann sich nicht vorstellen,<br />

welche W<strong>und</strong>en das hinterlassen hat», sagt<br />

jemand aus ihrem Umfeld.<br />

Wegen Irreführung der Rechtspflege<br />

wurde die Frau zwar verurteilt; der Kanton<br />

erliess ihr aber einen Teil der Kosten für die<br />

Suchaktion. «Das war in unserem Sinne»,<br />

sagt Polizeisprecher Moesch. Heute steht<br />

ihr Name in keinem Telefonbuch mehr. Auf<br />

Anfragen der Presse reagiert sie nicht.<br />

Falls man sie nicht in Ruhe lasse, drohen<br />

Bekannte, rufe man die Polizei.<br />

Die Lust am Grauen<br />

Ist die Vorstellung, verschleppt zu werden,<br />

vielleicht gar attraktiv? In der Fantasie<br />

jedenfalls scheint der Horror zuweilen in<br />

Lust umzuschlagen. «Der Verlust von Kontrolle<br />

<strong>und</strong> der Entzug von Verantwortung<br />

Suchaktion im Appenzellerland: 270 Beamte mobilisiert.<br />

reizen mich extrem»: Mit diesen Zeilen<br />

bewarb sich eine 31-jährige Britin um die<br />

Teilnahme am Projekt Kidnap der Künstlergruppe<br />

Blast Theory aus England. Die<br />

Künstler versprachen, am 15. Juli zuzuschlagen;<br />

zwei Personen aus dem Kreis der<br />

Bewerber würden verschleppt. Über 200<br />

Frauen <strong>und</strong> Männer bewarben sich. Jeder<br />

Zehnte begehrte gar, die Zeit der<br />

Gefangenschaft nackt verbringen<br />

zu müssen. Das war 1998.<br />

Ein Journalist der «S<strong>und</strong>ay<br />

Times» konnte das Spiel vorab erleben.<br />

«Obwohl ich wusste, ich würde<br />

nur einen Tag in Gefangenschaft<br />

verbringen, hielt ich es kaum aus.»<br />

Den Gewinnern der Psycholotterie<br />

riet er: «Habt Angst, grosse Angst.»<br />

Aus künstlerischer Sicht beeindruckte<br />

die Aktion den Reporter<br />

indessen: «Kein anderes Theaterstück<br />

hat bei mir je so extreme<br />

Gefühle hervorgerufen.»<br />

War es das, was auch die Crew<br />

des Theaters Basel suchte? Zum<br />

Abschied des Schauspieldirektors Stefan<br />

Bachmann inszenierte es die Entführung<br />

des abtretenden Chefs auf offener Strasse.<br />

Das perfekt gegebene Drama hielt den<br />

Polizeiapparat st<strong>und</strong>enlang auf Trab. Am<br />

Ende sah sich die Staatsanwalt gezwungen,<br />

das Theater Basel anzuzeigen: wegen<br />

groben Unfugs.<br />

Balz Rigendinger

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!