Das Tagebuch der - thlenk
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<strong>Das</strong> <strong>Tagebuch</strong> <strong>der</strong><br />
Annicat<br />
Thomas Lenk
DAS TAGEBUCH DER ANNICAT<br />
Autor: Thomas Lenk, Berlin (www.<strong>thlenk</strong>.de/kontakt/)<br />
Erstveröffentlichung unter dem Pseudonym 'kuNga' bei on-city<br />
on-city ist eine virtuelle Stadt, bei <strong>der</strong> sich vor allem Jugendliche treffen.<br />
Man kann man Freundschaften schließen, Bil<strong>der</strong> in eine Galerie<br />
stellen, Bücher veröffentlichen, einkaufen, ins Casino gehen, im Café<br />
chatten, mit Aktien spekulieren, Grundstücke kaufen...<br />
on-city wurde von meinem Neffen Benjamin Buhler erschaffen.<br />
Wer Lust hat teilzunehmen, kann sich gern anmelden unter:<br />
http://on-city.com/w/kuNga<br />
Für Anmeldungen unter diesem Link erhalte ich virtuelle 'Dakaten' ;)<br />
Viel Spaß!<br />
Thomas Lenk<br />
Berlin-Schlachtensee, den 02.08.2009
Thomas Lenk<br />
<strong>Das</strong> <strong>Tagebuch</strong> <strong>der</strong><br />
Annicat
VORWORT<br />
Es war einer dieser verregneten Sommertage. Ich hatte frei, und nun<br />
das. Natürlich.<br />
Tief hing die graue Wolkendecke, und es plad<strong>der</strong>te und plad<strong>der</strong>te.<br />
In meiner Wohnung brannte den ganzen Tag Licht. Draußen war es<br />
so dunkel, dass die Laternen angegangen waren.<br />
Was sollte ich tun?<br />
Eine dieser Kisten anstellen, um mich berieseln zu lassen? Seichte<br />
Unterhaltung, unterbrochen von Werbung – o<strong>der</strong> ist es umgekehrt?<br />
Also habe ich lieber gleich den eigenen Computer eingeschaltet. So<br />
lässt es sich kreativ sein.<br />
Ach nein, schon wie<strong>der</strong> arbeiten? Da gibt es doch etwas Besseres –<br />
das Internet!<br />
Im Internet kann man surfen. Einfach hier klicken, es öffnet sich<br />
ein buntes Fenster. Dann da klicken, das nächste Fenster blinkt einen<br />
voller Freude an.<br />
Im Internet macht man, was einem selbst gefällt, und nicht das,<br />
was die Werbewirtschaft will. Glaubt man. Lei<strong>der</strong> stimmt das ganz<br />
und gar nicht, es ist aber eine schöne Illusion.<br />
Es dauerte nur wenige Klicks, schon wurden mir die tollsten Dinge<br />
angeboten. Alles wun<strong>der</strong>schöne Sachen, die ich eigentlich nicht<br />
brauche. Die ich mir genaugenommen auch gar nicht leisten kann.<br />
Und die überhaupt nicht in meine ohnehin schon vollgestopfte Wohnung<br />
passen würden.<br />
Aus lauter Langeweile versuchte ich es bei einer Suchmaschine mit<br />
frei erfundenen Begriffen. Nur so zum Spaß.<br />
Es kam wie erwartet. Die Begriffe waren <strong>der</strong> Suchmaschine unbekannt,<br />
stattdessen wurden mir virtuelle Kaufhäuser empfohlen.<br />
Als mein Frust allzu groß wurde, probierte ich einen Ausdruck,<br />
den die Suchmaschine kennen musste: 'Bushaltestellen'.<br />
– 7 –
Die Suchmaschine gab zurück:<br />
„Wollen Sie 'Bushaltestellen' kaufen?<br />
Jetzt Preisvergleich für 'Bushaltestellen'.<br />
Sofortkredit für 'Bushaltestellen'.<br />
'Bushaltestellen' günstig mieten.<br />
'Bushaltestellen' – preiswert übernachten?<br />
'Bushaltestellen' – alte Freunde treffen...<br />
'Bushaltestellen' – finden Sie noch heute ihre Partnerin.“<br />
Hm, Suchmaschinen scheinen eine gewisse Art Humor zu haben.<br />
Partnerin?<br />
Wie wäre es, wenn ich ein paar weibliche Namen eintippe und<br />
mich dann an <strong>der</strong> Antwort <strong>der</strong> Suchmaschine erfreue? Na ja, ganz<br />
normale Namen? Da würden ja Tausende von Hinweisen erscheinen.<br />
Ich hab's – ich denke mir einen Namen aus. Nur welchen?<br />
O je, ist das schwierig. Mein Computer brummt mich an, mein<br />
Hirn sagt gar nichts. Hallo! Eingeschlafen?!<br />
Es sollte schon ein ganz spezieller Name sein, <strong>der</strong> nicht nur gut<br />
klingt, son<strong>der</strong>n auch etwas Beson<strong>der</strong>es ausdrückt. Muss es ein<br />
menschlicher Name sein? Warum eigentlich? Nein.<br />
Mir fällt spontan ein katzenähnliches Wesen ein. In Ordnung,<br />
verbinden wir das Menschliche mit dem Katzigen: 'Annicat'.<br />
Die Suchmaschine gab zu meiner Enttäuschung etliche Verweise<br />
zu 'Annicat' aus.<br />
'Annicat' studiert Psychologie in Darmstadt, 'Annicat' arbeitet in<br />
einer Zahnarztpraxis in Göttingen, 'Annicat' redet nur spanisch und<br />
macht irgendwo in Mexiko etwas, von dem ich nun gar nichts verstehe...<br />
Zuallerunterst ein Verweis 'Annicat', als erklärende Ergänzung<br />
'<strong>Das</strong> <strong>Tagebuch</strong>...'<br />
Oh, gähn, das muss nicht sein. So etwas kennen wir ja. Endloses<br />
Geschwafel, und nach dem Lesen ist man frustriert, seine Zeit vergeudet<br />
zu haben.<br />
– 8 –<br />
Warum aber stand dort nicht mehr? Allen an<strong>der</strong>en Verweisen folgte<br />
<strong>der</strong> abgekürzte erste Satz <strong>der</strong> jeweiligen Seite.<br />
Kurzum, ich klickte auf den Verweis. Tatsächlich, nichts war auf<br />
<strong>der</strong> Seite eingetragen. Frechheit!<br />
Gerade als ich die Seite wegklicken wollte, wurde sie aktualisiert.<br />
Plötzlich stand dort etwas. Und alle paar Minuten wurde es immer<br />
mehr.<br />
Ich wartete, dass <strong>der</strong> erschienene Text zu seinem Ende kam. Es<br />
dauerte lange. Sehr lange.<br />
„Wie kann jemand nur so langsam tippen,“ dachte ich, „und auch<br />
noch so viele Tippfehler produzieren.“<br />
Endlich war <strong>der</strong> Text fertig geschrieben. Was ich da las, werde ich<br />
ganz schnell veröffentlichen.<br />
<strong>Das</strong> kann doch nicht wahr sein, o<strong>der</strong>? Mal sehen, was an<strong>der</strong>e<br />
Menschen dazu meinen.<br />
Außerdem werde ich auf dieser mysteriösen Seite täglich nachschauen,<br />
ob sich etwas Neues ergeben hat.<br />
– 9 –
ERSTTAG<br />
Tja, ich bin Annicat. Und ich bin eine Juca.<br />
So wie die Menschen mit den Affen verwandt sind, sind wir Jucas<br />
mit den Katzen verwandt. Es soll aber bloß keiner auf die Idee kommen,<br />
Jucas mit Katzen zu verwechseln. Schließlich halten wir Menschen<br />
auch nicht für Affen!<br />
Mit Menschen vergleiche ich uns schon eher, da Menschen die<br />
einzigen auf <strong>der</strong> Erde sind, die so einigermaßen an die Intelligenz<br />
von Jucas heranreichen.<br />
Daher schreibe ich dieses <strong>Tagebuch</strong> für Menschen – auch wenn<br />
ich das eigentlich gar nicht darf. Diese Geheimniskrämerei finde ich<br />
ziemlich bescheuert. Menschen sollen doch ruhig mal erfahren, was<br />
Jucas so machen. Außerdem fühle ich mich im Augenblick wie ein<br />
halber Mensch.<br />
Normalerweise sind wir Jucas nicht sichtbar. Wegen <strong>der</strong> blöden Untersuchung<br />
ist das bei mir an<strong>der</strong>s. Ich musste heute zur Untersuchung<br />
ins Gesundheitshaus. Nein, ich bin nicht krank! Ich will im<br />
Wissenshaus studieren und brauche dafür einen Gesundheitsnachweis.<br />
Theoretisch ist das recht schnell abgehakt, und man kann sich<br />
danach um viel wichtigere Dinge kümmern.<br />
Mein Pech – unsere Wissenschaftler haben eine neue Gesundheitsanlage<br />
entwickelt, die alle Gesundheitsprüfungen vollautomatisch<br />
durchführt. Außerdem soll sie mit Hilfe <strong>der</strong> neu entdeckten<br />
Rückstrahlen gleich kleine Mängel rückgängig machen können.<br />
Früher gab es im Gesundheitshaus jede Menge Angestellte, die an<br />
einem rumfummelten und einem die Gesundheitsprüfungen alle einzeln<br />
abnahmen. <strong>Das</strong> dauerte natürlich ganz schön lange.<br />
Dann hatte man lauter Maschinen hingestellt, wobei an je<strong>der</strong> Maschine<br />
jemand stand, um dort gleich mehrere Prüfungen durchzuführen.<br />
<strong>Das</strong> ging schon schneller.<br />
– 10 –<br />
Die jetzige Anlage sollte das alles toppen, und unsere Finanzexperten<br />
hatten schon ausgerechnet, wie viel sie sparen, wenn das ganze<br />
Personal erst mal rausgesetzt ist.<br />
Ich war nun die erste, welche die neue Anlage testen sollte. Die gesamte<br />
Untersuchung mit allen einzelnen Prüfungen und eventuellen<br />
Eingriffen sollte nur 5 Minuten dauern.<br />
„Prima,“ dachte ich, „wenn das so schnell geht, kann ich hinterher<br />
noch bei meiner Freundin Lyrjac vorbeischauen.“<br />
<strong>Das</strong> Ganze dauerte in <strong>der</strong> Tat nur 7 Minuten. Irgendetwas scheint<br />
aber schief gegangen zu sein. Als ich aus dem Untersuchungsraum<br />
heraus kam, blieb ich einfach sichtbar.<br />
Normalerweise muss ich mich anstrengen, um für an<strong>der</strong>e sichtbar<br />
zu sein. <strong>Das</strong> macht man ja schon aus Höflichkeit, wenn man an<strong>der</strong>e<br />
trifft. Auch für die Untersuchung sollte ich mich sichtbar machen.<br />
Ich habe das wunschgemäß getan, und nun geht es einfach nicht<br />
wie<strong>der</strong> weg. Keiner weiß warum, und ich weiß nicht, wie lange das so<br />
bleibt.<br />
Bis alles wie<strong>der</strong> normal ist, werde ich darüber dies <strong>Tagebuch</strong> schreiben.<br />
Wenn das <strong>Tagebuch</strong> also einfach ohne Ankündigung endet, bin<br />
ich wie<strong>der</strong> o.k.<br />
Ich gebe mir Mühe, dass nur Menschen mein <strong>Tagebuch</strong> zu lesen<br />
bekommen. Vielleicht entdeckt jedoch schon vorher eine an<strong>der</strong>e Juca<br />
mein <strong>Tagebuch</strong>, und ich werde bestraft, da ich ja mit Menschen überhaupt<br />
nicht kommunizieren darf.<br />
Also bitte, bitte nicht überall von meinem <strong>Tagebuch</strong> herumerzählen!<br />
– 11 –
ZWEITTAG<br />
Heute Morgen war ich im Wissenshaus, um mich über die angebotenen<br />
Kurse zu informieren.<br />
Dort traf ich meine Freundin Lyrjac. Lyrjac war ganz schön sauer.<br />
Sie fragte mich, wieso ich gestern denn nicht zu ihr gekommen sei.<br />
So erzählte ich ihr von <strong>der</strong> neuen Gesundheitsanlage und, dass ich<br />
jetzt sichtbar bleibe.<br />
Lyrjac meinte, das sei wie<strong>der</strong> mal ganz typisch für mich. Schon immer<br />
hätte es Schwierigkeiten mit mir gegeben, schimpfte sie, und die<br />
Sache jetzt wäre ja wohl von mir inszeniert, um mich wichtig zu machen.<br />
Ich weiß nicht, ob ich Lyrjac so schnell wie<strong>der</strong> treffen möchte...<br />
Immerhin habe ich im Wissenshaus erfahren, welche Kurse ich im<br />
kommenden 50er besuchen kann.<br />
Ach ja, die Zeiteinteilung ist bei uns Jucas ein bisschen an<strong>der</strong>s als bei<br />
den Menschen. Wie ich zu wissen glaube, gibt es noch ein paar weitere<br />
Unterschiede, was Menschen machen und was Jucas. Aber insgesamt<br />
finde ich alles sehr ähnlich.<br />
Wir Jucas rechnen im 5er-System. Die Menschen nehmen ja das<br />
10er-System, aber seltsamerweise ist ihre Zeiteinteilung völlig konfus.<br />
Im Wissenshaus habe ich mich also fürs kommende 50er gleich für<br />
ein paar Kurse eingetragen.<br />
Ob und worauf ich mich später spezialisiere, d.h. was ich dann mal<br />
hauptberuflich machen will, weiß ich noch nicht so genau. Es wird<br />
sich zeigen, mit welchen Kursen ich am besten zurecht komme.<br />
<strong>Das</strong> Schöne am Lernen im Wissenshaus ist, ich brauche mir überhaupt<br />
keinen Stress zu machen, mich auf etwas Bestimmtes festzulegen.<br />
Denn auch wenn man sich nicht spezialisiert, wird man so gut<br />
ausgebildet, dass man eigentlich fast alles machen kann.<br />
– 12 –<br />
Die Menschen tun mir Leid. Sie spezialisieren sich oft auf etwas,<br />
das nicht wirklich zu ihnen passt. Dann müssen sie doch total unglücklich<br />
sein!<br />
Ich dagegen lerne gern. Und ich freue mich, das ich das mein ganzes<br />
Leben lang machen darf. Denn bei uns Jucas ist es völlig normal,<br />
die Ausbildung nie abzuschließen.<br />
Auch wenn wir arbeiten, gehen wir zwischendurch immer wie<strong>der</strong><br />
ins Wissenshaus. Einerseits ist es toll, dort Freunde wie<strong>der</strong> zu treffen.<br />
An<strong>der</strong>erseits macht es Spaß, Neues zu erfahren. Und die Älteren<br />
dürfen – wenn sie nachweislich etwas auf dem Kasten haben – selbst<br />
Kurse anbieten.<br />
<strong>Das</strong> Wissenshaus habe ich dann wie<strong>der</strong> verlassen.<br />
Mittlerweile wimmelte es überall von Menschen. Es ist verdammt<br />
schwer, sich immer wie<strong>der</strong> hinter irgendwelchen Mauern verstecken<br />
zu müssen, um nicht gesehen zu werden.<br />
<strong>Das</strong>s ich dauerhaft sichtbar bin fängt an mich unheimlich zu nerven.<br />
Ich legte nur eine kurze Strecke zurück und war schon total fertig.<br />
Hoffentlich kommen jetzt nicht noch die Menschen auf die Idee,<br />
Jagd auf mich zu machen.<br />
Also – wie schon erwähnt – die Sache bitte nicht überall herumposaunen!<br />
– 13 –
MITTTAG<br />
Heute bin ich gar nicht gut drauf. Ich hatte ja erzählt, dass wir mit<br />
<strong>der</strong> 5 rechnen. Der Mitttag unserer 5er ist bei etlichen Jucas <strong>der</strong> Unglückstag,<br />
so wie bei vielen Menschen <strong>der</strong> Freitag ihrer Woche.<br />
Daran glaube ich aber nicht. So hat das gar nichts damit zu tun,<br />
dass ich mich heute mies fühle.<br />
Vorhin hatte ich überlegt, mit dem Schreiben des <strong>Tagebuch</strong>s aufzuhören.<br />
Vielleicht gibt es aber doch irgendwo einen Menschen, den<br />
mein <strong>Tagebuch</strong> interessiert und <strong>der</strong> enttäuscht wäre, wenn ich nicht<br />
weiter schriebe.<br />
Was passiert ist?<br />
Ich wurde vom Leiter des Wissenshauses angesprochen. Super,<br />
dachte ich, schon jetzt werden mir all meine gebuchten Kurse bestätigt.<br />
Denkste.<br />
In ganz ernstem Ton erklärte mir dieser Typ, dass ich mich bitteschön<br />
ab sofort vom Wissenshaus fernzuhalten hätte und es auf gar<br />
keinen Fall mehr betreten dürfe.<br />
Die haben doch einen am linken Ohr – nur weil <strong>der</strong>en neue Gesundheitsanlage<br />
versagt hat und ich sichtbar bin, stufen sie mich jetzt<br />
als Gefahr für die Allgemeinheit ein!<br />
Mit Lyrjac möchte ich die Sache lieber nicht besprechen. Wer<br />
weiß, was sie dann wie<strong>der</strong> an mir herumzumäkeln hat. <strong>Das</strong> kann ich<br />
jetzt gar nicht gebrauchen...<br />
So ist es vielleicht doch ganz gut, wenn ich mir meinen Frust von<br />
<strong>der</strong> Seele ins <strong>Tagebuch</strong> schreibe.<br />
Nachdem mich <strong>der</strong> Leiter des Wissenshauses angequatscht hatte, bin<br />
ich erst einmal bummeln und Essen holen gegangen. Ich hatte mir<br />
– 14 –<br />
etwas sehr Schönes ausgedacht, das ich mir heute zubereiten wollte,<br />
um mich etwas zu beruhigen.<br />
Wie ich so unterwegs bin, spürte ich ganz in <strong>der</strong> Nähe an<strong>der</strong>e Jucas.<br />
Auch wenn niemand sichtbar ist, merkt man als Juca doch ganz deutlich,<br />
dass da jemand ist. Man weiß nur nicht genau, wer.<br />
In diesem Fall war es offensichtlich eine Mutter mit ihren Kleinen.<br />
Ich wartete interessiert ab, wen ich denn jetzt treffen würde.<br />
Nichts da. Es passierte gar nichts. Niemand machte sich sichtbar, die<br />
Familie verdrückte sich offensichtlich einfach.<br />
Es ist eine eiserne Anstandsregel, dass man sich gegenüber an<strong>der</strong>en<br />
Jucas immer sichtbar macht. Die einzige Ausnahme ist, wenn<br />
fremde Wesen wie z.B. Menschen dabei zugucken könnten.<br />
Ich selbst hatte mich bis vorgestern ausnahmslos an diese Regel<br />
gehalten und mich allen mir nahe gekommenen Jucas gezeigt.<br />
Zwar bin ich wohl überdurchschnittlich empfindlich, die getroffene<br />
Familie spürte ich aber so überdeutlich, dass sie auch mich bemerkt<br />
haben muss.<br />
So eine Frechheit!<br />
– 15 –
VIERTTAG<br />
Langsam bin ich am Verzweifeln.<br />
Schon wie<strong>der</strong> habe ich an<strong>der</strong>e Jucas in meiner Nähe gespürt, aber<br />
niemand hat sich gezeigt. Mir schossen ganz wilde Gedanken durch<br />
den Kopf.<br />
Bilde ich mir das alles nur ein? Wenn ich seit <strong>der</strong> Gesundheitsuntersuchung<br />
sichtbar bin, sind dann möglicherweise auch meine Sinne<br />
durcheinan<strong>der</strong> geraten?<br />
Ich bin doch sichtbar, also auch für z.B. Menschen, o<strong>der</strong>? Ausprobieren<br />
möchte ich das lieber nicht. Denn das wäre für mich unangenehm,<br />
so wie es Menschen wohl unangenehm ist, von ihresgleichen<br />
nackt gesehen zu werden.<br />
Um nachzuschauen, ob es vielleicht Neuigkeiten in Sachen <strong>der</strong> neuen<br />
Gesundheitsanlage gibt, bin ich zum Gemeinschaftshaus getigert.<br />
<strong>Das</strong> Gemeinschaftshaus ist bei uns Jucas so etwas Ähnliches wie<br />
das Rathaus bei den Menschen. Die Menschen haben ja in letzter<br />
Zeit angefangen, in ihren Rathäusern nicht nur Politik zu machen<br />
und sich um die Verwaltung zu kümmern. Son<strong>der</strong>n sie bieten dort<br />
neuerdings auch simple Dienste für ihre Bürger an und machen<br />
Aushänge mit irgendwelchen für wichtig erachteten Informationen.<br />
Bei uns Jucas ist das Gemeinschaftshaus noch ein bisschen mehr.<br />
Es ist natürlich eine Kontrollstelle <strong>der</strong> gesamten Gemeinschaft. Doch<br />
wir Jucas haben auch bei kleineren Dingen ein Mitspracherecht. Je<strong>der</strong><br />
darf dort alle über seine Meinung informieren. Die Meinungen<br />
werden gesammelt, und von einem Gemeinschaftsrat wird dann in<br />
jedem Einzelfall die überwiegende Meinung auf Sinnvollkeit geprüft<br />
und als bindend festgeschrieben.<br />
<strong>Das</strong> klingt vielleicht etwas kompliziert, es ist jedoch nur ein kleiner<br />
Unterschied zu dem System <strong>der</strong> Menschen.<br />
Viele Jucas verachten die Menschen, weil sie ihresgleichen vorgaukeln,<br />
eine Demokratie zu haben. In Wirklichkeit beauftragen sie<br />
– 16 –<br />
an<strong>der</strong>e Menschen, sich um ihre Belange zu kümmern. Und die Beauftragten<br />
kümmert es oft herzlich wenig, wozu sie eigentlich beauftragt<br />
wurden. Etliche Jucas meinen also, es bei sich viel besser zu<br />
machen.<br />
Ich glaube aber, die Jucas haben sich noch nicht genug mit den<br />
Menschen beschäftigt. Wir können wohl nur nicht verstehen, warum<br />
die Menschen es so machen. Vielleicht würde es bei ihnen an<strong>der</strong>s gar<br />
nicht funktionieren?<br />
Draußen am Gemeinschaftshaus hing ein großes Plakat. Zu sehen<br />
war ein Foto von mir, das Lyrjac auf meiner letzten Geburtstagsfeier<br />
gemacht hatte.<br />
Ich sehe schrecklich darauf aus. Die Pupillen meiner Augen sind<br />
zu, <strong>der</strong> Blitz des Fotoapparates war zu hell. Der Lippenstift, den mir<br />
Lyrjac aus Jux aufgemalt hatte, passt nicht zu mir und ist verschmiert.<br />
Meine Nase ist ganz rot, und mein Fell ist ungekämmt...<br />
Unterhalb des Plakats hatte man einen öffentlichen Briefkasten<br />
hingestellt, in dem lauter kleine Kopien des Fotos lagen. Ich habe eine<br />
mitgenommen und packe sie nun zum <strong>Tagebuch</strong>.<br />
Auf dem Plakat stand in leuchtend Grün „WARNUNG“. Dann<br />
folgte ein Hinweis, dass man „dieser Person“ nur mit äußerster Vorsicht<br />
begegnen solle. Auch solle man sich ihr nicht mehr zeigen. Und<br />
sie hätte striktes Verbot, sich an <strong>der</strong> Meinungsfindung des Gemeinschaftshauses<br />
zu beteiligen.<br />
Bin ich nun eine Juca, o<strong>der</strong> bin ich's nicht? Tolle Demokratie!<br />
– 17 –
FÜNFTTAG<br />
Gerade bin ich Omrupp begegnet. Jawohl, er hat sich mir gezeigt!<br />
Ausgerechnet Omrupp!<br />
Omrupp ist ein Juca, <strong>der</strong> kaum älter ist als ich. Eigentlich wollten<br />
seine Eltern gerne ein Mädchen haben und es „Omrup“ nennen.<br />
Dann kam er. Da die Namen <strong>der</strong> Jungen immer mit zwei Konsonanten<br />
enden, haben seine Eltern ihn schließlich „Omrupp“ genannt.<br />
Omrupp ist als Son<strong>der</strong>ling verschrieen. Immer hat er eigene Ideen.<br />
Und im Gemeinschaftshaus ist er oft <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> gegen etwas ist,<br />
wofür alle an<strong>der</strong>en sind. Deswegen wird Omrupp von den meisten<br />
mit Missachtung gestraft. Man ignoriert ihn einfach.<br />
Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, dass auch ich mich daran<br />
beteiligt habe.<br />
Omrupp hatte mich schon ein paar Mal angesprochen. Er wollte<br />
immer, dass ich ihm helfe, irgendjemand an<strong>der</strong>em zu helfen, <strong>der</strong> in<br />
Schwierigkeiten war. Doch was ging mich das an?! Und so habe ich<br />
ihm wütend gesagt, er solle mich endlich in Ruhe lassen. Ich glaube,<br />
ich habe ihn sehr verärgert.<br />
Nachdem er sich schon mal über einen Beschluss <strong>der</strong> Gemeinschaft<br />
hinweg gesetzt hatte, bekam er eine Verwarnung. Sollte er dies<br />
nochmals tun, würden sie ihn ganz schwer bestrafen.<br />
Und jetzt macht er sich für mich, die ihn so geärgert hat, trotz des<br />
Verbots sichtbar...<br />
Omrupp bot mir an, für mich die Vertrauenseingabe beim Gemeinschaftshaus<br />
zu machen. Von seiner jetzigen Sichtbarkeit solle ich aber<br />
lieber niemandem erzählen.<br />
Die Vertrauenseingabe ist ein Antrag, eine Entscheidung über eine<br />
Person solange aufzuschieben, bis nochmals – und dann bei Be-<br />
– 18 –<br />
rücksichtigung auch wirklich aller Einzelheiten – über diese Person<br />
entschieden wird.<br />
Eine Vertrauenseingabe kann nur eine an<strong>der</strong>e Person für einen<br />
selbst machen. Dabei bürgt diese Person für eventuellen Schaden,<br />
den man selbst anrichtet. Es ist sehr wichtig, eine Person zu kennen,<br />
die einem so sehr vertraut, dass sie im Notfall eine Vertrauenseingabe<br />
für einen macht.<br />
Noch vor Kurzem hätte ich es für selbstverständlich gehalten, dass<br />
Lyrjac für mich da ist. Ich jedenfalls hätte es für Lyrjac sofort getan.<br />
In den letzten Tagen sind mir immer mehr Zweifel gekommen, ob<br />
sich Lyrjac je Mühe gegeben hat, wirklich eine Freundin für mich zu<br />
sein. Genaugenommen muss ich im Nachhinein zugeben, dass sie<br />
immer sehr oberflächlich war. Sie hat mir viel versprochen o<strong>der</strong> jedenfalls<br />
die Versprechungen angedeutet, aber daraus geworden ist<br />
nie etwas. Trotzdem denke ich viel an Lyrjac.<br />
Wenn Omrupp eine Vertrauenseingabe für mich macht, heißt das<br />
u.a., dass sich danach alle Jucas mir gegenüber wie<strong>der</strong> sichtbar machen<br />
müssen.<br />
Außerdem sagte Omrupp, er wüsste eine klitzekleine Chance, wie ich<br />
wie<strong>der</strong> zu meinen normalen Fähigkeiten käme. Einer <strong>der</strong> am Projekt<br />
„Gesundheitsanlage“ beteiligten Wissenschaftler habe ihm eingestanden,<br />
Mist gebaut zu haben, und ihn, Omrupp, um Hilfe gebeten.<br />
Die Rückstrahlen seien in <strong>der</strong> neuen Gesundheitsanlage aktiviert<br />
worden, obwohl man schon im Probebetrieb mit Läusen ganz<br />
schlimme Nebenwirkungen festgestellt habe.<br />
Seinen Fehler wolle <strong>der</strong> Wissenschaftler nun wie<strong>der</strong> gut machen,<br />
ich solle mir aber nicht zu viel Hoffnung machen. Es gebe die Möglichkeit,<br />
an mir nochmals diese ominösen Rückstrahlen auszuprobieren.<br />
Für mich würde <strong>der</strong> Wissenschaftler eine Ausnahme beantragen,<br />
ansonsten seien die Rückstrahlen jetzt verboten.<br />
– 19 –
Man könnte versuchen, mit verschiedenen Einstellungen herauszubekommen,<br />
wie ich auf Rückstrahlen reagiere. Möglicherweise<br />
würde man auch Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Sichtbarkeit beeinflussen können.<br />
Die Tests würden wohl eine ganze Weile dauern, sofern man überhaupt<br />
etwas herausbekommt.<br />
Omrupp versprach, den Wissenschaftler nochmals aufzusuchen.<br />
Dann bat er mich um die endgültige Genehmigung, für mich die<br />
Vertrauenseingabe machen zu dürfen, und ich erteilte sie ihm.<br />
Omrupp, ich bin überwältigt!<br />
– 20 –<br />
2. ERSTTAG<br />
Nun ist also schon eine 5er vorbei, seitdem ich dauerhaft sichtbar<br />
bin.<br />
Zuerst habe ich ganz vorsichtig am Gemeinschaftshaus vorbei geschaut.<br />
<strong>Das</strong> Plakat mit meinem Bild war weg. Omrupp scheint tatsächlich<br />
für mich die Vertrauenseingabe gemacht zu haben.<br />
Dann traf ich völlig überraschend meinen Vater. Ich hatte meinen<br />
Vater schon sehr lange nicht mehr gesehen. Nun zeigte er sich mir.<br />
Obwohl ich ehrlich gesagt von meinem Vater zuletzt gar nicht<br />
mehr begeistert war, freute ich mich erst einmal, überhaupt wie<strong>der</strong><br />
Jucas sehen zu können.<br />
Mein Vater ist völlig an<strong>der</strong>s als ich. Er denkt an<strong>der</strong>s, er reagiert an<strong>der</strong>s,<br />
er mag an<strong>der</strong>es Essen, hat einen an<strong>der</strong>en Humor, regt sich über<br />
an<strong>der</strong>e Dinge auf, und er sieht sogar irgendwie an<strong>der</strong>s aus.<br />
Er habe etwas Wichtiges mit mir zu besprechen, erklärte er mir.<br />
Warum er so geheimnisvoll tat, sagte er mir nicht. Er lud mich ein,<br />
mit mir auf den Sonnenhügel zu gehen, um sich dort in aller Ruhe<br />
mit mir unterhalten zu können.<br />
Den Sonnenhügel habe ich schon immer geliebt. Man legt sich bequem<br />
auf den Boden, wird von <strong>der</strong> warmen Sonne bestrahlt und<br />
kann einfach abhängen. Ich selbst las dabei immer irgendein Buch,<br />
alle an<strong>der</strong>en hielten nur die Augen geschlossen und dösten vor sich<br />
hin.<br />
Die Bücher organisierte ich mir bei den Menschen. <strong>Das</strong> Wissenshaus<br />
beherbergt kaum Bücher <strong>der</strong> Menschen. Es gibt nur sehr wenige Jucas,<br />
welche die Sprache <strong>der</strong> Menschen auch nur ansatzweise beherrschen.<br />
Ich selbst habe mich ganz viel damit beschäftigt.<br />
Alle Bücher habe ich aber immer wie<strong>der</strong> dahin zurückgebracht,<br />
wo ich sie her hatte! Einmal gab es einen Riesentumult bei den Men-<br />
– 21 –
schen, weil ihnen ein Buch fehlte und sie sich nicht erklären konnten,<br />
wie es verschwunden war.<br />
Insofern hat Lyrjac, die mir „Schwierigkeiten“ mit mir vorwarf,<br />
zugegebenermaßen nicht ganz Unrecht. An<strong>der</strong>e Jucas erzählten hinter<br />
meinem Rücken, ich hätte eine Macke. In dieser Sache stand Lyrjac<br />
jedenfalls zu mir.<br />
Durch das viele Lesen von Büchern <strong>der</strong> Menschen habe ich nicht nur<br />
ihre Sprache richtig gelernt, son<strong>der</strong>n kann nun auch ihre Gedanken<br />
besser verstehen. Meine ich jedenfalls.<br />
Ich bin wohl inzwischen diejenige Juca, die sich am besten damit<br />
auskennt. Im Wissenshaus wollte ich deswegen schon einen Kurs über<br />
Menschen, ihre Sprache und ihre Gedanken abhalten. <strong>Das</strong> stieß<br />
dort auf wenig Begeisterung.<br />
Es sei EINE Sache, eine fremde Sprache zu lehren, und eine<br />
ANDERE, allen Jucas mit Gedanken einer fremden Spezies zu<br />
kommen. Ich würde das offensichtlich unreflektiert durchmischen.<br />
Für die Kultur <strong>der</strong> Jucas wäre das gefährlich, und ich solle es bleiben<br />
lassen.<br />
Na ja, wer nicht will, <strong>der</strong> hat schon...<br />
Mit meinem Vater erreichte ich den Sonnenhügel, die Sonne schien,<br />
und wir legten uns gemütlich hin.<br />
Ob mir schon mal aufgefallen wäre, dass ich ein klein wenig an<strong>der</strong>s<br />
wäre, fragte mein Vater. So eine Frage... Na hoffentlich bin ich<br />
an<strong>der</strong>s, was macht denn sonst ein Individuum aus?!<br />
Ich müsse jetzt ganz stark sein, sagte mein Vater, denn er wolle<br />
mir die Wahrheit erzählen. O<strong>der</strong> das, was er für die Wahrheit hielte,<br />
denn ganz sicher sei er sich dabei auch nicht.<br />
Er sei zwar mein Vater, <strong>der</strong> mich ganz doll lieb habe, aber er sei in<br />
Wirklichkeit gar nicht mein leiblicher Vater.<br />
Ja, wir beide hätten uns schon oft reichlich missverstanden. <strong>Das</strong><br />
läge aber in <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Sache. Denn er wolle mich ja immer lieb<br />
– 22 –<br />
haben, so wie wohl auch ich ihm eigentlich den nötigen Respekt entgegenbringen<br />
wolle, den ein Juca verdient hat.<br />
Er habe mir auch nie die Schuld geben wollen, dass meine Mutter<br />
bei meiner Geburt gestorben ist. So etwas sei zwar äußerst selten, aber<br />
es passierte halt. Er habe sie sehr vermisst, so wie wohl auch ich<br />
es vermisst hätte, ohne sie aufzuwachsen.<br />
Vor meiner Geburt habe sich meine Mutter ihm noch anvertraut.<br />
Er habe es gar nicht glauben wollen, so skurril habe das geklungen,<br />
was ihm meine Mutter erzählt habe. Sie erzählte von einer fremden<br />
Rasse, die den Jucas sehr ähnlich wäre.<br />
Auf einer Reise ins Gebirge hatte sie einen Unfall. Beim Wan<strong>der</strong>n<br />
über einen schmalen Grat war meine Mutter auf einem rutschigen<br />
Felsen ausgeglitten und einen Abhang in eine Schlucht gestürzt. Kein<br />
Juca hätte angenommen, dass sie das überlebt.<br />
Völlig bewegungslos lag sie auf dem Boden <strong>der</strong> Schlucht, als sich<br />
ihr auf einmal ein Juca sichtbar machte. Sie dachte jedenfalls im ersten<br />
Augenblick, dass es ein Juca wäre, hatte ihn aber gar nicht in ihrer<br />
Nähe gespürt.<br />
Sie versuchte, sich sichtbar zu machen, hatte aber nicht die Kraft<br />
dazu. Er strich ihr über das Fell, sie spürte ein seltsam wohliges<br />
Kribbeln, und plötzlich war sie sichtbar. Er lächelte sie an, strich ihr<br />
wie<strong>der</strong> über das Fell, und sie war unsichtbar.<br />
Dann nahm er sie mit und pflegte sie solange, bis sie wie<strong>der</strong> kräftig<br />
genug war, für sich selbst zu sorgen. Ihre Dankbarkeit wandelte sich<br />
in Liebe. Erst nach einem reichlichen 25er tauchte sie wie<strong>der</strong> bei den<br />
Jucas auf.<br />
Und er, mein „Vater“, sei genaugenommen nur mein Onkel.<br />
Im Gemeinschaftshaus habe man – ohne mich in die Beratung einzubeziehen<br />
– aus Angst so überreagiert. Was wäre, wenn ich nach<br />
<strong>der</strong> misslungenen Bestrahlung nun auch so erstaunliche Fähigkeiten<br />
– 23 –
wie mein wirklicher Vater hätte. Man wüsste ja gar nicht, was da alles<br />
auf die Jucas zukäme!<br />
Omrupp habe heute alle überzeugt, dass ich den Jucas gar nichts<br />
Böses wolle.<br />
Lange Zeit erwi<strong>der</strong>te ich gar nichts, dann verabschiedete ich mich<br />
und lief den Sonnenhügel wie<strong>der</strong> hinunter.<br />
Ich muss das erst einmal verdauen. Vater, Onkel, fremde Rasse –<br />
das geht mir einfach zu schnell...<br />
– 24 –<br />
2. ZWEITTAG<br />
Um von allem etwas Abstand zu gewinnen und um einen klaren<br />
Kopf zu bekommen, war ich im Blauen See schwimmen.<br />
Jucas haben sich schon vor sehr langer Zeit beigebracht, wie man im<br />
Wasser schwimmt, also vorwärts kommt, ohne unterzugehen. <strong>Das</strong><br />
beherrscht man praktisch von Anfang an. Menschen wissen noch gar<br />
nicht so lange, wie man es macht. Seitdem bringen sie es ihrem<br />
Nachwuchs immer mühsam bei.<br />
Etliche Menschen scheinen ausgesprochen gerne zu baden und zu<br />
schwimmen. So wie ich – ich liebe es! Diese Leichtigkeit, diese Frische,<br />
diese Sauberkeit danach...<br />
Seltsamerweise ist es bei den Jucas normalerweise genau umgekehrt.<br />
Obwohl sie eigentlich besser als Menschen schwimmen können,<br />
mögen sie es überhaupt nicht. All meine Bekannten und Verwandten<br />
gehen überhaupt nicht gern ins Wasser.<br />
Insofern muss ich meinem Vater-Onkel Recht geben, dass ich in<br />
manchen Dingen deutlich an<strong>der</strong>s bin als die meisten. Aber das darf<br />
man ja wohl auch, o<strong>der</strong>?!<br />
So enspannt wie beim Schwimmen habe ich mich lange nicht mehr<br />
gefühlt. Ich bin sogar von Menschen gesehen worden, und es hat mir<br />
nichts ausgemacht.<br />
Zwei dieser Menschen sind mir ganz nahe gekommen. Eine Menschenmutter<br />
schwamm mit ihrer kleinen Tochter, die das Schwimmen<br />
wohl gerade gelernt hatte, an mir vorbei. „Guck mal, ein Otter“,<br />
sagte die Mutter. „<strong>Das</strong> ist ein Biber!“ wi<strong>der</strong>sprach die Tochter.<br />
<strong>Das</strong> Verlassen des Wassers war mir wie immer unangenehm. Insbeson<strong>der</strong>e<br />
hasse ich diesen Sand, <strong>der</strong> sich immer im Fell festsetzt,<br />
wenn man nicht aufpasst. Er kratzt solange, bis er herausgefallen ist,<br />
wenn das Fell endlich wie<strong>der</strong> trocken ist. Menschenkin<strong>der</strong> scheinen<br />
Sand ausgesprochen zu mögen, ich mag ihn nicht!<br />
– 25 –
Auch bei den Menschen scheint es Ausnahmen zu geben. Ich sah<br />
noch eine an<strong>der</strong>e Menschenfrau, die baden ging. Um besser sehen zu<br />
können, hatte sie sich so kleine Glasstücke auf die Augen gelegt.<br />
Auch wenn ich ihre Worte nicht ganz genau verstand – sie schimpfte<br />
ganz offensichtlich über den Sand.<br />
Nach dem Baden ließ ich mich von <strong>der</strong> Sonne trocknen. Nicht weit<br />
von mir entfernt ließ sich zum selben Zweck die Menschenmutter<br />
mit ihrer Tochter nie<strong>der</strong>. „Kein Problem“, dachte ich.<br />
„<strong>Das</strong> ist aber ein komischer Biber“, hörte ich die Tochter sagen.<br />
„Er hat so merkwürdige Augen und ist größer als ich. Wieso legt er<br />
sich an den Strand? Ich dachte, Biber bauen immer nur Biberburgen?<br />
Und er ist eben auf zwei Beinen gelaufen!“<br />
„Nun hör aber mal auf 'rumzuspinnen“, sagte die Mutter. Und ich<br />
beschloss, mir schnellstens ein weniger beobachtetes Plätzchen zum<br />
Trocknen zu suchen. Vorsichtig und ganz bewusst auf allen Vieren<br />
verdrückte ich mich in Richtung Büsche.<br />
Während ich noch so auf dem Boden kroch, spürte ich einen an<strong>der</strong>en<br />
Juca näher kommen. „Auch das noch!“ dachte ich, „jetzt muss ich<br />
mich vor meinesgleichen zur Katze machen.“ Ich erreichte gerade<br />
einen großen Granit-Findling, die Menschen beobachteten mich vielleicht<br />
noch.<br />
Der an<strong>der</strong>e Juca kam mir entgegen und konnte mich nicht sehen,<br />
denn <strong>der</strong> Findling befand sich zwischen uns. Jeden Augenblick musste<br />
er mich aber spüren, und dann würde er natürlich sofort neugierig<br />
nach mir schauen. Nein, in dieser lächerlichen Situation wollte ich<br />
nicht bemerkt werden. Vor Erregung kribbelten mir die Oberarme.<br />
<strong>Das</strong> Gefühl <strong>der</strong> Nähe des an<strong>der</strong>en wurde sehr stark. Doch was war<br />
das? Es wurde wie<strong>der</strong> schwächer. Der an<strong>der</strong>e lief offensichtlich an<br />
mir und dem Findling vorbei, ohne mich zu beachten! Endlich stand<br />
ich hinter dem Felsen und lugte hinüber, woran die Menschen wohl<br />
nichts Beson<strong>der</strong>es finden durften.<br />
– 26 –<br />
Jetzt sollte <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Juca, den ich noch halbwegs in <strong>der</strong> Nähe<br />
spürte, mich doch auch endlich einmal bemerken! <strong>Das</strong> Kribbeln in<br />
den Oberarmen ließ nach, und plötzlich machte er sich sichtbar. Es<br />
war mein Vater-Onkel.<br />
Kritisch ruhten seine Augen auf mir, und ernst klangen seine Worte.<br />
Er hätte mich hinter dem Findling nicht gespürt. <strong>Das</strong>s es so kommen<br />
würde, habe er geahnt. Aber er vertraue mir.<br />
Ich verstand rein gar nichts.<br />
– 27 –
2. MITTTAG<br />
Omrupp hat mich aufgesucht. Oh, wie habe ich mich gefreut, ihn zu<br />
sehen!<br />
Morgen wollen wir uns mit dem Wissenschaftler treffen. Er hat die<br />
Genehmigung bekommen, die Rückstrahlen nochmals bei mir einzusetzen.<br />
Allerdings ist er sehr skeptisch, ob sich wirklich meine dauerhafte<br />
Sichtbarkeit rückgängig lässt.<br />
Der Wissenschaftler habe vorgeschlagen, ich solle mich bei unserem<br />
morgigen Treffen von seinem Freund, einem Psychiater untersuchen<br />
lassen. Sein Freund meine, wenn ich physisch soweit in Ordnung<br />
sei, wäre mein Zustand typisch für eine sogenannte Blockade.<br />
Ich bin doch nicht bekloppt, was bilden die sich ein!<br />
Überhaupt möchte ich erst einmal wissen, wieso gerade ICH zum<br />
Austesten <strong>der</strong> neuen Gesundheitsanlage ausgewählt wurde. Ist das<br />
vielleicht kein Zufall? Wusste man schon vorher von meiner Herkunft?<br />
<strong>Das</strong> wäre ein Ding! Rassismus bei den ach so weltoffenen Jucas...<br />
Omrupp sah mich von <strong>der</strong> Seite verschämt mit weit offenen Augen<br />
an und stammelte: „Früher warst Du nicht immer nett zu mir... Doch<br />
ich habe gemerkt, dass du an<strong>der</strong>s sein kannst. Vielleicht bist du es ja<br />
auch, und ich hatte mich geirrt o<strong>der</strong> irgendetwas provoziert... Also<br />
mir ist aufgefallen, ich mag dich irgendwie...“<br />
Hach, ist er süß, wenn er so herumdruckst!<br />
„Nun“, setzte er fort, „ich möchte gerne, dass du gesund bist,<br />
bleibst, wirst... Diese schlimmen Nebenwirkungen <strong>der</strong> Rückstrahlen<br />
machen mir ziemlich Sorge. Ich habe gestern gesehen, was mit den<br />
Laborläusen passiert ist. Außerdem habe ich mittlerweile den Verdacht,<br />
dass <strong>der</strong> Wissenschaftler nicht ganz uneigennützig Tests an<br />
dir durchführen möchte. Er hat vermutlich geheime Vorgaben des<br />
Gemeinschaftsrates, welche Tests er nebenbei an dir durchführen<br />
soll.“<br />
– 28 –<br />
„Hm, meinst du, ich soll den Termin morgen absagen?“ fragte ich.<br />
„Absagen nicht“, erwi<strong>der</strong>te Omrupp, „wir sollten sehr vorsichtig<br />
sein. Die Genehmigung zur Nutzung <strong>der</strong> Rückstrahlen lag schon vor,<br />
bevor sie beantragt war. <strong>Das</strong> finde ich äußerst seltsam! <strong>Das</strong> Interesse<br />
des Gemeinschaftsrats, Dich zu untersuchen, ist sehr auffällig. Der<br />
Wissenschaftler will seinen Job behalten. Vielleicht wird uns das ganze<br />
Theater mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gutmachung nur vorgespielt?“<br />
„Ich habe gar keine Lust mehr, diesen Wissenschaftler zu treffen“,<br />
knurrte ich.<br />
„<strong>Das</strong> sollten wir aber“, wi<strong>der</strong>sprach Omrupp, „denn sonst wissen sie<br />
zu früh, dass wir sie durchschauen. Ich rate dir übrigens, in dieser<br />
Sache keinem Juca mehr zu trauen. Auch deinem Vater-Onkel und<br />
mir nicht. Ja auch mir! Sieh nur, wie sie mich benutzt haben, dich<br />
mit dem Wissenschaftler zusammenzubringen. Die übertriebene Zustimmung<br />
<strong>der</strong>er im Gemeinschaftsrat, die meinen Ideen sonst NIE<br />
folgen, hat mich stutzig gemacht. Mann, war ich naiv!“<br />
„Der Freund des Wissenschaftlers kann uns vielleicht doch ganz<br />
nützlich sein!“ fuhr Omrupp fort.<br />
„Ach, du!“ strahlte ich ihn an.<br />
Und dann nahm Omrupp mich in seine Arme.<br />
– 29 –
2. VIERTTAG<br />
Auf dem Weg zum Wissenschaftler überlegten Omrupp und ich, wie<br />
wir uns verhalten sollten. Auf keinen Fall wollte ich, dass gleich die<br />
Rückstrahlen eingesetzt würden. Man sollte mich vorher erst einmal<br />
genau aufklären, welche Tests geplant wären. Omrupp würde immer<br />
bei mir bleiben und mich nicht aus den Augen lassen.<br />
Unterwegs trafen wir Lyrjac. Sie machte sich höflichkeitsgemäß<br />
sichtbar, und ich sah sie nahezu apathisch auf einem abgesägten<br />
Baumstumpf sitzen. Sie warf mir einen verbitterten Blick zu und<br />
murmelte: „Die Dame hat Verstärkung, da bin ich ja wohl unnötig.“<br />
Ich wusste nicht, was ich erwi<strong>der</strong>n sollte, und so gingen Omrupp und<br />
ich wortlos weiter.<br />
Erwartungsgemäß handelte es sich bei <strong>der</strong> angegebenen Adresse des<br />
Wissenschaftlers nicht um eine Privatwohnung, son<strong>der</strong>n um ein Labor.<br />
Als beruhigend empfand ich es, dass wir nicht allein waren und<br />
im Labor ein emsiges Treiben vieler an<strong>der</strong>er Jucas herrschte.<br />
Den Wissenschaftler hatte ich mir als jucascheuen und zerstreuten<br />
Eigenbrötler vorgestellt, <strong>der</strong> sich so intensiv in seine Arbeit vertieft,<br />
dass ihm nebenbei schon einmal ein Fehler unterlaufen kann. <strong>Das</strong><br />
Gegenteil war <strong>der</strong> Fall.<br />
Vor uns stand ein extrovertierter und wortgewaltiger Juca, <strong>der</strong> sich<br />
bestens mit den kleinen Tricks zur Manipulation von Gesprächspartnern<br />
auskannte. Ob er auf seinem Gebiet <strong>der</strong> Wissenschaft auch<br />
so großartig ist, wage ich zu bezweifeln. Omrupps Pessimismus und<br />
Argwohn schienen in <strong>der</strong> Tat angebracht zu sein.<br />
Sämtlichen Fragen meinerseits wich er aus. Mein beharrliches<br />
Nachhaken interpretierte er sogleich als persönlichen Vorwurf an<br />
ihn, den ich ihm doch wohl nicht machen wolle?! Man hätte sich<br />
schon etwas dabei gedacht, wie man mich testen wolle. Selbst nach<br />
langer Diskussion wusste ich nicht mehr als zuvor.<br />
– 30 –<br />
Schließlich meinte er, ich wüsste ja nun Bescheid und solle dann<br />
einen Termin abmachen, um die Tests durchführen zu lassen. Heute<br />
aber interessiere sich noch sein Freund, <strong>der</strong> Psychiater für mich.<br />
Dann lief er blitzschnell aus dem Raum. Omrupp und ich sahen uns<br />
fragend an. Kaum war er draußen, kam ein sehr gepflegter Juca mittleren<br />
Alters herein, <strong>der</strong> eine Tasche trug.<br />
Ich fragte ihn gleich als Allererstes, ob sein Freund, <strong>der</strong> Wissenschaftler<br />
wie<strong>der</strong>käme.<br />
Der Psychiater antwortete: „Erstens ist dieser Herr nicht mein<br />
'Freund'. Zweitens weiß ich das nicht. Drittens ist es nicht meine Idee,<br />
hier eine psychiatrische Abklärung durchführen zu müssen.<br />
Viertens finde ich es ungeheuerlich, dass ich ein Gutachten erstellen<br />
soll, dessen Inhalt schon vorher feststeht. Nicht mit mir!“<br />
Aus seiner Tasche holte er eine Urkunde, <strong>der</strong>en fette Überschrift<br />
'Gutachten' schon von Weitem in die Augen stach. Offensichtlich<br />
fehlte nur noch eine Unterschrift.<br />
„Ich lasse mich nicht gegen meine eigene Überzeugung instrumentalisieren“,<br />
fuhr er fort, „Jucas sind Jucas, egal welcher Rasse sie angehören.<br />
Einem Rassenkonflikt werde ICH NICHT Vorschub leisten!“<br />
„Ich habe ein Problem mit meiner Sichtbarkeit“, versuchte ich ein<br />
Gespräch, „was soll ich denn nur machen?!?“<br />
„So wie jedes Individuum einer Gemeinschaft unterschiedliche<br />
Fähigkeiten hat, hat auch jede Rasse einer Art ihre Vorteile. Früher<br />
hat es einmal wegen <strong>der</strong> Rassenunterschiede eine große Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
unter den Jucas gegeben. Für viele Arten scheinen solche<br />
Unterschiede ein Problem zu sein. Beispielsweise haben auch Menschen<br />
damit Schwierigkeiten. Auf dem Kontinent Afrika gibt es die<br />
ausdauerndsten Sportler. Im südöstlichen Asien leben hochintelligente<br />
Mathematiker. Und im kühlen Europa hatten die Menschen<br />
– 31 –
Zeit nachzudenken und sind bereits zu vielen Erkenntnissen gelangt,<br />
die auch uns Jucas vorliegen. Trotzdem akzeptieren viele Jucas wie<br />
wohl auch Menschen es nicht, etwas NICHT zu können. O<strong>der</strong> noch<br />
schlimmer, sie meinen, sie seien insgesamt BESSER als alle an<strong>der</strong>en.<br />
Dabei ist die Existenzberechtigung je<strong>der</strong> Rasse und jedes Individuums<br />
schon in sich selbst begründet. Gerade WEGEN ihrer speziellen<br />
Fähigkeiten hat eine Rasse überlebt. Und gerade WEIL es zu einer<br />
erfolgreichen Rasse gehört, lebt ein Individuum.“<br />
„So viel Wissen über Jucas und über Menschen!“ staunte ich. „Wie<br />
kommt denn das?“<br />
„Nun“, erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Psychiater etwas zögerlich, „es gibt einen<br />
Grund, dass ich mich so aufrege. Ich bin weit umher gereist, und ich<br />
bin nicht von hier. Man sieht es auf den ersten Blick nicht – auch ich<br />
bin Spross einer an<strong>der</strong>en Rasse und habe ortsuntypische Fähigkeiten.<br />
Es war anfangs schwer unter <strong>der</strong> hiesigen Gemeinschaft, aber ich habe<br />
gelernt, mit meinen Fähigkeiten und mit <strong>der</strong> Gemeinschaft umzugehen.<br />
Bis jetzt habe ich mich an die Weisung gehalten, meine Herkunft<br />
geheim zu halten. Mit <strong>der</strong> Vorgabe dieses unverschämten Textes<br />
zu einem 'Gutachten' nimmt man mir meine Selbstachtung. <strong>Das</strong><br />
lasse ich nicht zu!“<br />
„Wie bekomme ich denn heraus, was ich wie kann?“ fragte ich.<br />
„Sichtbarkeit ist auch nur etwas, das man aus sich selbst heraus<br />
steuert“, antwortete er, „man muss sich <strong>der</strong> eigenen Fähigkeiten bewusst<br />
werden und sich zu diesem Zweck genau selbst beobachten.<br />
Zusätzlich hilft es, diejenigen zu befragen, welche Erfahrung damit<br />
haben. Diesen Vorteil haben alle, die in einer ihnen selbst ähnlichen<br />
Umgebung aufwachsen. Wenn man fremd ist, muss man es sich erarbeiten.“<br />
„Ich soll mich mit Vertretern <strong>der</strong> Rasse meines Vaters treffen?“<br />
fragte ich.<br />
– 32 –<br />
„Von Sollen ist keine Rede“, antwortete er, „es würde selbstverständlich<br />
den Prozess beschleunigen. Selbstbeobachtung allein ist<br />
aber auch sehr hilfreich!“<br />
Dann zerriss er das vorgefertigte Gutachten, warf die Fetzen in die<br />
Ecke und verließ den Raum.<br />
Ich schaute Omrupp erwartungsvoll an. Jener nickte mir lächelnd<br />
zu, nahm meine Hand, und dann gingen auch wir.<br />
– 33 –
2. FÜNFTTAG<br />
<strong>Das</strong>s ich den Wissenschaftler nicht wie<strong>der</strong> sehen möchte, weiß ich<br />
definitiv. Es muss sich eine an<strong>der</strong>e Lösung finden.<br />
Mir geht nicht aus dem Kopf, was <strong>der</strong> Psychiater gestern gesagt<br />
hat. Er hat unheimlich geschwafelt, und ich weiß auch nicht, wem er<br />
seinen Vortrag halten wollte. Aber ich habe Verständnis, dass er so<br />
reagiert, weil er ja selbst betroffen ist. Warum sollte ich nicht von<br />
dem, was mir nützlich ist, profitieren?!<br />
Die Idee mit <strong>der</strong> Selbstbeobachtung gefällt mir. Es wäre natürlich<br />
prima, wenn das funktionierte. Noch viel schöner wäre es, wenn Omrupp<br />
mir dabei helfen würde.<br />
Bisher hatte ich ausschließlich Freundinnen, Lyrjac wohl am<br />
längsten. Omrupp ist zwar ein... Damit habe ich kaum Erfahrung...<br />
Normalerweise nerven sie einen andauernd. Dachte ich jedenfalls. Ja,<br />
ich bin gern mit Omrupp zusammen.<br />
Doch nun zur Selbstbeobachtung. Was ist mir bisher aufgefallen?<br />
1) Ich bin sichtbar. Vorher war ich es nicht und musste mich anstrengen,<br />
es zu sein.<br />
2) Diese merkwürdige Sache, dass mich mein Vater-Onkel hinter<br />
dem Felsen nicht gespürt haben will. Hatte er nicht von meinem leiblichen<br />
Vater erzählt, den meine Mutter zunächst auch nicht bemerkt<br />
hatte?<br />
Zur Sichtbarkeit fiel mir gar nichts ein.<br />
Auf die Überprüfung einer Einschränkung meiner Spürbarkeit war<br />
ich sehr neugierig. Auch wenn das bestimmt ein Ammenmärchen<br />
meines Vater-Onkels ist. Wer weiß, welche Wahrheiten er sich sonst<br />
noch einbildet...<br />
Spaßeshalber konzentrierte ich mich auf: „Ich will nicht bemerkt<br />
werden, nein das will ich nicht.“ Ich wie<strong>der</strong>holte meine Gedanken<br />
– 34 –<br />
immer und immer wie<strong>der</strong>. „<strong>Das</strong> will ich ganz ganz ganz partout<br />
nicht!“ verkrampfte ich mich vor Erregung.<br />
Ein Kribbeln lief meine Oberarme hinauf und herunter. <strong>Das</strong> kannte<br />
ich doch irgendwoher?! Schade, dass jetzt niemand zum Testen in<br />
<strong>der</strong> Nähe war.<br />
Die Erregung ebbte ab, und ich beschloss, beim Gemeinschaftshaus<br />
nach Neuigkeiten Ausschau zu halten.<br />
Ich sah es schon vor mir, als ich plötzlich eine an<strong>der</strong>e Juca auf mich<br />
zukommen spürte. Die Gelegenheit! Ich rannte hinter eine dicke Eiche,<br />
um nicht gesehen zu werden.<br />
Dann erregte ich mich in vorprobierter Weise, so schnell ich konnte.<br />
Meine Arme zitterten vor Anstrengung, als endlich das bekannte<br />
Kribbeln meine Oberarme erfasste.<br />
<strong>Das</strong> Gefühl <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Juca nahm stark zu. Jetzt musste jemand<br />
direkt auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Baumes sein. <strong>Das</strong> Gefühl nahm wie<strong>der</strong><br />
ab. Ich trat hinter <strong>der</strong> Eiche hervor und bemühte mich, meine<br />
Erregung abklingen zu lassen.<br />
Da machte sie sich sichtbar. Lyrjac. „Du hast es also nötig, solche<br />
Späße mit mir zu treiben,“ schimpfte sie, „wie du das geschafft hast,<br />
ist mir egal, aber lass mich einfach in Ruhe!“<br />
Es hat funktioniert.<br />
Es hat funktioniert!<br />
Erstmals seit langer Zeit verspüre ich Hoffnung, auch die Sache mit<br />
meiner Sichtbarkeit in den Griff zu bekommen.<br />
– 35 –
3. ERSTTAG<br />
Die zweite 5er ist vorbei, und ich bin immer noch sichtbar...<br />
Die Sache hat durchaus ihr Gutes gehabt, wie auch immer das<br />
meiste einen Sinn hat.<br />
Ich habe meine Scheu vor Menschen überwunden und mich ihnen<br />
sogar bewusst gezeigt. Ich habe erfahren, wie schnell man Schwierigkeiten<br />
bekommt, wenn man nicht 100% angepasst ist. Ich habe mehr<br />
meiner eigenen Fähigkeiten erkannt. Und ich habe Omrupp näher<br />
kennen gelernt...<br />
<strong>Das</strong>s ich gejagt würde, macht mir nicht mehr so große Sorgen.<br />
Kleinere und gleich große Tiere hätten bei mir keine Chance. Ich<br />
glaube, recht sportlich zu sein, und wüsste mich gegen fast alles zu<br />
wehren.<br />
Da ich wohl schon immer etwas ängstlicher als an<strong>der</strong>e war, hatte<br />
ich im Wissenshaus neben diversen Sportkursen auch einen Lehrgang<br />
Selbstverteidigung belegt. Seitdem fühle ich mich sicherer.<br />
Mit dem Verlust meiner Unsichtbarkeit hatte ich nicht gerechnet.<br />
Aber auch intelligente Tiere wie z.B. Menschen können eigentlich<br />
kein wirkliches Interesse daran haben, mir etwas Böses zu wollen.<br />
Als ich gestern aus dem Internet-Café zurückkam, habe ich mitbekommen,<br />
dass eine dumme Katze hoch auf eine Eberesche geklettert<br />
war. Zu hoch, sie traute sich nicht wie<strong>der</strong> herunter.<br />
Eine Menschenfrau bemerkte das, ging in ihr Haus und rief offensichtlich<br />
Hilfe. Denn kurz darauf kam ein Feuerwehrauto angefahren,<br />
das obendrauf einen langen ausfahrbaren Kran mit einem großen<br />
Korb an seinem Ende hatte.<br />
Ein Menschenmann stieg in den Korb, ein an<strong>der</strong>er drückte Knöpfe<br />
an einer Maschine am Feuerwehrauto, und <strong>der</strong> Kran bewegte sich<br />
in Richtung Katze.<br />
Dann ergriff <strong>der</strong> Mann im Korb die Katze – das blöde Vieh kratzte<br />
ihn aus lauter Dankbarkeit ganz heftig – und nahm sie zu sich in<br />
– 36 –<br />
den Korb. Schließlich wurde <strong>der</strong> Kran wie<strong>der</strong> eingezogen. Am Boden<br />
wie<strong>der</strong> angekommen stieg <strong>der</strong> Mann aus dem Korb aus, und die Katze<br />
rannte davon.<br />
Wenn Menschen sich schon solche Mühe mit Katzen geben, warum<br />
sollten sie dann mich, die ich einer Katze ähnele, an<strong>der</strong>s behandeln?<br />
Warum einsperren o<strong>der</strong> gar noch Schlimmeres? Zumal, wenn<br />
sie merken, dass ich mit ihnen kommunizieren kann!<br />
Den Besuch des Internet-Cafés kann ich nun ruhig im <strong>Tagebuch</strong> erwähnen,<br />
es wird sowieso keiner <strong>der</strong> Menschen herausfinden, wo genau<br />
ich abends immer hinlaufe. Um jeweils nach dem Besuch <strong>der</strong><br />
vielen Menschen zu lüften, steht nachts ein Fenster weit offen. Wie<br />
praktisch für mich!<br />
Da viele Menschen so dämlich sind zu glauben, wenn sie sich aus<br />
ihrem Internet ausgelogt haben, wären auch ihre Nutzerdaten und<br />
Passwörter aus dem Speicher gelöscht, habe ich dort immer Zugang<br />
zu ihrer virtuellen Welt und kann frühmorgens in aller Ruhe mein<br />
<strong>Tagebuch</strong> eintippen.<br />
Tastaturen sind allerdings für mich sehr unbequem, bei uns Jucas<br />
gibt es so etwas schon lange nicht mehr.<br />
Entsetzlich finde ich, dass es im Internet <strong>der</strong> Menschen immer<br />
mehr Stellen gibt, die sich wie ein Krake ausbreiten und alle Daten<br />
<strong>der</strong> einzelnen Menschen sammeln. <strong>Das</strong> ist bei uns verboten. Jede Juca<br />
hat ein Grundrecht zur Kontrolle <strong>der</strong> eigenen Daten.<br />
Nicht je<strong>der</strong> hält sich allerdings daran. Lei<strong>der</strong> auch nicht unbedingt<br />
unser lieber Gemeinschaftsrat. Man erfindet immer wie<strong>der</strong> neue<br />
Ausreden, uns unser Grundrecht einschränken zu müssen.<br />
Mein <strong>Tagebuch</strong> habe ich so eingerichtet, dass ich weiß, ob es jemand<br />
angeschaut hat. Es hat tatsächlich schon ein echter Mensch, also<br />
nicht nur eine <strong>der</strong> Suchmaschinen, auf mein <strong>Tagebuch</strong> zugegriffen.<br />
Morgen wird Omrupp mich wie<strong>der</strong> besuchen. Ich freue mich<br />
wahnsinnig darauf.<br />
– 37 –
3. ZWEITTAG<br />
Voller Erwartung war ich früh aufgestanden. <strong>Das</strong>s ich mich voll auf<br />
Omrupp verlassen kann, hatte ich schnell gelernt.<br />
Tatsächlich. Ich war dabei, mich zurecht zu machen, da begrüßte<br />
er mich schon freudestrahlend. Verzweifelt versuchte ich, mein reichlich<br />
verfilztes Fell noch glatt zu bürsten.<br />
„Ach lass doch,“ lachte Omrupp, „du bist hübsch genug, so natürlich<br />
gefällst Du mir sogar noch besser!“<br />
Männer. Richtig böse war ich ihm aber nicht.<br />
Im Gegenteil. In seiner Nähe durchströmte mich eine wohlige<br />
Wärme, und ich war zutiefst dankbar, dass er einfach da war.<br />
„Also, dann wollen wir mal,“ strahlte er mich an. Was wir wollten,<br />
hatte ich glatt vergessen, und ich merkte, wie meine Nase rot anlief.<br />
„Wir wollen doch üben!“ erklärte er sogleich, „wäre es nicht ganz<br />
brauchbar, wenn du deine Sichtbarkeit wie<strong>der</strong> kontrollieren könntest?“<br />
O je, er hatte recht. Seine Anwesenheit hatte mich völlig durcheinan<strong>der</strong><br />
gebracht. Wie peinlich...<br />
„Wie machst Du es denn sonst, wenn du etwas kontrollierst? Ich<br />
meine, gibt es etwas Ähnliches, dass du erfolgreich kontrollierst, und<br />
kannst du mir sagen, wie das geht?“<br />
Ich erzählte von meinen gestrigen Versuchen, meine Spürbarkeit<br />
zu verbergen.<br />
„Nun,“ schaute er mich ernst an, „dass dafür auch die Grundregeln<br />
<strong>der</strong> Jucas gelten sollten, ist dir hoffentlich klar. Also dass man<br />
diese Fähigkeit nicht falsch anwendet und es sich gehört, für an<strong>der</strong>e<br />
Jucas in <strong>der</strong> Regel auch spürbar zu sein. <strong>Das</strong> ist jedoch eine an<strong>der</strong>e<br />
Sache, wir wollen jetzt erst einmal versuchen, dich wie<strong>der</strong> unsichtbar<br />
zu machen. Wie hast du es denn geschafft, dich unspürbar zu machen?“<br />
„Ich habe mich auf diese eine Sache konzentriert und mich dabei<br />
fürchterlich angestrengt“, antwortete ich.<br />
– 38 –<br />
„Gab es bei <strong>der</strong> Untersuchung im Gesundheitshaus irgendetwas<br />
Auffälliges, wonach du dann sichtbar bliebst?“ wollte er wissen.<br />
„<strong>Das</strong> wurde ich schon gleich nach <strong>der</strong> Untersuchung von allen Seiten<br />
gefragt,“ erwi<strong>der</strong>te ich, „nein, ich weiß von nichts. Während <strong>der</strong><br />
Untersuchung ist mir etwas warm geworden, und es kribbelte hie<br />
und da ein wenig, aber mehr war wirklich nicht.“<br />
„Es scheint mir eine ganz einfache Erklärung zu geben,“ überlegte<br />
er, „die Untersuchung hat vielleicht diese Entwicklung begünstigt<br />
o<strong>der</strong> beschleunigt, Ursache war sie nicht.“<br />
„Wie das?“ war ich neugierig.<br />
„Wir alle verän<strong>der</strong>n uns stets, wir werden älter,“ meinte er, „diesen<br />
Prozess können wir kaum beeinflussen. So wie wir als Kin<strong>der</strong> gelernt<br />
hatten, mit unseren neuen Fähigkeit Unsichtbarkeit umzugehen, hast<br />
du vielleicht einen weiteren Schritt dieses Reifeprozesses hinter dir.<br />
Weil Du Gene dieser an<strong>der</strong>en Rasse hast, machst du eine an<strong>der</strong>e<br />
Entwicklung durch. Auch ohne Gesundheitsuntersuchung wäre es irgendwann<br />
von allein passiert.“<br />
„<strong>Das</strong> klingt relativ logisch,“ entgegnete ich, „wie aber lerne ich,<br />
meine Fähigkeit <strong>der</strong> Unsichtbarkeit quasi von Null an wie<strong>der</strong> zu lernen?“<br />
„Falls dies überhaupt möglich ist,“ knurrte er.<br />
„Muss ich etwa immer sichtbar bleiben?“ fragte ich.<br />
„Nein, das ist unwahrscheinlich,“ hellte sich seine Miene auf,<br />
„dein Vater-Onkel hatte berichtet, dein wirklicher Vater hätte sich<br />
deiner Mutter unsichtbar und unspürbar genähert. Dann wirst du<br />
das beides wohl auch bald können.“<br />
„Ja gut, aber wie denn?“ warf ich ein.<br />
„Hm,“ überlegte er, „womöglich hängen diese deine Fähigkeiten<br />
zusammen. Probier doch mal das Gegenteil zu dem, wie du dich unspürbar<br />
machst.“<br />
„Gegenteil. Entschuldigung, das verstehe ich nicht,“ guckte ich ihn<br />
an.<br />
„Du wirkst seit <strong>der</strong> Untersuchung sehr angespannt,“ erklärte er,<br />
– 39 –
„ja, natürlich regst du dich darüber auf, sichtbar zu sein. Entspanne<br />
dich doch einmal völlig.“<br />
„Ich will mich nicht entspannen, ich will endlich wie<strong>der</strong> unsichtbar<br />
sein,“ schimpfte ich.<br />
„Komm her!“ befahl er, „na komm schon, und gib mir Deine beiden<br />
Hände.“<br />
Etwas wi<strong>der</strong>willig nahm ich seine mir ausgestreckt hingehaltenen<br />
Hände entgegen. Sie fühlten sich angenehm samtig an.<br />
„So, jetzt entspannen wir uns gegenseitig“, schlug er vor, „als erstes<br />
lassen wir unsere Hände ganz, ganz langsam sinken. Ja, so ist es<br />
gut. Merkst du, wie schwer die Hände auf einmal werden? Gib dich<br />
einfach dem Gefühl hin! Ja, so. Wenn du willst, kannst du die Augen<br />
dabei schließen. Und jetzt tief ausatmen! Du stellst dir eine riesige<br />
grüne Wiese vor. Es weht kein bißchen Wind. In <strong>der</strong> Mitte des Grüns<br />
steht unbeweglich ein kleines Gänseblümchen. Du schaust auf das<br />
Gänseblümchen, und es beginnt mit <strong>der</strong> Wiese zu verschmelzen...“<br />
Nachdem ich anfangs sehr skeptisch war, ließ ich mich schließlich<br />
von Omrupp in diese ruhige Welt entführen. Ich merkte, wie gut es<br />
tat, mich endlich einmal wie<strong>der</strong> sorgenlos fühlen zu dürfen. Omrupp<br />
war da, und ich wähnte mich sicher. Die innere Schwere wich einer<br />
erholsamen Leichtigkeit. Ach, könnte es doch immer so sein!...<br />
„<strong>Das</strong> war's“, riss Omrupp mich aus meinen Träumen.<br />
„Was, schon aufhören?!“ entrüstete ich mich.<br />
„Hast Du nichts gemerkt?“ fragte er, „es gab natürlich einen<br />
Grund, Dich an den Händen zu halten. So hatte ich dich fest und<br />
wusste, wo du warst.“<br />
„Ach nee,“ warf ich ein, „du brauchtest bloß deine Augen aufzuhalten,<br />
um mich zu sehen.“<br />
„Nein,“ wi<strong>der</strong>sprach er, „ich hielt dich fest, habe dich die ganze<br />
Zeit angeschaut, plötzlich flackerte dein Bild, dann wurdest du für<br />
eine Weile unsichtbar. Du hast es geschafft!“<br />
Ich habe es geschafft.<br />
Oh, Omrupp, ich bin dir so dankbar!<br />
– 40 –<br />
3. MITTTAG<br />
Den ganzen Vormittag verbrachte ich damit zu üben. Immer und<br />
immer wie<strong>der</strong> versuchte ich, mich unsichtbar zu machen.<br />
Richtig zufrieden bin ich allerdings nicht. Mir missfällt, dass ich<br />
mich anstrengen muss, unsichtbar zu werden. Es sollte doch eigentlich<br />
umgekehrt sein, nämlich dass ich mich nur sichtbar mache,<br />
wenn ich Lust dazu habe o<strong>der</strong> es sein muss.<br />
Außerdem war ich vielleicht nicht ganz so gut drauf. Denn Omrupp<br />
fehlte mir...<br />
Nach den Übungen war ich ziemlich erledigt und tigerte auf den<br />
Sonnenhügel, um mich zu entspannen.<br />
Dort traf ich Brasan. Sie musste bereits eine Weile gelegen haben,<br />
denn ihr Fell glänzte schon vor Wärme.<br />
Brasan ist eine alte Freundin von mir. Genaugenommen war es<br />
mein Vater-Onkel, <strong>der</strong> mich in meiner Kindheit laufend mit ihr zusammen<br />
brachte und mir immer wie<strong>der</strong> erzählte, was für eine tolle<br />
Freundin ich hätte. Offensichtlich wollte er mich nur loswerden, um<br />
mehr Zeit für sich selbst zu haben.<br />
Jedenfalls fanden sowohl Brasan als auch ich diese dauernde<br />
Zwangsfreundschaft nervend, und zum Schluss gifteten wir uns nur<br />
noch an, wenn wir zusammen gebracht wurden.<br />
Als ich Brasan heute nach Jahren zum ersten Mal wie<strong>der</strong> sah,<br />
musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass sie recht nett<br />
geworden ist.<br />
Ich hatte mich neben Brasan gelegt, und sie erzählte mir, was sie<br />
so in <strong>der</strong> Zwischenzeit erlebt hatte. Na ja, nicht viel Aufregendes:<br />
Lernen, Lernen und nochmals Lernen. Kurze Zeit hatte sie auch einen<br />
Freund, doch <strong>der</strong> ließ sie nach zwei 5ern sitzen.<br />
Da berichtete ich ihr von Omrupp und mir, dass sich daraus ja etwas<br />
ergeben könnte. O<strong>der</strong> eigentlich irgendwie schon am Laufen<br />
war. Und ich schwärmte, wie liebevoll sich Omrupp um mich kümmert,<br />
und dass er wohl in dieser Richtung große Erfahrung hat.<br />
– 41 –
„Omrupp?“ lachte sie, „nein, Omrupp hatte noch nie eine Freundin!“<br />
Woher sie das denn wissen wollte, fragte ich.<br />
„Na ganz einfach,“ erwi<strong>der</strong>te sie, „mein Bru<strong>der</strong> ist schon seit Ewigkeiten<br />
mit Omrupps älterer Schwester zusammen. Sie ist eigentlich<br />
seine Stiefschwester, daher weißt du davon offensichtlich nichts.<br />
Seine Familienverhältnisse finde ich sowieso etwas seltsam.“<br />
Aha. Aber Omrupp mag ich trotzdem!...<br />
„Omrupp hat mir bisher sehr geholfen,“ sagte ich, „und die Resultate<br />
veröffentliche ich im Internet <strong>der</strong> Menschen. Ich habe mich<br />
schon lange für Menschen interessiert und finde, sie sollten endlich<br />
etwas über uns erfahren.“<br />
Sie schaute mich fragend an: „Eigentlich dürfen wir Jucas keinen<br />
Kontakt mit Menschen aufnehmen. Und erst recht nicht ihre Kommunikationsmittel<br />
benutzen. Ich bin einigermaßen erstaunt, dass gerade<br />
du, die sich sonst immer so ehrlich und gemeinschaftstreu gibt,<br />
so etwas machst.“<br />
„Dann kann ich dir verraten,“ fuhr sie fort, „dass auch ich ab und<br />
zu im Internet <strong>der</strong> Menschen stöbere. Dein <strong>Tagebuch</strong> habe ich nicht<br />
entdeckt. Aber ich habe heute merkwürdige Geschichten über Jucas<br />
gefunden. Ein paar Menschen scheinen sich Schauermärchen über<br />
uns auszudenken. Bis vor kurzem gaben die Suchmaschinen des Internet<br />
<strong>der</strong> Menschen für den Begriff 'Juca' null Treffer aus. Du warst<br />
das also...“<br />
Ich entgegnete: „Mein <strong>Tagebuch</strong> kannst Du nicht finden. Ich habe<br />
mittlerweile den Zugang blockiert und nur ganz wenigen mir vom<br />
Namen her bekannten Menschen ein Passwort gegeben. Falls es so<br />
ist, wie du sagst, muss ich mal sehen, wer solchen Unfug verbreitet.<br />
Denn das wäre wirklich nicht gut für uns Jucas. Ich werde den betreffenden<br />
Nutzer sperren.“<br />
„Ach,“ freute sie sich, „wenn Märchen über uns erzählt werden,<br />
die nicht einmal annähernd <strong>der</strong> Wahrheit nahe kommen, ist doch alles<br />
bestens! Wüsste das unser Gemeinschaftsrat, wäre er begeistert.<br />
– 42 –<br />
Besser könnte unser wertes Informationshaus gegenüber den Menschen<br />
auch nicht arbeiten!“<br />
Informationshaus, hm, warum es so etwas überhaupt bei uns geben<br />
muss, habe ich mich schon öfter gefragt. Den meisten Jucas ist es suspekt.<br />
Keiner weiß, wer dort arbeitet. Keiner weiß, was dort überhaupt<br />
gemacht wird. Alle wissen, dass von dort im Grunde nur gezielt<br />
Lügen verbreitet werden. Überflüssig wie ein Kropf! Unser Gemeinschaftsrat<br />
ist aber <strong>der</strong> Ansicht, dass das Informationshaus ungeheuer<br />
wichtig ist, um sich an<strong>der</strong>weitig Informationen zu beschaffen.<br />
Auf ordentlichem Weg kann das ja wohl nicht gemeint sein...<br />
Brasan fuhr fort: „Im Wissenshaus finden sich doch auch so wun<strong>der</strong>schöne<br />
Berichte über Menschen, die einer halbwegs gebildeten<br />
Juca merkwürdig vorkommen müssten. Erinnerst du dich an das Essay,<br />
wie man Menschen fängt? Ich habe mich kringelig gelacht und<br />
den Schmöker immer wie<strong>der</strong> ausgeliehen!“<br />
Ich erinnerte mich. Einer <strong>der</strong> Gründe für mich, Näheres über die<br />
Menschen wissen zu wollen.<br />
„'Wie fängt man einen männlichen Menschen?' steht da zum Beispiel,“<br />
lachte Brasan, „'man fange zunächst einen jüngeren weiblichen<br />
Menschen von mitteldünner Statur, möglichst mit viel blonden<br />
Haaren auf dem Kopf und sichtbarer Oberweite, entkleide den Erstfang<br />
bis auf wenige Kleidungsstücke, setze ihn weit sichtbar auf einen<br />
hoch stehenden Felsen, und schon kommen männliche Menschen<br />
wie die Fliegen angeschossen.'„<br />
So ein Käse.<br />
Trotzdem glauben viele Jucas heute noch, dass es so funktionieren<br />
müsste.<br />
Nachdem wir lange geplau<strong>der</strong>t hatten, verabschiedete ich mich<br />
von Brasan, die partout bis Sonnenuntergang liegen bleiben wollte.<br />
Mit meinen eigenen Berichten muss ich in Zukunft vorsichtiger<br />
sein. Wir Jucas haben einen ziemlich großen technologischen Vorsprung<br />
gegenüber den Menschen. <strong>Das</strong> könnte Nei<strong>der</strong> auf den Plan<br />
– 43 –
ufen. Auf irgendwelche Auseinan<strong>der</strong>setzung hat bestimmt kein Juca<br />
Lust.<br />
Es wäre schade, wenn die Jucas gezwungen wären, gegen die Menschen,<br />
die ich doch so interessant finde, ernsthaft vorzugehen, und<br />
sie dabei womöglich ausrotten würden. Schuld daran sein möchte ich<br />
auch nicht.<br />
Na ja, vielleicht kommt es an<strong>der</strong>s. Ich würde mir wünschen, dass<br />
Jucas und Menschen weiterhin friedvoll nebeneinan<strong>der</strong> leben. Sich<br />
gegenseitig etwas wegnehmen tun sie ja nicht.<br />
Wenn ich wie<strong>der</strong> unsichtbar bin, wird das Ganze von den Menschen<br />
sowieso bald im Bereich <strong>der</strong> Fabeln vermutet. Sollen sie doch<br />
denken, was sie wollen!<br />
– 44 –<br />
3. VIERTTAG<br />
Nachdem Brasan mir erzählt hatte, dass im Internet <strong>der</strong> Menschen<br />
falsche Informationen über Jucas zu finden sind, habe ich selbst<br />
einmal danach gesucht.<br />
Neben diversen abstrusen Geschichten, wie blutrünstig Jucas seien,<br />
fand ich auch eine zum Teil richtige Aufstellung über die Jucas.<br />
Ich möchte gerne wissen, wo die Informationen her kommen, und<br />
habe Brasan stark im Verdacht.<br />
In dieser Aufstellung werden erstaunlicherweise Namen von Juca-<br />
Vorfahren angegeben, die mir auch bekannt sind. <strong>Das</strong> einzige Manko:<br />
Sie sind schon vor Urzeiten ausgestorben. Hat sich hier Brasan<br />
o<strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Juca einen Spaß erlaubt?<br />
Keineswegs möchte ich mit unseren Vorfahren verwechselt werden.<br />
Ich glaube, heutige Menschen (Homo sapiens) wären auch nicht<br />
begeistert, mit ausgestorbenen Vorfahren wie z.B. Homo erectus<br />
verwechselt zu werden.<br />
O<strong>der</strong> fänden sie es lustig, als Australopithecus o<strong>der</strong> Nean<strong>der</strong>taler<br />
eingestuft zu werden? Ich vermute, sie haben ähnlich wie wir Jucas<br />
ihren Stolz und wären empört.<br />
Na ja, die Menschen können ja vermuten, was sie wollen. Brasan<br />
hat Recht, ein bisschen Fehlinformation bei den Menschen kann uns<br />
Jucas nicht schaden, im Gegenteil.<br />
Beim Wissenshaus wollte ich nachschauen, ob ich nächste Woche wie<br />
geplant mein Studium aufnehmen kann.<br />
Der Leiter des Wissenshauses versicherte mir, das sei alles kein<br />
Problem. Außerdem schien ihm unangenehm zu sein, auf meine<br />
Sichtbarkeit panisch wie die an<strong>der</strong>en reagiert zu haben.<br />
Mit einem vorsichtigen Lächeln drückte er mir einen Stapel Bücher<br />
in die Hand: „Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Jucas“, „Vom Jäger<br />
zum Züchter“, „Vom Sammler zum Bauern“, „Rassenunterschiede<br />
<strong>der</strong> Jucapopulationen“, „Einführung in die Mathematik <strong>der</strong> Partial-<br />
– 45 –
Differentiate zur neural-gesteuerten temporären Visualisierung sowie<br />
<strong>der</strong> polynomialen Integration ihrer kinetischen Sublimate.“<br />
<strong>Das</strong> letztgenannte Buch wollte ich ihm gleich mit Kopfschütteln<br />
zurückgeben.<br />
„Nein“, lachte er, „das ist das wichtigste von allen! Es ist nicht von<br />
hier. Ein ehemaliger Studienkollege von mir, <strong>der</strong> mittlerweile ganz<br />
weit weg als Professor tätig ist, hat es mir gestern geschickt. Ich hatte<br />
ihn kontaktiert und den Fall geschil<strong>der</strong>t. Er versprach, mir dies Buch<br />
für dich zu schicken. Außerdem meinte er, du solltest besser versuchen,<br />
mit dem Stamm deines wirklichen Vaters Kontakt aufzunehmen.“<br />
„Ich weiß doch gar nicht, wo ich suchen sollte,“ warf ich ein, „mein<br />
Vater-Onkel hat mir nicht gesagt, wo diese ominöse Schlucht ist, in<br />
die meine Mutter gestürzt sein soll.“<br />
„Kein Problem!“ strahlte er, „zufällig hat mir mein Bekannter berichtet,<br />
bei ihm in den Bergen träte diese unspürbare Rasse häufig in<br />
Erscheinung. Und wohnen dürftest du bei ihm!“<br />
Hm, ob so viel Mühe war ich schon etwas sprachlos.<br />
Ich bedankte mich artig, und <strong>der</strong> Leiter des Wissenshauses gab<br />
mir noch mit auf den Weg, ich könne ruhig die erste 5er <strong>der</strong> kommenden<br />
Kurse für eine Reise zu seinem Bekannten nutzen. Ich würde<br />
bei den Einführungsveranstaltungen nichts wirklich versäumen.<br />
<strong>Das</strong> ginge mit seiner Genehmigung schon in Ordnung.<br />
Ach ja, und ob er mich bei seinem Bekannten anmelden dürfe?<br />
„Gern für so schnell wie möglich“, antwortete ich.<br />
Habe ich vielleicht lebende Familienangehörige? Ich bin wirklich gespannt.<br />
– 46 –<br />
3. FÜNFTTAG<br />
Frühmorgens bereitete ich meine Reise zu dem Bekannten des Leiters<br />
des Wissenshauses, dem Professor vor.<br />
Insgeheim hatte ich gehofft, Omrupp würde mich auf <strong>der</strong> Fahrt in<br />
die Berge begleiten. Lei<strong>der</strong> hat sich Omrupp verpflichtet, ab morgen<br />
im Wissenshaus eine Seminarwoche abzuhalten.<br />
Der Leiters des Wissenshauses teilte mir erwartungsgemäß mit,<br />
dass ich ab sofort von seinem Bekannten erwartet würde. So beschloss<br />
ich, die weite Reise schon heute anzutreten.<br />
Unterwegs wurde ich ein paar Mal von an<strong>der</strong>en Jucas wegen meiner<br />
dauerhaften Sichtbarkeit genervt.<br />
Eine Mutter rief ihre beiden Kin<strong>der</strong>, offensichtlich Zwillinge, zu<br />
sich und befahl ihnen, sich von solchen „Subjekten“ fern zu halten.<br />
Na ja, und es gab diverse weitere unersprießliche Dinge, an die ich<br />
mich jetzt nicht alle erinnern möchte.<br />
Spät abends kam ich bei dem Professor an. Zum Glück war er leicht<br />
zu finden, ein paar freundliche Einwohner seiner Gemeinschaft halfen<br />
mir dabei.<br />
Ich bekam ein eigenes Zimmer mit einem eigenen Bett. Soweit ich<br />
mitbekommen habe, ist es das Zimmer seines Sohnes, <strong>der</strong> vor Kurzem<br />
völlig überraschend sein Studium in einer an<strong>der</strong>en Gemeinschaft<br />
aufnehmen musste.<br />
Irgendwie nach einem Jungen-Zimmer sieht es schon aus.<br />
Die Einrichtung ist extrem spartanisch. Nirgendwo ist etwas, an<br />
dem man sich freuen könnte. Und die wenigen Sachen, die vorhanden<br />
sind, liegen wüst verteilt auf dem Boden.<br />
Na gut, gebongt, bei mir sah es bisweilen auch nicht besser aus.<br />
Der Professor bot mir an, mich ab morgen in <strong>der</strong> Gegend herum zu<br />
führen.<br />
– 47 –
Er habe noch frei, hier gingen die Lehrgänge eine 5er später los.<br />
Wenn ich das wolle, er jedenfalls täte es auch aus wissenschaftlichem<br />
Interesse gern...<br />
Außerdem sei er hier einer <strong>der</strong> besten Bergführer, und genau das<br />
könnte ich ja wohl gebrauchen.<br />
Nun, wir werden sehen.<br />
Jetzt bin ich total müde, liege im Bett und möchte nur noch schlafen...<br />
– 48 –<br />
4. ERSTTAG<br />
Ob jemandem aufgefallen ist, dass ich gestern Abend mein <strong>Tagebuch</strong><br />
auch fern von zuhause geschrieben habe?<br />
Der Professor ist schwer mit <strong>der</strong> Erforschung frem<strong>der</strong> Arten beschäftigt.<br />
Daher hat er eine Son<strong>der</strong>genehmigung des hiesigen Informationsrates,<br />
bestimmte jucafremde Maschinen für seine Arbeit zu<br />
nutzen.<br />
In letzter Zeit beschäftigt sich <strong>der</strong> Professor fast nur noch mit Unterschieden<br />
<strong>der</strong> Juca-Populationen. Offensichtlich, um die eigenen<br />
Fähigkeiten unserer Art optimieren.<br />
Seine tragbare Kiste <strong>der</strong> Menschen stammt daher aus vergangenen<br />
Tagen und ist im wahrsten Sinne ein so genannter „Schlepptop“.<br />
Warum Menschen es chic finden, solche unhandlichen Teile herumzutragen,<br />
müssen sie mir bei Gelegenheit mal erklären. Irgendetwas<br />
muss sie daran faszinieren.<br />
Ich stöpselte ein herum liegendes Kabel ein. Dann brachte ich einen<br />
Energiewandler unserer Juca-Technologie an, um den für das<br />
Teil notwendigen elektrischen Strom zu erzeugen. Den Rechner gestartet<br />
– sämtliche Passwörter sind leichtsinnigerweise gespeichert –<br />
und – schwups – war ich im Internet <strong>der</strong> Menschen.<br />
Ach so, bevor irgendjemand auf die Idee kommt, sich über scheinbar<br />
weitere ungeklärte Merkwürdigkeiten <strong>der</strong> Jucas zu wun<strong>der</strong>n:<br />
Statt eines verkabelten Stromnetzes, wie es bei den Menschen üblich<br />
ist, beziehen Geräte <strong>der</strong> Jucas ihre Energie aus dem Raum-Zeit-<br />
Kontinuum. Desgleichen beherrschen wir die Technologie, mittels<br />
Verschiebungen des Raum-Zeit-Kontinuums eigentlich sichtbare<br />
Dinge unsichtbar zu machen.<br />
Unsere Wohnungen bauen wir beispielsweise fernab von Menschenansiedlungen<br />
mit dieser Technologie, so dass sie – falls nicht<br />
etwas entsetzlich schief laufen sollte – nie sichtbar sein werden. Sie<br />
– 49 –
efinden sich etwas oberhalb des Erdbodens, wo wenig Störungen<br />
durch Fremde zu erwarten sind.<br />
Unsere Technologie ermöglicht es, dass ein Flugzeug <strong>der</strong> Menschen<br />
mit hoher Geschwindigkeit durch unsere Wohnungen fliegen<br />
kann. We<strong>der</strong> die Insassen des Flugzeugs noch wir merken richtig etwas<br />
davon. So schnell passiert alles. Na ja, vielleicht manchmal ein<br />
kurzes Gefühl, das man sich nicht erklären kann.<br />
Apropos 'erklären': Ich selbst verstehe ehrlich gesagt nicht, wie alles<br />
funktioniert. Höchstwahrscheinlich werde ich es nie begreifen.<br />
Unsere Ahnen haben sich die Techniken in Generationen erarbeitet,<br />
daher erwarte ich gar nicht, je alles zu wissen. Es ist für mich einfach<br />
selbstverständlich, diese Techniken anzuwenden.<br />
Weitere Einzelheiten möchte ich nicht preisgeben.<br />
Neulich, bevor ich dauerhaft sichtbar wurde, bin ich aus Langeweile<br />
in <strong>der</strong> S-Bahn <strong>der</strong> Menschen mitgefahren. Neugierig setzte ich mich<br />
neben einen Menschen, <strong>der</strong> gerade so einen 'Schlepptop' auspackte<br />
und sich auf seinen Schoß packte. Na ja, zugegeben, es ist auch immer<br />
schön warm in <strong>der</strong> Nähe dieser Dinger.<br />
'Superleicht, nur 1,9 kg' verriet ein Aufkleber. Ich musste mich zusammenreißen,<br />
um nicht vor lauter Lachen loszuprusten.<br />
Der Mensch startete seinen Rechner. <strong>Das</strong> dauerte 2 Bahnhöfe.<br />
Dann klickte er auf ein Symbol.<br />
1 Bahnhof weiter gab sein Rechner zurück: 'Fehlende Verknüpfung,<br />
... wird gesucht'. Der Mensch wartete eine Weile und klickte<br />
beim nächsten Bahnhof auf 'abbrechen'.<br />
Der Rechner antwortete: 'Sicherheitsupdate erfor<strong>der</strong>lich – jetzt installieren?'<br />
Der Mensch klickte auf 'ja'.<br />
2 Bahnhöfe weiter gab <strong>der</strong> Rechner zurück: 'Zugang nicht möglich<br />
– noch mal versuchen?' Der Mensch kratzte sich am Kinn.<br />
Schon beim nächsten Bahnhof nahm ihm <strong>der</strong> Rechner die Entscheidung<br />
ab: 'Niedriger Energiezustand'.<br />
Offenbar um <strong>der</strong> drohenden Selbstabschaltung des Rechners zu-<br />
– 50 –<br />
vor zu kommen, beeilte sich <strong>der</strong> Mensch, ein Programm zu starten:<br />
'Registrierung optimieren' klickte er an.<br />
3 Bahnhöfe weiter antwortete <strong>der</strong> Rechner: 'system error'. Wenn es<br />
ernst wird, wechseln die Maschinen <strong>der</strong> Menschen offensichtlich<br />
grundsätzlich ihre Sprache.<br />
Am nächsten Bahnhof nahm <strong>der</strong> Mensch den Akku seines Rechners<br />
heraus, baute den Akku wie<strong>der</strong> ein und steckte den Rechner in<br />
seinen Aktenkoffer.<br />
Dann stieg <strong>der</strong> Mensch aus.<br />
Aha, jetzt weiß ich, wofür die Menschen diese Geräte brauchen...<br />
Der Professor hatte heute keine Zeit, seine Frau ist irgendwo bei<br />
Verwandten. Nach dem Frühstück bin ich also allein umher gestromert.<br />
Außer 'normalen' Jucas ist mir niemand begegnet.<br />
Nein, nicht dass sich <strong>der</strong> Professor entgegen seinem Versprechen<br />
nicht um meine Angelegenheit kümmerte – im Gegenteil! Damit die<br />
Sache erfolgreich wird, bereitete er sich intensiv darauf vor.<br />
Zunächst erledigte er alles dafür seiner Ansicht nach Wichtige. Er<br />
kontaktierte etliche an<strong>der</strong>e Experten, die er mit Fragen bombardierte.<br />
Dann packte er zig Utensilien in einen großen Rucksack.<br />
Als ich wie<strong>der</strong> kam, bastelte er wie wild an einer seiner neueren<br />
Erfindungen, mit <strong>der</strong> er Jucas trotz Unspürbarkeit aufspüren will. In<br />
gewissen Fällen soll die Maschine schon funktionieren.<br />
Außerdem meinte <strong>der</strong> Professor, es wäre ihm etwas unangenehm,<br />
mit mir alleine durch die Gegend zu streifen. So ganz verstehe ich<br />
das nicht...<br />
Morgen wird die Nachbarstochter von einer Urlaubsreise zurück<br />
sein. Wir werden zu Dritt einen Ausflug in die Berge unternehmen.<br />
– 51 –
4. ZWEITTAG<br />
„Ich bin die Djunef“, strahlte mich ein pausbäckiges Gesicht mit seitlich<br />
verlaufenden rotbraunen Strähnchen an.<br />
'Die' Djunef, o je, <strong>der</strong> Esel steht im Stall und die Kuh daneben.<br />
Nett schien sie aber zu sein.<br />
„Du bist die Annicat?“ lächelte mich das Gesicht an.<br />
„Ja, ich heiße Annicat,“ gab ich stirnrunzelnd zurück.<br />
„O.K., Djunef, weißt du schon, was wir vorhaben und worauf du<br />
dich mit mir einlässt?“ fragte ich.<br />
„Vorsicht“, kam <strong>der</strong> Professor hinzu, „Djuneff ist nicht nur eine<br />
exzellente Bergführerin, sie ist gleichzeitig meine beste Schülerin!“<br />
„Ach ja,“ warf ich ein, „was kann sie denn so toll?“<br />
Der Professor erklärte: „Ich selbst habe mich mehrere 625er mit<br />
<strong>der</strong> selbstgesteuerten Sichtbarkeit befasst, bis ich es schaffte, maschinell<br />
nachzuweisen, wann und wie jemand seine Sichtbarkeit steuert.<br />
Djuneff hat darauf basierend innerhalb eines 125ers einen Algorithmus<br />
entwickelt, mit dem sich die Steuerung <strong>der</strong> Spürbarkeit bei bestimmten<br />
Jucarassen nachweisen lässt.“<br />
„Oh!“ staunte ich.<br />
„Ich habe nur ein paar Formeln modifiziert,“ sagte Djunef bescheiden.<br />
„Gibt es denn mehr als eine Jucarasse, welche die Spürbarkeit<br />
steuern kann?“ wollte ich wissen.<br />
„Genau zwei sind mir bekannt,“ antwortete <strong>der</strong> Professor, „allerdings<br />
können nur Deine Vorfahren es perfekt. So, jetzt wollen wir<br />
aber mal aufbrechen!“<br />
Wir starteten mit <strong>der</strong> Besteigung des Berges, an dessen Hang sich<br />
die Jucasiedlung befindet. Djunef ging mit fröhlichem Gesicht voran,<br />
dann folgte <strong>der</strong> Professor. Zum Schluss sah man die ach so sportliche<br />
Annicat sich abmühen.<br />
Puh, war ich dankbar und erledigt, als wir endlich oben ankamen.<br />
Vor Anstrengung zitterten mir die Knie.<br />
– 52 –<br />
„Prima,“ strahlte Djunef, die Frohnatur, „diesen Hügel hätten wir<br />
geschafft. Wenn wir jetzt da hinunterkraxeln und da drüben wie<strong>der</strong><br />
hoch und dann noch 6 Hügel weiter kommen wir in die Berge.“<br />
Mir wurde ganz mulmig.<br />
„Na, wir wollen unseren Gast nicht schon am ersten Tag überfor<strong>der</strong>n,“<br />
bremste <strong>der</strong> Professor Djunefs Tatenlust, „wir wan<strong>der</strong>n heute<br />
nur ins nächste Tal und kehren dann um.“<br />
Uff, war ich erleichtert!<br />
Im Nachbartal wohnt ein uralter Juca, <strong>der</strong> genau wie ich das Gen<br />
<strong>der</strong> Unspürbarkeit in sich trägt, weil er entsprechende Vorfahren hat.<br />
Wir suchten ihn auf, und ich dachte, er könnte mir sehr viel erklären.<br />
Lei<strong>der</strong> handelt es sich um einen taubstummen Juca. Die Sache mir<br />
seiner Unspürbarkeit hat man zufällig herausgefunden.<br />
Der Professor hatte ihn schon oft besucht, um dadurch etwas zu<br />
lernen. Er beobachtete ihn genau, um zu sehen, wann genau die Unspürbarkeitsphasen<br />
auftreten.<br />
Jetzt testeten wir ihn mit <strong>der</strong> selbstgebastelten Maschine des Professors,<br />
welche Jucas trotz Unspürbarkeit nachweisen soll. Dank Djunefs<br />
Algorithmus – ich staune immer noch – zeigte die Maschine den<br />
Ort des taubstummen Juca in <strong>der</strong> Tat ein paar Mal trotzdem an,<br />
wenn wir meinten, ihn nicht zu spüren.<br />
Anfangs war ich vom Ergebnis des Ausflugs etwas enttäuscht. Ich<br />
bin eher ein Typ, <strong>der</strong> lieber redet, statt sich mit Maschinen abzugeben.<br />
Im Nachhinein muss ich mir eingestehen, dass <strong>der</strong> halbwegs<br />
erfolgreiche Test des Unspürbarkeitsdetektors ein großer Fortschritt<br />
war, <strong>der</strong> – ein bisschen Glück vorausgesetzt – auch mir helfen<br />
wird.<br />
Ich liege im Bett, und die Beine tun mir weh. Wer weiß, was morgen<br />
wird. Am liebsten würde ich gleich abreisen, um übermorgen im<br />
Blauen See schwimmen zu gehen und danach auf dem Sonnenhügel<br />
abzuhängen.<br />
Aber 'die' Annicat will ja ihre Vorfahren suchen...<br />
– 53 –
4. MITTTAG<br />
Früh morgens wummerte es gegen die Tür. „Aufstehen! Der Tag ist<br />
wun<strong>der</strong>schön. Los, aufstehen!“<br />
Natürlich, die fröhliche Djunef...<br />
„Des Himmels Blau<br />
durchstrahlt die Luft,<br />
<strong>der</strong> Wind trägt lau<br />
<strong>der</strong> Blumen Duft.<br />
Traa la laa...“<br />
Grrrr. Wenn ich eines hasse, dann gute Laune an<strong>der</strong>er, wenn mir<br />
alles weh tut.<br />
„Ach komm“, rief Djunef, „heute haben wir viel vor!“<br />
Wütend riss ich die Tür auf.<br />
„Hallloo!“ strahlte mich Djunefs Gesicht mit breitem Lächeln an.<br />
„Tag auch,“ knurrte ich sie an, „auf anstrengende Bergtouren habe<br />
ich heute keine Lust!“<br />
„Wir nehmen die Kabinenbahn“, lächelte Djunef, „oben in den<br />
Bergen brauchen wir nur ganz wenig zu laufen!“<br />
„Na wer weiß, was diese Bergziege unter 'wenig' versteht...“ dachte<br />
ich.<br />
Erstaunlicherweise war ich dann doch recht schnell startbereit.<br />
Wie angekündigt nahmen wir die Kabinenbahn, erreichten mit ihr<br />
eine Plattform. Dort wechselten wir auf die nächste Kabinenbahn.<br />
An ihrem Ende setzten wir uns schließlich in die Sitze eines Sessellifts.<br />
Mit mulmigem Gefühl ließ ich meinen Blick über meine Beine<br />
und dann auf die unter uns vorbei ziehenden schneebedeckten Hänge<br />
streifen.<br />
– 54 –<br />
„Na, Höhenangst?“ neckte Djunef mich.<br />
„Nein,“ log ich.<br />
„Macht nichts,“ fuhr Djunef fort, „man gewöhnt sich dran.“<br />
Warum wir für solche Aktionen nicht unsere Juca-Technologie benutzen?<br />
Die Jucas haben in dieser Hinsicht irgendwie einen Sicherheitswahn.<br />
'Bloß nicht auffallen!' lautet die Devise.<br />
Und wehe jemand verstößt gegen diesen Codex. Als ob sich auch<br />
nur ein einziger Mensch o<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>es Tier daran stören würde,<br />
ab und zu und hie und da Jucas auftauchen und verschwinden zu sehen.<br />
Unsere Technologie kann sowieso kein mir bekanntes Tier auf <strong>der</strong><br />
Erde nachvollziehen. Nicht einmal die meisten Jucas wissen, warum<br />
bestimmte Dinge funktionieren. Sogar den Gemeinschaftsrat einschließlich<br />
all unserer <strong>der</strong>zeitigen Wissenschaftler des Wissenshauses<br />
nehme ich da nicht aus.<br />
Unser lieber Informationsrat lässt überall die Geschichte mit den<br />
Flugzeugen verbreiten, die völlig gefahrlos durch unsere Wohnungen<br />
fliegen können. Warum aber bauen wir dann so bewusst an Stellen,<br />
wo das möglichst selten vorkommt? <strong>Das</strong> werde ich lieber nicht laut<br />
fragen...<br />
Ich vermute, es ist wie bei den Menschen. Sie haben ein paar riesige<br />
Atomkraftwerke gebaut. Angesichts <strong>der</strong> Größe dieser Dinger und<br />
des erzielten Energieumsatzes kommt einem fast das Lachen. Es<br />
bleibt einem aber im Hals stecken, wenn man überlegt, welches Risiko<br />
die Menschen bisweilen eingehen.<br />
Die Rente ist sicher, Atomkraftwerke sind sicher... Wer diese offensichtlich<br />
erfolgreichen Slogans den Menschen untergejubelt hat,<br />
könnte glatt gute Arbeit bei unserem Informationshaus finden.<br />
Juca-Wohnungen sind vor Flugzeugen <strong>der</strong> Menschen sicher, ihre<br />
Bewohner würden sogar einen extremen Störfall <strong>der</strong> menschlichen<br />
Atomkraftwerke überstehen... So bekommen wir es andauernd serviert.<br />
Ich habe da gewisse Zweifel...<br />
– 55 –
Abgelenkt durch meine eher missmutigen Gedanken musste ich mir<br />
we<strong>der</strong> die überschwänglichen Äußerungen Djunefs im Detail anhören<br />
noch bekam ich es richtig mit, in welcher relativen Höhe über<br />
dem Erdboden wir uns befanden. Hoch musste es schon sein. „Holla<br />
hi, holla ho, wir fliegen...“, sang Djunef gerade.<br />
Als wir ausstiegen, zitterten meine Beine, obwohl ich mich noch gar<br />
nicht angestrengt hatte.<br />
„Toll, wie schön frisch!“ jauchzte Djunef. Stimmt, es war es lausekalt.<br />
Wir liefen leicht bergab über den Schnee, bis wir zu einem zugefrorenen<br />
See gelangten. Genaugenommen rutschten wir mehr als wir<br />
liefen. Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich den See.<br />
„Super!“ entfuhr es Djunef.<br />
„Der Schlitter schlitterte über den See,<br />
die Schlitter schlitterte mit.<br />
Gekrault hat am Ohr er sie, juchhe!<br />
Im Herbst waren sie zu dritt.“<br />
„Müssen wir eigentlich den ganzen Weg zurück?“ fragte ich den Professor.<br />
„Nein,“ antwortete er, „bergab nehmen wir eine an<strong>der</strong>e Bahn.“<br />
Nach <strong>der</strong> Überquerung des Sees liefen wir wie<strong>der</strong> etwas bergan und<br />
erreichten bald einen Aussichtspunkt. Nahezu ringsum genossen wir<br />
eine grandiose Aussicht, die auch mir ganz gut gefiel. Also ich meine,<br />
Djunefs Begeisterung wurde in Teilen von mir nachvollzogen.<br />
Hier packte <strong>der</strong> Professor vorsichtig den Unspürbarkeitsdetektor<br />
aus. <strong>Das</strong> Ergebnis war mehr als enttäuschend. Entwe<strong>der</strong> funktionierte<br />
die Kiste nicht, o<strong>der</strong> es gab nichts zu entdecken. Trotz voller Leistung<br />
ließ sich nicht die geringste Unspürbarkeitsän<strong>der</strong>ung nachweisen.<br />
– 56 –<br />
Der Unspürbarkeitsdetektor wurde wie<strong>der</strong> verpackt, und nach einem<br />
kurzen Spaziergang (würde Djunef sagen) bzw. einem Kräfte<br />
zehrenden Marsch (sage ich) erreichten wir die Bergstation eines an<strong>der</strong>en<br />
Sessellifts.<br />
Die Abfahrt kam mir noch unangenehmer vor. Man schwebte dem<br />
tief unter einem liegenden Boden quasi im freien Fall entgegen.<br />
Na ja, auch das habe ich überstanden.<br />
Morgen wollen wir den Detektor auf einem <strong>der</strong> „Hügel“ (sagt Djunef)<br />
im nächsten Tal ausprobieren.<br />
– 57 –
4. VIERTTAG<br />
„Die Blüte streichelt liebevoll<br />
<strong>der</strong> Schmetterling im Flie<strong>der</strong>.<br />
Die Sehnsucht dich nicht plagen soll,<br />
denn morgen komm' ich wie<strong>der</strong>!“<br />
Hm. Allmählich gewöhne ich mich daran, auf diese Weise begrüßt<br />
zu werden...<br />
„O.K., ich beeile mich ja schon,“ rief ich.<br />
„Naa,“ strahlte Djunef mich mit fröhlichem Gesicht an und ließ<br />
ihre rotbraunen Strähnchen zucken.<br />
„Guten Morgen!“ gab ich freundlich zurück.<br />
Die gestern benutzten Kabinenbahnen und Sessellifts fuhren bis auf<br />
die wenigen Menschen darin fast leer. So fiel ich trotz Sichtbarkeit<br />
nicht auf.<br />
Den hiesigen Bus <strong>der</strong> Menschen kann ich nicht benutzen. Er ist<br />
immer voller Schulkin<strong>der</strong>, die bestimmt ihre helle Freude an mir hätten.<br />
Für die Fahrt ins Nachbartal musste ich mir etwas einfallen lassen.<br />
Laufen wollte ich nicht so weit.<br />
So kam es mir gelegen, dass heute ein ortsansässiger Zirkus im<br />
Nachbartal eine Vorstellung gab. Klasse, Hin- und Rückfahrt gratis.<br />
Na ja, bequem und ein ungetrübtes Vergnügen war es für mich nicht.<br />
Djunef und <strong>der</strong> Professor hatten den Vorteil, nicht gesehen und nicht<br />
bemerkt zu werden.<br />
Ich dagegen...<br />
Also kurz gefasst: <strong>Das</strong> beste Transportmittel, das wir fanden, war<br />
ein Löwenkäfig. Mit Löwe drin, versteht sich. Ansonsten gab es viel<br />
Platz.<br />
– 58 –<br />
Ich öffnete die Gittertür. Sie war nur mit einem vierstelligen Zahlenschloss<br />
gesichert, und hören kann ich gut! Nach unserem Einstieg<br />
verriegelte ich die Tür wie<strong>der</strong>.<br />
Der Löwe kam drohend auf mich zu, und er roch ziemlich aus seinem<br />
Maul. Brr. Ich richtete mich zu voller Größe auf und fauchte<br />
den Löwen aus Leibeskräften an.<br />
Unterwürfig zwängte sich <strong>der</strong> Löwe in eine <strong>der</strong> Ecken des Käfigs.<br />
<strong>Das</strong> ging ja viel einfacher als erwartet.<br />
Im Nachbartal stiegen wir alle aus. Der Löwe wollte plötzlich mit<br />
aussteigen. Ich fauchte kurz, und er blieb im Käfig. <strong>Das</strong> Zahlenschloss<br />
stellte ich sicherheitshalber auf eine völlig an<strong>der</strong>e Kombination,<br />
aber <strong>der</strong> Löwe schien keine Ahnung zu haben, was ich da machte.<br />
Die nun folgenden Fahrten mit Kabinenbahnen und dem frei wackelnden<br />
Sessellift kannte ich ja schon von gestern.<br />
Als wir den für heute anvisierten 'Hügel' endlich nach einem 'kurzen<br />
Spaziergang' erreichten, merkte ich, dass meine Beine nicht nur weh<br />
taten. Sie schienen dicker geworden zu sein.<br />
Der mitgeschleppte Detektor brachte auch diesmal kein Ergebnis.<br />
Richtig frustrierend!<br />
Doch die weiten Ausblicke über die bergige Landschaft genoss ich.<br />
Und die Gesellschaft von Djunef und dem Professor taten mir richtig<br />
gut.<br />
Die Rückfahrt im Löwenkäfig klappte plangemäß. Der Löwe wusste<br />
Bescheid und rutschte gleich bei meinem Einstieg in seine Ecke.<br />
– 59 –
4. FÜNFTTAG<br />
„Die Bienen schwirren aus,<br />
um Honig zu beschaffen...“<br />
„Wenn warm und rot die Sonne strahlt“,<br />
unterbrach ich Djunef und öffnete die Tür,<br />
„ergrünt die Welt, verwischt die Sorgen,<br />
des Himmels schönstes Bild die malt –<br />
dann fühl dich wohl, genieß den Morgen!“<br />
„Oh, wo hast du das denn her?“ fragte Djunef.<br />
„Geklaut!“ antwortete ich.<br />
Diesmal nahmen wir für den Anweg einen Heuwagen. Ein Bauer ließ<br />
sich mit seiner Sense – und nun auch mit uns – von einem Pferd zu<br />
seiner Wiese in den Bergen ziehen.<br />
<strong>Das</strong> Pferd schnaufte beim Anstieg gewaltig. Kein Wun<strong>der</strong>, mit uns<br />
als zusätzlichem Ballast. Der Bauer war nicht ganz zufrieden mit dem<br />
Pferd und versuchte, es andauernd noch mehr anzutreiben. Armes<br />
Pferd.<br />
Wir kamen ziemlich langsam vorein.<br />
Ich vermutete, alleine wären Djunef und <strong>der</strong> Professor schneller zu<br />
Fuß. Mir zuliebe hatten sie offensichtlich eine stillschweigende Übereinkunft,<br />
mich nicht darauf hinzuweisen. <strong>Das</strong> fand ich sehr rücksichtsvoll.<br />
Als <strong>der</strong> Bauer bei seiner Wiese ankam, stiegen wir vom Wagen ab.<br />
Lange Reihen von mittlerweile getrocknetem Gras auf gespannten<br />
Drähten zeigten uns, dass hier jemand schon sehr fleißig war.<br />
Während <strong>der</strong> Bauer anfing, weiteres Gras zu mähen, stiegen wir<br />
einen Trampelpfad höher in die Berge. Ich hoffte, <strong>der</strong> Bauer würde<br />
– 60 –<br />
zum Schluss den Wagen mit fertigem Heu beladen und uns bequem<br />
zurück ins Tal bringen.<br />
Trotz kühler Luft schwitzend erreichten wir unser Tagesziel, eine<br />
einzeln stehende Felsnadel aus Sandstein, gewiss 25 Meter hoch.<br />
„Da hinauf?“ protestierte ich, „nee, nicht mit mir!“<br />
„Du musst auf gar keinen Fall auf die Nadel klettern,“ beruhigte<br />
mich Djunef. „Wir probieren erst einmal den Detektor hier unten auf<br />
<strong>der</strong> Wiese aus. Nur wenn das kein Ergebnis bringt, steigen <strong>der</strong> Professor<br />
und ich kurz hoch.“<br />
Erwartungsgemäß zeigte <strong>der</strong> Detektor unterhalb <strong>der</strong> Felsnadel überhaupt<br />
nichts an.<br />
Nun denn, Djunef und <strong>der</strong> Professor packten ein Seil aus, befestigten<br />
sich und den Detektor daran mit diversen Haken, und schon kletterten<br />
sie die Felsnadel empor.<br />
Ich machte es mir auf <strong>der</strong> Wiese bequem. In <strong>der</strong> Ferne hörte ich<br />
Djunef und den Professor diskutieren. Wahrscheinlich waren sie jetzt<br />
oben angekommen.<br />
Die Sonne wärmte mich, ich lag weich in einer Mulde im Gras und<br />
war schon beinahe eingedöst, als ich plötzlich vom nahen Waldrand<br />
her ein Rascheln hörte.<br />
„Ein Juca,“ dachte ich. „Wenn er mich entdeckt, sieht er, wie ich hier<br />
faul herum liege, während die an<strong>der</strong>en arbeiten. Nein, das will ich<br />
nicht!“<br />
Vor Aufregung kribbelten mir die Oberarme.<br />
Niemand näherte sich, man hatte mich also nicht bemerkt. Ich<br />
lugte ein wenig aus <strong>der</strong> Mulde hervor und schaute vorsichtig in die<br />
Richtung, aus <strong>der</strong> ich das Rascheln vernommen hatte.<br />
Ach. Ein Wolf hatte mich genarrt.<br />
Ich hörte die Gespräche zwischen Djunef und dem Professor inzwischen<br />
wie<strong>der</strong> lauter, sie befanden sich also auf dem Abstieg.<br />
– 61 –
Als beide unten waren, kam Djunef aufgeregt angeschossen: „<strong>Das</strong><br />
Signal war unheimlich stark und klar. Es muss jemand direkt neben<br />
Dir gestanden haben!“<br />
Hm, immerhin weiß ich jetzt 100%ig, dass <strong>der</strong> Detektor funktioniert...<br />
Der Bauer hatte freundlicherweise seinen Heuwagen gut vorbereitet.<br />
Wir drückten uns gemütlich ins Heu und ließen uns dann bergab<br />
ziehen.<br />
<strong>Das</strong> Heu roch fantastisch, war warm und fe<strong>der</strong>te angenehm. Als<br />
<strong>der</strong> Wagen im Tal anhielt, hatte ich gar keine Lust auszusteigen.<br />
– 62 –<br />
5. ERSTTAG<br />
Keine Djunef an <strong>der</strong> Tür, und ich fühlte mich nicht beson<strong>der</strong>s.<br />
Na ja, ich sollte vielleicht nicht so ein Trara deswegen veranstalten.<br />
Immer nach einem 25er ist es wie<strong>der</strong> soweit. Mir ist unangenehm<br />
unwohl, und ich bin deswegen auch etwas gereizt.<br />
Bei an<strong>der</strong>en Tieren gibt es offensichtlich Vergleichbares. Im Internet<br />
<strong>der</strong> Menschen steht z.B., dass den meisten Menschenfrauen alle<br />
28 Tage unwohl ist.<br />
Davon lasse ich mich aber nicht kirre machen. Denn ich weiß, dass<br />
diese Periode immer recht schnell vorbei geht und ich dann wie<strong>der</strong><br />
100% einsatzfähig bin.<br />
Ein ausgedehnter Ausflug kam heute sowieso nicht in Frage. Denn<br />
<strong>der</strong> Professor hatte seine Einführungsveranstaltung im hiesigen Wissenshaus.<br />
Also beschloss ich, in <strong>der</strong> nahen Umgebung ein wenig bummeln<br />
zu gehen.<br />
So ganz die rechte Lust hatte ich aber nicht, so dass ich mir vorher<br />
ein paar Bücher <strong>der</strong> umfangreichen Bibliothek des Professors ansah.<br />
Vieles in den Büchern verstehe ich überhaupt nicht. Nachdem ich<br />
mir unheimlich viele Bil<strong>der</strong> angeschaut hatte, war mir langweilig. Also<br />
verließ ich planlos die Wohnung.<br />
Die Wohnungen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Jucas kamen mir wie schon die des<br />
Professors deutlich kleiner vor als ich es von zuhause gewohnt bin.<br />
Außerdem stehen sie dicht an dicht.<br />
An einer Art Marktplatz setzte ich mich auf einen steinernen Rand<br />
eines Brunnens, den wohl Menschen vor Urzeiten einmal angelegt<br />
und in neuerer Zeit nie wie<strong>der</strong> benutzt hatten.<br />
Die Menschen lebten offensichtlich früher auch gern in den Bergen.<br />
Heutzutage siedeln sie wohl lieber am Wasser, am liebsten am<br />
Meer.<br />
– 63 –
Eine Weile lang fühlte ich ein Drücken im Bauch, und eine innere<br />
Stimme sagte mir „Neben dir sitzt jemand!“<br />
Na ja, das lag an meinem heute sowieso nicht optimalen Zustand,<br />
o<strong>der</strong>?<br />
Djunef und <strong>der</strong> Professor hatten mit dem Detektor gestern ausgerechnet<br />
mich während meiner Unspürbarkeitsphase entdeckt. Ohne<br />
Hilfsmittel rechnete ich überhaupt nicht mit irgendwelchen unspürbaren<br />
Jucas.<br />
Ungläubig und doch ein wenig neugierig streckte ich schließlich<br />
meine rechte Hand aus, sie kribbelte ganz fürchterlich. Tatsächlich,<br />
ich berührte etwas.<br />
Urplötzlich wurde sie sichtbar, eine orangegelockte Juca, wun<strong>der</strong>hübsch<br />
anzusehen und deutlich ein paar 375er älter als ich.<br />
„Nein, bitte nicht!“ flehte sie mich an.<br />
Etwas verwirrt griff ich nochmals mit meiner kribbelnden Hand<br />
nach ihr, fühlte etwas samtig Warmes, und sofort war das Orange<br />
wie<strong>der</strong> unsichtbar.<br />
„Bitte verrat mich nicht!“ hörte ich leise aus dem Nichts.<br />
<strong>Das</strong> Drücken in meinem Bauch verschwand. Mit beiden Armen<br />
fuchtelte ich wie wild in <strong>der</strong> Gegend herum.<br />
Nichts.<br />
Am späten Nachmittag machte ich mich auf den Rückweg zur Wohnung<br />
des Professors.<br />
„Moin“, grüßte mich ein alter, weißhaariger Juca.<br />
„Nee, Abend!“ entgegnete ich.<br />
„Ich bin am Meer geboren,“ sagte <strong>der</strong> Weißhaarige, „dort sagt<br />
man 'Moin'. 'Moin' verwechseln viele mit 'Morgen', es bedeutet aber<br />
'Gut'. Dort am Meer wünscht man sich also ganz einfach 'Einen Guten'.<br />
<strong>Das</strong> gilt für jede Tageszeit!“<br />
Probleme gibt's...<br />
– 64 –<br />
5. ZWEITTAG<br />
„Sah' ein Knab' ein Mädchen steh'n<br />
– Mädchen in dem Garten –<br />
traute sich nicht hinzugeh'n<br />
– Mädchen musste warten.“<br />
He, Djunef stand vor <strong>der</strong> Tür! Ich rannte hin und öffnete.<br />
„Es jauchzet <strong>der</strong> Has',<br />
es spurtet das Reh<br />
wohl über das Gras<br />
und tut sich nicht weh.<br />
Ein Mädchen, das springt,<br />
ein Bächlein, das rinnt,<br />
ein Knabe, <strong>der</strong> singt,<br />
<strong>der</strong> Frühling beginnt.<br />
Oh, bleibet doch so,<br />
Natur es beschert,<br />
verzücket und froh,<br />
und unversehrt! „<br />
„Hallo!“ strahlte ich sie an.<br />
„Auch geklaut!“ grinste Djunef. „Bei einem Deiner Menschen. Der<br />
Professor hat's mir übersetzt. '18.06.1976' stand darunter, mehr weiß<br />
ich nicht.“<br />
„Kannst und möchtest du heute wie<strong>der</strong> etwas unternehmen?“ begrüßte<br />
mich <strong>der</strong> Professor.<br />
„Geht das denn?“ wollte ich wissen, „ich meine, was ist mit den<br />
Kursen im Wissenshaus?“<br />
– 65 –
„Mein Schwerpunkt ist nicht die Lehre, son<strong>der</strong>n die Forschung,“<br />
erklärte er. „Es wäre doch schön dumm von mir, die Gelegenheit mit<br />
dir nicht zu nutzen.“<br />
„Aber wartet denn im Augenblick niemand im Wissenshaus?“<br />
wandte ich ein.<br />
Der Professor entgegnete: „Alle wissen Bescheid. Ich habe sie auf<br />
morgen vertröstet.“<br />
„Prima!“ sagte ich.<br />
„Äh ja, vorgestern, als <strong>der</strong> Detektor etwas sehr stark anzeigte...“<br />
grummelte <strong>der</strong> Professor.<br />
„Ja, das war ich,“ gestand ich.<br />
„Natürlich darf diese Technik nicht in die falschen Hände geraten,“<br />
fuhr er fort, „aus rein wissenschaftlicher Neugier würde ich<br />
doch ganz gerne...“<br />
„O.K., machen wir die Tests,“ kürzte ich ab.<br />
Es dauerte nicht lange, bis <strong>der</strong> Detektor auf meine Unspürbarkeitswechsel<br />
justiert war.<br />
„Vielleicht entdecken wir mit diesen Einstellungen nun doch noch<br />
Unspürbarkeitswechsel weiterer Jucas,“ wollte <strong>der</strong> Professor mich<br />
aufmuntern.<br />
Ich glaubte inzwischen nicht mehr daran und schaute ihn mit gerunzelter<br />
Stirn an.<br />
„Ach was,“ sagte <strong>der</strong> Professor, „die Reichweite scheint sowieso<br />
nicht so doll zu sein, wir lassen das Ding hier,“ und er brachte den<br />
Detektor in sein Arbeitszimmer.<br />
Es wurde eine beson<strong>der</strong>s schöne Bergtour.<br />
Zunächst liefen wir denselben Weg auf den Hügel oberhalb <strong>der</strong><br />
Jucasiedlung wie bei unserem ersten gemeinsamen Ausflug. Ich<br />
staunte über mich selbst, wie schnell ich oben war. Bisweilen lief ich<br />
sogar vor dem Professor!<br />
Statt den taubstummen Juca zu besuchen, wan<strong>der</strong>ten wir vom Pass<br />
aus in die entgegengesetzte Richtung.<br />
– 66 –<br />
Alsbald gelangten wir an einen tiefblauen und glasklaren Bergsee,<br />
<strong>der</strong> sich in <strong>der</strong> Sonne spiegelte.<br />
„Wao!“ entfuhr es mir, „noch besser als zuhause.“<br />
„Schwimmst du gerne?“ fragte Djunef. „Ab und zu tu ich's auch.“<br />
„Super!“ freute ich mich. „Auf geht's!“<br />
„<strong>Das</strong> Wasser könnte ein klein wenig kälter sein als du es gewohnt<br />
bist...“ meinte Djunef.<br />
Egal, „was dich nicht umbringt, macht dich härter,“ dachte ich,<br />
und plumps war ich im Wasser.<br />
In <strong>der</strong> Tat. Brrrr. Oioioi. Alles zog sich bei mir zusammen.<br />
„Jetzt bloß nichts anmerken lassen“ redete ich mir gut zu und ru<strong>der</strong>te<br />
mit heftigen Schwimmbewegungen <strong>der</strong> nach mir ins Wasser<br />
gestiegenen Djunef davon.<br />
Mal auf dem Bauch liegend, mal auf dem Rücken. Die Sonne<br />
schien mich trotz des eiskalten Wassers hindurch zu wärmen. Vor<br />
mir spiegelte sich die gesamte Bergwelt, blau, grün, gelb, braun, rot.<br />
Neben und hinter mir glitzerten die kleinen von mir verursachten<br />
Wellen...<br />
Die Kälte wurde immer unangenehmer, ich kraulte zurück zum<br />
Ufer und wartete dort auf Djunef.<br />
„Du schwimmst nicht schlecht,“ bemerkte Djunef bewun<strong>der</strong>nd.<br />
Tja, etwas, das ich besser kann.<br />
Der Professor schüttelte den Kopf: „Wie kann man nur Wasser<br />
mögen?! Ich habe <strong>der</strong>weil von diesem Gipfel dahinten die Aussicht<br />
genossen. <strong>Das</strong> war schön!“<br />
„Hast du eigentlich einen Freund?“ wollte Djunef wissen.<br />
Ich sagte erst einmal eine ganze Weile gar nichts. Meine Gedanken<br />
schweiften zu Omrupp.<br />
Wie wäre es, wenn ich ihm etwas ganz Spezielles von meiner Reise<br />
mitbrächte?<br />
Ein blauer Enzian sah mich erwartungsvoll an.<br />
Nein. Erstens weiß ich nicht, ob Omrupp Blumen mag. Zweitens<br />
halten sie sich bestimmt nicht, bis ich wie<strong>der</strong> zuhause bin. Drittens<br />
– 67 –
sowieso nicht, ich darf doch nicht eine Blume abrupfen, <strong>der</strong> es hier<br />
gerade gut geht...<br />
Mein Blick schweifte über 125er von Dolomit-Steinen, da wusste ich<br />
es plötzlich.<br />
Ein Bächlein hatte etliche Steine gerundet, einen in ganz beson<strong>der</strong>er<br />
Form. Ich nahm ihn auf.<br />
„Ich kenne jemanden, <strong>der</strong> mir viel bedeutet,“ sagte ich zu Djunef,<br />
„und ich werde ihm etwas mitbringen. Bei den Menschen habe ich<br />
ein passendes Gedicht dazu gefunden:<br />
Im schönsten Wiesengrunde,<br />
da lag ein Herz aus Stein,<br />
ich dacht' bei diesem Funde,<br />
das muss die Liebe sein.<br />
Der Stein war warm von Sonne<br />
und schaut' mich traurig an.<br />
Erkannt entflammt' die Wonne,<br />
des Menschen Freud' begann.<br />
Nun hüpf' ich froh im Kreise,<br />
weil Liebe Glück muss sein.<br />
Im Rucksack raschelt leise<br />
das gute Herz aus Stein.<br />
Menschen tun genau wie wir oft scheinbar sinnlose Dinge. Ab und<br />
zu dichten sie zum Beispiel. Menschen sind uns irgendwie sehr ähnlich.<br />
Wer immer dieses Gedicht verfasst hat, muss dasselbe empfunden<br />
haben wie ich jetzt.“<br />
„Ach Annicat,“ meinte Djunef, „du liebst ihn wirklich!“<br />
– 68 –<br />
5. MITTTAG<br />
Gestern Abend hatte ich mich noch von Djunef verabschiedet. Sie ist<br />
nun für zwei 5er auf einer Exkursion des Wissenshauses.<br />
Der Professor hat heute seine Wohnung extrem früh verlassen. Offensichtlich<br />
hat er sich im Wissenshaus so zeitig verabredet, um den<br />
Stoff nachzuholen, den er gestern nicht durchnahm.<br />
Über die Frau des Professors habe ich in <strong>der</strong> ganzen Zeit nichts<br />
weiter gehört. Ich vermute fast, dass sie gar nicht mehr mit ihm zusammen<br />
lebt. Es war ihm vielleicht unangenehm, das publik zu machen.<br />
Auch hätte man womöglich mich nicht so bedenkenlos zu ihm reisen<br />
lassen. Aber das sind private Dinge des Professors, in die ich<br />
mich nicht einmischen möchte. Er war bis jetzt jedenfalls äußerst<br />
nett zu mir.<br />
Morgen werde ich abreisen, und heute bereitete ich meine Rückreise<br />
vor.<br />
Eigentlich gab es nicht viel vorzubereiten. Ich war schnell damit<br />
fertig und machte daraufhin einen letzten Spaziergang durch die Jucasiedlung.<br />
Natürlich hoffte ich, diese orangefarbene unspürbare Juca wie<strong>der</strong><br />
zu treffen. Denn sie könnte mir wahrscheinlich viele Fragen beantworten.<br />
An dem bekannten Brunnen befand sich aber niemand.<br />
Etwas enttäuscht lief ich den ganzen Ort hin und her und auf und<br />
ab und rechts und links im Kreis.<br />
Hm, wo würde ich mich in diesem Fall verbergen? Wahrscheinlich<br />
nicht wie<strong>der</strong> an dem Brunnen, wo ich entdeckt wurde. Aber doch<br />
auch nicht allzu weit entfernt davon. Hm.<br />
Ich suchte nochmals den Platz mit dem Brunnen auf.<br />
Ringsum Wohnungen und Geschäfte. Der Brunnen in <strong>der</strong> Mitte,<br />
eine uralte Stieleiche, eine kränkelnde Ulme, ein hoher Eschenahorn,<br />
eine Sommerlinde. Hm.<br />
– 69 –
Unterhalb <strong>der</strong> Linde glänzte <strong>der</strong> Boden, tja die Läuse...<br />
Unter dem Ahorn überall Vogeldreck.<br />
Die Ulme, na ja, nur eine kurze Frage <strong>der</strong> Zeit, bis sie umstürzt.<br />
An <strong>der</strong> alten Eiche hatte man, bevor es den Brunnen gab, offensichtlich<br />
mal ein Brett als Sitzgelegenheit angebracht. Inzwischen ist<br />
es ziemlich verstaubt und wohl auch recht wacklig, also keine wirkliche<br />
Alternative zum Sitz auf dem Brunnenrand.<br />
„Ah!“ durchfuhr es mich.<br />
Rasch eilte ich auf die Eiche zu. Knapp 2 Meter davor spürte ich<br />
das mir schon letztes Mal aufgefallene Drücken im Bauch. Meine<br />
rechte Hand kribbelte, und ich packte zu.<br />
Erwischt!<br />
„Nein!“ flehte mich das Orange-Gesicht an, „mach es bitte sofort<br />
wie<strong>der</strong> rückgängig!“<br />
„Nur wenn du nicht gleich wie<strong>der</strong> verschwindest,“ sagte ich.<br />
„Einverstanden,“ hörte ich und stupste die Juca mit meiner kribbelnden<br />
Hand nochmals an.<br />
Augenblicklich war sie wie<strong>der</strong> unsichtbar.<br />
„Hast Du etwas sehr Schlimmes angestellt?“ fragte sie gleich.<br />
„Nicht dass ich wüsste,“ erwi<strong>der</strong>te ich perplex, „na ja, ich gehe im<br />
Augenblick nicht ganz konform mit dem Kommunikationsgesetz...“<br />
„Wer tut das schon?...“ lachte sie, „nein, ich meine, Du musst ja<br />
wirklich sehr bösartig gewesen sein. Trotzdem finde ich es nicht gut.“<br />
Ich verstand gar nichts.<br />
„Wie heißt Du?“ wurde ich gefragt.<br />
„Annicat“, antwortete ich.<br />
„Ein für uns sehr ungewöhnlicher Name,“ hörte ich.<br />
Ich runzelte die Stirn. „Wie ist denn dein Name? Und wieso ist<br />
meiner ungewöhnlich?“<br />
„Ich heiße Krnk“, sagte die Stimme neben mir. Ich spürte, wie sich<br />
mir eine Hand entgegenstreckte. Meine eigene kribbelte nicht mehr,<br />
und ich ergriff die unsichtbare des Orange-Gesichts namens Krnk,<br />
ohne dass sie sichtbar wurde.<br />
– 70 –<br />
Krnk fuhr fort: „Deinen Namen finde ich ungewöhnlich, weil er<br />
offensichtlich auch geschriebene Vokale enthält. Ich kenne niemanden,<br />
dessen Name mit Vokalen geschrieben wird.“<br />
<strong>Das</strong> Fragezeichen auf meiner Stirn wurde größer.<br />
„Deine Eltern müssen sich sehr über dich geärgert haben,“ stellte<br />
Krnk fest.<br />
„Ich kenne meine leiblichen Eltern nicht,“ erwi<strong>der</strong>te ich.<br />
„Hm,“ vernahm ich die Antwort mit skeptischem Unterton. „Sag<br />
bloß, Du bist hier aufgewachsen, ohne dass dir jemand...“<br />
„Ich bin hier nur zu Besuch,“ entgegnete ich. „Ich lebe im Norden.“<br />
„Oh!“ sagte Krnk.<br />
„Was 'oh'?“ war mein Interesse erwacht.<br />
„Nun, wir Bergjucas vermeiden ja möglichst jeglichen Kontakt mit<br />
an<strong>der</strong>en Jucas,“ erklärte Krnk. „Aus dem Norden kannte ich bis heute<br />
keine Bergjucas. Ich wusste gar nicht, dass dort welche leben. Sind<br />
die Berge dort auch so schön wie hier?“<br />
„Berge?“ rätselte ich. „Wieso Berge? Bei uns gibt es keine.“<br />
Die Antwort war Schweigen. Auch ich wusste nicht, was ich sagen<br />
sollte. Ein seltsames Gespräch...<br />
„Vor einiger Zeit hatten wir einmal Besuch aus dem Norden,“ klang<br />
es leise. „Normalerweise lassen wir uns nicht von an<strong>der</strong>en Jucas besuchen.<br />
Schon gar nicht von welchen aus dem Norden. <strong>Das</strong> war aber<br />
ein ganz beson<strong>der</strong>er Fall.“<br />
Ich wollte die Erzählung nicht unterbrechen und wartete gespannt,<br />
was jetzt käme.<br />
„Der Mann meiner Cousine hat einen Onkel zweiten Grades, dessen<br />
Frau einen Bru<strong>der</strong> namens Rntt hatte,“ fuhr Krnk fort.<br />
„Hatte. Er erlitt eine kurze, aber heftige Lebensmittelvergiftung<br />
und starb völlig unerwartet daran.<br />
Rntt hatte zuvor unerlaubterweise und entgegen allen Bergjucagesetzen<br />
eine Landjuca mit nachhause gebracht. Genaugenommen nur<br />
– 71 –
das, was von ihr übrig war. Einen grau melierten Landjucapelz, <strong>der</strong><br />
sich kaum noch regte.<br />
Lange, lange kümmerte er sich um dieses Häufchen Elend, bis es<br />
endlich zu genesen schien.<br />
Eines Tages erzählte Rntt überall herum, dass seine Landjuca die<br />
Augen aufgemacht habe. Er kannte jetzt sogar ihren Namen: Halim.<br />
Mit langem 'a' und langem 'i', wie er sagte. Halim, ein Name, <strong>der</strong> uns<br />
sehr seltsam vorkam.<br />
Obwohl Landjucas bei uns verboten sind, traute sich keiner <strong>der</strong><br />
Bergjucas, dem besorgten Rntt die Landjuca wegzunehmen. Denn alle<br />
sahen, wie liebevoll er sich um sie kümmerte.<br />
Entgegen allen Erwartungen schaffte es die Landjuca. Sie erwies<br />
Rntt ihre Dankbarkeit, indem sie ihm ihre Liebe entgegen brachte.<br />
Aus Liebe wurde sie mit einem Mädchen schwanger.<br />
Lei<strong>der</strong> hat Rntt dessen Geburt nicht mehr erlebt. Als er wusste,<br />
dass er gehen musste, äußerte er als allerletzten Wunsch: Bitte nennt<br />
meine Tochter 'Nngt'.<br />
Er starb am selben Tag.<br />
Die schwangere Landjuca brach daraufhin in ihre Heimat auf. Wir<br />
haben nie wie<strong>der</strong> etwas von ihr gehört. Falls das Mädchen 'Nngt' je<br />
geboren wurde und die Zähigkeit seiner Mutter mitbekommen hat,<br />
muss es eigentlich irgendwo im Norden leben.“<br />
Mir kamen die Tränen.<br />
„Ach herrje, wie taktlos von mir,“ sagte Krnk. „Nngt – Annicat, ich<br />
bin aber auch langsam...“<br />
„<strong>Das</strong> ist mir jetzt auch egal,“ hörte ich, und plötzlich sah ich Krnk.<br />
Zwei orangefarbene Arme streckten sich nach mir aus und umarmten<br />
mich.<br />
„Annicat, Du hast ja gar keine Ahnung!...“ schaute Krnk mich an.<br />
„Du bist eine halbe Bergjuca, und weißt es nicht... Ich muss dir viel<br />
erklären.<br />
– 72 –<br />
Als Allererstes: Du hast dich bestimmt gefragt, warum du dauerhaft<br />
sichtbar bist. <strong>Das</strong> machen alle Bergjucas durch. Es ist eine Phase<br />
<strong>der</strong> Umstellung, die zu unserem Leben dazu gehört. Nach genau einem<br />
25er ist alles vorbei.<br />
Wenn diese Zeit <strong>der</strong> Umstellung naht, werden die Heranwachsenden<br />
in Klause geschickt.<br />
Nur ganz bösen Subjekten droht man, sie sichtbar in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
zu lassen. Ich kann mich nicht erinnern, dass das je vorgekommen<br />
ist.<br />
Als es bei mir loszugehen schien, schickten mich meine Eltern zusammen<br />
mit vielen an<strong>der</strong>en Gleichaltrigen an einen wun<strong>der</strong>schönen<br />
Ort in den Bergen, an dem sich sonst we<strong>der</strong> Jucas noch an<strong>der</strong>e Tiere<br />
aufhalten.<br />
Trotzdem gibt es dort alles, was man braucht. Als erwachsener<br />
Bergjuca darf man dort normalerweise nicht hin, damit die Heranwachsenden<br />
während ihrer Umstellungsphase völlig ungestört bleiben.<br />
Für mich wurde es ein herrlicher Urlaub. Wir spielten jeden Tag,<br />
und es war auch toll, die an<strong>der</strong>en immer sehen zu können, wenn<br />
man es wollte. Ich habe mir in aller Ruhe sehr schöne Felle angeschaut,<br />
in denen nette Juca-Jungen steckten. Einen von ihnen habe<br />
ich übrigens fürs Leben mitgebracht und behalten...<br />
Ich ärgerte mich richtig, als ich die Fähigkeit <strong>der</strong> Unsichtbarkeit<br />
wie<strong>der</strong> hatte. Denn das hieß, ich musste die schöne Gegend und vor<br />
allem all meine lieb gewonnenen Kameradinnen und Kameraden<br />
verlassen. Danach kam nur noch Lernen und Arbeiten.<br />
Die Klause war einer meiner schönsten Lebensabschnitte, und du<br />
plagst dich mit Deiner Sichtbarkeit ab ... Oh, du tust mir so Leid...<br />
Ich habe außerdem mitbekommen, wie du mit einem Professor<br />
und seiner immer fröhlichen Schülerin umher gezogen bist. Sie glauben,<br />
einen Unspürbarkeitsdetektor bauen zu können. Sicherlich, in<br />
<strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> Umstellung ist es möglich, die Unspürbarkeitswechsel<br />
festzustellen.<br />
– 73 –
Auch deswegen sind die Heranwachsenden alle weitab in Klause.<br />
Bei ausgewachsenen Bergjucas wird dies jedoch nie funktionieren.<br />
Allerhöchstens bei einigen wenigen, die nie erwachsen wurden und<br />
z.B. blind o<strong>der</strong> taub blieben.<br />
Wir Bergjucas haben schon lange ohne Ergebnis an ähnlichen Apparaturen<br />
gebastelt. Warum sollte es ausgerechnet einem Fremden<br />
gelingen, <strong>der</strong> von uns keine Ahnung hat?“<br />
Toll.<br />
Dafür habe ich mich Tag für Tag in den Bergen abgemüht, und<br />
jetzt sind meine sämtlichen Glie<strong>der</strong> geschwollen und schmerzen. <strong>Das</strong><br />
hätte ich wirklich einfacher haben können!<br />
Im Ernst – ich freue mich riesig, dass ich endlich Bescheid weiß. Völlig<br />
misslungen kommt mir meine eigene Umstellungsphase nicht vor.<br />
Ich bin deswegen mit Omrupp zusammen gekommen.<br />
Ich hätte auch etwas Wesentliches in meinem Leben versäumt,<br />
wenn ich nicht mit Djunef und dem Professor diese Bergtouren unternommen<br />
hätte.<br />
Des weiteren ist es schön, die orangefarbene Krnk kennen gelernt<br />
zu haben.<br />
Nach meinem ersten Ausflug in die Berge hätte ich es nicht im<br />
Traum für möglich gehalten: Auch wenn ich morgen zurück nachhause<br />
muss, möchte ich möglichst bald wie<strong>der</strong> hierher!<br />
– 74 –<br />
5. VIERTTAG<br />
Meine Rückreise verlief äußerst unspektakulär.<br />
Nur das Übliche, nette Mitjucas, die sich über meine scheinbar abson<strong>der</strong>liche<br />
Sichtbarkeit lustig machten.<br />
Ich spielte die meiste Zeit mit dem alten 'Schlepptop', den mir <strong>der</strong><br />
Professor zum Abschluss geschenkt hatte.<br />
Per Drahtloszugang komme ich jetzt ins Internet <strong>der</strong> Menschen,<br />
ohne mich <strong>der</strong> Gefahr auszusetzen, im Internet-Café erwischt zu<br />
werden.<br />
An meiner Tür zuhause klebt ein ratlich aussehen<strong>der</strong> Zettel.<br />
Tatsächlich.<br />
Unter <strong>der</strong> fetten Titelzeile „DRINGEND“ folgt eine Auffor<strong>der</strong>ung<br />
des Gemeinschaftsrates: „. . . Verdacht des Verstoßes gegen das<br />
Kommunikationsgesetz . . . umgehend zur Abklärung im Gemeinschaftshaus<br />
zu erscheinen . . .“<br />
Ach, diesen Müll wollte ich jetzt nicht im Detail durchlesen.<br />
<strong>Das</strong> Einzige, was wirklich dringend ist – mein Bett wartet auf eine<br />
müde Annicat...<br />
– 75 –
6. ERSTTAG<br />
Ein 25er war vergangen, seit ich sichtbar wurde. Heute sollte es also<br />
passieren.<br />
„Sie schreibt <strong>Tagebuch</strong>, die Arme,“ mag jemand denken. Danke!<br />
Nun, ich hatte angekündigt, mit dem <strong>Tagebuch</strong>schreiben aufzuhören,<br />
sobald ich wie<strong>der</strong> unsichtbar bin. Falls so ein <strong>Tagebuch</strong> vor Mitteilung<br />
<strong>der</strong> Auflösung einfach aufhörte, wäre das für Leser nicht<br />
ziemlich frustrierend?<br />
Also egal, was heute geschah – dieses Kapitel muss ich schreiben.<br />
Zunächst traf ich den Leiter des Wissenshauses. Oh Schreck, mein<br />
Studium hatte ich ganz vergessen.<br />
Ich sagte lieber gar nichts, aus ihm dagegen sprudelte es heraus:<br />
„Die unterbrochenen Kurse werden auf jeden Fall morgen im alten<br />
Wissenshaus fortgesetzt. Die Arbeiten an dem letzten Ersttag eingestürzten<br />
neuen Wissenshaus sind soweit abgeschlossen, dass keine<br />
Gefahr mehr für die Räume des alten Wissenshauses daneben besteht.“<br />
Hä Hm. Heißt das...? Juhuuu, ich habe Glück gehabt! Na ja – hoffentlich<br />
ist niemand bei dem Unglück ernsthaft zu Schaden gekommen.<br />
Apropos vergessen – das Gemeinschaftshaus kann warten...<br />
Bevor ich dort aufkreuze, muss ich mir eine geeignete Strategie zu<br />
meiner Verteidigung überlegen. Die Idee meiner Kindheitsgespielin<br />
Brasan, dass ein bisschen Fehlinformation den Menschen gegenüber<br />
nicht schaden kann, scheint mir nicht schlecht zu sein.<br />
Notfalls drohe ich mit meinem Wissen über den Informationsrat.<br />
Vor einiger Zeit hatte ich zufällig mitbekommen, dass ein hohes<br />
Tier des Gemeinschaftsrates gleichzeitig im Informationsrat vertreten<br />
ist. Aus Langeweile hatte ich gegen Abend am Gemeinschaftshaus<br />
herumgelungert. Dort war große Versammlung. Alle verließen<br />
den Saal. Bis auf einen.<br />
– 76 –<br />
„Was macht <strong>der</strong> denn da?“ fragte ich mich. Dann wartete ich neugierig.<br />
Und wartete. Der Typ übrigens auch.<br />
Der Mond strahlte schon lange in vollem Gelb, als plötzlich eine<br />
Gruppe mir unbekannter Jucas das Gemeinschaftshaus betrat. Man<br />
diskutierte heftig, dann fand eine Abstimmung statt. Mein bewusster<br />
Gemeinschaftsvertreter hob die rechte Hand.<br />
Wie kann man nur so blöd sein, sich vor aller Augen im Gemeinschaftshaus<br />
zu treffen?!<br />
Heute Morgen hatte ich ein wenig im Informationsgesetz <strong>der</strong> Jucas<br />
geblättert. Ich fand eine interessante Vorschrift: 'Personen, die mit<br />
<strong>der</strong> Meinungsfindung und -umsetzung beauftragt sind, dürfen nicht<br />
gleichzeitig Meinungsbildung betreiben.'<br />
Dieser Sache sehe ich also recht gelassen entgegen...<br />
Auf dem Weg zum Blauen See kam mir Lyrjac entgegen. „Ach, auch<br />
wie<strong>der</strong> da!“ knurrte sie mich an. Oh Djunef, ich vermisse dich!<br />
Dann traf ich Brasan. „Omrupp ist am Sonnenhügel“, lächelte sie. O<br />
danke, sogleich eilte ich in Richtung Sonnenhügel.<br />
Und da lag er. Seidig braun glänzte sein Fell, die nahezu verdeckten<br />
Konturen seines geschmeidigen Körpers ließen seine Kraft erahnen.<br />
Ein gnadenlos attraktives Bild von einem jungen Mann.<br />
Ich überreichte ihm das Herz aus Stein und das zugehörige Gedicht.<br />
Omrupp las, schaute sich den Stein an und meinte: „Ach Annicat,<br />
dieses Herz möchte ich nie brauchen. In echt bist du mir am liebsten!“<br />
„Noch heute werde ich wie<strong>der</strong> unsichtbar sein,“ sagte ich. „Ich habe<br />
eine Bergjuca getroffen. Sie heißt Krnk. Krnk hat mir alles erklärt.“<br />
Omrupp strahlte mich an.<br />
– 77 –
Ich legte mich dicht neben ihn. Er berührte mich vorsichtig am<br />
Fell meiner rechten Backe. Ein wohliges Kribbeln durchlief meinen<br />
ganzen Körper.<br />
Dann ließ er seine Hand auf meinem Kopf kreisen und streichelte<br />
meine Ohren. Er schaute mir tief in meine Augen, legte seine Arme<br />
um mich und kam mir ganz nah. Ich spürte seine Wärme, und ich<br />
kam ihm entgegen.<br />
Am späten Abend besuchten wir beide den Blauen See. Eine Gruppe<br />
lustiger junger Menschen hatte am Strand ein Lagerfeuer entfacht.<br />
Einer spielte auf einer Gitarre, die übrigen sangen.<br />
Wir legten uns in die Nähe des wärmenden Feuers, lauschten den<br />
Lie<strong>der</strong>n, kuschelten uns dicht aneinan<strong>der</strong> und freuten uns, dass die<br />
Menschen uns nicht sahen.<br />
– 78 –<br />
NACHWORT<br />
Schade, heute steht auf <strong>der</strong> Internet-Seite, die ich täglich aufgesucht<br />
habe, nichts Neues. Die Seite ist einfach verschwunden.<br />
Da es eine deutsche Seite war, habe ich bei DENIC nachgeschaut,<br />
wer für die Domain als Betreiber eingetragen ist. Zu meiner Überraschung<br />
ist die Domain angeblich überhaupt nicht vergeben.<br />
Deswegen nahm ich mit DENIC direkt Kontakt auf. Die Leute<br />
dort waren sehr freundlich.<br />
Erst sagte mir eine weibliche Stimme, eine DE-Domain, die bei<br />
DENIC nicht eingetragen ist und die man im Internet aufrufen könne,<br />
so etwas gäbe es nicht.<br />
Dann hatte ich einen ebenfalls ratlosen jungen Mann am Telefon,<br />
<strong>der</strong> mich mit '<strong>der</strong> Technik' verband.<br />
'Die Technik', ein offensichtlich älterer Mitarbeiter, murmelte mit<br />
knarren<strong>der</strong> Stimme etwas von einem 'illegalen DNS-Server' o<strong>der</strong> so<br />
ähnlich. Wahrscheinlich hatte er also auch keine Ahnung.<br />
Schade.<br />
Schon am zweiten Tag, nachdem ich die Seite entdeckt hatte, hatte<br />
es Probleme gegeben. Sie war gesperrt. Doch es gab ein Formular,<br />
in welches ich meinen Namen, meine Anschrift und meine Handy-<br />
Nummer eintrug.<br />
Wenige Stunden später bimmelte mein Handy. Ich bekam so eine<br />
nicht speicherbare SMS, die nur angezeigt wird. Eine Buchstaben-<br />
Zahlen-Kombination. Absen<strong>der</strong> war angeblich mein Netzbetreiber.<br />
Ich ahnte, worum es ging, und probierte das Passwort sofort aus.<br />
Fehlanzeige, 'Access denied'.<br />
Nach Minuten missmutigen Schmollens kam mir ein glänzen<strong>der</strong><br />
Einfall: Einfach rückwärts eintippen. Bingo!<br />
Seitdem hatte ich jedem neuen Eintrag dieses <strong>Tagebuch</strong>s entgegengefiebert.<br />
Jetzt vermisse ich die Berichte.<br />
Falls ich irgendwo etwas Neues erfahre, werde ich mich melden.<br />
Versprochen.<br />
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