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Magazine, die Geschichte schreiben.<br />
I
Editorial<br />
Für unsere Urgroßeltern dauerte<br />
der Krieg 1916 schon ewig. Und sie<br />
wussten nicht, ob er je endete<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
wir Deutsche haben das Glück, seit 70 Jahren keinen Krieg mehr in Mitteleuropa erlebt zu<br />
haben - in unserer Zeit, die von Verunsicherung und auch Angst geprägt ist, mag es manchmal<br />
helfen, einander daran zu erinnern: Uns geht es gut. In diesem Titelthema widmen wir uns<br />
dem Jahr 1916, einem Schicksalsjahr unserer Urgroßeltern. Für<br />
sie dauerte der Krieg damals schon ewig - und sie wussten nicht,<br />
ob er je enden würde. Alle Euphorie war bereits der Ernüchterung<br />
gewichen, Zehntausende Männer waren schon an der Front gestorben<br />
oder verstümmelt worden. Es sind besondere Geschichten,<br />
die wir für Sie zusammengetragen haben, um<br />
das Lebensgefühl dieses Jahres zu rekonstruieren. Lesen<br />
Rüdiger Barth. Redaktionsleiter<br />
<strong>PM</strong> HISTORY<br />
Sie etwa die erschütternden Tagebucheinträge der Käthe Kollwitz:<br />
die Qualen einer Mutter, die einen Sohn verloren hat, zugleich die<br />
Qualen einer Künstlerin, die nicht weiß, wie sie ihr Leid zum Ausdruck bringen soll. Begegnen<br />
Sie dem begnadeten Maler - und verblendeten Kriegsfan - Franz Mare. Erfahren Sie vom<br />
Kampf der Berliner gegen den einsetzenden Hunger. Von den ersten Protestdemonstrationen,<br />
inszeniert von Kar! Liebknecht. Und wappnen Sie sich für diese kaum je erzählte Geschichte:<br />
wie gewöhnliche Deutsche bei Kriegsausbruch in<br />
England interniert wurden. Die Historikerin Corinna<br />
Meiß hat den Leidensweg des Magdeburgers<br />
Erich Jacobs recherchiert, der jahrelang im Lager<br />
saß und seine Familie in England niemals wiedergesehen<br />
hat.<br />
Schreiben Sie uns gern, wie Ihnen das Heft gefallen<br />
hat: history@pm-magazin.de. Ach ja:<br />
Und falls Sie noch ein kurzfristiges Weihnachtsgeschenk<br />
suchen - wie wäre es mit einem<br />
P.M.HISTORY-Abo . . . ?<br />
Viel Vergnügen beim Schmökern, Ihr<br />
90 Jahre danach: lan Mercer auf der Isle of Man.<br />
wo sein Großvater Erich Jacobs festgehalten<br />
wurde - weil er Deutscher war<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 3
P.M. HISTORY<br />
Januar 2016<br />
Chronologie<br />
,.;<br />
Ö<br />
:><br />
o<br />
S.82<br />
Karthagos<br />
Au f stieg<br />
o<br />
o<br />
Der ungewöhnliche Kaiser:<br />
RudolfII.<br />
S.14<br />
4 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Inhalt<br />
6 ARENA<br />
Ein mysteriöses Schiffswrack, die Geschichte des Champagners - und ein<br />
Forscher erklärt, was er durch Knochenfunde über die Basken herausfand.<br />
Plus: Die Tipps der Redaktion zu Büchern, Filmen, Ausstellungen<br />
14 RUDOLF 11.<br />
Wie der Habsburger Kaiser in Prag um 1600 die Weltformel sucht<br />
22 MEISTERWERK: MUTTERGOTTES DES SIEGES VON MALAGA<br />
Warum Luis Nir'io so gern üppige Madonnen darstellt<br />
TITELTHEMA<br />
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
26 BERLINER AL LTAG<br />
Was die Menschen in der Hauptstadt bewegt<br />
40 DER TOTAL E KRIEG<br />
Die Kriegsführung an der Front schockiert die Soldaten - und ihre Familien<br />
42 DER TOD UND DER MALER<br />
Franz Marc zieht stolz in den Krieg und verliert sein Leben<br />
50 KÄTHE KOL LWITZ<br />
Wie die Künstlerin versucht, den Tod eines Sohnes zu verarbeiten<br />
54 DIE KRIEGSZITTERER<br />
Schwer traumatisierte Soldaten werden mit Elektroschocks behandelt<br />
60 DIE REVOLTE DER PAZIFISTEN<br />
Der Sozialist Karl Liebknecht wiegelt die Massen gegen die Militärs auf<br />
66 zu UNRECHT GEFANGEN<br />
Das Schicksal eines Deutschen, der in Großbritannien festgehalten wird<br />
Rubriken<br />
03 Editorial<br />
80 Bücher zum Titelthema<br />
90 Zahlen der Geschichte<br />
94 Rätsel<br />
95 Leserbriefe & Service<br />
96 Vorschau & Impressum<br />
98 Sprengsatz<br />
74 BLICK AUF DIE HEIMATFRONT<br />
Die einfühlsamen Bilder der Amateurfotografin Käthe Buchler<br />
82 KARTHAGO<br />
Wie die Hafenstadt zur Supermacht der Antike aufsteigt<br />
92 ZEITMASCHINE: WALT WHITMAN<br />
Augenzeugenreportage über die Ermordung Abraham Lincolns<br />
o<br />
Meisterliche<br />
Madonna<br />
S.22<br />
LJ'\<br />
Ermordung<br />
Lincolns<br />
S.92<br />
TITELTHEMA<br />
Die Deutschen<br />
im Jahr 1916<br />
S.26-79<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 5
6 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
Arena<br />
8 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Nr.9<br />
ANS EINGEMACHTE<br />
Champagner<br />
Die Franzosen tun so, als sei der Champagner<br />
ihre Idee gewesen, ja, als hätte es nie ein<br />
französischeres Getränk gegeben. Dabei hielten<br />
sie ihn die längste Zeit für verdorbenen Wein,<br />
ungenießbar und allenfalls für die kulturlosen<br />
Engländer geeignet. Die nämlich importierten<br />
im 17. Jahrhundert fässerweise Wein aus der<br />
Champagne, füllten ihn in Flaschen und<br />
verkorkten sie gasdicht, was in Frankreich<br />
damals noch nicht üblich war. Als leidenschaftliche<br />
Biertrinker fanden die Briten nichts<br />
dabei, wenn es in den Flaschen zu sprudeln<br />
begann. Die französischen Winzer wiederum<br />
waren froh, Abnehmer für den "Vin du Diable"<br />
zu finden und exportierten ihn bald auch in<br />
Flaschen, deren geölte Holzpfropfen sich<br />
regelmäßig in schmerzhafte Geschosse verwandelten.<br />
Bis Louis Pasteur um 1860 die<br />
biochemischen Hintergründe der alkoholischen<br />
Gärung erklären konnte, blieben Engländern<br />
und Franzosen die Vorgänge in den Champagner-Flaschen<br />
gleichermaßen schleierhaft,<br />
weshalb es ihnen auch nicht gelang, sie zu<br />
steuern. 1662 hatte der britische Arzt<br />
Christopher Merret entdeckt, dass sich<br />
Wein mit Zucker ein zweites Mal zum<br />
Gären bringen lässt. Damals<br />
erntete er das Lob der Royal<br />
Society, heute ist er vergessen.<br />
Anders als der Mönch Dom<br />
Perignon, Kellermeister der<br />
Abtei Hautvillers, der etwa zur<br />
selben Zeit mit dem Verfahren<br />
experimentierte. Die Grande<br />
Nation feiert ihn heute als<br />
den Vater des<br />
Champagners.<br />
Das war er<br />
allerdings<br />
mitnichten. Es<br />
scheint aber<br />
seine Idee<br />
gewesen zu<br />
sein, die Korken<br />
mit Bindfäden<br />
zu sichern.<br />
Immerhin.<br />
RuthHoffmann<br />
ZEITREISE<br />
Trier<br />
ls Augusta Treverorum<br />
A(Stadt des Augustus im<br />
Land der Treverer) vor mehr als<br />
2000 Jahren von den Römern<br />
gegründet, gilt das heutige Trier<br />
als älteste Stadt Deutschlands.<br />
882 schlugen die Wikinger zu,<br />
aber im Mittelalter erlebte die<br />
Stadt eine neue Blüte. Davon<br />
zeugt noch manch mittelalterliches<br />
Gebäude wie das Dreikönigenhaus<br />
(Sirneonstraße) von<br />
1230. Was manchen Touristen<br />
erstaunt: Karl Marx wurde nicht<br />
etwa in Ostdeutschland, sondern<br />
1818 in Trier geboren - viele<br />
seiner Vorfahren waren hier<br />
Rabbiner. Marx' Geburtshaus ist<br />
heute ein Museum.<br />
WAS SEHEN?<br />
Amphitheater, Barbarathermen,<br />
Kaiserthermen, Konstantinbasilika,<br />
Parta Nigra, Römerbrücke, Dom und<br />
Liebfrauenkirche - sie zählen allesamt<br />
zum Unesco-Weltkulturerbe.<br />
WO SCHLAFEN?<br />
Modern, sehr zentral: "ante porta -<br />
Das Stadthotel" (Nähe Porta Nigra),<br />
DZ ab ca. 84 Euro. Designhotel "ibis<br />
Styles", DZ ab ca. 94 Euro.<br />
WO EINKEHREN?<br />
"Historischer Keller" (Simeonstraße<br />
46). um 1200 als Handelslager<br />
erbaut und ein typisches Beispiel<br />
für romanische und frühgotische<br />
Baukunst. Heute das urigste<br />
Kaufhausrestaurant Deutschlands,<br />
der Keller schließt um 20 Uhr.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 9
Arena<br />
... UND JETZT<br />
Das Geheimnis<br />
der Basken<br />
Warum unterscheidet sich die Bevölkerung<br />
des Baskenlands so deutlich vom Rest<br />
der Europäer? Der Genetiker Torsten Günther<br />
und sein Team aus Uppsala lösten mithilfe<br />
alter Knochenfunde ein Stück des Rätsels<br />
A US dem Nahen Osten machen sich vor etwa 10000<br />
Jahren Wanderer auf in Richtung Europa. Sie sind<br />
Farmer. Im Gepäck haben sie Kenntnisse, die auf dem<br />
Kontinent noch unbekannt sind: wie man Land bestellt,<br />
Tiere domestiziert oder Siedlungen baut. Im Lauf der<br />
Jahrtausende stoßen sie west- und nordwärts auf die<br />
europäischen Jäger und Sammler und gehen Bindungen mit<br />
ihnen ein. Diese Zeit wird als neolithische Revolution<br />
bezeichnet. Und tatsächlich ist sie nichts weniger als eine<br />
Revolution, denn Europa lernt eine neue Kultur, seine<br />
Bewohner werden überwiegend sesshaft. Überreste dieser<br />
Epoche finden sich in der spanischen El-PortaI6n-Höhle.<br />
Dort wurden die Knochen von acht Menschen entdeckt, die<br />
vor rund 5000 Jahren in der Nähe des heutigen Baskenlands<br />
lebten. Der deutsche Genetiker Torsten Günther (s. Foto r.)<br />
hat mit einer Forschungsgruppe im schwedischen Uppsala<br />
diese Knochen erstmals einer Genomseqllenzierllng<br />
unterzogen. Dabei fanden sie, was sie nicht erwartet hatten:<br />
den Schlüssel zur baskischen Vergangenheit. Denn das<br />
FUNDORT In der spanischen EI-PortaI6n<br />
Höhle fand ein Ausgrabungsteam u.a.<br />
Knochen von einem sechs Jahre alten Jungen<br />
(s. Foto r,). Sie nannten ihn "<br />
Matojo " . Torsten<br />
Günther untersuchte auch dessen Skelett.<br />
Es zeigt Symptome starker Mangelernährung.<br />
10 P. M. HISTORY - JANUAR 2016<br />
Erbgut dieser Menschen aus der Jungsteinzeit weist eine<br />
enge Verwandtschaft mit dem Genom der heutigen Basken<br />
auf. Und noch etwas zeigte sich: Beide Gruppen, die Basken<br />
unserer Tage und die Menschen aus der El-PortaI6n-Höhle,<br />
sind von späteren Einwanderungswellen genetisch relativ<br />
unbeeinflusst geblieben.<br />
Herr Günther, kann Ihre Untersuchung die Herkunft der<br />
Basken erklären?<br />
Wir kommen ihr zumindest näher. Die meisten Europäer<br />
haben ihre Wurzeln in der Vermischung der alten Jäger<br />
und Sammler mit den eingewanderten Urfarmern. In der<br />
Bronzezeit kommt noch eine dritte Gruppe hinzu: Migranten<br />
aus Zentraleurasien. Auch deren Gene finden sich im<br />
Erbgut heutiger Europäer. Jedoch nicht bei den EI-Portalon-Individuen<br />
und, das war das Überraschende, auch<br />
deutlich weniger bei den Basken. Daraus schließen wir,<br />
dass die Vorfahren der modernen Basken etwa 5000 Jahre<br />
lang ziemlich isoliert gelebt haben.<br />
Wie kam es zu dieser Isolation? Geografisch liegt das<br />
Baskenland doch nicht abgeschiedener als andere<br />
Bergregionen.<br />
Darauf haben genetische Studien bislang keine Antwort.<br />
Dass die Basken ihre eigene Kultur und Sprache erhalten<br />
konnten, hat vermutlich nicht nur mit der Geografie,<br />
sondern auch mit bewusster Isolation oder einem historischen<br />
Zufall zu tun.<br />
Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?<br />
Unser Ziel war es eigentlich, die neolithische Revolution -<br />
also den Übergang vom Lebensstil der Jäger und Sammler<br />
zu sesshaften Farmerkulturen - auf der Iberischen<br />
Halbinsel besser zu verstehen.<br />
Auf die Ähnlichkeit der EI-Porta<br />
Ion-Individuen mit den Basken<br />
sind wir erst gestoßen, als wir<br />
sie mit modernen Populationen<br />
verglichen haben.<br />
Was bedeutet das nun für die<br />
weitere Forschung?<br />
Unsere Ergebnisse haben eine<br />
frühere Vermutung widerlegt.<br />
nach der die Basken seit 10000<br />
Jahren oder noch mehr in<br />
Isolation gelebt haben sollen.<br />
Wir können nun zeigen, dass sie<br />
nicht länger als 5000 Jahre<br />
isoliert gewesen sein können.<br />
Das bringt uns dem Rätsel der<br />
baskischen Abstammung wieder<br />
ein Stück näher. Die Ausgrabungen<br />
in der EI-Portalon-Höhle<br />
dauern an, und wir werden<br />
vermutlich bald in der Lage sein,<br />
noch ältere Individuen vom<br />
gleichen Ort zu analysieren und<br />
diese mit Zeitgenossen aus<br />
anderen Teilen Europas zu<br />
vergleichen.<br />
Interview: Kat/tarina Jakob
LESESTOFF<br />
LEXIKON DER RITUALE<br />
Wer nicht mehr weiß, was "Feuerjucken" ist,<br />
kann seine Großeltern fragen - oder in diesem<br />
Werk nachschlagen. Da steht über den Brauch,<br />
dass er in der Gegend von Ulm praktiziert<br />
wurde: Junggesellen suchten sich eine Dame,<br />
mit der sie zu Ostern über das Feuer sprangen.<br />
Gut, dass es solche Sammelwerke als Erinnerung<br />
gibt. Informativ und unterhaltsam zugleich!<br />
Helga Maria Wolf<br />
Verschwundene Bräuche<br />
Brandstätter, 224 5., 34,90 Euro<br />
EPOCHEN-REISE<br />
Der Autor führt einen<br />
durch 1000 Jahre Geschichte<br />
der Erfindungen<br />
und Entdeckungen. Stark<br />
verkürzt, aber lebendig.<br />
lan Mortimer<br />
Zeiten der Erkenntnis<br />
Piper, 4325., 25 Euro<br />
LITERATUR-GENIE<br />
Die neueste Biografie ist<br />
eine gelungene Charakterstudie<br />
über den deutschen<br />
Schriftsteller - mit vielen<br />
privaten Details.<br />
Ulrich Weinzierl<br />
Stefan Zweigs brennendes<br />
Geheimnis<br />
Zsolnay, 2885., 19,90 Euro<br />
ÜBER DEN KRIEG<br />
Wer diese gewissenhafte<br />
Schilderung über Gefechte<br />
in Europa von 1450 bis<br />
1700 liest, wird gefesselt<br />
und erschüttert.<br />
Lauro Martines<br />
Blutiges Zeitalter<br />
Theiss, 3365., 29,95 Euro<br />
LEBEN WIE IM ROMAN<br />
Viele kennen "Don Quijote",<br />
aber der Erfinder der Figur<br />
hatte mindestens ein<br />
genauso abenteuerliches<br />
Leben. Spannend!<br />
UweNeumahr<br />
Miguel de Cervantes<br />
G.H. Beck, 394 5.,<br />
26,95 Euro<br />
Fundstücke<br />
Spannende neue Bücher, TV-Tipps, Ausstellungen - über bekannte Literaten,<br />
AUSSTELLUNG<br />
beinahe vergessene Bräuche und die Liebe in Kriegszeiten<br />
Jugendstil-Utopie<br />
TV-TIPP<br />
Blut und Tränen<br />
BACKSTAGE<br />
WAS DIE P.M. HISTORY-REDAKTION<br />
DIESMAL INSPIRIERTE<br />
"Sah ein Knab ein<br />
Röslein stehn",<br />
stimmte Kollegin<br />
Bettina beim Anblick<br />
des Rokoko-Knaben<br />
auf Seite 8 an. Oje, ein Elvis-Fan<br />
singt Schubert .<br />
Mörder, Dirnen, Gold, Hannibal<br />
und das Schwert: Die fesselnde<br />
Karthago-Reihe von Gisbert<br />
Haefs macht süchtig, zumindest<br />
unseren Chef.<br />
"Saatfrüchte sollen nicht<br />
vermahlen werden" - dieses<br />
Goethe-Zitat schrieb Käthe<br />
Kollwitz am 6. Februar 1915 in<br />
ihr Tagebuch. Treffender könne<br />
man das Sterben einer Generation<br />
junger Männer nicht beschreiben,<br />
sagt Kollege Thomas.<br />
Diese Szene<br />
bleibt unvergessen:<br />
Robin<br />
Williams steht<br />
auf dem Lehrerpult<br />
im Kinofilm "Club der toten<br />
Dichter". 0 Captainl My Captain!<br />
Hach! Bildredakteurin Julia<br />
schwärmt von ihrer ehemaligen<br />
Nachbarin: Barbara Sukowa.<br />
Umwerfend sei sie in ihrer Rolle<br />
als Rosa Luxemburg gewesen.<br />
Noch mal schauen ...<br />
Lest die Artikel von Kurt<br />
Tucholsky in der "Weltbühne"!<br />
Das empfahl Kollege<br />
Hauke, wie ein Lehrer.<br />
Realistischer könne<br />
man die Stimmung im<br />
Kaiserreich nicht<br />
beschreiben. Gekauft!<br />
Dass Jugendstil viel<br />
mehr bedeutet als<br />
verspieltes Dekor, zeigt<br />
eine Sonderschau im<br />
Hamburger Museum für<br />
Kunst und Gewerbe<br />
über die Epoche. Es<br />
geht vor allem darum,<br />
die veschiedenen<br />
Reformideen, Utopien<br />
und Projektionen zu zeigen, zum Beispiel,<br />
wie sich das zeitgenössische Bild der Frau<br />
auf diesem Plakat von Alfons Mucha (siehe<br />
Abbildung, 1897) ausdrückt. Eine inspirierende<br />
Zusammenstellung.<br />
"Jugendstil. Die große Utopie", bis 7. Februar<br />
2016, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg<br />
Diese historische<br />
Serie war in<br />
Dänemark bereits<br />
ein großer Erfolg:<br />
In ,,1864 - Liebe<br />
und Verrat in<br />
Zeiten des<br />
Krieges" geht es nicht nur um die Niederlage<br />
der Dänen im Krieg gegen die Deutschen,<br />
sondern auch um eine Dreiecksliebesbeziehung<br />
zwischen der Gutstochter Inge und den<br />
beiden Brüdern Laust und Peter (siehe Foto).<br />
Der historische Stoff ist zwar an manchen<br />
Stellen stark vereinfacht erzählt, aber der<br />
Mehrteiler überzeugt dennoch.<br />
Acht Teile ab dem 16. Januar um 22 Uhr jeden<br />
Samstag als Doppe/folge auf HISTORY<br />
Wer ist der größere Fan:<br />
Kollegin Christine oder Kollege<br />
Thomas? Egal, beide lieben die<br />
Drama-Serie "Downton Abbey"<br />
über die Sorgen des Adels im<br />
Ersten Weltkrieg. Wunderbare<br />
Zeitreise, auch wenn die<br />
Geschichten ausgedacht sind.<br />
"Der Blaue Reiter ist<br />
gefallen", dichtete<br />
Else Lasker-Schüler<br />
tief getroffen nach<br />
dem Tod ihres<br />
Freundes Franz Mare.<br />
Statt zu schreiben, versank<br />
Kollegin Katharina in den<br />
Gedichten der Berlinerin.<br />
Das Heft ist ja trotzdem noch<br />
fertig geworden.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 11
Arena<br />
PLAKATIV<br />
Weihnachten<br />
ie besinnliche Jahreszeit ist seit jeher<br />
auch ein Fest für die werbetreibende<br />
D Industrie. Auch zu Beginn des 20. Jahr·<br />
hunderts geht es für manche Menschen schon<br />
eher um den Geschenkerausch als um ein<br />
Frohlocken wegen der Geburt Jesu. Plakate und<br />
Anzeigen erinnern die Kundschaft daran, für<br />
die Liebsten einzukaufen. Woher kommt der<br />
Brauch, andere zu beschenken? Ursprünglich<br />
gab's die Bescherung am Nikolaustag. Waren<br />
die Kinder das Jahr über brav, erhielten sie eine<br />
Belohnung. Andernfalls drohte die Rute. Nach<br />
der Reformation verschob sich die Gabenverteilung<br />
auf die Weihnachtsfeiertage, da die<br />
evangelische Kirche keine Heiligen verehrte.<br />
Ursprünglich wurden nur die Kleinen beschert,<br />
irgendwann auch die Großen. Ob die Geschenke<br />
nun vom Christkind oder Weihnachtsmann<br />
heimlich gebracht werden, ist regional verschieden.<br />
Im Süden Deutschlands und in evangelisch<br />
geprägten Regionen schleppt eher das Christkind<br />
die Gaben an. Der großväterliche Weihnachtsmann<br />
als Nikolausfigur mit weißem<br />
Rauschebart und rotem Mantel wurde ab Mitte<br />
des 20. Jahrhunderts besonders populär, vor<br />
allem durch amerikanische Filme.<br />
Supermarktwerbung<br />
(DDR. um 1957):<br />
Was genau der<br />
Konsum-Markt zu<br />
bieten hat, bleibt ein<br />
Geheimnis. In jedem<br />
Fall werden die<br />
Geschenke, die der<br />
Weihnachtsmann mit<br />
sich herumschleppt,<br />
,wirklich Freude "<br />
bereiten. Die DDR ist<br />
zu dieser Zeit schon<br />
das Land der Fünfjahrespläne,<br />
die Mauer<br />
noch nicht gebaut.<br />
Plakat für WeihnachtsaussteUung in Berlin<br />
(1913): Ein eingemummeltes Paar bummelt an einem<br />
Stand mit Spielzeug und Christbaumschmuck vorbei.<br />
Mit der Werbung sollen Besucher auf einen festlichen<br />
Markt in "<br />
Alt-Berlin" (historischer Begriff für die<br />
ursprüngliche Stadtmittel gelockt werden.<br />
Anzeige in einer Zeitschrift von Remington (1955): Ob sich Vati<br />
darüber freuen wird? Die Werbung suggeriert. dass Männer sich sehnlichst<br />
einen elektrischen Rasierer unter dem Weihnachtsbaum wünschen. Das wäre<br />
heute in etwa so originell, wie eine Küchenmaschine für Mutti anzupreisen.<br />
12 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
1. Aus der edlen P.M. Geschenkbox<br />
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Sei<br />
Kaiser Rudolf 11. hat ein<br />
Ziel für einen Ha1JsTJurger<br />
Herrscher: Er will das Universum erforschen. Damit erzürnt er<br />
die Kirche - und wird von Prag aus zum Wegbereiter der Moderne
KAISER RUDOLF 11.<br />
Von Rüdiger Sturm<br />
Es marschieren 4000 Reiter und<br />
9000 Landsknechte. Ein schlagkräftiges<br />
Söldnerheer, geführt<br />
von einem erfahrenen Oberst.<br />
Ist das die Rettung? Vor wenigen<br />
Jahren war Rudolf Ir. noch Kaiser<br />
eines der größten europäischen Reiche.<br />
Doch jetzt, im Januar 1611, hat er den<br />
Großteil seiner Macht eingebüßt. Die<br />
Herrschaft über Österreich, Ungarn<br />
und Mähren musste er an seinen intriganten<br />
Bruder Matthias abtreten. Und<br />
der ist unersättlich, will auch noch die<br />
Kaiserwürde.<br />
Körperlich wirkt Rudolf angegriffen<br />
- er hat an Gewicht verloren, die Haltung<br />
ist schlaff, sein Gesicht leichenblass.<br />
Doch der 58-Jährige sammelt<br />
seine letzten Kräfte, bäumt sich noch<br />
einmal auf. Denn eine Trumpfkarte hat<br />
er noch: Sein geliebter Cousin, der Erzbischofvon<br />
Passau, hat ihm das "Kriegsvolk"<br />
zur Unterstützung geschickt. Und<br />
so lässt sich sein Bruder Matthias nun<br />
offenbar auf einen Vergleich ein.<br />
Rudolf hat gewichtigere Gründe als<br />
jeder andere Herrscher, seine Macht zu<br />
verteidigen. Natürlich schlägt er sich<br />
seit Längerem mit politischen Problemen<br />
herum: den Konflikt zwischen<br />
Katholiken und Protestanten zu entschärfen,<br />
den Vormarsch der Türken zu<br />
stoppen. Aber eigentlich geht es ihm<br />
um viel mehr. Er will das Geheimnis<br />
des Universums enträtseln - und dieser<br />
Plan ist Anfang 1611 gefährdet.<br />
Der Weg des Habsburgers zu einem<br />
der ungewöhnlichsten Herrscher der<br />
europäischen Geschichte beginnt am<br />
Hof seines Vaters, Maximilian Ir., des<br />
späteren Kaisers. In Wien verkehren<br />
Denker und Freigeister, durch die der<br />
junge Rudolf die spannendsten Theorien<br />
der damaligen Zeit kennenlernt -<br />
etwa den Neuplatonismus, demzufolge<br />
sich Gott in allen Phänomenen der Natur<br />
offenbart, auch in mathematischen<br />
Wahrheiten. Oder die jüdische Weisheitslehre<br />
der Kabbala. Gleichzeitig begeistert<br />
sich der junge Thronanwärter<br />
für Tier- und Pflanzenkunde. Doch er<br />
ist ein sensibles Kind - empfindlich gegen<br />
Licht und Lärm, verstört von den<br />
ständigen Streitereien der Eltern. Seine<br />
Zuflucht ist die Welt des Wissens.<br />
Er ist elf Jahre alt, als sich in dieser<br />
Welt eine neue Tür öffnet - oder eigentlich<br />
sogar 3000 Türen. Denn aufBetreiben<br />
seiner streng katholischen Mutter<br />
muss er seine Ausbildung beim frommen<br />
Onkel fortsetzen - PhiJipp II.,<br />
König der Großmacht Spanien. Dessen<br />
Palast, EI Escorial, ist 33000 Quadratmeter<br />
groß und mit unvergleichlichen<br />
Kunst- und Wissensschätzen ausgestattet:<br />
einer Bibliothek mit Tausenden von<br />
Büchern und Handschriften, mit Gemälden<br />
von Tizian, Dürer, Hieronymus<br />
Bosch. Acht Jahre verbringt Rudolf in<br />
dieser Welt, besucht die Sternwarten<br />
und besichtigt die Glanzstücke von<br />
mehr als 6000 Reliquien, darunter ein<br />
angebliches Haar vom Barte Jesu oder<br />
ein vermeintliches Teil der Dornenkrone.<br />
Aber so sehr diese Zeit seinen Wissensdrang<br />
fördert: Die schier endlosen<br />
Tage in einem labyrinthischen Palast,<br />
die steifen Zeremonien des Hofes verstärken<br />
auch seinen Hang zur Melancholie.<br />
Zudem will der König seinem<br />
Neffen den wahren Glauben auf die<br />
harte Tour beibringen - so gehört zum<br />
Bildungsprogramm etwa auch der Besuch<br />
bei einer Ketzerverbrennung.<br />
Wie ihn der Aufenthalt in Spanien<br />
geprägt hat, können nach seiner Rückkehr<br />
im Mai 1571 zunächst nur wenige<br />
erahnen. Zu verschlossen ist der Thronerbe.<br />
"Rudolf der wenigen Worte" nennt<br />
ihn ein venezianischer Diplomat. Doch<br />
nachdem er 1576 seinem Vater auf den<br />
Kaiserthron gefolgt ist, zeigt er, welche<br />
Pläne und Fantasien in ihm schlummern.<br />
Eines der spektakulärsten Zeichen:<br />
1583 verlegt er den Regierungssitz<br />
nach Prag. Über die Gründe gibt<br />
es die verschiedensten Spekulationen.<br />
Rudolf 11. will das Geheimnis des Universums<br />
enträtseln - doch dieser Plan ist gefährdet<br />
16 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Gefällt dem Kaiser das Klima besser?<br />
Fühlt er sich sicherer vor dem Vordringen<br />
der Türken? Aus heutiger Sicht gab<br />
es keine logischere Wahl für einen<br />
Mann, der sich im Reich von Kunst und<br />
Wissen, von Legenden und Philosophien<br />
am wohlsten fühlte.<br />
Denn in Prag entstand 1348 die erste<br />
Universität Mitteleuropas. Seit den<br />
Zeiten des ketzerischen Predigers Jan<br />
Hus ist die Stadt ein Mekka für<br />
Querdenker, Mystiker, Philosophen.<br />
Hier gibt es Bildungsanstalten zuhaufneben<br />
einer katholische Akademie und<br />
einer evangelischen Hochschule unter<br />
anderem eine Talmudschule. Und Prag<br />
birgt sagenumwobene Geheimnisse:<br />
Unmittelbar vor dem Umzug des Hofes<br />
1583 soll hier der jüdische Rabbi Judah<br />
Löw den Golem, eine Art Supermensch<br />
aus Lehm, geschaffen haben. Auch<br />
Faust wohnte angeblich in der Stadt.<br />
Die Zielvorgabe, die Goethe dem Gelehrten<br />
mit dem Teufelspakt in den<br />
Mund legte, hätte auch auf Rudolf gepasst:<br />
"Daß ich erkenne, was die Welt<br />
im Innersten zusammenhält"<br />
In der Moldau-Metropole, die unter<br />
seinem Vorgänger Kar! IV. vor knapp<br />
Ort der Inspiration<br />
In der Schloss- und Klosteranlage<br />
Real Sitio de San Lorenzo<br />
de EI Escorial nahe Madrid<br />
verbringt Rudolf 11. acht Jahre<br />
(1563 bis 1571) bei seinem<br />
Onkel Philipp 11., König von<br />
Spanien. Hier kommt er in den<br />
Kontakt mit der Wissenschaft und<br />
entwickelt eine Leidenschaft für<br />
die Forschung. Die berühmte<br />
Bibliothek aus der Renaissance<br />
(siehe Foto oben) beherbergt<br />
heute mehr als 40000 Bücher aus<br />
dem 15. und 16. Jahrhundert<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 17
ASiRONOM,TA NOVA<br />
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Der Kaiser verbringt Stunden vor Dürers Bild.<br />
In dem Kun stwerk vermutet er den Gottescode<br />
200 Jahren ihre erste große Blüte erlebt<br />
hatte, versucht er sich diesen Traum zu<br />
erfüllen. Die mittelalterlichen Strukturen<br />
des Kaiserpalasts, des Hradschins,<br />
lässt er um Renaissancebauten erweitern,<br />
unter anderem um einen 100 Meter<br />
langen Korridor. In dem bringt er das<br />
persönliche Herzstück seines Reichs<br />
unter, seine "Kunst- und Wunderkammer",<br />
deren Bestandteile er auf<br />
der ganzen Welt einsammeln lässt -<br />
Gemälde, Münzen, Gemmen, mathematische<br />
Instrurnen te, Tischautomaten,<br />
Uhren. Zu den mehr als 800 Bildern<br />
gehören Werke von Dürer, Cranach,<br />
Tintoretto und Tizian. Hinzu kommen<br />
Objekte von mythischem Zauber - etwa<br />
der zwei Meter lange Stoßzahn eines<br />
Einhorns, den nur moderne Rationalisten<br />
einem Narwal zuordnen würden,<br />
oder eine Achatschale aus Konstantinopel,<br />
die ganz offenbar der Heilige<br />
Gral war, nicht zu vergessen eine Glocke,<br />
mit der man die Geister der Toten<br />
heraufbeschwören kann. Mit obsessiver<br />
Begeisterung lässt er auch eine<br />
Sammlung von Büchern und Handschriften<br />
zusammenstellen - darunter<br />
Werke der Sternenkunde, des Alchemismus<br />
oder christlichen Mystizismus.<br />
Bald gilt Rudolf als "größter Kunstmäzen<br />
der Welt", wie der Dichter und<br />
Maler Karel van Mander schrieb. Besonders<br />
schätzt der Kaiser den manieristischen<br />
Maler Arcimboldo, der ihn<br />
stilisiert als Vertumnus porträtiert, den<br />
Gott der Jahreszeiten. Wer eine Audienz<br />
begehrt, erhöht seine Erfolgsaussichten<br />
mit Gaben für die Kollektion<br />
beträchtlich. Der Gesandte des Herzogs<br />
Heinrich Julius von Braunschweig etwa<br />
steuert das mit Rubinen besetzte Horn<br />
eines Rhinozeros bei.<br />
In dieses private Reich zieht sich der<br />
Kaiser zurück, wenn ihm die Belastungen<br />
seines politischen Imperiums wieder<br />
aufs Gemüt drücken. Und das ist<br />
häufig genug der Fall. Schon ein Jahr<br />
nach der Kaiserkrönung erkrankt er mit<br />
Burn-out-Symptomen, wie man heute<br />
sagen würde. Drei Jahre später folgt die<br />
nächste Krise: Vor Entkräftung kann<br />
sich Rudolf nicht einmal mehr bewegen<br />
und muss getragen werden. Sein Gefolge<br />
fürchtet das Schlimmste. Denn im<br />
Habsburger-Clan grassieren die Geisteskrankheiten:<br />
Rudolfs Urgroßmutter<br />
mütterlicherseits war als "Johanna die<br />
Verrückte" bekannt, sein mental gestörter<br />
Cousin Don Carlos, von Friedrich<br />
Schiller realitätsfremd verklärt,<br />
verbrachte den Großteil seines Lebens<br />
in einen Turm eingesperrt und hungerte<br />
sich zu Tode. 1581 schreibt Rudolfs<br />
Minister Wolf Rumpf an Mutter Maria:<br />
"Seine Melancholie vergeht nicht trotz<br />
der Mediziner und Ärzte, von denen<br />
zehn dem Kaiser den ganzen Tag lang<br />
zur Seite stehen."<br />
E<br />
r lebt aber auf, wenn seine Sammlung<br />
wieder erweitert wird. Stunden<br />
verbringt er vor einem neuen<br />
Gemälde - etwa Dürers "Rosenkranzfest",<br />
das eigens von Venedig über die<br />
Alpen transportiert wurde. Heute wäre<br />
Rudolf wohl ein "Nerd", der sich vor<br />
dem grauen Alltag in virtuelle Welten<br />
flüchtet. Doch er sammelt nicht um des<br />
Sammelns willen und ist auch nicht auf<br />
der Jagd nach Superlativen. Er ist auf<br />
der Suche nach Gott. Sein in vier großen<br />
Räumen untergebrachtes Kabinett<br />
ist als "Teatrum Mundi" gedacht. Eine<br />
Art konzentriertes Spiegelbild, eine Enzyklopädie<br />
der Welt, die Rückschlüsse<br />
auf das göttliche Prinzip ermöglichen<br />
soll, das alles verbindet. Aus seiner Beschäftigung<br />
mit mystischen, religiösen<br />
und philosophischen Theorien weiß<br />
Rudolf, dass in jedem Kunstwerk, jedem<br />
exotischen Gegenstand, jedem<br />
Tier der Gottescode steckt. Er braucht<br />
nur Helfer, die ihn bei seiner Suche unterstützen.<br />
"Er findet seine Freude daran,<br />
Geheimnisse über natürliche und<br />
künstliche Dinge zu erfahren, und jedem,<br />
der ihm dabei behilflich sein<br />
kann, leiht er gern sein Ohr", berichtet<br />
der venezianische Gesandte Tommaso<br />
Contarini. Im Familienkreis gibt es<br />
freilich niemanden, dem er vertrauen<br />
kann. Von seiner Mutter ist er entfremdet,<br />
seinen Beichtvater, den Jesuiten<br />
Maggio, verdächtigt er - zu Recht - der<br />
Spionage. Er heiratet nicht, lieber vergnügt<br />
er sich mit Mätressen wie Katharina<br />
Strada, mit der er sechs Kinder<br />
zeugt. Also holt er sich Menschen an<br />
den Hof, die ihm bei der Suche nach<br />
dem Schlüssel des Universums helfen<br />
können. Wie den Polen Michael Sendivogius,<br />
der das alchemistische Labor im<br />
Pulverturm des Hradschin belegen<br />
darf. Entgegen des gängigen Klischees<br />
war die Herstellung von Gold bei<br />
der Alchemie nur ein nebensächlicher<br />
Aspekt. Das oberste Ziel bestand darin,<br />
persönliche Erleuchtung im Einklang<br />
mit den Gesetzen des Universums zu<br />
erreichen.<br />
Erkenntnisse erhofft sich Rudolf<br />
auch von Rabbi Löw, dem angeblichen<br />
Golem-Konstrukteur, mit dem er einen<br />
intensiven Termin unter vier Augen<br />
hat. Ein etwas merkwürdigerer Kontakt<br />
ist der englische Okkultist John<br />
Dee, der Rudolf einen Spiegel anbietet,<br />
der alles zeigen soll, was der Betrachter<br />
sich wünscht. Dass er dem Kaiser die<br />
Ermahnung eines Erzengels vorhält,<br />
"alle Bosheit aufzugeben", trübt das<br />
Verhältnis nicht. Im Gegenteil: Dee<br />
wird Ehrendoktor der Universität Prag.<br />
Erst als der päpstliche Nuntius Dee der<br />
schwarzen Magie beschuldigt und angebliche<br />
Beweise dafür vorlegt, sieht<br />
sich der Herrscher gezwungen, den<br />
Besucher vom Boden des Heiligen Römischen<br />
Reiches Deutscher Nation zu<br />
verbannen. Länger währte das Glück bei<br />
Dees Kompagnon Edward Kelley, der<br />
später wieder zurückkehren darf und<br />
sogar zum Hofalchemisten aufsteigt.<br />
Nachhaltiger ist freilich der Austausch<br />
mit weniger zweifelhaften Spezialisten<br />
- auf diese Weise bereitet<br />
Rudolf dem Weltbild der Zukunft den<br />
Weg. So wirbt er um den berühmtesten<br />
Astronomen der Zeit, den Dänen Tycho<br />
Brahe, bis der 1599 schließlich nach<br />
Prag kommt: "Wir erwarten, dass Sie<br />
neue Hypothesen über die Bewegungen<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 19
KAISER RUDOLF 11.<br />
Befreite Kunst<br />
Einen Herrscher mithilfe von Blumen<br />
und Früchten darzustellen traut sich<br />
der italienische Maler Giuseppe<br />
Arcimboldo. Eines seiner berühmtesten<br />
Werke ist das Porträt von Rudolf 11. -<br />
mit Birne als Nase und Bohnen<br />
Brauen (siehe rechte Seite, 1590).<br />
Er wirkt am lebendigen Prager Hof<br />
(siehe Gemälde rechts von unbekanntem<br />
Künstler, 1607) auch als Ingenieur,<br />
Kostümzeichner und Musiker<br />
Den böhmischen Bürgern wird religiöse Freiheit<br />
gewährt. Sehr zum Missfallen des Vatikans<br />
am Himmel aufstellen." Von seinen<br />
Observatorien auf Schloss Benatek und<br />
im Prager Schlossgarten aus stellt er<br />
Beobachtungen von nie dagewesener<br />
Präzision auf. Doch die Aktivitäten des<br />
Astronomen finden ein jähes Ende: Am<br />
13. Oktober 1601 muss er ein Festbankett<br />
des Kaisers wegen starker Blasenschmerzen<br />
verlassen und stirbt zehn<br />
Tage später. Rudolf ist untröstlich, versucht<br />
angeblich sogar, den Geist des<br />
Toten zu beschwören. Zu dessen Ehren<br />
lässt er ein Grabmonument in der Teynkirche<br />
errichten.<br />
D<br />
och es gibt einen mehr als<br />
würdigen Nachfolger: Kurz vor<br />
Brahes Tod wurde der Deutsche<br />
Johannes Kepler sein Assistent, und<br />
Rudolf ernennt ihn prompt zum kaiserlichen<br />
Hofmathematiker. In dieser<br />
Funktion erhält er Brahes Beobachtungsdaten,<br />
mit denen er seine bahnbrechenden<br />
Berechnungen über die<br />
elliptische Form der Planetenbahnen<br />
erstellt. Er vollendet auch die Arbeit an<br />
den neuen Regeln zur Vorhersage der<br />
Planetenstellungen - den "Rudolfinischen<br />
Tafeln".<br />
Doch was ist mit der Politik? Gerade<br />
weil sie Rudolf belastet, versucht er,<br />
sich aus den Verwerfungen der Zeit herauszuhalten,<br />
vor allem aus dem Konflikt<br />
zwischen Katholiken und Protestanten,<br />
der sich in Europa zunehmend<br />
verschärft. "Wir sind der Schlichter und<br />
Vermittler, der nie irgendjemands Seite<br />
ergreifen sollte", schreibt er. Nur gegen<br />
die Türken, die immer weiter nach<br />
Westen vorrücken, will er vorgehen,<br />
versucht sogar, eine Allianz verschiedener<br />
europäischer Mächte zu schmieden.<br />
Aber weil für ihn Gott nicht in die<br />
Schublade einer einzelnen Religion<br />
passt, toleriert er in seinem Reich die<br />
verschiedenen Glaubensrichtungen,<br />
geht nicht mit brutaler Gewalt gegen<br />
Ketzer vor wie sein Onkel. Die jüdische<br />
Gemeinde in Prag blüht unter seiner<br />
Regentschaft auf, wird zur größten<br />
innerhalb Europas. Am 9. Juli 1609<br />
unterzeichnet Rudolf den sogenannten<br />
"Majestätsbrief", der allen böhmischen<br />
Bürgern, einschließlich der Bauern,<br />
religiöse Freiheit gewährt.<br />
Mit seiner Zurückhaltung trägt er<br />
dazu bei, dass sich die konfessionellen<br />
Gegensätze in seinem Reich nicht verschärfen<br />
und innenpolitisch Frieden<br />
herrscht. Dem Vatikan freilich, der die<br />
Gegenreformation vorantreibt, gefällt<br />
das überhaupt nicht. Seit Ende der<br />
1590er-Jahre intrigiert der Heilige<br />
Stuhl, vertreten durch seinen Nuntius<br />
Kardinal Spinelli, in Prag. Mit Erfolg:<br />
1599 entlässt Rudolf die nicht katholischen<br />
Vertreter der böhmischen Hofkanzlei,<br />
der obersten Regierungsbehörde,<br />
besetzt den Posten des Kanzlers<br />
mit einem glühenden Verfechter der<br />
Gegenreformation. Aber zunehmend<br />
gerät der Herrscher selbst in die Schusslinie<br />
der Papstfraktion. Die nimmt Anstoß<br />
an seinen Interessen für nicht<br />
christliche Lehren, und mit seinen<br />
psychischen Problemen liefert er weitere<br />
Munition. "Es scheint, als sei der<br />
Kaiser vom Teufel besessen", schreibt<br />
Spinelli an den Papst.<br />
1600 versucht Rudolf in einem<br />
Anfall von Paranoia seinen ObersthofkämmererWolfRumpf<br />
vom Wullroß<br />
zu erstechen, richtet dann den Dolch<br />
gegen sich selbst, bis ihn seine Diener<br />
stoppen. Die hindern ihn auch daran,<br />
sich mit einer Glasscherbe die Kehle<br />
durchzuschneiden.<br />
20 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
Und die Situation verschärft sich.<br />
Denn Rudolf erwächst ein Rivale um<br />
die Macht - sein jüngerer Bruder, Erzherzog<br />
Matthias, Statthalter in Österreich,<br />
der die Gegenreformation unterstützt.<br />
Im April 1606 wettert er vor<br />
anderen Erzherzögen: "Seine Majestät<br />
hat einen Zustand erreicht, in dem er<br />
Gott vollständig aufgegeben hat."<br />
Zunehmend beginnt Matthias, die<br />
anderen Fürsten des Reiches auf seine<br />
Seite zu ziehen, lässt sich als Oberhaupt<br />
des Hauses Habsburg bestätigen und als<br />
künftiger Kaiser nominieren. Am 3. Mai<br />
1608 erscheint er mit einem 20000<br />
Mann starken Heer an der böhmischen<br />
Grenze. Und Rudolf? Der treibt nur<br />
einen kümmerlichen Haufen von 4500<br />
Soldaten auf. Gezwungenermaßen tritt<br />
er dem Bruder die Regentschaft über<br />
Österreich, Ungarn und Mähren ab.<br />
Was ihm bleibt, sind die Krone von<br />
Böhmen, Schlesien und Lusitanien und<br />
die Kaiserwürde.<br />
Doch Matthias will alles. 1610 setzt<br />
er sich mit einem neuen Heer Richtung<br />
Böhmen in Bewegung. Nur gibt sich der<br />
Kaiser diesmal nicht geschlagen. Denn<br />
er hat 13000 Söldner auf seiner Seite.<br />
Ein letzter, zu allem entschlossener<br />
Schachzug, der sogar Matthias einschüchtert.<br />
Und doch scheitert der Kaiser, der<br />
die Erde und das All erfassen wollte.<br />
Denn ihm fehlt schlicht das Geld, um<br />
seine Armee zu bezahlen. Prompt beginnt<br />
der undisziplinierte Haufen zu<br />
marodieren. Die Landsknechte fallen<br />
über Prags Kleinseite und das jüdische<br />
Viertel her, drohen die Altstadt zu<br />
brandschatzen. Der Adlige Petr Vok z<br />
Rozmberka opfert sein Familienvermögen,<br />
um die Meute zu entlohnen.<br />
F<br />
ür den Kaiser selbst ist es das Ende.<br />
Die böhmischen Stände kündigen<br />
ihm die Unterstützung auf, erkennen<br />
Matthias als König an. Verzweifelt<br />
verflucht Rudolf das "undankbare<br />
Prag": "Ich habe dich berühmt gemacht,<br />
aber jetzt vertreibst du mich. Möge Verdammnis<br />
über dich und die tschechische<br />
Nation kommen." Immerhin: Vertrieben<br />
wird er nicht, aber er fristet sein<br />
Leben fortan auf dem Hradschin. Nur<br />
dem Titel nach Kaiser, ist er ein Gefangener<br />
seiner eigenen Burg und seiner<br />
Depressionen. Seine Tage sind gezählt.<br />
Am 20. Januar 1612 stirbt er an einer<br />
Wundbrand infektion; konsequent bis<br />
zum Schluss verweigert er die kirchlichen<br />
Sakramente.<br />
Mit ihm vergeht auch der Traum<br />
einer universellen Harmonie, wie ihn<br />
kaum ein Herrscher geträumt hatte.<br />
Der gichtkranke Matthias verlegt den<br />
Hof nach Wien zurück - und überlässt<br />
die Regierungsgeschäfte seinem Kanzler.<br />
Aus der Ferne sehen beide zu, wie<br />
sich in Prag 1618 der Konflikt entzündet,<br />
der alle Visionen Rudolfs auf den<br />
Kopf stellt - der Dreißigjährige Krieg. In<br />
dessen Wirren wird die Kunstkammer<br />
des Kaisers in 1550 Wagenladungen<br />
über Europa verstreut. Doch auf seine<br />
Weise war der tragische Habsburger<br />
weitaus einflussreicher als die Herrscherkollegen<br />
seiner Zeit. Indem er<br />
Mystiker und Denker, Okkultisten und<br />
Naturwissenschaftler zusammenführte<br />
und förderte, bereitete er einem neuen<br />
Denken die Bahn, das die Welt seither<br />
prägt. Oder wie es sein Biograf Peter<br />
Marshall formuliert: "Er änderte nicht<br />
das politische Gesicht der Erde, aber er<br />
verwandelte den Himmel."<br />
Rüdiger Sturm war bei<br />
seinen Recherchen angenehm<br />
überrascht darüber,<br />
dass ein Ästhet und<br />
Feingeist mehr für den Frieden in Europa<br />
tat als die Machtpolitiker seiner Zeit.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 21
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Tragbarer Kiosk in Berlin: Eine Frau verkauft<br />
Illustrierte und Zeitungen. Obwohl schon seit<br />
1914 das Grauen an den Fronten herrscht,<br />
bringen die Blätter bunte Themen. Was die<br />
Medien während des Weltkriegs schreiben<br />
dürfen, entscheidet die Zensur<br />
26 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
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P. M. "[STORY - JANUAR 2016 27
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
28 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Eine moderne Hauptstadt<br />
Berlin, Alexanderplatz, im Hintergrund das "Rote Rathaus" - einer<br />
der bekanntesten Orte des Kaiserreichs. Das Bild ist kurz vor dem<br />
Krieg entstanden: Cafes warten auf Gäste; elektrische Straßenbahnlinien<br />
und seit 1913 sogar eine Untergrundbahn fahren den<br />
Platz an. Es warten auch Taxi-Droschken<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 29
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Von Mirco Lomoth<br />
Es ist Sommer 1916, und die Berliner haben den Krieg<br />
satt. Der schnelle Sieg, den der Kaiser versprochen<br />
hatte, ist ausgeblieben, der euphorische "Geist von<br />
19l4" schon seit Langem verflogen. Damals hatten<br />
Zehntausende ihrem Monarchen zugejubelt, als der<br />
vom Balkon des Stadtschlosses die Einheit des deutschen<br />
Volks beschwor. Er kenne keine Parteien und keine Konfessionen<br />
mehr, hatte Wilhelm II. am Tag der Kriegserklärung an<br />
Russland verkündet - "nur noch Deutsche". Und seine Berliner<br />
hatten im Lustgarten in einem Rausch der Verbrüderung<br />
gesungen: "Nun danket alle Gott".<br />
Die Züge nach Pommern waren voll gewesen mit Kriegsfreiwilligen<br />
in grauen Feldröcken, die Gleise geschmückt mit<br />
Girlanden. Was hatte der Kaiser gesagt? "Ehe noch das Laub<br />
von den Bäumen fällt", würden die Soldaten wieder zu Hause<br />
sein. Doch statt der siegreichen Heimkehrer ist das Grauen<br />
in die Reichshauptstadt eingezogen. Lazarettzüge bringen<br />
immer mehr Verwundete von der Front.<br />
Die dänische Schauspielerin Asta Nielsen, ein Stummfilmstar,<br />
beobachtet schockiert: "Durch die Straßen wankten<br />
Kriegsblinde zwischen jungen verkrüppelten Männern auf<br />
Krücken oder ohne Arme, ohne Unterkiefer, nur mit einem<br />
großen gähnenden Loch oder das ganze Gesicht zu einer verzerrten<br />
Maske verunstaltet."<br />
Immer länger werden auch die Gefallenenlisten, die an<br />
öffentlichen Gebäuden aushängen. Morgens drängen sich<br />
Mütter und Ehefrauen davor, gehen mit dem Zeigefinger<br />
angstvoll die Zeilen durch. Wer Verwandte entdeckt, sinkt<br />
schluchzend zu Boden. Wer noch Hoffnung hat, fragt auf den<br />
Postämtern bang nach Briefen des Liebsten. Doch manch einer<br />
ist gefallen, noch bevor seine Zeilen die Heimat erreichen.<br />
Zu den schlechten Nachrichten von der Front kommt der<br />
Hunger. Seit eineinhalb Jahren blockiert die übermächtige<br />
britische Flotte nun schon den Seeverkehr in der Nordsee.<br />
Auch die große Seeschlacht vor dem Skagerrak im Mai hat<br />
keinen Durchbruch gebracht. Das Deutsche Reich bleibt vom<br />
Weltmarkt abgeschnitten. Einfuhren, die vor dem Krieg mindestens<br />
ein Fünftel aller Lebensmittel ausgemacht hatten,<br />
sind versiegt, kriegswichtige Rohstoffe fehlen. Jetzt zeigt<br />
sich, dass die deutsche Wirtschaft nur auf einen kurzen Krieg<br />
vorbereitet war.<br />
Was an Lebensmitteln noch vorhanden ist, wird streng<br />
verteilt: Zwei Drittel gehen ans Heer, die Zivilbevölkerung<br />
muss sich mit dem Rest zufriedengeben. Nach und nach<br />
werden immer mehr Nahrungsmittel rationiert. In Berlin<br />
gibt es Brot bereits ab Februar 1915 nur noch "auf Karte", ab<br />
Juni im ganzen Reich. Immer mehr minderwertige Ersatzprodukte<br />
kommen auf den Markt: Gefärbter Quark ersetzt<br />
Butter, billige Gelatine die Marmelade.<br />
Schon am Tag der Kriegserklärung hatte der Magistrat<br />
der Stadt an den "Opfermut" und die "Selbstzucht" der Berliner<br />
appelliert. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen. Noch mehr<br />
als in anderen deutschen Städten fehlt es in der Reichs-<br />
P.M. HISTORY - JANUAR 2016 31
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Da die Männer bei der Armee sind, springen Frauen<br />
ein. Sie liefern Bier aus und steuern Straßenbahnen<br />
hauptstadt an allem. Die Lebensmittelkarten decken gerade<br />
einmal die Hälfte des täglichen Bedarfs. Auf den Märkten<br />
hängen Krähen und Elstern kopfüber zum Verkauf.<br />
Der Arzt Alfred Grotjahn notiert im März 1916 in seinem<br />
Tagebuch: "Die Berliner Bevölkerung bekommt von Woche<br />
zu Woche mehr ein mongolisches Aussehen. Die Backenknochen<br />
treten hervor, und die entfettete Haut legt sich in<br />
Falten."<br />
Nur die Reichen spüren wenig von der Misere. Wer Geld<br />
hat, kann sich auch jetzt noch fast wie zu Friedenszeiten vergnügen.<br />
Zu Kriegsbeginn waren Theater und Museen überstürzt<br />
geschlossen worden, doch schon bald hatten die Behörden<br />
die Maßnahme wieder rückgängig gemacht. 1916<br />
eröffnen die Berliner Theater die Spielzeit mit patriotischen<br />
Kriegsstücken. Das erfolgreichste heißt "Immer feste druff!".<br />
Es wird am Theater am Nollendorfplatz bis 1918 gut 800-mal<br />
aufgeführt: "Denn zieh' dem Russen ab det Fell, na Junge, du<br />
hast Mut."<br />
Auch die leichte Unterhaltung kehrt zurück, ganz zum<br />
Missfallen des Kaisers, der von den Berlinern "devoten Ernst"<br />
fordert. Doch die Bezirksleiter der Polizei wissen, dass es<br />
nicht ratsam ist, Berlin zu einer "stillen Stadt" zu machen.<br />
Mimiker dürfen auf der Bühne sogar Paul von Hindenburg<br />
oder den österreichischen Kaiser verspotten. Auch die Kabaretts<br />
und Varietetheater sind wieder geöffnet, wenn auch<br />
nicht länger unter französischen Namen - das "Chat Noir"<br />
heißt nun "Schwarzer Kater", das "Folies Caprice" nennt<br />
sich "Possen-Theater". Oberbürgermeister Adolf Wermuth<br />
ist überzeugt: Der Humor hilft den Berlinern, die harte Zeit<br />
zu überstehen.<br />
Jeder an der Heimatfront ist aufgefordert, "finanziellen<br />
Wehrdienst" zu leisten. Wer Goldmünzen und Schmuck hat,<br />
soll sie gegen Papiergeld eintauschen und bekommt gegen<br />
Aufpreis als Beweis der Vaterlandsliebe einen Eisenring mit<br />
der Gravur "Gold gab ich für Eisen". Zu Hunderten drängen<br />
sich die Berliner auch vor den Schaltern der Banken, um dem<br />
Staat ihr Erspartes anzuvertrauen und zum baldigen "Siegfrieden"<br />
beizutragen. Bei Kriegsende werden diese Kriegsanleihen<br />
wertlos sein.<br />
Da die meisten Männer an der Front sind, haben die Berlinerinnen<br />
viele ihrer Jobs übernommen. Sie fahren Straßenbahnen,<br />
schleifen Schienen, tragen Briefe aus und verrichten<br />
Schwerstarbeit in Munitionsfabriken. Sie schuften in Zwölfstundenschichten<br />
zum halben Lohn. Ein Arbeiter im Cassirer<br />
Kabelwerk in Charlottenburg erinnert sich: "Keine Nacht<br />
ohne Zusammenbruch einer oder mehrerer Frauen an den<br />
Maschinen infolge Erschöpfung, Hunger, Krankheit."<br />
Schon frühmorgens stehen Frauen und Alte in langen<br />
"Butterpolonaisen" vor den Läden, um Lebensmittelmarken<br />
einzutauschen, manche die halbe Nacht. Viele kehren mit<br />
leeren Händen heim. Reiche Berliner hingegen können sich<br />
auch jetzt noch Butter, Wurst und Eier leisten, sogar Erdbeeren<br />
mit Schlagsahne. Denn der Schleichmarkt blüht. Bäcker,<br />
Bauern und Lebensmittelhändler halten bis zu 50 Prozent<br />
ihrer Waren für kaufkräftige Kunden zurück, verkaufen sie<br />
zu Wucherpreisen - und verstärken damit noch die Not derjenigen,<br />
die nichts haben.<br />
Asta Nielsen, die Schauspielerin, beobachtet, wie in einem<br />
der Armenviertel die Frauen herbeistürzen, als ein<br />
klapperdürres Pferd auf der Straße tot umfällt - "man schrie<br />
und schlug sich um die besten Stücke, das dampfende Blut<br />
spritzte ihnen über Gesicht und Kleider. Andere ausgehungerte<br />
Gestalten kamen vorüber und fingen in Näpfen<br />
und Tassen das warme Blut auf, von dem das Pflaster rot<br />
gefärbt war."<br />
S<br />
tädtische Kriegsküchen, die jeden Tag rund eine Viertelmillion<br />
dünne Eintöpfe gegen Marke austeilen, können<br />
die Not kaum lindern. An den Wochenenden ziehen<br />
daher ganze Kolonnen ins Umland, auf der Suche nach Essbarem.<br />
Die Hamsterfahrten sind verboten, aber geduldet. Die<br />
Berliner scherzen: "Wer hamstert, gehört ins Zuchthaus, wer<br />
nicht hamstert, gehört ins Irrenhaus."<br />
Die Verbitterung über die Ernährungslage und die Unfähigkeit<br />
der Behörden, den Schleichhandel zu unterbinden,<br />
schlägt bald in offene Empörung um. Wo ist jetzt die vom<br />
Kaiser beschworene Brüderlichkeit, wenn Kriegsgewinnler<br />
in teuren Lokalen speisen und sich in Tanzbars amüsieren<br />
können, während die Armen ums blanke Überleben kämpfen?<br />
Zynisch wirkt da die amtliche Empfehlung, 30 Bissen in<br />
30 Minuten 2500-mal zu kauen, um die Nahrung besser zu<br />
verwerten. In den Berliner Arbeitervierteln, wo die Menschen<br />
teils unter fürchterlichen Bedingungen in Hinterhofwohnungen<br />
und Kellern hausen, geht der Spruch um: "Die<br />
Armen liefern die Leichen, der Mittelstand muss weichen,<br />
den Krieg gewinnen die Reichen."<br />
Schon im Oktober 1915 war es im Bezirk Lichtenberg zu<br />
Tumulten vor Läden der Großbutterfirma Assmann gekommen.<br />
Hunderte aufgebrachte Frauen, Arbeiter und Halbwüchsige<br />
schlugen Schaufenster ein, plünderten Auslagen<br />
und griffen Schutzleute an. "Allgemein wurde von den<br />
Frauen geäußert, dass dieses nur der Anfang sei und sie sich<br />
lieber totschlagen lassen wollen als verhungern", heißt es in<br />
einem Polizeibericht. Ein Beamter meldet: Die Stimmung auf<br />
der Straße sei gereizt, und die Maßnahmen der Regierung<br />
erführen häufig "eine gehässige Kritik".<br />
Der Staat setzt auf Propaganda. "Der letzte Hieb ist die<br />
8. Kriegsanleihe" steht auf Plakaten oder "Deutsche Frauen,<br />
arbeitet im Heimatheer". Nagelaktionen sollen den Zusammenhalt<br />
des Volks beschwören. Auf dem Königsplatz an der<br />
34 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Ein bissehen Spaß<br />
Auch wenn der Kaiser von<br />
seinen Berlinern einen<br />
"devoten Ernst" in Kriegszeiten<br />
fordert, lassen sich<br />
viele Menschen nicht von<br />
Freizeitvergnügen abhalten.<br />
Auf der Trabrennbahn der<br />
Hauptstadt galoppieren<br />
Jockeys um die Wette. Fünf<br />
Soldaten, darunter ein<br />
Invalide im Rollstuhl, fiebern<br />
beim Rennen mit (oben).<br />
Zwei junge Frauen werden<br />
im Winter lieber selbst aktiv:<br />
Sie üben Eiskunstlauf. Auf<br />
männliche Partner müssen<br />
sie verzichten, viele Gleichaltrige<br />
wurden von der<br />
Armee eingezogen<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 35
36 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 37
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
"Dem deutschen Volke"<br />
Jahrelang hat sich Kaiser Wilhelm 11. widersetzt.<br />
Er will nicht, dass am Reichstagsgebäude am<br />
Spreeufer ein Schriftzug angebracht wird, der<br />
das Parlament in den Dienst der Bürger stellt.<br />
Doch als 1916 die Stimmung seiner Untertanen<br />
immer schlechter wird, Demonstranten trotz<br />
Verboten mehr politische Rechte fordern, da lenkt<br />
der Monarch ein. Arbeiter bringen im Dezember<br />
den Schriftzug an, mit dem der Architekt bereits<br />
1894 den Giebel schmücken wollte<br />
Um den endlosen Materialbedarf der Front zu decken,<br />
werden sogar Fahrradschläuche beschlagnahmt<br />
Siegessäule können die Berliner Nägel in eine gut zwölf Meter<br />
hohe Holzfigur von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg<br />
schlagen, bis dessen Rüstung komplett ist. Das gespendete<br />
Geld geht an Soldatenfamilien. Ganze Schulklassen reisen<br />
nach Berlin unter dem Motto: "Konnt ich auch nicht<br />
Waffen tragen, half ich doch die Feinde schlagen."<br />
D<br />
och es hilft nichts. Statt nur nach Brot und Frieden<br />
rufen die Berliner bald auch nach Freiheit. Denn noch<br />
immer gilt in Preußen das Dreiklassenwahlrecht, das<br />
den Armen weniger Mitbestimmungsrecht einräumt. Es ist<br />
ein Vorgeschmack auf das, was folgen wird: die Massenstreiks<br />
im Januar 1918, die Novemberrevolution und schließlich<br />
der Untergang eines Kaiserreichs, das sein Volk verbluten<br />
und verhungern lässt.<br />
Vorerst aber wütet der Krieg weiter, wird immer mehr zu<br />
einem totalen Krieg. Anfang September 1916 verfügt die<br />
Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich<br />
Ludendorff die Mobilisierung der letzten Reserven der Heimatfront.<br />
Innerhalb eines halben Jahres soll die Produktion<br />
von Munition verdoppelt, von Maschinengewehren und Geschützen<br />
verdreifacht werden. So wollen die Generäle die<br />
sinkende Zahl kampffähiger Soldaten ausgleichen. Der Plan<br />
geht nicht auf. Der Umbau der Wirtschaft läuft langsam, Rohstoffe<br />
fehlen - und das Elend an der Heimatfront wird immer<br />
schlimmer. Um den schier endlosen Materialbedarf der Front<br />
zu decken, beschlagnahmt die Kriegsrohstoffabteilung auch<br />
Haushaltsgegenstände aus Aluminium, Kupfer, Messing, Nickel<br />
und Zinn. Selbst Kleidungsstücke und Fahrradschläuche<br />
müssen abgegeben werden.<br />
Zu allem Überfluss fällt im Herbst 1916 die Kartoffelernte<br />
katastrophal aus: Die Bauern bringen nur etwa die Hälfte<br />
vom Vorjahr ein. In Berlin reichen die Lagerbestände noch<br />
für einige Wochen. Ein Hungerwinter steht bevor. Verfügbar<br />
sind bald nur noch Kohlrüben. Eine wässrige Suppe aus der<br />
nährwertarmen Frucht ist für die meisten Berliner die einzige<br />
warme Mahlzeit am Tag. Brot, Kaffee, Marmelade, selbst<br />
Bier wird jetzt aus Kohlrüben hergestellt.<br />
In diesem "Kohlrübenwinter" jagen die Berliner die Ratten<br />
in der Gosse. Sie scherzen noch immer. Ein gern erzählter<br />
Witz lautet: Bald werde es keine Ratten mehr geben, nur<br />
noch Rattenersatz. Doch die Realität ist todernst. Aschfahle,<br />
ausgemergelte Gestalten schleichen über die Straßen der<br />
Reichshauptstadt. Oberbürgermeister Wermuth erinnert sich:<br />
"Nun setzte eine Sterblichkeit ein, welche die Wochenstatistiken<br />
bis auf das Eineinhalbfache und höher unaufhaltsam<br />
anschwellen ließ."<br />
Am Ende des Kriegs werden rund 700000 Deutsche an<br />
Unterernährung gestorben sein, viele von ihnen in Berlin.<br />
Mehr als zwei Millionen kehren von der Front nicht zurück.<br />
Im Dezember 1916 bringen Arbeiter die Inschrift "Dem<br />
deutschen Volke" über dem Westportal des Berliner Reichstagsgebäudes<br />
an. Zwei Jahrzehnte hat sich der Kaiser gegen<br />
diese Worte gesperrt. Jetzt hoffen seine Berater, durch die<br />
mächtigen Bronzelettern etwas von der Gunst des Volks<br />
wiederzugewinnen. Doch dafür ist es zu spät.<br />
Mirco Lomoth wurde bei seinen Recherchen in<br />
Berlin zum Ersten Weltkrieg erstmals klar. welches<br />
Leid die Berliner durchgemacht haben müssen -<br />
auch wenn an der Heimatfront keine Bomben fielen<br />
und es zu keinen Kämpfen kam.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 39
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Totaler Krieg<br />
Ungeheuerliche ZerstärungskrajtJ grauenhafte Wirkung:<br />
Von 1914 bis 1918 revolutionieren neue Waffen die Kriegsjührung<br />
und schockieren die Soldaten - und deren Familien zu Hause<br />
Von Hauke Friederichs<br />
Der Tod kam lautlos als gelbgrüne Wolke, schwebte<br />
über das Schlachtfeld, sank in die französischen<br />
Schützengräben hinab. Soldaten, die den<br />
Nebel einatmeten, schnappten vergeblich nach<br />
Luft, husteten Blut, erstickten, starben grauenhaft.<br />
Vor diesem Tod gab es kein Entkommen. Am 22. April<br />
1915 blies die deutsche Armee bei Ypern aus mehr als<br />
5000 Flaschen giftiges Chlorgas zum Gegner hinüber, eine<br />
neue, schreckliche Massenvernichtungswaffe, die erstmals<br />
im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. 3000 Männer starben<br />
an diesem Tag, weitere 7000 erlitten schwere Verletzungen.<br />
Der Feind habe "viele Apparate zur Hervorbringung erstickender<br />
Gase" benutzt, meldete die englische Nachrichtenagentur<br />
Reuters. "Aus der Menge der erzeugten Gase geht<br />
hervor, dass dies nach einem vorbedachten Plane und im Widerspruch<br />
mit der Haager Konvention geschah." Auch amerikanische,<br />
niederländische und französische Medien berichteten<br />
über die deutschen Chemiewaffen. In der vom Militär<br />
zensierten deutschen Presse tauchte deren Einsatz kaum auf.<br />
Die Welt war entsetzt über den schrecklichen Gastod an<br />
der Front. Generell verstörte die industrialisierte Kriegsführung<br />
die Menschen, nicht nur die Soldaten, die den Tod nicht<br />
mehr kommen sahen. Aus vielen Kilometern Entfernung<br />
abgefeuert, zerfetzten Granaten ihre Ziele, aus Hunderten<br />
Metern konnten Scharfschützen ihre Gegner erschießen.<br />
Auch die Familien zu Hause sorgten sich um die Angehörigen<br />
an der Front. Per Feldpost schickten die Soldaten Briefe nach<br />
Hause, die vom Grauen nachhallten: "Unser Regiment hat
fast aufgehört zu existieren. In dem Feuer der schweren frz.<br />
Geschütze brachen wir fast völlig zusammen C ..)", schrieb<br />
Otto Hanisch im März 1916 an seine Frau Hedi und die Kinder.<br />
"Es war das Schlimmste vom Schlimmen, was ich erlebt<br />
habe." Und dann habe auch noch die deutsche Artillerie aus<br />
Versehen die eigenen Leute beschossen. Seine Nerven seien<br />
hin, und seine Knochen zitterten. Solche Berichte kamen in<br />
den Zeitungen nicht vor. Die Propaganda in Deutschland<br />
zeichnete das Bild eines heroischen Kampfes, eines ritterlichen<br />
Duells. Die Realität sah anders aus: Materialschlachten<br />
im Westen, Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Osten.<br />
Im Ersten Weltkrieg kamen bereits fast alle Kriegstechnologien<br />
zum Einsatz, die auch in späteren Konflikten des<br />
20. Jahrhunderts für Schrecken sorgen sollten. Doch die<br />
meisten Strategen blieben noch dem militärischen Denken<br />
der Jahrhundertwende verhaftet. Maschinengewehre, Sprenggranaten,<br />
Flammenwerfer, Flugzeuge und Panzer spielten in<br />
den Gedanken der Generäle kaum eine Rolle. Sie planten<br />
große Flankenangriffe mit der Infanterie, rechneten mit<br />
Kavallerieattacken der Gegner. Dabei gab es seit 1863 motorisierte<br />
Wagen. Bereits kurz nach Kriegsbeginn stand fest,<br />
dass alle Seiten zu wenige Kraftfahrzeuge hatten. Französische<br />
Soldaten wurden mit Taxis an die Front gefahren, um<br />
den deutschen Vorstoß auf Paris abzuwehren. Deutschland<br />
fehlten Zugmaschinen für die Artillerie. Und auch die Kommunikation<br />
zwischen den Einheiten funktionierte nicht.<br />
Zwar verfügten die Armeen über Feldtelefone, dennoch setzten<br />
sie noch Brieftauben ein.<br />
Archaisch und modern zugleich liefen auch die Gefechte<br />
ab. Im Grabenkampf erschlugen sich die Soldaten mit Spaten<br />
und Keulen. Gleichzeitig kamen Eisenbahngeschütze mit<br />
Schwaden des Todes<br />
Aus einer Giftgaswolke heraus greifen deutsche<br />
Soldaten an der Westfront gegnerische Stellungen an.<br />
Seit 1915 setzt die kaiserliche Armee chemische<br />
Massenvernichtungswaffen ein<br />
gewaltigem Kaliber zum Einsatz. Alle Kriegsparteien verschossen<br />
Explosivmunition mit bis dahin ungeahnter Sprengkraft.<br />
An der Westfront entstanden Kraterlandschaften im<br />
Niemandsland zwischen den Schützengräben, umgepflügt<br />
von Abertausenden Geschossen. In der Todeszone an der<br />
Front standen die Ruinen zerstörter Häuser, lagen aufgeblähte<br />
Kadaver und Leichen, die wegen der permanenten Schusswechsel<br />
niemand wegräumte. Ein Albtraum für die Soldaten.<br />
A<br />
ufgeben wollte keine Seite - zugleich hatten die Militärs<br />
auf beiden Seiten keine Idee, wie der Gegner<br />
überwunden werden könnte. Deutschland war 1914<br />
dem Schlieffen-Plan gefolgt. Seine Soldaten umgingen die<br />
französische Verteidigungslinie an der Grenze, die Truppen<br />
marschierten durch das neutrale Belgien und nach Frankreich<br />
hinein. Binnen weniger Wochen sollte Paris eingenommen<br />
sein. Dann müssten alle Truppen nach Osten verlagert<br />
werden, um dort die Russen zu schlagen. Alfred Graf von<br />
Schlieffen hatte seinen Plan bereits 1905 niedergeschrieben.<br />
Als dieser neun Jahre später zum Einsatz kam, war er überholt.<br />
Statt rascher Geländegewinne kam es zum Stillstand im<br />
Westen. Die Front erstarrte.<br />
In den ersten beiden Kriegsjahren ließen die Militärführungen<br />
ihre Männer immer wieder frontal gegen das feindliche<br />
Maschinengewehrfeuer anrennen. Tausende wurden für<br />
minimale Geländegewinne geopfert. Bei Verdun, einer der<br />
verlustreichsten Schlachten, wollte der deutsche Generalstab<br />
die Franzosen "weißbluten" lassen. Die grausame Logik<br />
dahinter: Wenn der Feind mehr Soldaten verlöre als die deutsche<br />
Armee, dann hätte er bald zu wenige kampffähige<br />
Männer übrig, um den Krieg fortzuführen. Bei ihren Plänen<br />
hatten die Militärs übersehen, dass die neuen, industriell gefertigten<br />
Waffen den Verteidigern gewaltige Vorteile brachten.<br />
Die Maschinengewehre waren zu schwer, um sie für<br />
Sturmangriffe zu verwenden. Zur Abwehr solcher Offensiven<br />
aber waren sie bestens geeignet. Und auch der Versuch, den<br />
Feind "sturmreif" zu schießen, also ihn mit so vielen schweren<br />
Artilleriegranaten zu treffen, dass er seine Stellungen<br />
aufgeben müsste, funktionierte nicht. Denn längst hatten die<br />
Franzosen um Verdun herum Bunkeranlagen errichtet, die<br />
dem Beschuss standhielten. Der am 21. Februar 1916 beginnende<br />
Sturmangriff führte zu keinen Geländegewinnen, er<br />
brachte nur große Verluste: Frankreich zählte bei Verdun binnen<br />
zehn Monaten 167000 Gefallene, Deutschland 150000.<br />
Keine Nation war auf einen so langen und so zähen Krieg<br />
vorbereitet, alle hatten Nachschubprobleme. In Deutschland<br />
führte das zu drastischen Maßnahmen. Der Generalstab ließ<br />
die eigene Bevölkerung hungern, um genügend Lebensmittel<br />
für die Soldaten zu haben. Per Gesetz zwang er Hunderttausende<br />
Jugendliche und Frauen zur Arbeit in Rüstungsfabriken.<br />
Besetzte Gebiete plünderte er gnadenlos aus.<br />
Wegen der Vernichtungskraft der Waffen und wegen des<br />
rücksichtslosen Ausbeutens von Zivilisten gilt der Konflikt<br />
von 1914 bis 1918 als erster totaler Krieg der Geschichte.<br />
17 Millionen Tote waren seine Konsequenz. Er traumatisierte<br />
die Menschen - und radikalisierte die Gesellschaft.<br />
P.M. HISTORY - JANUAR 2016 41
Der letzte Brief. Franz Marc schreibt am 4. März 1916, seinem Todestag, an seine Frau:<br />
"Liebste, denk Dir: heute bekam ich ein Briefehen von meinen Quartiersleuten in Maxstadt (Lothr.), das Deinen Geburtstagsbrief<br />
enthielt! Die Frau hatte ihn doch, trotz meines damaligen Suchens, in einem der Kartons gefunden! Ich hab mich schon ein bißehen<br />
geschämt, aber auch doppelt gefreut, daß ich ihn nun doch habe: Du schreibst so lieb darin; ja, dieses Jahr werde ich auch<br />
zurückkommen in mein unversehrtes liebes Heim, zu Dir und zu meiner Arbeit. Zwischen den grenzenlosen schauervollen Bildern<br />
der Zerstörung, zwischen denen ich jetzt lebe, hat dieser Heimkehrgedanke einen Glorienschein, der gar nicht lieblich genug zu<br />
beschreiben ist. Behüte nur dies mein Heim und Dich selbst, Deine Seele und Deinen Leib und alles was mir gehört, zu mir gehört!<br />
Momentan hausen wir mit der Kolonne auf einem gänzlich verwüsteten Schloßbesitz, über den die ehemalige französische<br />
Frontlinie ging . ... Sorg Dich nicht, ich komm schon durch, auch gesundheitlich. Ich fühl mich gut und geb sehr acht auf mich.<br />
Dank viel-, vielmal für den lieben Geburtstagsbrief! Grüße Dein F"<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 43
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Von Katharina Jakob<br />
Am Morgen des 4. März 1916 schlägt der Leutnant<br />
Franz Marc die Augen auf. Er blickt nicht in den<br />
freien Himmel wie sonst, sondern an eine gemauerte<br />
Decke. Er liegt auch nicht auf der blanken<br />
Erde, sondern wie ein Kleinkind in einer Art<br />
Gitterbett: Es ist ein Hasenstall, dem die Türen fehlen. Mit<br />
der Öffnung nach oben und mit Heu befüllt, taugt der Käfig<br />
als Behelfsbett. Tatsächlich hat Franz Marc tief und fest darin<br />
geschlafen.<br />
Seit zwei Tagen hält sich der Leutnant mit seinen Männern<br />
im Chateau Gussainville auf, einer zusammengeschossenen<br />
Schlossruine hinter der französischen Front. Er ist<br />
dankbar für den Unterschlupf.<br />
Die Wochen zuvor war er kaum<br />
aus dem Sattel gekommen, und<br />
wenn, hatte er im Freien biwakiert.<br />
Im Gummimantel.<br />
Jetzt graut der Morgen. Und<br />
das Heimweh kommt mit aller<br />
Macht. Im bayrischen Ried spüren<br />
sie bestimmt schon den herannahenden<br />
Frühling. Der Leutnant<br />
denkt an sein Haus und an<br />
die zwei zahmen Rehe im Garten,<br />
Hanni und Schlick. An sein Atelier<br />
unterm Dach. Und an seine<br />
Frau, die bang auf ein Lebenszeichen<br />
von ihm wartet. Er greift zu Stift und Papier. "Dieses<br />
Jahr", schreibt er an Maria, "werde ich zurückkommen in<br />
mein unversehrtes liebes Heim, zu Dir und zu meiner Arbeit."<br />
Dann steigt er aus dem Hasenstall, zieht sich Uniform und<br />
Stiefel an und geht hinaus in den letzten Tag seines Lebens.<br />
Franz Marc, der aufstrebende Maler und Mitgründer des<br />
"Blauen Reiters", ist seit Kriegsbeginn Soldat. Er macht seine<br />
Sache gut. So gut, dass er rasch zum Offizier befördert wird<br />
und dann, im Oktober 1915, sogar zum Leutnant. Jetzt führt er<br />
die Leichte Munitionskolonne 1 an, darf sich ein Pferd aussuchen<br />
und bekommt zum Frühstück Rosinenschnecken. Sein<br />
Einsatzgebiet ist ElsaSS-Lothringen, wo er die meiste Zeit hinter<br />
den feindlichen Linien verharrt. Er muss den Nachschub<br />
an die Front organisieren und das Gelände erkunden. Weil<br />
er fließend Französisch spricht - seine Mutter stammt aus<br />
Lothringen -, ist er hinter der Front weit nützlicher als im<br />
Schützengraben. Doch trotz der Annehmlichkeiten, die er als<br />
höherer Dienstgrad genießt: Der Krieg setzt Marc gewaltig<br />
zu. An manchen Tagen reitet er mit seinen Männern 18 Stunden<br />
und mehr durch peitschenden Regen. Überquert Schlachtfelder<br />
voller getöteter und verstümmelter Soldaten, sieht den<br />
Strom fliehender Familien, hört Kinder weinen. Längst ist seine<br />
Begeisterung für den Waffengang erloschen. Dabei war er<br />
am 4. August 1914 geradezu jubelnd zu den Fahnen geeilt, nur<br />
einen Tag nach der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich.<br />
"Jetzt bin auch ich endlich auf dem Zug in den großen<br />
Krieg", hatte er seinem Galeristen geschrieben, als er den<br />
Marschbefehl erhielt.<br />
Und jetzt? "Das ist kein Krieg mehr", schreibt er entmutigt<br />
in einem seiner Briefe anderthalb Jahre später. Was hatte er<br />
erwartet? Vor allem das: eine<br />
neue Welt. Die alte ist ihm<br />
unerträglich. Diese Spießigkeit,<br />
dieser wilhelminisch-preußische<br />
Muff, der am Althergebrachten<br />
hängt und alles Neue misstrauisch<br />
beäugt. Mit seinen Künstlerkollegen<br />
will Franz Marc noch<br />
nie Dagewesenes schaffen: weg<br />
vom Gegenständlichen, hin zur<br />
abstrakten Malerei. Doch wie<br />
reagieren Publikum und Kritik?<br />
"Farben wahnsinnige Verunreinigung<br />
von Leinwänden", heißt es<br />
in den Zeitungsverrissen, "Gemäldegalerie<br />
eines Irrenhauses". Manche Besucher kommen<br />
nur in die Ausstellungen, um auf die Bilder zu spucken. Immer<br />
wieder kann einer nur mit Mühe daran gehindert<br />
werden, die Leinwände mit einem Messer aufzuschlitzen.<br />
Und Genies wie August Macke oder Wassily Kandinsky müssen<br />
sich beschimpfen lassen als "Fieberkranke" und "Hottentotten<br />
im Oberhemd". All das, denkt Franz Marc, als der Krieg<br />
losbricht, kann gern zugrunde gehen.<br />
Doch hinter seiner Leidenschaft für den Weltenbrand<br />
steckt noch etwas anderes. Etwas Radikaleres, das seinen<br />
Freunden Angst macht und seine Frau verzweifeln lässt.<br />
Marc verehrt Nietzsche und dessen Idee vom Übermenschen.<br />
Da kommt der Feldzug wie gerufen, "Blutopfer" werden<br />
nötig: "Um Reinigung wird der Krieg geführt", schreibt der<br />
Maler, "und das kranke Blut vergossen."<br />
Dabei hat er keinen Sinn für Politik. Für die diplomatischen<br />
Verwicklungen und politischen Zusammenhänge<br />
interessiert er sich nicht. Er glaubt sogar, es besser zu wissen:<br />
Fieberkranke, Hottentotten: So nennt das Vaterland<br />
seine besten Künstler. Und ruft sie zu den Waffen<br />
44 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
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FOTOS: BAYERISCHE STAATSGEMÄLDESAMMLUNGEN/BP, NÜRNBERG - GERMANISCHES NATIONAlMUSEUM/DEUTSCHES KUNSTARCHIV. NLMARCFRANLIAI-0125
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Fronturlaub<br />
Einmal aufatmen: Im Juli 1915 kommt<br />
der Maler für kurze Zeit nach Hause.<br />
Doch die Strapazen des Krieges haben<br />
den Eheleuten sichtbar zugesetzt.<br />
links: "Der Turm der blauen Pferde"<br />
gehört zu Franz Marcs berühmtesten<br />
Bildern. Zuerst ist es ein Postkartenmotiv<br />
für die Lyrikerin Else Lasker-Schüler.<br />
1913 entsteht daraus ein Bild. Die Nazis<br />
nennen es später "entartete Kunst",<br />
es fällt in die Hände von Hermann GÖring.<br />
Seitdem gilt das Werk als verschollen<br />
Kunst und Krieg, wie passt das zusammen?<br />
Auf bizarre Weise: Franz Mare bemalt Tarnplanen<br />
In Wahrheit sei dies kein Kampf der Länder gegeneinander,<br />
sondern der des europäischen Geistes gegen seinen inneren<br />
Feind.<br />
Seine Freunde sind entsetzt und sagen ihm ins Gesicht,<br />
was sie von solchen Ideen halten: "Der Preis dieser Art Säuberung<br />
ist entsetzlich", antwortet Wassily Kandinsky, der aus<br />
Deutschland fliehen muss, weil er gebürtiger Russe ist und<br />
nun plötzlich zum Feind gehört. Ausgerechnet er, den Marc<br />
als Maler verehrt wie keinen Zweiten. Mit Kandinsky hat er<br />
1911 den "Blauen Reiter" gegründet, einen losen Verbund<br />
von expressionistischen Künstlern. Auch einen Almanach<br />
nennen sie so, der alle ihre Ideen zwischen zwei Buchdeckeln<br />
bündelt.<br />
Andere Freunde versuchen es mit Ironie: "Hoffentlich erleben<br />
wir dann noch das neue Europa", sagt der Maler Heinrich<br />
Campendonk, "die neue Religion und Kunst und die<br />
Auflösung des letzten Männergesangvereins."<br />
Doch am ärgsten leidet Maria. Sie verabscheut den Krieg.<br />
Und sie hat Angst um ihren Franz, der ihr jeden Tag genommen<br />
werden kann. Die vielen Briefe, die er nach Hause<br />
schickt, trösten sie wenig. Darunter sind seitenlange Aufsätze<br />
über das "Fegefeuer des Krieges". Marc will, dass seine<br />
Schriften veröffentlicht werden, seine Frau soll einen Verleger<br />
für sie finden.<br />
Zwei Aufsätze gibt Maria zum Druck frei, auch wenn es<br />
sie vor dem "Gefasel", wie sie sagt, schaudert. Das Ehepaar<br />
streitet sich in seinen Briefen, Vorwürfe fliegen hin und her,<br />
und mit jeder Auseinandersetzung wächst die Entfremdung<br />
zwischen den beiden.<br />
Dann kommt noch ein Aufsatz, nach vier Monaten im<br />
Feld. Der verstiegenste von allen. Und jetzt reicht es. Maria<br />
wird diesen Text niemandem zeigen. Sie schreibt an ihren<br />
Mann zurück: "Deinen Artikel ... möchte ich nicht gedruckt<br />
haben, weil Unwahrheiten darin stehen ... die du natürlich<br />
als solche noch nicht erkannt hast."<br />
s o viel Widerspruch ist Marc nicht gewohnt. Er erkennt<br />
seine einst so unsichere Frau, Tochter eines Bankdirektors<br />
aus Berlin, nicht wieder. Ist das noch die pummelige<br />
Malerin, die zu ihm aufblickte und so vieles klaglos ertrug?<br />
Diejahrelang hinnahm, dass er nicht nur eine Liebschaft<br />
neben ihr hatte, sondern gleich zwei: eine selbstbewusste<br />
Kunstlehrerin, elf Jahre älter als er, und eine Professorengattin,<br />
auch deutlich älter? Und dass alle drei Damen voneinander<br />
wussten und sich gegenseitig auszustechen versuchten?<br />
Bis schließlich eine sich durchsetzte und Marcs Ehefrau<br />
wurde. Allerdings nicht Maria, die sich das sehnlichst gewünscht<br />
hatte, sondern die Kunstlehrerin Marie Schnür.<br />
1907 hatte Marc sie kurz entschlossen geheiratet und es nur<br />
Wochen später wieder bereut. "Wird mir das Schicksal wohl<br />
jemals die Dummheit vergeben, die ich mit dieser Heirat angerichtet<br />
habe?", fragte er sich und Maria, die er nun "Liebste"<br />
nannte. Doch eine Scheidung kam für die Gattin nicht<br />
infrage. Ein unwürdiges Geschacher setzte ein, immer am<br />
Rand und doch unmittelbar davon betroffen: die duldsame<br />
Maria. Bis sie und ihr Franz heiraten konnten, gingen Jahre<br />
ins Land. Denn Maria wurde von der enttäuschten Kunstlehrerin<br />
der Ehebrecherei bezichtigt, was ein schwerwiegendes<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 47
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Der Maler ist ein guter Leutnant, er behält auch im<br />
Feuergefecht die Nerven. Seine Soldaten lieben ihn<br />
Problem darstellte, nicht nur für die Ehre. Die preußischen Gesetze<br />
ließen eine Hochzeit zwischen einer Ehebrecherin und<br />
ihrem Geliebten nicht zu. Auch ein Heiratsversuch im liberaleren<br />
England scheiterte, was die beiden bei ihrer Rückkehr verschwiegen.<br />
Nun taten sie so als ob, nannten sich fortan Herr<br />
und Frau Marc und beendeten so das "gschlamperte Verhältnis",<br />
wie die oberbayrische Nachbarschaft ihr Zusammenleben<br />
nannte. Offiziell klappte es erst 1913 mit der Eheschließung.<br />
Nun ist er von zu Hause fort, und Maria lässt sich nichts<br />
mehr von ihm sagen. Gleichzeitig wächst in dem Maler die<br />
Erkenntnis, dass er sich mit seinen Theorien von der Reinigungskraft<br />
des Krieges geirrt hat. Auf den Schlachtfeldern,<br />
die er kreuzt, sieht er die "Blutopfer". Einer aus den eigenen<br />
Reihen gehört bald dazu: Kurz nach Kriegsausbruch wird<br />
August Macke, sein enger Freund, an der Westfront erschossen.<br />
Marc kommt lange nicht über den Verlust hinweg, bricht<br />
immer wieder in Tränen aus.<br />
Am schlimmsten aber ist das Heimweh, das noch nicht<br />
einmal ein Fronturlaub heilen kann. Elf Monate nachdem er<br />
ausgerückt ist, sitzt der Maler mit stiere m Blick zu Hause herum<br />
und kann sich nicht freuen. Er ist dürr geworden. Paul<br />
Klee kommt zu Besuch. Doch die Freunde schweigen sich an.<br />
Klee ist entschiedener Kriegsgegner, auch er hatte sich mit<br />
Marc einst harte Debatten geliefert. Nun sitzt man für wenige<br />
Stunden beisammen, will den brüchigen Frieden nicht stören<br />
und hat sich nichts zu sagen. "Der Mann müsste wieder<br />
malen", notiert Paul Klee nach seinem Besuch in Ried, "dann<br />
käme sein stilles Lächeln zum Vorschein."<br />
W<br />
enigstens bekommt Franz Marcjetzt in der Heimat<br />
gute Kritiken, sein Galerist organisiert Ausstellungen<br />
in Abwesenheit des Künstlers. Und mit einem<br />
Mal finden seine kobaltblauen Pferde und hellroten Katzen<br />
Anklang, werden seine Bilder gekauft statt bespuckt.<br />
Da erreicht ihn Ende des Jahres 1915 in seinem lothringischen<br />
Einsatzgebiet dringende Post. Der preußische Kultusminister<br />
will eine Liste von Künstlern erstellen, die an der<br />
Front sind, aber als hochbegabt gelten. Sie sollen in sichere<br />
Gebiete verlegt oder gleich ganz in die Heimat zurückgeschickt<br />
werden, jedenfalls weg von der Front und der unmittelbaren<br />
Gefahr. Höchstens 30 Kunstschaffende haben auf<br />
dieser Liste Platz. Franz Marc soll dazugehören. Der Maler<br />
zaudert, überlegt. Er denkt an sein Atelier, an die vielen ungemalten<br />
Bilder, um derentwillen er unbedingt am Leben<br />
bleiben muss - und entscheidet sich dann gegen eine Vorzugsbehandlung.<br />
Wenn seine Kameraden vom Tod bedroht<br />
sind, will er sich nicht davonstehlen.<br />
So wird es ein trauriger Jahreswechsel. An Weihnachten<br />
bekommt er nur einen Tag Urlaub, das reicht nicht für eine<br />
Fahrt nach Hause. Franz Marc reist ins nahe Straßburg, wo er<br />
durch die Straßen läuft und spürt, wie ihm das zivile Leben<br />
abhandengekommen ist. Mit den Kaffeehausgängern, den<br />
Kartenspielern und Passanten hat er nichts mehr gemein, alles<br />
in dieser Stadt kommt ihm leblos vor: "All die sonderbaren<br />
Leidenschaften auf den Gesichtern. Ich sah plötzlich ein<br />
Vögelchen auf einem Gesims sitzen und hatte das Gefühl, als<br />
wäre dies Vögelchen das einzig Lebendige, unbefangen Wirkliche<br />
in einer toten Stadt, in der nur mehr Leichen gehen."<br />
48 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
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Das Telegramm<br />
bringen. Spätestens jetzt weiß er, dass der Krieg ein schrecklicher<br />
Irrtum ist: "Seit Tagen sah ich nichts als das Entsetzlichste,<br />
was sich Menschengehirne ausmalen können",<br />
schreibt er verzweifelt an seine Frau. Sie reiten Stunde um<br />
Stunde, Tag um Tag, zwei Wochen lang, bis sie im Schloss<br />
Gussainville endlich rasten können, zwischen den Mauern.<br />
Um die Mittagszeit des 4. März 1916 trinken der Leutnant<br />
und sein Major ein Glas Moselwein und klären letzte Dinge:<br />
Marc soll zu einem Erkundungsritt aufbrechen, um die Strecke<br />
zu prüfen, die der Munitionstransport noch in der kom-<br />
Als Maria Mare vom Tod ihres Mannes<br />
erfährt, ist sie in Bonn bei ihrer besten<br />
Freundin Elisabeth Macke, der Ehefrau<br />
des gefallenen Malers August Macke.<br />
Nun sind sie beide Kriegswitwen.<br />
Links: Franz Mare in der Schlossruine<br />
Gussainville, wenige Stunden vor seinem<br />
Tod. Er ist nicht nur ein guter Soldat,<br />
sondern auch ein beliebter Vorgesetzter.<br />
Sein Bursche schreibt über ihn: "Er<br />
war sehr belibt unter der Manschaft, den<br />
ihm war keine Gefahr zu gas er war ein<br />
Unerschrokener Tüchtiger Ofizir"<br />
Doch zu Neujahr schöpft er wieder Hoffnung. 1916, so<br />
glaubt er, wird sich alles wenden. Der Krieg wird vorbei sein,<br />
er selbst heimkehren, wieder malen und mit Maria in den<br />
Bergen wandern. Er wird den Flug der Gabelweihen sehen,<br />
die Frösche quaken hören. "Mein Optimismus ist unzerstörbar",<br />
schreibt er an seine Frau am ersten Tag des neuen Jahres.<br />
"Wenn der Friede kommt ... werden wir wieder ein paar<br />
alte Walzer tanzen ... Es ist ein schöner Neujahrstag heut, ein<br />
bißchen Frühlingsluft."<br />
Zumindest ein Wunsch erfüllt sich tatsächlich in den<br />
nächsten Wochen, kurz vor seinem 36. Geburtstag im Februar.<br />
Der Leutnant erhält einen sonderbaren Auftrag: Er soll<br />
malen. Keine Kunst, keine Bilder. Sondern meterlange Planen<br />
zur Abdeckung der Geschütze und Munitionslager. Damit der<br />
Feind aus der Luft nicht erkennen kann, welche Waffen dort<br />
unten im Einsatz sind, müssen Tarnplanen her. "Neun Kandinskys"<br />
habe er an einem Tag fertiggestellt, freut sich der<br />
Leutnant in einem Brief an Maria. Was bedeutet, dass er die<br />
Stoffe mit abstrakten Formen bemalt hat, die von weit oben<br />
aussehen wie Blattwerk oder Unterholz. Sogar ein Atelier hat<br />
er bekommen, einen Heuschober.<br />
U<br />
nd dann ist mit einem Schlag die Ruhe vorbei. Marschbefehl.<br />
Am 21. Februar bricht morgens die Schlacht<br />
um Verdun los. Alles gerät in Bewegung. Leutnant<br />
Franz Marc muss 200 Pferde und 24 Fahrzeuge an die Front<br />
menden Nacht nehmen wird. Marc lässt sich auf dem Ritt von<br />
seinem Burschen begleiten, Heinrich Hackspiel. Gegen vier<br />
Uhr nachmittags erreichen die beiden die Gefechtslinien. Sie<br />
zügeln ihre Pferde, bleiben stehen. In weniger als 100 Meter<br />
Entfernung detonieren die Granaten. Der Leutnant will wissen,<br />
wie der Weg verläuft, und steigt aus dem Sattel. Er kramt<br />
eine Karte aus seiner Tasche, Hackspiel bleibt auf dem Pferd.<br />
Im nächsten Augenblick surrt eine Granate durch die<br />
Luft, schlägt keine drei Meter entfernt von ihnen ein. Die<br />
Pferde gehen durch. Der Bursche kann sich kaum im Sattel<br />
halten. Erst kurz vor einem Waldstück schafft er es, sein Tier<br />
und das des Leutnants unter Kontrolle zu bekommen. Nachdem<br />
Hackspiel die Pferde an einen Baum gebunden hat, eilt<br />
er zurück zu Franz Marc. Sein Leutnant ist schon bewusstlos.<br />
"Als ich ankam", notiert der Bursche später in einem Protokoll,<br />
"war Herr Leutnand bereits in den lezten zügen, ihm<br />
war ein Granatsplitter durch das Gehirn gegangen." Hackspiel<br />
kauert sich zu seinem Vorgesetzten, öffnet ihm die<br />
Jacke, sieht, wie sich dessen Brust hebt und senkt. Und dann<br />
stehen bleibt.<br />
Hackspiel muss den Toten zurücklassen und reitet ins Lager.<br />
"Ich holte dan zwei Man, und trugen ihn dan in den etwa 500 m<br />
weit Bracki Wald wo er nachts abgeholt wurde." Im Schlosspark<br />
von Gussainville nahe dem DorfBraquis wird Franz Marc<br />
vorläufig begraben, bis man ihn nach Hause überführt.<br />
Auf dem Postamt liegt einen Tag später ein Telegramm<br />
für die Frau des Leutnants. Maria muss es nicht abholen, sie<br />
weiß, was darin steht.<br />
Katharina Jakob las von einer Karte. die Franz<br />
Mare als Junge bekommen hatte. Darauf stand, vom<br />
Vater geschrieben: _Halte dich stets hoch zu Roß bis<br />
zu deiner Bahre: Seitdem fragt sie sich: Hätte Mare<br />
vielleicht überlebt. wenn er im Sattel geblieben wäre?<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 49
50 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Von Thomas Röbke<br />
Die Malerin, Grafikerin und Bildhauerin Käthe<br />
Kollwitz lebte von 1867 bis 1945, sie schuf mit ihren<br />
Werken einen eigenständigen Stil zwischen<br />
Expressionismus und Realismus. 1891 heiratete<br />
sie den Arzt Kar! Kollwitz und zog mit ihm in die<br />
Weißenburger Straße des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg,<br />
die heute Kollwitzstraße heißt. 1892 brachte sie ihren Sohn<br />
Hans zur Welt, vier Jahre später den zweiten Sohn Peter -<br />
einen Jungen mit gewinnendem Wesen. Er wollte Maler<br />
werden wie seine Mutter. Als der Krieg kam, meldeten sich<br />
beide Söhne sofort zur Armee. Peter Kollwitz war noch keine<br />
Woche im Feld, als er in der Nacht zum 23. Oktober 1914 bei<br />
Diksmuide in Flandern starb. Mit 18 Jahren.<br />
Für Käthe Kollwitz bedeutete dies eine Zäsur. Erst das<br />
drängende Verlangen, dem toten Sohn ein Denkmal zu setzen,<br />
ließ sie die plastische Arbeit wieder aufnehmen. "Siebzehn<br />
Jahre lang quält sie sich mit wechselnden Entwürfen,<br />
mit immer neuen Ansätzen, mit Zweifeln, Depressionen und<br />
seltener Zuversicht", schreibt ihre Enkelin Jutta Bohnke-Kollwitz<br />
in der Einführung zu den Tagebüchern, "bis die Figuren<br />
der trauernden Eltern schließlich auf dem Soldatenfriedhof<br />
aufgerichtet werden können, wo der Sohn begraben ist, im<br />
Juni 1932." Viele Jahre lang hielt Käthe Kollwitz ihre täglichen<br />
Gedanken und Gefühle schriftlich fest - auch in der<br />
Zeit des Ersten Weltkriegs. Hier sind Auszüge.<br />
PI'eitag, 30. Oktober 1914 "Ihr Sohn ist gefallen."<br />
14. November 1914 In Peters vorjährigem Tagebuch immer<br />
das Gefühl des Allein- und Ver!assenseins. Wir hätten für die<br />
Jungen sterben mögen und doch verlassen und jeder allein.<br />
So allein als ob ein luftleerer Raum um einen ist. Wo bist<br />
Du - wo schweifst Du? Warum kommst Du nicht zu mir? Ich<br />
bin mehr allein als Du je warst. Nur der Hans.<br />
1. Dezember 1914 Heute Nacht den Plan zu einem Denkmal<br />
für Peter gefasst, aber wieder aufgegeben, weil es mir<br />
unausführbar schien. Am Morgen kam mir plötzlich der<br />
Gedanke, ich könnte durch Reicke die Stadt darum bitten,<br />
mir einen Platz zu geben. Was es kosten würde, dazu müsste<br />
gesammelt werden.<br />
Es muss auf den Höhen von Schild horn stehn wo man den<br />
Blick über die Havel hat. An einem herrlichen Sommertage<br />
soll es fertig sein und eingeweiht werden.<br />
3. Dezember 1914 Ich will Dich ehren mit dem Denkmal.<br />
Alle die Dich lieb hatten behalten Dich in ihrem Herzen,<br />
weiter wirst Du wirken bei allen, die Dich kannten und<br />
Deinen Tod erfuhren. Aber ich will dich noch anders ehren.<br />
Den Tod von Euch ganzen jungen Kriegsfreiwilligen will ich<br />
in Deiner Gestalt verkörpert ehren. In Eisen und Bronze soll<br />
das gegossen werden und Jahrhunderte stehen.<br />
9. Dezember 1914 Mein Junge! Auf Deinem Denkmal will<br />
ich Deine Gestalt oben über den Eltern halten. Du sollst<br />
langausgestreckt liegen, die Hände antwortend auf den Ruf<br />
zur Hingabe: "Hier bin ich." Die Augen - vielleicht - weit<br />
offen, dass Du den blauen Himmel über Dir siehst und die<br />
Wolken und die Vögel. Den Mund lächelnd. Und an der Brust<br />
die Nelke, die ich Dir gab.<br />
23. Dezember 1914 Weihnachten vorm Jahr trugst Du das<br />
Pierrotkleid, dieses Weihnachten liegst Du steif und ernst<br />
mit dem Gewehr im Arm unter der Erde.<br />
24. Dezember 1914 Weihnachtsabend (. ..) Hinter Deinem<br />
Bett steht einjunges Bäumchen. Die Wachskerzchen<br />
brannten eines nach dem andern restlos auf - dann war es<br />
wieder ganz dunkel.<br />
Sie will eine Skulptur erschaffen, die Jahrhunderte<br />
steht, denn das Kostbarste ist zerbrochen: die Jugend<br />
P.M. HISTORY - JANUAR 2016 51
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Was bleibt einer Mutter,<br />
die ihren Sohn an den<br />
Krieg verlor? Kann sie ihr<br />
Land noch lieben?<br />
Die Sicht der Künstlerin<br />
auf den Krieg verändert<br />
sich. Am Ende ihres<br />
Lebens ist sie Pazifistin<br />
26. Dezember 1914 2. Feiertag in den verschneiten Grunewald<br />
gegangen und den Platz für Peters Denkmal gesucht.<br />
Silvester 1914 Einmal gingen wir beide nach Weißensee.<br />
Du hattest Deinen kleinen Arm um meine Taille und ich<br />
meinen um Deinen Hals. Deine Scherze mit mir. Dann<br />
wurdest Du größer und revoltiertest gegen die Schule. Du<br />
kamst nach Wengen weil wir Dich für lungengefährdet<br />
hielten. Und aus Wengen brachtest Du Dein erstes Gemaltes<br />
mit nach Hause. Du tratst aus der Schule mit dem Einjährigen-Zeugnis.<br />
Du solltest Künstler werden. (...)<br />
Ein neues Jahr kommt. Ich kenne meine Aufgaben. Dem<br />
Hans treu zu dienen, das wird mir nicht schwer fallen,<br />
dem Karl alles zu geben, was ich geben müsste, ist schon<br />
schwerer. Mein Peter - ich will versuchen treu zu sein.<br />
Den Karl mit ganzer Seele lieben. Euch Brüder umschling<br />
ich mit aller meiner Liebe.<br />
Dein Vermächtnis zu erkennen und zu bewahren.<br />
Was ist das?<br />
Mein Vaterland so zu lieben auf meine Art wie Du es<br />
liebstest auf Deine. Und diese Liebe zu betätigen. Auf die<br />
Jugend zu sehn und ihr liebevoll treu [zu) bleiben.<br />
14. Januar 1915 Junge, ich arbeite wieder. Ich mach die<br />
Arbeit fertig, die Frau mit dem Kind im Schoß. In allem bist<br />
Du, seid Ihr.<br />
29. Mai 1915 Aus einem Pfirsichkern, den Peter wohl mal<br />
auf dem Balkon weggeworfen hat, ist ein kleines grünes<br />
Bäumchen aufgegangen. - Wunderbar - fast geheimnisvoll<br />
dieses Keimetreiben. Ich arbeite an seiner Figur in Ton. Ich<br />
lege sie als Akt an. Aus dem feuchten Ton sprießen kleine<br />
Keime - aus seinem Zeugungsteil.<br />
Ende Juli 1915 Es kommen Zeiten, wo ich Peters Tod fast<br />
nicht mehr fühle. Es ist ein gleichgültiger Seelenzustand, ich<br />
fühle statt einem Gefühl Leere. Dann kommt allmählich ein<br />
dumpfes Sehnen - durch Tage. Endlich dann bricht es durch,<br />
dann wein ich, wein ich, dann fühle ich wieder mit meinem<br />
ganzen Körper, meiner ganzen Seele, dass der Peter tot ist.<br />
11. August 1915 Vor einem Jahr in diesen Tagen war es,<br />
dass Peter mit uns sprach und wir ihn hingaben. Heute<br />
arbeite ich zum ersten Mal an seinem Kopf. Mit Weinen.<br />
2. Januar 1916 Das erste Jahr ganz ohne Peter. Dass es viel<br />
Tränen und Schmerz gebracht hat ist klar. Was hat es Gutes<br />
gebracht? Haben wir erfahren, dass Gott "nie mehr nimmt<br />
als er gibt"? Sind wir besser, wesentlicher geworden? Vor<br />
einem Jahr schrieb ich, dass ich Dein Vermächtnis erkennen<br />
und ehren wollte. Was sei das? Den beiden nächsten<br />
Menschen alles zu geben was ich könnte. Ja, der Karl und<br />
ich wir sind auf eine neue Weise aneinandergefügt, auf eine<br />
feste unzerreißbare. Das empfinde ich immer mehr. Den<br />
Hans lieb ich.<br />
Deutschland so zu lieben auf meine Weise wie Du es tatest<br />
auf Deine: da liegen Zweifel. Deine Stellung zum Kriege<br />
wollte ich zu meiner machen. Meine Stellung zu ihm ist<br />
immer noch keine einheitliche.<br />
14. Januar 1916 Ich denke mir Peter wäre blind und läge<br />
auf seinem Bett. Ich stehe am Fenster und sehe den Abendhimmel.<br />
Er fragt mich wie die Wolken aussehn und ich<br />
beschreibe ihm alles. Und er sieht die Wolken mit seinem<br />
innern Auge und sagt mit ernstem Gesicht und ernster<br />
Stimme: "Schön!"<br />
17. Januar 1916 Wo sind nun meine Kinder? Was bleibt<br />
eigentlich der Mutter? Ein Junge rechts und einer links,<br />
mein rechter Sohn und mein linker wie sie sich nannten.<br />
Einer tot und einer so fern und ich kann ihm nicht helfen,<br />
kann ihm nicht von mir abgeben. Das ist alles verändert<br />
für immer. Verändert und ich bin ärmer geworden. Mein<br />
ganzes Mutterleben liegt eigentlich schon hinter mir. Ich<br />
habe oft eine fürchterliche Sehnsucht danach zurück<br />
Kinder - meine Jungen - zu haben, einer rechts und einer<br />
links, mit ihnen zu tanzen wie früher wenn der Frühling<br />
kam und Peter mit Blumen kam und wir einen Frühlingstanz<br />
machten.<br />
10. Mai 1916 Heut nacht wieder vom Peter geträumt. Ich<br />
träumte, er stände vor mir und halb war es der Hans und<br />
halb der Peter. Ich fasste ihn um den Leib, der ganz schlank<br />
war wie von einem Kind. Ich fasste ihn mit beiden Armen<br />
und er bog den Oberkörper etwas zurück. Ich weinte und<br />
fragte ihn nach den Tagen in Flandern und wie es war als er<br />
starb. Er war so sanft lind still und lächelte.<br />
8. Juli 1916 Jetzt bin ich 49 Jahre alt (...) Peter: Es ist<br />
anders geworden. Schmerz und Sehnsucht sind schwächer<br />
geworden. Aber nun die Gefahr wieder ganz so wie früher<br />
zu werden. Ich hab geglaubt der Schmerz würde bleiben<br />
oder wenn er nicht bliebe, so würde er wenigstens mich<br />
umwandeln. Ich hab auch geglaubt, dieses eine würde alles<br />
52 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Schlimme was noch kommen könnte in sich verschlingen,<br />
es gäbe außer Hansens Tod nichts mehr was mich schreckte,<br />
ich wäre "frei". Jetzt häng ich an Hans an Karl an der Arbeit.<br />
Ich wünsch dass die leben bleiben und dass ich die Arbeit zu<br />
Ende bringen kann. Das wünsche ich so sehr.<br />
Der Peter steht dahinter. Peter!<br />
Ich fühl mich älter und schwächer geworden. Wenn ich<br />
meinen Körper seh, mein welkes Gesicht, meine alten<br />
Hände, dann werd ich mutlos. Wie soll ein solcher Mensch<br />
noch soviel leisten wie ich noch leisten will? Schmerz und<br />
Sehnsucht fressen an der Kraft.<br />
15. August 1916 Es ist dürr in mir. Peters Bild ist nicht mehr<br />
so allgegenwärtig und so lebendig. Und empfinde ich ihn<br />
nicht, so kommt mir der Tag nicht richtig verbracht vor.<br />
Werde ich lebhaft an ihn durch etwas erinnert, so kommt<br />
der Schmerz wieder, aber dieses Hervorbrechen des Schmerzes<br />
in einer Zeit, die im übrigen mit anderem ausgefüllt ist,<br />
hat etwas, wovon ich wieder das Empfinden habe, es ist<br />
nicht mehr innerste Notwendigkeit. Früher lebte ich im<br />
Peter, immer war er um mich, alles alles erinnerte mich an<br />
ihn. Da war ich eins [mit ihm]. Aber jetzt lebe ich mein altes<br />
Leben und bin nicht mehr so ständig mit ihm. Der Schmerz<br />
wird einem wirklich entwunden mit der Zeit - für so<br />
unmöglich man es zuerst hält.<br />
22. August 1916 Stillstand in der Arbeit. Wenn ich so dürr<br />
fühle sehne ich mich schon fast nach dem Schmerz zurück.<br />
Und wenn er wieder kommt, dann fühle ich wie er körperlich<br />
alle Kraft nimmt, die zur Arbeit nötig ist.<br />
Eine Zeichnung gemacht: die Mutter, die ihren toten Sohn in<br />
die Arme gleiten lässt. Ich könnte 100 solche Blätter machen<br />
und doch komme ich ihm so nicht näher. Ich suche ihn. Als<br />
ob ich ihn in der Arbeit finden müsste. Und doch ist alles was<br />
ich machen kann so kindisch schwach und ungenügend. Ich<br />
fühle dunkel, dass ich das heben könnte, dass in der Arbeit<br />
der Peter liegt und ich ihn finden könnte. Aber zugleich das<br />
Empfinden: ich kann es nicht mehr. Ich bin zu zerstört,<br />
zerweint, geschwächt.<br />
27. August 1916 Nun dauert der Krieg zwei Jahre und<br />
5 Millionen junge Männer sind tot und mehr als noch mal<br />
so viele Millionen Menschen sind unglücklich geworden<br />
und zerstört. Gibt es noch irgend etwas was das rechtfertigt?<br />
11. Oktober 1916 Peter, Erich, Richard, alle stellten ihr<br />
Leben unter die Idee der Vaterlandsliebe. Dasselbe taten die<br />
englischen, die russischen, die französischen Jünglinge.<br />
Die Folge war das Rasen gegeneinander, die Verarmung<br />
Europas am Allerschönsten. Ist also die Jugend in all<br />
diesen Ländern betrogen worden? Hat man ihre<br />
Fähigkeit zur Hingabe benutzt um den Krieg<br />
zustande zu bringen? Wo sind die Schuldigen? Gibt<br />
es die? Sind alles Betrogene?<br />
12. Oktober 1916 Heut vor zwei Jahren.<br />
Weihnachten 1916 Dann zu Hause mach ich<br />
Peters kleinen Baum zurecht. Er steht wie in<br />
den beiden verflossenen Jahren hinter seinem<br />
Bett, 20 kleine Wachskerzen, 20 kurze Jahre,<br />
brennen ab.<br />
Thomas Röbke war tief bewegt<br />
von der spürbaren Trauer der Käthe<br />
Kollwitz. Und er war fasziniert. wie<br />
sich ihre Haltung zu Heldentod und<br />
Vaterland wandelte.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 53
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Der Wahnsinn<br />
des Krieges<br />
Nach Granatangriffen zittern Tausende von Soldaten<br />
am ganzen Leib, manche verlieren den Verstand.<br />
Die Psychiater halten sie für Feiglinge und greifen<br />
zu brutalen Methoden - bis hin zur Folter<br />
54 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Von Dirk Liesemer<br />
Anfang 1916 besucht Alexander Range seine Eltern<br />
und Geschwister in Düsseldorf. Seit zwei Jahren<br />
ist er Soldat und als Maschinengewehrschütze<br />
an der Westfront eingeteilt. Die Familie erlebt<br />
einen ungewöhnlich nervösen Sohn und beginnt,<br />
sich zu sorgen - war Alexander doch immer ein "gesunder,<br />
ruhiger, kräftiger Bursche", wie der Vater später der Psychiatrischen<br />
Klinik Heidelberg mitteilen wird.<br />
Doch die eigentliche Katastrophe geschieht erst in den<br />
Monaten nach dem Heimaturlaub. Range muss an die Front<br />
zurück und wird bei einem Angriff verschüttet. Er bleibt<br />
körperlich fast unverletzt. Aber er zittert fortan und wird<br />
ins Reservelazarett Villingen im Schwarzwald gebracht. An<br />
welchem Tag er das berüchtigte Lazarett erreicht, was dort<br />
geschieht und wie lange er vor Ort bleibt, wird er vergessen.<br />
Es lässt sich nur aus anderen Berichten ableiten. Vielleicht<br />
war er zuvor auch nicht in Villingen, sondern in Hornberg<br />
oder Triberg. "Bei der Erwähnung dieser Lazarette zeigt sich<br />
ein ganz besonderer Affekt, der sonst nie bei ihm hervortritt",<br />
heißt es im Arztbericht, der in Heidelberg verfasst wird. Es<br />
bedeutet, dass der Gefreite Range weint.<br />
Tausende von Soldaten werden wie Range an der Front<br />
verschüttet. Sie können kurzzeitig nicht mehr atmen, wähnen<br />
sich schon tot, als sie im letzten Moment wieder Luft<br />
bekommen. Fortan zittern sie, krampfen, erbrechen sich,<br />
nässen ein, verstummen, werden irre. "So schor sich ein<br />
Soldat ein Kreuz ins Haupthaar, um angeblich gegen Fliegerbomben<br />
gesichert zu sein", berichtet ein Mediziner. "Ein<br />
anderer brachte bei der Aufnahme einen Frosch an der Leine<br />
mit und sagte, das sei ein Bär. Einige tranken Tinte und<br />
erklärten dieselbe für guten Wein."<br />
Laut Heeressanitätsbericht leiden 613047 Soldaten im<br />
Ersten Weltkrieg an einer Form von Nervenkrankheit. Oft ist<br />
es nur ein Reizmagen. Oft aber auch unkontrolliertes Zittern.<br />
"Das Gros" der Verschüttungskranken, so notiert der beratende<br />
Chirurg des VII. Armeekorps an der Westfront, Fritz<br />
F. O. Kayser, stellten "die ,Nervenversager"'. Er beobachtet<br />
"Lidflattern, örtliche und den ganzen Körper ergreifende<br />
Zitterbewegungen, in schweren Fällen außerdem Krämpfe,<br />
Lähmungen eines oder mehrerer Glieder mit oder ohne<br />
Gefühlslähmung, Reizzustände einer Körperhälfte oder<br />
bestimmter Muskelgruppen, Blasenstörungen". Medizinhistoriker<br />
gehen von 200000 Kriegsneurotikern aus, allein<br />
für das Deutsche Reich.<br />
In den Lazaretten hinter der Front arbeiten nicht nur Chirurgen<br />
und Anästhesisten, sondern auch Psychiater. Anders<br />
als ihre medizinischen Kollegen suchen die Seelenärzte noch<br />
nach Diagnosen und Therapien. Nie zuvor hat es Kriegszitterer<br />
gegeben. Erst der Stellungskrieg bringt dieses Krankheitsbild<br />
hervor. Die Soldaten können nicht vor, nicht zurück. Sie<br />
56 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 57
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Teufelsgerät<br />
Mit ElektrosChocks den Granatenschock<br />
auszutreiben fällt nicht nur<br />
den Deutschen ein. Auch die britische<br />
Armee behandelt die seelischen<br />
Qualen von rund 80000 Soldaten<br />
mit Strom. Hier kommt buchstäblich<br />
ein elektrischer Stuhl zum Einsatz,<br />
der sogenannte "Bergonic Chair"<br />
sind Gefangene der Gräben und müssen ihren menschlichen<br />
Fluchtinstinkt unterdrücken. Wie ein Virus scheint sich die<br />
Krankheit von Soldat zu Soldat auszubreiten. Ganze Kompanien<br />
fallen aus. Weil es keine äußerlichen Verletzungen gibt,<br />
gehen bald immer mehr Mediziner von einer Willensschwäche<br />
aus. Noch ist das Gehirn kaum erforscht.<br />
Es gilt daher, die Patienten zu disziplinieren. Sie werden<br />
in Dunkelzimmer eingesperrt, teils wochenlang. Oder müssen<br />
feuchtkalte Dauerbäder ertragen, wohlwissend, dass diese<br />
erst bei Symptomfreiheit beendet werden. Es gibt auch<br />
Röntgenbestrahlungen und Scheinoperationen unter Äthernarkose.<br />
Verstummten Soldaten soll mithilfe einer Sonde<br />
geholfen werden, die in die Kehle eingeführt wird. Wenn sich<br />
der Kehlkopf dann plötzlich schließt, gerät der Patient in<br />
Erstickungspanik - und stößt reflexartig einen Schrei aus.<br />
Die Mediziner deuten dies als eine Form des Sprechens und<br />
erklären den Patienten für geheilt.<br />
Zwar hat das Kriegsministerium angeordnet, dass sich ein<br />
Soldat mit gefährlichen Methoden einverstanden erklären<br />
muss. Doch Ferdinand Kehrer etwa, Ordinarius an der Psychiatrischen<br />
Universitätsklinik von Freiburg, meint: "Ich kann<br />
angesichts dieser Entscheidung aber auch rein ärztlich keine<br />
Gründe mehr erkennen, die es uns nahelegen könnten, die<br />
Einwilligung des Kranken zu einer bestimmten Kur einzuholen."<br />
Es entspreche "nicht der Schwere des geschichtlichen<br />
Augenblicks, die Wahl der Methode von ästhetischer Weichfühligkeit<br />
oder pseudomoralischer Bedenklichkeit abhängig<br />
zu machen". Mitte September 1916 treffen sich die deutschen<br />
Kriegspsychiater zu einer Tagung. Nur wenige sind noch<br />
überzeugt, dass es eine körperliche Ursache, etwa an den<br />
Nervenbahnen, gebe. Am Ende setzt sich die Meinung des<br />
Tübinger Ordinarius für Psychiatrie, Robert Gaupp, durch. Er<br />
hält Kriegszinerer für willensschwache Simulanten, die ihr<br />
Leben mehr schätzten als das Vaterland. Wie ein trotziges<br />
Kind müsse der Patient mit strenger Hand behandelt werden.<br />
Wohl in jenen Spätsommertagen wird der Maschinengewehrschütze<br />
Alexander Range im Starkstromlazarett behandelt.<br />
Die Therapie wird erstmals 1916 beschrieben; schon<br />
bald gibt es Todesfälle. Für manche Therapeuten ist das Verfahren<br />
so alltäglich, dass sie "sich noch in der Erinnerung<br />
daran zu langweilen" beginnen, wie der Psychiater Ernst<br />
Kretschmer sagt. Sein Kollege Hans-Werner Gruhle beschreibt<br />
58 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Die Traumatisierten sind trotzige Kinder, glaubt ein<br />
Psychiater und foltert sie mit Strom. Es gibt Tote<br />
den Verlauf einerTherapiesitzung. Meist trägt der Seelenarzt<br />
eine militärärztliche Uniform. Nach einer flüchtigen Untersuchung<br />
ziehen sich die Patienten aus. Damit wird das Gefühl<br />
des Ausgeliefertseins gesteigert. Während sich der Zitterer<br />
auf einen Behandlungstisch legt, prophezeit der Arzt: "Ich<br />
sehe, dass Sie in einer, höchstens in zwei Sitzungen vollkommen<br />
zu heilen sind. Ich werde Sie jetzt elektrisieren. Die Ströme<br />
sind sehr schmerzhaft." Aber gegen ein solch gewaltiges<br />
Erlebnis wie eine Verschüttung helfe nur ein gewaltiges Heilmittel.<br />
Vier Gehilfen halten den Patienten fest. Ein Assistent<br />
heftet ihm eine große Elektrode auf die Brust, schaltet den<br />
Wechselstrom ein und streicht mit einer weiteren Elektrode<br />
die Schenkel entlang. Der Patient schreit, die Stromintervalle<br />
werden stärker, er brüllt und strampelt. Der Strom soll helfen,<br />
dass der Zitterer wieder seine Beine zu gebrauchen lernt.<br />
Nach drei Minuten wird der Strom abgestellt. Der Arzt<br />
bellt Befehle wie ein General, der Patient muss gehorchen: In<br />
die Hocke! Auf die Zehenspitzen! Marschieren! Wenn der<br />
Soldat nicht pariert, wird er von den Assistenten wieder aufs<br />
Behandlungsbett gewuchtet. Bis zu viermal wiederholt sich<br />
die Tortur. In den Pausen ruft der Arzt seinen Assistenten zu:<br />
"Sehen Sie, wie gut er schon steht, jetzt hebt er das rechte<br />
Bein schon ganz hoch." Der Patient schwitzt, ist erschöpft<br />
und humpelt schließlich aus dem Zimmer. Sicher hoffe er,<br />
dass keine zweite Sitzung nötig werde. "Und sie wurde selten<br />
nötig." Allein die Drohung fördere die Genesung.<br />
Heutigen Schätzungen zufolge wurden wohl Zehntausende<br />
Patienten mit Wechselstrom, Röntgenstrahlen und Zwangsexerzieren<br />
traktiert. Die Posttraumatische Belastungsstörung<br />
(PTBS), unter der die Kriegszitterer in Wahrheit litten, wurde<br />
erst 1980 offiziell als Krankheit anerkannt. Dazu waren allerdings<br />
noch mehrere Kriege nötig. Im Zweiten Weltkrieg<br />
nahm man zumindest die Möglichkeit einer seelischen Verwundung<br />
in Betracht. Aber erst die Veteranen des Vietnamkriegs<br />
sprachen öffentlich über ihre Not und bewirkten in<br />
Gesellschaft und Ärzteschaft ein Umdenken.<br />
M<br />
onate nach seinem Aufenthalt im Lazarett klingelt<br />
Alexander Range bei seinen Eltern in Düsseldorf.<br />
Eigentlich ist er nur auf der Durchreise zu einer<br />
Kaserne in Minden, wohin er verlegt worden ist. Ohne Geld<br />
und Essen steht er vor dem Haus. Er humpelt am Stock, seine<br />
Hände zittern. Jedes Geräusch, so notiert der Vater, selbst ein<br />
zu Boden fallender Bleistift, schreckt den Sohn auf. Im Dunkeln<br />
hat er Angst, zum Klosett zu gehen. Nachts wälzt er sich<br />
im Bett, tagsüber schimpft er auf die Geschwister.<br />
Seinen Eltern erzählt er, dass er in einem Lazarett war.<br />
Mehr nicht. "Ich war sehr erstaunt, dass das Lazarett ihn in<br />
einem solchen Zustand, noch dazu ohne Mittel, entlassen<br />
hatte", berichtet der Vater. Als sich der Sohn nach Minden<br />
aufmacht, redet der Vater eindringlich auf ihn ein, einen Arzt<br />
zu konsultieren. An der Kaserne wird er festgenommen. Vermutlich<br />
hatte er sich unerlaubt von der Truppe entfernt oder<br />
war fahnenflüchtig. Papiere hat er keine bei sich.<br />
Im Sommer 1918 erhalten die Eltern plötzlich einen Brief<br />
eines Kameraden: Alexander Range liege im Heidelberger<br />
Reservelazarett XVI, einer psychiatrischen Klinik. Der Vater<br />
schreibt dem Krankenhaus: "Da mein Sohn den Brief weder<br />
selbst geschrieben noch diktiert hat, was ich aus dem Stil entnehme,<br />
muss ich annehmen, dass derselbe körperlich und<br />
geistig ganz zusammengebrochen ist. Dieserhalb sind wir,<br />
hauptsächlich seine kranke Mutter, sehr in Unruhe."<br />
Seit dem Abend des 9. Juni liegt Range in der Klinik. Laut<br />
Arztbericht wurde er vom Bahnhof "auf der Bahre getragen"<br />
und mit "starkem Schüttelzittern des ganzen Körpers" aufgenommen.<br />
Diagnose: "Hysterie (Schüttelzittern, Gangstörung,<br />
Sprachstörung, Pseudodemenz)". Auf Fragen antwortet er<br />
immerzu "weiß nicht", aber er mache "die Zeichen des energischen<br />
Besinnens". Range erhält ein Einzelzimmer und ist<br />
"isoliert mit der Suggestion, dass er Ruhe haben müsse".<br />
Immer noch gibt es Ärzte, die behutsam therapieren: Sie verordnen<br />
Erholung in einem Krankenhaus fernab der Front.<br />
Knapp eine Woche später, am 15. Juni, hat das Zittern<br />
"erheblich" nachgelassen. Alexander Range erinnert sich an<br />
den Namen des Vaters, seinen Geburtsort und Beruf. Er ist<br />
Kaufmann. In den kommenden zwei Wochen verbessert sich<br />
die Gesundheit. "Immer noch Schüttelzittern, insbesondere der<br />
Beine und des Kopfes, aber bei Weitem nicht mehr so stark<br />
wie anfangs. Hinkender Gang. Sprechweise stoßend, polternd,<br />
gelegentlich auch stammelnd. Schmerzempfindlichkeit an<br />
der ganzen Körperoberfläche vollständig aufgehoben."<br />
Tag für Tag kommen die Erinnerungen zurück. Er trat als<br />
Kriegsfreiwilliger ins Heer ein, wurde verschüttet und in ein<br />
Starkstromlazarett gebracht. Am 3. Juli, knapp einen Monat<br />
nach seiner Aufnahme, wird er von Heidelberg nach Triberg<br />
verlegt. Dann endet die Krankenakte, und seine Spuren verlieren<br />
sich.<br />
Der Reichstag beschäftigt sich seit dem 11. Juni 1918 mit<br />
dem Starkstromlazarett Villingen. Immer wieder sind Misshandlungen<br />
bekannt geworden. Eine Kommission soll die<br />
Vorfälle untersuchen. Nach dem Krieg verklagen einzelne<br />
Patienten ihre früheren Kriegspsychiater wegen körperlicher<br />
und seelischer Qualen. Erfolglos. Nur in Österreich werden<br />
Ärzte von Gerichten für schuldig befunden.<br />
Dirk Liesemer. der seinen Zivildienst in einer<br />
Psychiatrie absolvierte. stieß vor zwei Jahren auf das<br />
Thema - durch den Fachaufsatz eines Medizinhistorikers.<br />
Obwohl einst Zehntausende Soldaten betroffen<br />
waren, ist es der Öffentlichkeit kaum bekannt.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 59
DIE DEUTSCHEN 1916
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Von Hauke Friederichs<br />
Der Krieg läuft seit mehr als anderthalb Jahren,<br />
ein Sieg wirkt fern wie nie, und in Berlin begehren<br />
am 1. Mai 1916 unzufriedene Sozialdemokraten<br />
und Sozialisten auf. Tausende Menschen<br />
marschieren aus allen Richtungen auf den Potsdamer<br />
Platz zu. Ein öffentlicher Protest, eine verbotene<br />
Demonstration, ein Affront gegen Kaiser und Regierung!<br />
Zahlreiche Polizisten sollen in der Hauptstadt einen Aufruhr<br />
verhindern und jede Versammlung unterbinden. Sie haben<br />
mit einigen wenigen Hundert Menschen gerechnet, nicht mit<br />
solchen Massen. Zunächst weichen die Polizisten einem Konflikt<br />
aus, sie warten ab, stellen sich der Menge nicht in den<br />
Weg.<br />
Die Demonstranten wollen die Rede eines bekannten,<br />
aber umstrittenen Politikers hören: Karl Liebknecht will vor<br />
dem Hotel Fürstenhof sprechen, so haben sich seine Anhänger<br />
seit Tagen zugeflüstert. Seine Unterstützer haben mit<br />
Mund-zu-Mund-Propaganda, mit heimlich verteilten Flugblättern<br />
für seine Friedenskundgebung auf dem Potsdamer<br />
Platz geworben. Liebknecht wolle mit einem Apell gegen den<br />
Krieg die Bevölkerung aufrütteln, heißt es. "Brot, Freiheit,<br />
Frieden" lautet seine Parole. Eine Provokation. Allen Kriegsgegnern<br />
ist bewusst, wie ungeheuerlich - und wie gefährlich<br />
- es ist, an der Versammlung im Zentrum der Hauptstadt<br />
teilzunehmen.<br />
Denn Proteste schlägt die Polizei häufig mit dem blanken<br />
Säbel nieder. Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />
gibt es während des Krieges im wilhelminischen Deutschland<br />
nicht. Es herrscht "Belagerungszustand", Generäle sind<br />
für die "Innere Sicherheit" zuständig: Sie verteidigen Monarch<br />
und Armee gegen jegliche Kritik mit brutaler Gewalt.<br />
Doch immer weniger Menschen lassen sich so einschüchtern.<br />
Seit anderthalb Monaten, seit dem 21. Februar, sterben<br />
Abertausende Soldaten in den Kämpfen um Verdun. Einen<br />
Durchbruch hat das Gemetzel nicht gebracht. An einen Sieg<br />
glauben immer weniger. Jeder Deutsche hat Verwandte,<br />
Freunde oder Bekannte an der Front verloren. Die Kriegsbegeisterung<br />
ist verflogen. Gleichzeitig sorgt die Seeblockade<br />
der Briten gegen Deutschland für Hunger im Reich: Aus dem<br />
Ausland kommen 1916 kaum noch Lieferungen in den deutschen<br />
Häfen an. Frauen, Kinder und die wenigen Männer, die<br />
nicht im Krieg sind, stehen in langen Schlangen vor Geschäften<br />
und Marktständen an. Die Regierung rationiert Brot,<br />
Mehl, Kartoffeln und Fleisch. Und Butter und Milch verkaufen<br />
Händler und Bauern zu unerschwinglich teuren Preisen.<br />
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung nimmt zu. Liebknecht,<br />
der bekannteste Kriegsgegner im Reich, spürt wachsende<br />
Sympathie für seine radikale Friedenspolitik. Im Reichstag<br />
darf er nur selten reden, seine Schriften verbietet die Zensurbehörde.<br />
Mit seiner Kundgebung will er endlich eine große<br />
Menge erreichen. Und genau das versucht die Polizei zu<br />
verhindern.<br />
Als immer mehr Demonstranten auf dem Potsdamer Platz<br />
ankommen, gehen Schutzleute schließlich doch gegen die<br />
Menge vor. Noch bevor die Polizei den Platz mit Gewalt<br />
räumt, ruft Kar! Liebknecht: "Nieder mit dem Krieg! Nieder<br />
mit der Regierung!" Nun greifen die Polizisten hart durch.<br />
Bevor Liebknecht weiterreden kann, zerren ihn Schutzleute<br />
weg, nehmen ihn fest. Liebknecht, Abgeordneter des Reichstags,<br />
Rechtsanwalt und dreifacherVater, wird wie ein Verbrecher<br />
abgeführt und in eine Zelle gesperrt.<br />
Revoltieren und Aufbegehren gegen die Mächtigen, das<br />
hatte Karl Liebknecht von seinem Vater Wilhelm gelernt. Dieser<br />
kämpfte schon im Revolutionsjahr 1848 gegen die Monarchie.<br />
Er gehörte später zu den Gründern der SPD, wurde<br />
mehrfach wegen seines politischen Engagements eingesperrt<br />
- eine Folge der Sozialistenverfolgung im Kaiserreich.<br />
Kar! kam am 13. August 1871 zur Welt. Zehn Monate nach<br />
der Geburt verurteilte ein Gericht Wilhelm Liebknecht wegen<br />
Hochverrats zu zwei Jahren Haft. Die aufrechte Haltung<br />
seines Vaters war für Kar! immer ein Vorbild. Als Gymnasiast<br />
und Student hielt er sich politisch noch zurück. Als der Vater<br />
1900 starb, war Kar! Liebknecht promovierter Rechtsanwalt<br />
in Berlin mit eigener Kanzlei. Nun allerdings begann er sich<br />
in der SPD zu engagieren. 1907 musste Karl Liebknecht für<br />
eineinhalb Jahre ins Gefängnis, weil er in seiner Schrift<br />
"Militarismus und Antimilitarismus" die Armee angegriffen<br />
hatte. Noch während er eingesperrt war, entsendeten ihn die<br />
Wähler 1908 in das preußische Abgeordnetenhaus. Vier Jahre<br />
später zog er dann zusätzlich in den Reichstag ein.<br />
Liebknecht lehnte den Krieg ab. Dennoch stimmte er am<br />
4. August im Parlament für die ersten Kriegskredite - gegen<br />
seine Überzeugung. Schließlich wurde so der von ihm abgelehnte<br />
Angriff auf Frankreich finanziert. Doch Liebknecht<br />
beugte sich dem Fraktionszwang: Seine SPD hatte mit Kaiser<br />
und Konservativen jenen Kompromiss geschlossen, der als<br />
"Burgfrieden" in die Geschichte einging.<br />
Viele sozialdemokratische Arbeiter allerdings waren gegen<br />
den Krieg. So demonstrierten in Hamburg kurz vor der<br />
Abstimmung im Reichstag Tausende Arbeiter für den Frieden.<br />
Für sie wollte Liebknecht nun sprechen. Für ihn war der<br />
Burgfrieden vier Monate nach dem ersten Kriegskredit erledigt.<br />
Am 2. Dezember lehnte er im Reichstag als einziger<br />
Abgeordneter ab, weiteres Geld für Armee und Rüstung<br />
Proteste gegen Monarch und Militär schlagen Polizisten<br />
mit blankem Säbel nieder. Demonstrieren ist gefährlich<br />
62 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
ereitzustellen. Eine Kriegserklärung an die Konservativenund<br />
an die eigene Parteiführung. Berlins Polizeipräsident<br />
nannte den Sozialisten "einen fanatischen Sonderling".<br />
Liebknecht gegen alle - das war eine Rolle, die ihm gefiel.<br />
Im März 1915 veröffentlichte er die Broschüre "Klassenkampf<br />
gegen den Krieg". Um die Zensur zu umgehen, hatte er<br />
vorher nicht die nötige Erlaubnis der Behörden eingeholt. In<br />
seiner Streitschrift bestritt er, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg<br />
führe. Und er kritisierte seine eigene Parteiführung<br />
für ihr striktes Vorgehen gegen Kritiker wie ihn. Wie<br />
hoch die Auflage der kleinen Schrift war, ist heute unbekannt.<br />
In Parteikreisen sorgte die Broschüre zumindest für<br />
großes Aufsehen. Liebknecht galt nun im SPD-Vorstand als<br />
Parteirebell, der nicht mehr zu kontrollieren war. Für die<br />
Konservativen stellte er das Feindbild schlechthin dar. Er bekam<br />
Morddrohungen.<br />
Einschüchtern aber ließ er sich nicht. Knapp zwei Monate<br />
später wurde Liebknecht noch deutlicher. Ein Flugblatt überschrieb<br />
er so: "Der Hauptfeind steht im eigenen Land." Darin<br />
heißt es: "Wir haben erlebt, wie die schillernden Seifenblasen<br />
der Demagogie zerplatzten, die Narrenträume des 4. Augusts<br />
verflogen, wie statt des Glücks Elend und Jammer über das<br />
Volk kamen (...)." Liebknecht forderte seine Leser auf, nicht<br />
gegen die Proletarier anderer Länder zu kämpfen, sondern<br />
gegen die wahren Feinde ins Feld zu ziehen, nämlich gegen<br />
die Verursacher des Krieges - Kapitalisten, Monarchisten,<br />
Militaristen.<br />
S<br />
olche Provokationen konnten nicht ungestraft bleiben.<br />
Schließlich verbreiteten die Verantwortlichen in Politik<br />
und Armee ganz andere Parolen: "Ein fauler Friede<br />
würde die Revolution in Deutschland nach sich ziehen", sagte<br />
der bayrische Ministerpräsident. Und stellvertretend für die<br />
Industriellen im Reich formulierte der Unternehmer Alfred<br />
Hugenberg seine Furcht: "Die Arbeiter, die aus dem Kriege<br />
zurückkommen, werden mit großen Ansprüchen an die<br />
Arbeitgeber herantreten (...)." Dann könnte ein fürchterlicher<br />
Kampf ausbrechen, "der die größten Schäden im<br />
Gefolge haben wird". Ein rascher Frieden war nicht im Sinn<br />
der Regierenden und der Industrie. Sie mussten Liebknecht<br />
in die Schranken weisen.<br />
Und so zog die Armee Liebknecht, 43 Jahre alt, ein. Im<br />
Februar 1915 musste er einen Dienst antreten und kam nach<br />
Russland. Er weigerte sich, eine Waffe zu tragen. Als Armierungssoldat<br />
baute er hinter der Front Befestigungen auf und<br />
legte Gräben an. In Briefen klagte er über die harte Arbeit.<br />
"Nun bin ich auch in Russland, ohne Dich! Aber unter welchen<br />
grauenhaften Umständen", schrieb Karl Liebknecht am<br />
9. Juli 1915 an seine Frau. "Ich kann meine moralische Lage<br />
nicht schildern. Willenloses Werkzeug einer mir in der tiefsten<br />
Seele verhassten Macht."<br />
Noch härter trafen ihn aber die zahlreichen Verbote, mit<br />
denen ihn seine Vorgesetzten belegten. Denn Liebknecht unterstand<br />
der Militärgesetzgebung. Jegliches politisches Engagement<br />
untersagte ihm die Generalität, an Veranstaltungen<br />
teilnehmen durfte er nicht mehr, keine Reden halten, keine<br />
Kämpfer gegen den Krieg<br />
1915 zieht die kaiserliche Armee den Pazifisten Karl Liebknecht<br />
ein. Er kommt an die Ostfront, weigert sich dort<br />
aber, eine Waffe zu tragen. Er muss als Armierungssoldat<br />
Gräben ausheben und Befestigungen bauen (Bild oben in<br />
der Mitte). Seine politischen Weggefährten wie Rosa<br />
Luxemburg (unten) bleiben in Berlin zurück. Sie setzen<br />
seinen Kampf für Frieden fort<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 63
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Jugendliche verteilen die verbotenen Schriften<br />
von Karl Liebknecht. Seine Parolen breiten sich aus<br />
Schriften verfassen. Und das, obwohl er Abgeordneter blieb.<br />
Ein Politiker, der in den Reichstag gewählt worden war, sollte<br />
sich nicht mehr politisch betätigen. Zu den Parlamentssitzungen<br />
wurde er dennoch von der Front beurlaubt. Ein absurdes<br />
und zynisches Spiel.<br />
Die SPD distanzierte sich derweil immer weiter von Liebknecht.<br />
Am 12. Januar 1916 schloss die Reichstagsfraktion den<br />
Kriegsgegner aus ihren Reihen aus, mit 60 zu 25 Stimmen.<br />
Liebknecht galt bei vielen sozialdemokratischen Mitabgeordneten<br />
als ewiger Querulant. Auch ohne seine Fraktion machte<br />
er weiter. Er bekam Unterstützung von anderen enttäuschten<br />
Sozialdemokraten wie Rosa Luxemburg, einer Intellektuellen,<br />
die auf der SPD-Parteischule unterrichtet hatte. Gemeinsam<br />
gründen sie 1916 die sozialistische "Spartakusgruppe".<br />
Am 8. April hielt Liebknecht im Reichstag eine Rede gegen<br />
den Krieg. Doch viel sagen konnte er nicht. Mehrere Abgeordnete<br />
stürmten nach vorn ans Rednerpult. Sie entrissen<br />
ihm seine Manuskriptblätter und warfen sie zu Boden. Statt<br />
die Angreifer zu rügen, verweist der Präsident Liebknecht<br />
"wegen gröblicher Verletzung<br />
Liebknechts Parolen erreichen immer mehr Menschen -<br />
nicht nur in Berlin. In Hamburg richten Frauen am 11. August<br />
1916 einen Appell an den Senat: "Wir wollen unsere Männer<br />
und Söhne aus dem Krieg wiederhaben und wollen nicht<br />
länger noch hungern - es muss Frieden gemacht werden. Der<br />
hohe Senat muss uns darin beistehen, sonst machen wir was<br />
anderes."<br />
H<br />
tllr6eiter, C]3ürger!<br />
'Daß
Mord und Trauer<br />
Rechtsradikale Mitglieder<br />
eines Freikorps ermorden im<br />
Januar 1919 Karl Liebknecht<br />
und Rosa Luxemburg in<br />
Berlin. Schon zuvor waren<br />
die Sozialisten mit dem Tod<br />
bedroht worden (Flugblatt<br />
links). Tausende kommen zu<br />
ihrer Beerdigung in der<br />
Hauptstadt. Soldaten<br />
sperren das Regierungsviertel<br />
ab, um die neue sozialdemokratische<br />
Regierung zu<br />
schützen (Bild). Ihr werfen<br />
Linke vor, die Freikorps<br />
unterstützt zu haben<br />
Unruhe, die am 19. August in einer regelrechten Schlacht<br />
zwischen Demonstranten und Schutzmännern endet. Tausende<br />
Hamburger plündern Geschäfte und schlagen Schaufensterscheiben<br />
ein, entwenden Nahrungsmittel. Mit dem<br />
Säbel in der Hand treiben Polizisten immer wieder einzelne<br />
Gruppen auseinander, nehmen Menschen fest, verwunden<br />
einige schwer, den Aufstand beenden sie so nicht. Beamte<br />
werden mit Flaschen und Steinen beworfen. Die Hamburger<br />
Militärregierung setzt schließlich bewaffnete Soldaten ein,<br />
darunter die für ihre Brutalität berüchtigten Wandsbeker<br />
Husaren. Erst gegen Mitternacht haben sie die Proteste niedergeschlagen.<br />
K<br />
aiser und Generäle werden nervös. Sie fürchten eine<br />
Revolution und verhängen immer härtere Strafen gegen<br />
ihre Kritiker. Auch Liebknecht erhält in einer zweiten<br />
Instanz ein noch drakonischeres Urteil, denn diesmal<br />
richten fünf Offiziere und zwei Juristen über ihn. Sie erhöhen<br />
seine Haftzeit auf vier Jahre und einen Monat und entziehen<br />
ihm die bürgerlichen Ehrenrechte für sechs Jahre. Und wie<br />
reagiert der Angeklagte? Nach außen zeigt er sich unbeeindruckt.<br />
"Zuchthaus! Verlust der Ehrenrechte! Nun woh!!",<br />
ruft er. "Ihre Ehre ist nicht meine Ehre! Aber ich sage Ihnen:<br />
Kein General trug je seine Uniform mit so viel Ehre, wie ich<br />
den Zuchthauskittel tragen werde."<br />
Für unzufriedene Arbeiter, revoltierende Jugendliche und<br />
kriegsmüde Soldaten an der Front ist Liebknecht längst die<br />
Symbolfigur für den Widerstand gegen den Krieg. Die Urteile<br />
gegen Liebknecht empören Tausende Arbeiter und Jugendliche.<br />
In Leipzig erscheint ein Flugblatt, das die Strafe anprangert<br />
und die Militärs angreift. Nachts kleben Unbekannte<br />
es an zahlreiche Litfaßsäulen. Das Polizeiamt Leipzig setzt<br />
eine Belohnung von 50 Mark für denjenigen aus, der die Täter<br />
meldet. In Stuttgart protestieren rund 2000 Menschen für<br />
Liebknechts Freilassung. In Braunschweig streiken sogar bis<br />
zu 8000 Arbeiter zwei Tage lang. Auch in Hamburg fordern<br />
Menschen die Freilassung - und drohen Polizei und Militär.<br />
In einem anonymen Brief heißt es: "Das Blut der Arbeiter<br />
wird gerächt mit dem der Patrioten. Nieder mit den Lumpen<br />
von Polizisten (. ..), nieder mit dem Kaiser nebst Angehörigen,<br />
nieder mit den Kapitalisten, nieder mit den Wucherern, sie<br />
alle gehören zur Hölle." Das Schreiben endet mit "Hoch Liebknecht!<br />
Hoch die Republik."<br />
Nun kommt es in Städten wie Berlin, Braunschweig, Bremen<br />
oder Leipzig zu Hungerunruhen, Streiks und illegalen<br />
politischen Versammlungen. Sie werden bis zum Kriegsende<br />
andauern und schließlich in die Revolution münden.<br />
Im Gefängnis erfährt Liebknecht von den Demonstrationen.<br />
Er schickt unzählige Briefe an seine Frau und die Kinder,<br />
fordert sie auf, stark zu bleiben. Am 21. Oktober 1916 schreibt<br />
er: "Was sind vier Jahre! - Kopf hoch und das wichtigste wird<br />
zur Bagatelle." Er wird im Dezember in das Zuchthaus Luckau<br />
in der Niederlausitz verlegt. Dort bleibt er zweieinhalb Jahre<br />
eingesperrt. Erst am 23. Oktober 1918 kommt Liebknecht<br />
frei. Der Krieg ist verloren, der Kaiser hat seine Macht eingebüßt,<br />
erstmals gehören Sozialdemokraten zur Regierung.<br />
Nur wenige Wochen später ist Liebknecht tot, ermordet von<br />
rechtsradikalen Freikorpsmitgliedern, ehemaligen Soldaten,<br />
die gegen den Sozialismus kämpfen. Sie töten auch Rosa<br />
Luxemburg. Zu Liebknechts Beerdigung kommen Tausende<br />
Menschen, so viele, dass Eintrittskarten ausgegeben werden<br />
müssen. Seine Mörder spricht ein Gericht kurz darauf frei.<br />
Hauke Friederichs hat sich schon in seiner<br />
Magisterprüfung mit Anfang und Ende der Weimarer<br />
Republik beschäftigt. Wie interessant die Schriften<br />
von Karl Liebknecht sind. hat er erst jetzt bei der<br />
Recherche entdeckt.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 65
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Von Corinna Meiß<br />
Regen ohne Ende. Schlamm, so weit das Auge<br />
reicht. Der 26-jährige Erich Jacobs aus Magdeburg<br />
weiß, dass er bei jedem Schritt besonders aufpassen<br />
muss, zumal der Lehmboden im Lager nun<br />
extrem glitschig geworden ist. Seine Kleidung und<br />
die Stiefel wird er wieder nur mit Mühe trocknen können,<br />
denn in der Baracke, die seit mehr als vier Jahren sein Zuhause<br />
ist, steht sein Bett so weit vom Ofen entfernt, dass die Wärme<br />
nicht mehr bei ihm ankommt. Auf ihn wartet eine von<br />
vielen Nächten, in der er vor Kälte und Nässe schlecht schläft.<br />
Es tröstet ihn ein wenig, dass er mit seiner Not nicht allein ist:<br />
Er teilt sie mit mehr als 20000 deutschen Zivilgefangenen im<br />
Lager Knockaloe auf der Isle ofMan.<br />
Doch nach den endlosen Jahren der Hoffnungslosigkeit<br />
beginnt das Jahr 1919 für diese Männer mit einer Sensation:<br />
Sie dürfen packen. Ihre Freiheit rückt in greifbare Nähe, nach<br />
all den verlorenen Jahren, die sie hier Tag um Tag mit Nichtstun<br />
hinter Stacheldraht zubringen mussten. Es geht heim,<br />
nach Deutschland! Die Vorbereitungen der britischen Regierung<br />
für die Repatriierung der Häftlinge laufen bereits auf<br />
Hochtouren. Ein überbordender Freudentaumel reißt die<br />
mehr als 4500 Insassen in Jacobs' Lagerbereich aus ihrer<br />
Lethargie. Als der sich am 20. Januar 1919 daranmacht, seinem<br />
Vater davon zu schreiben, sprudelt die Freude nur so aus<br />
ihm heraus:<br />
"Wir packen, lieber Vater, weißt Du, was das heißt, 4,5 Jahre<br />
Warten auf diesen Augenblick. Alle, selbst die Schläfrigsten<br />
reißen die Knochen zusammen. Das eine schöne Wort gibt ihnen<br />
die Hoffnung wieder."<br />
Der Freude tut es auch keinen Abbruch, dass das Abreisedatum<br />
noch gar nicht feststeht.<br />
"Wann es los geht?, nun in einigen Tagen oder Wochen, was<br />
will das besagen. Begriffe für Zeit sind llns abhanden gekommen,<br />
es geht eben los, das ist genug. Jeder haspelt und bastelt<br />
sich seinen Kram und sieben Sachen Zllsammen. Es wird eifrig<br />
gewaschen, genäht, gebürstet, Koffer und Kisten von jahrelangem<br />
alten Staub gesäubert. Die unmöglichsten Nachrichten<br />
über unsere Abreise sind im Umlauf, alle Viertelstunde eine<br />
neue. Der Stacheldraht nimmt direkt schon eine andere Färbung<br />
an. Ich glaube, er sieht mich freundlicher an: bald geht's<br />
fort. Juchei, wie werd' ich sie grüßen die Freiheit, wie froh wird<br />
die Sonne lachen, wie werden sich die faulen Glieder recken und<br />
dehnen. Frei! Werde ich der Welt in die Ohren brüllen und<br />
lachen. Grüße mir Mutter und Käte, bald, bald tu ich das selbst<br />
und auch Dich mein lieber guter Vater kann ich bald herzen und<br />
drücken. Auf Wiedersehen, Dein Junge"<br />
Rückblende. London, davon träumt der junge ErichJacobs<br />
seit seiner Kindheit und wünscht sich nichts sehnlicher, als<br />
einmal dorthin zu reisen. Der Sohn wohlhabender Eltern -<br />
Vater Gustav gehört seit 1901 das bekannte Magdeburger<br />
Königin-Luise-Bad - kann sein Glück kaum fassen, als er 1911<br />
eine Anstellung im berühmten Londoner Grandhotel "Cecil"<br />
erhält. 1896 eröffnet, ist es mit seinen 800 Betten das größte<br />
Hotel Europas. Ein Prachtbau, der alle anderen Hotels in London<br />
in den Schatten stellt. Der 19-jährige Erich ist wissbegierig<br />
und saugt alles Neue in sich auf. Er folgt einem Trend:<br />
Deutsche sind in der britischen Tourismusbranche gern gesehen,<br />
sie gelten als solide ausgebildet und fremdsprachenkundig.<br />
1911 arbeiten allein in London 400 deutsche Kellner.<br />
Erich Jacobs lebt sich schnell ein. Und verliert sein Herz<br />
im "Cecil". Es ist Liebe auf den ersten Blick: Agnes, das hübsche<br />
Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, und Erich,<br />
der gut aussehende, gebildete junge Mann aus der deutschen<br />
Mittelschicht. Für Agnes ist diese Liebe eine große Chance,<br />
ihrer Herkunft zu entkommen. Dem kleinen Kaff in den östlichen<br />
Midlands, ihrer Großfamilie und vor allem dem ungeliebten<br />
Vater.<br />
Im Juli 1913 kommt die gemeinsame Tochter Queenie<br />
Elisabeth zur Welt. Das Glück der kleinen Familie scheint<br />
perfekt, auch wenn die Eltern vermutlich unverheiratet bleiben.<br />
Doch dann endet Jacobs' Vertrag im "Cecil". Er nimmt<br />
1914 eine Stellung als Steward auf dem Dampfer "Kronprinzessin<br />
Cecilie" der Hamburg-Amerika-Linie an, denn er<br />
muss dringend mehr Geld verdienen. Agnes ist zum zweiten<br />
Mal schwanger. Im April 1914 kehrt sie London den Rücken<br />
und zieht wieder zu ihren Eltern nach Oakham. Es fällt ihr<br />
schwer, aber sie glaubt fest, dass die Trennung von ihrem<br />
Erich nur vorübergehend ist. So blickt sie dem Ganzen gelassen<br />
entgegen. Dass sie den Vater ihrer Kinder nie wieder<br />
sehen wird, ahnt sie nicht.<br />
"Kriegsgefahr", lautet die besorgniserregende Nachricht,<br />
die Kapitän Rantzau am 31. Juli 1914 während der Überfahrt<br />
der "Kronprinzessin Cecilie" von New York nach Hamburg<br />
erhält. Mehrfach versucht er, mit der Reederei in Hamburg<br />
Kontakt aufzunehmen, um Instruktionen zu erhalten. Alle<br />
Telegramme bleiben unbeantwortet. An Bord sind außer den<br />
mehr als 170 Besatzungsmitgliedern Hunderte von Passagieren,<br />
darunter 300 Amerikaner. Als Deutschland am<br />
3. August 1914 Frankreich den Krieg erklärt, wird die Route<br />
entlang der französischen Küste zu gefährlich, und Rantzau<br />
entschließt sich, den neutralen englischen Hafen Falmouth<br />
anzusteuern. Ein Fehler. Als die "Kronprinzessin Cecilie"<br />
England ist ein Traum, der in Erfüllung geht. Um sich<br />
sehr rasch in einen Albtraum zu verwandeln<br />
68 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
Eine zu lange Reise<br />
Erich Jacobs heuert als Steward auf<br />
dem Überseedampfer "Kronprinzessin<br />
Cecilie" der Hamburg-Amerika-Linie<br />
an (oben). Doch statt<br />
zwischen Hamburg und New York zu<br />
fahren, landet er im englischen Lager<br />
Knockaloe. Der Weltenbummler wird<br />
zum Gefangenen der Briten. Rechts:<br />
Der Hafen von Falmouth erweist sich<br />
als Falle. Jacobs wird zuerst ins<br />
Armenhaus nach Saint Columb<br />
gebracht, dann ins Lager Cunningham,<br />
schließlich nach Knockaloe. Unten:<br />
ein Foto der Magdeburger Familie<br />
Jacobs von 1905. Erich Jacobs (2. v.l.)<br />
sitzt zwischen seinen Eltern, rechts<br />
ist seine Schwester Käte<br />
• PARIS<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 69
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Alles andere als Ferien<br />
Vor und nach dem Ersten Weltkrieg ist<br />
Cunninghams Camp ein bekanntes<br />
"Ferienlager für junge Männer". Im Jahr<br />
1904 eingerichtet, stehen hier mehr als<br />
800 Zelte. Ab September 1914 wird<br />
daraus ein Gefangenenlager, umgeben<br />
von einem Stacheldrahtzaun. Innerhalb<br />
von zwei Monaten landen hier rund<br />
3000 Zivilgefangene, darunter auch<br />
Erich Jacobs (stehend). Unten: Häftlinge<br />
im Lager Knockaloe beim Gemüseanbau.<br />
Dies ist die letzte Station von Erich<br />
Jacobs' Gefangenschaft
Sperrt alle ein! Dass sie Mitbürger waren, Nachbarn<br />
und Steuerzahler, zählt nicht. Nun sind sie Feinde<br />
morgens um 4.30 Uhr im Hafen ankert, ist dieser noch neutral.<br />
Doch um 23 Uhr erklärt England Deutschland den Krieg<br />
- Crew und Passagiere sitzen fest. Deutsche und Österreicher<br />
werden an Bord festgehalten, alle anderen können das Schiff<br />
verlassen. Der Dampfer liegt bereits seit über einer Woche im<br />
Hafen von Falmouth vor Anker, als Jacobs am 11. August zusammen<br />
mit den deutschen Männern der Crew endlich an<br />
Land gehen darf. Doch er wird nicht freigelassen, sondern als<br />
Zivilgefangener ins Armenhaus nach Saint Columb gebracht.<br />
Die Verabschiedung des "Aliens Restriction Act" am S. August<br />
1914 schafft die rechtliche Grundlage.<br />
Im gesamten Britischen Empire geben unzählige Plakate<br />
bekannt, dass "Ausländer deutscher Nationalität sich unverzüglich<br />
registrieren lassen müssen". Dazu sollen sie sich auf<br />
der nächsten Polizeiwache melden. Und: "Intern them all!"<br />
"Sperrt sie alle ein!" Kriegsminister Lord Kitchener verlangt<br />
nach allen deutschen Männern zwischen 17 und 42 Jahren.<br />
Das stellt Großbritannien vor eine schier unlösbare Aufgabe:<br />
Wohin mit den Tausenden von deutschen Zivilgefangenen?<br />
Sie sind Geschäftsinhaber, Direktoren, Konsuln, Gelehrte,<br />
Künstler, Handwerker, Kellner oder Arbeiter. Seit Jahren<br />
oder Jahrzehnten leben sie in Großbritannien, zahlen ihre<br />
Steuern - und stehen nun vor dem Nichts. Ihre Geschäfte<br />
werden aufgelöst, ihr Eigentum beschlagnahmt. Viele Ehen<br />
werden diesem Druck nicht standhalten, britische Frauen<br />
sich scheiden lassen und den deutschen Familiennamen ablegen<br />
oder anglisieren.<br />
Im fernen Magdeburg bangen Erichs Eltern, Gustav und<br />
Elisabeth Jacobs, im August 1914 tagelang um ihren Sohn.<br />
Seit Kriegsbeginn sind sie über seinen Verbleib im Ungewissen.<br />
Dann erhalten sie aus Basel durch einen unbekannten<br />
Mann namens Moser eine Nachricht. Dessen Sohn Jean hatte<br />
als Koch auf der "Kronprinzessin Cecilie" gearbeitet und war<br />
ebenfalls ins Armenhaus gebracht worden. Dort hatte ihn<br />
Erich gebeten, seine Eltern zu informieren, denn als Schweizer<br />
durfte Moser Saint Columb sofort wieder verlassen.<br />
Die deutschen und österreichischen männlichen Besatzungsmitglieder<br />
der "Kronprinzessin Cecilie" gehören im August<br />
1914 zu den ersten 1000 deutschen Zivilisten, die in<br />
Großbritannien interniert werden. Drei Monate später sind<br />
es bereits mehr als l4000. Im Januar 19l5 wird der Magdeburger<br />
mit den anderen Gefangenen aus Saint Columb auf<br />
ein Schiff gebracht. Das Reiseziel ist die 400 Kilometer entfernte<br />
Isle of Man in der Irischen See. Mit Hunderten von<br />
Männern steckt der 22-Jährige unter Deck, wo die Luft sich<br />
viel zu schnell verbraucht, sodass er es trotz der klirrenden<br />
Kälte vorzieht, sich so lange wie möglich an Deck aufzuhalten.<br />
Hunger und Durst quälen ihn seit Stunden.<br />
A<br />
nkunft auf der Isle ofMan. Seit September 1914 sitzen<br />
in den rund 800 Zelten von "Cunninghams Ferienlager<br />
für junge Männer" deutsche Zivilisten fest. Die<br />
Versorgungslage ist katastrophal. Cunningham sieht lediglich<br />
den Profit, den er aus dem Leid der etwa 3000 Gefangenen<br />
erwirtschaften kann, und lässt sie in unwürdigen Zuständen<br />
hausen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zur<br />
Eskalation kommt: Am 19. November 1914 gibt es im Lager<br />
einen Aufruhr mit mehreren Toten und vielen Verletzten.<br />
Schon seit Wochen macht sich wegen der Unterbringung in<br />
den dünnen Zelten Unzufriedenheit breit, denn der Winter<br />
naht, und die Wetterbedingungen werden immer schlechter.<br />
Über Wochen hinweg gibt es faulige schwarze Kartoffeln mit<br />
einer braunen Brühe und Fleischstücken fraglicher Herkunft.<br />
Als die Beschwerden nicht fruchten, treten die Männer in den<br />
Hungerstreik - und gehen an jenem Donnerstag im November<br />
mit Messern und Gabeln auf die Wache los. Diese schießt<br />
zunächst in die Luft. Dann in die Menge.<br />
Die Regierung erkennt schnell, dass die Kapazitäten auf<br />
der Insel nicht ausreichen, und lässt an der Westküste ein<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 71
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Zerteilte Familie<br />
Erich Jacobs bleibt insgesamt<br />
viereinhalb Jahre in britischer<br />
Gefangenschaft. 1919 kehrt er<br />
in seine Heimat zurück, schwer<br />
gezeichnet von der Zeit der<br />
Inhaftierung. Rechts: der<br />
mittlerweile BO-jährige Jacobs<br />
mit seiner Schwester Käte in<br />
deren Garten in Oberfranken.<br />
Ein Jahr später, 1973, stirbt er.<br />
Seinen Sohn Erich hat er nie<br />
kennengelernt<br />
Wer aus der Gefangenschaft nach Deutschland<br />
zurückkehrt, findet dort oft keine Heimat mehr<br />
großes, aus vier Teilbereichen bestehendes Lager für über<br />
20000 Gefangene errichten: Knockaloe. Hierhin wird Erich<br />
Jacobs am 28. August 1915 verlegt. Lager I, Zone 4, Reihe 4,<br />
Hütte 2. Es ist keine Verbesserung. Zwar schläft er fortan<br />
statt in einem Zelt in einer 500 Quadratmeter großen Baracke.<br />
Aber nicht mit vier, sondern mit 200 Personen. An Privatsphäre<br />
ist nicht zu denken, das macht allen zunehmend zu<br />
schaffen. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen. Immer die<br />
gleichen Menschen. Immer die gleichen Sorgen und Nöte.<br />
Eingezäunt und abgeschottet von der Zivilisation. Nur militärischer<br />
Gehorsam vom Aufstehen bis zur Nachtruhe - der<br />
ständige Drill mit der Pfeife zerrt an den Nerven aller.<br />
Die Barackendächer bestehen aus undichten Brettern, es<br />
regnet hindurch, und so sind Gepäck, Kleidung und Stiefel<br />
meist von Schimmel bedeckt. Die Strohsäcke, die als Matratzen<br />
dienen, liegen auf dem schlammigen Boden und werden<br />
nie trocken. Immer wieder klagen die Männer, dass diese<br />
Säcke erst nach Monaten erneuert werden. Jeder Gefangene<br />
erhält zwei Decken, aber kein Kissen. Viele schlafen mit dem<br />
Kopf auf ihren Schuhen. Nach langem Drängen werden im<br />
Dezember 1915 die ersten Öfen in den Baracken aufgestellt.<br />
Doch deren Heizkraft reicht für die Fläche nicht aus.<br />
Bei Jacobs' Ankunft im Lager gibt es noch keine Toiletten<br />
mit Wasserspülung. Stattdessen stehen den Gefangenen in<br />
einem dachlosen und unbeleuchteten Verschlag zwei Eimerreihen<br />
mit einer langen Stange zum Draufsitzen zur Verfügung.<br />
Bei anhaltendem Regen - typisch für diese Region -<br />
weicht der Lehmboden auf und wird zum Morast. Jeder Gang<br />
zur Toilette gerät zur Strapaze, nicht zuletzt für die Sinnes-<br />
organe. Denn die Eimer werden nur einmal am Tag geleert,<br />
und so läuft ihr Inhalt bei Regen unweigerlich über den<br />
Zementboden.<br />
Gewaschen wird sich morgens zwischen sieben und acht<br />
Uhr mit kaltem Wasser im Freien. 30 Gefangene teilen sich<br />
zwei Eimer, 1000 Mann sechs Wasserhähne und zwei Duschen.<br />
Gebadet wird in zwei Wannen. Wenn 25 Männer gebadet<br />
haben, gibt es kein warmes Wasser mehr. Das Wasser<br />
dient nicht nur zum Waschen, sondern auch zum Geschirrspülen<br />
und zum Reinigen der Kleidung. Aus den Leitungen<br />
dringen ein ums andere Mal kleine Aale, die in den Hähnen<br />
stecken bleiben und sie verstopfen. Irgendwann wird es den<br />
Gefangenen zu viel. Sie schicken dem Kommandanten einen<br />
Brief und bitten um Abhilfe. Der jedoch hat nur Spott für sie<br />
übrig: "Sie klagen immer über zu wenig Fleisch, da haben Sie<br />
doch welches!"<br />
D<br />
as Küchenpersonal setzt sich aus Häftlingen zusammen.<br />
In den vier Unterlagern sind insgesamt 230 Männer<br />
als Köche tätig. Die Verpflegung ist schlecht, was<br />
zur Unterernährung bei den Gefangenen führt. Sie bekommen<br />
zum Frühstück Hafergrütze, die nicht selten mit Mäuseunrat<br />
gespickt ist. Im Laufe des Kriegs verschlechtert sich die<br />
Lebensmittelversorgung in Großbritannien drastisch, und<br />
die Rationen werden auf ein Minimum reduziert. Dadurch<br />
verschlechtert sich wiederum die Gesundheit vieler Inhaftierter,<br />
denn sie haben dem rauen Klima der Insel nichts entgegenzusetzen.<br />
Auch wenn ab 1917 Kartoffeln und Gemüse<br />
angebaut werden können, hoffen die meisten weiter auf Pa-<br />
72 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
kete ihrer Familien in Deutschland. Doch die dortige Hungerkatastrophe<br />
und Lebensmittelrationierung erschweren das<br />
zunehmend.<br />
W<br />
ährend seiner Gefangenschaft werden Jacobs von<br />
seiner Mutter 39 Pakete geschickt - zumindest<br />
haben ihn so viele aus Magdeburg erreicht. Denn<br />
immer wieder stellen die Gefangenen fest, dass ihnen Pakete<br />
vorenthalten werden. Auch die für die Moral der Männer so<br />
wichtigen Briefe bleiben oft wochenlang liegen. Von den<br />
Hunderten Briefen, die zwischen Knockaloe und Magdeburg<br />
hin- und hergeschickt werden und die fein säuberlich nummeriert<br />
sind, hat Erich nur die letzten vier aufgehoben. Die,<br />
die seine Freude über die Rückkehr ausdrücken. Den letzten<br />
hat er am 10. Februar 1919 an seine Mutter geschrieben.<br />
"Wie ich schon schrieb, werde ich Dir sofort von Holland<br />
Nachricht geben, wenn ich dort angekommen bin. Ich kann es<br />
mir lebhaft vorstellen wie Du im nächsten Monat in Aufregung<br />
leben wirst, wann dann nun endlich die Nachricht ankommt.<br />
Mit Geduld und Spucke usw. Seit 3 Wochen habe ich gepackt<br />
und bei allergräßter Ruhe ist doch eine gewisse Spannung da.<br />
Die Wartezeit war ja auch lang genug um das zu entschuldigen.<br />
Aller Berechnung nach fahren wir nach Wesel oder Bremen<br />
dann über Hannover. Im Geiste sehe ich schon die Domtürme<br />
auftauchen. Bahnsteig 4 und Mutti guckt sich die Augen aus,<br />
wo ist denn der Junge? Wie werde ich Dich drücken und herze!1.<br />
Wenn meine Zeilen Dich erreichen in 3-4 Wochen ist es bald<br />
soweit lind bis dahin, liebe Mutti, grüßt lind küßt Dich Dein<br />
Junge."<br />
Am 22. Februar 1919 verlässt Erich Jacobs schließlich<br />
Knockaloe und wird vor seiner Repatriierung in den Londoner<br />
Alexandra Palace verlegt, der seit 1914 ebenfalls als<br />
Gefangenenlager für Zivilisten genutzt wird. Diese werden<br />
zusammen mit den deutschen Kriegsgefangenen auf Kosten<br />
der deutschen Regierung in die Heimat zurückgebracht. Aber<br />
was heißt Heimat? Viele der Zivilisten kommen in ein für sie<br />
fremdes Land und werden sich nicht zurechtfinden. Es sind<br />
Organisationen wie die "Vereinigung ehemaliger Zivilgefangener<br />
aus Großbritannien, Irland und den Kolonien" mit<br />
Sitz in Hamburg, die die Wiedereingliederung dieser Männer<br />
in die deutsche Gesellschaft unterstützen. Allerdings gehen<br />
Anfang der 1920er-Jahre viele Exhäftlinge mit ihren Familien<br />
nach Großbritannien zurück - die Kinder fühlen sich als<br />
Briten und wollen wieder in ihr Land.<br />
Erich Jacobs wird jedoch nie mehr nach England zurückkehren.<br />
Seine Kinder werden ihn nicht kennenlernen. Es gibt<br />
keinerlei Kontakt innerhalb der Familie, denn Agnes hat<br />
ihren Kindern als Schutz vor Repressalien erzählt, dass ihr<br />
Vater 191B während seiner Haft an der Spanischen Grippe<br />
gestorben sei. Aus finanzieller Not istAgnes gezwungen, ihre<br />
siebenjährige Tochter Queenie 1920 in ein Kinderheim zu geben<br />
- sie schafft es nicht, drei Menschen zu ernähren. Die<br />
Tochter sieht sie erst 1937 wieder.<br />
Jacobs steigt nach seiner Rückkehr in den väterlichen<br />
Betrieb ein und beginnt seine ehrenamtliche Tätigkeit im<br />
Reichsverband für Badebetriebe, zu dessen Leiter er später<br />
Vermisstensuche<br />
Karteikarten sind seit 2014 online<br />
In Großbritannien wird das Thema erst seit wenigen<br />
Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet. Eine Erinnerungsstätte<br />
gibt es nicht.<br />
Im August 2014 stellte das Internationale Komitee des<br />
Roten Kreuzes (IGRG) in Genf die Karteikarten der Zivilgefangenen<br />
des Ersten Weltkriegs online (siehe unten<br />
die Karte von Erich Jacobs). Für viele britische Familien<br />
ein erster Anhaltspunkt, mehr über den Verbleib ihrer<br />
deutschen Vorfahren zu erfahren. Mithilfe der Nummern<br />
auf den Karten gelangt man zu den Originallisten<br />
des IGRG-Archivs. Auf denen sind außer dem Geburtsort<br />
oft auch Adressen von Angehörigen des Häftlings<br />
in Deutschland hinterlegt. Die<br />
Abkürzungen neben den Ein- "'I "f' .!fliC<br />
trägen stehen für die mehr als<br />
160 Internierungslager im Britischen<br />
Empire. Die größten Lager<br />
für Zivilisten waren Knockaloe<br />
und Gunningham auf der<br />
Isle of Man mit mehr als 20000<br />
beziehungsweise etwa 3000<br />
Gefangenen, Stobs in Schottland<br />
mit 4500 und Alexandra<br />
Palace in London mit 3000.<br />
-Sh_.. .t •. .... .t • " "I' ._<br />
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"'_.I,t I<br />
gewählt wird. Im Oktober 1920 heiratet er Elfriede Wohlfarth.<br />
Die Ehe bleibt kinderlos. Bei einem der Bombenangriffe<br />
aufMagdeburg 1945 wird das Haus in der Beaumontstraße<br />
zerstört, und Jacobs baut sich eine neue Existenz in Hamburg<br />
auf. Er vertreibt im Gebäude des Dorotheenbads im Stadtteil<br />
Winterhude Zubehör für Krankenhäuser und Badeanstalten,<br />
wie schon zuvor in Magdeburg. 1973 verstirbt er BI-jährig in<br />
Hamburg.<br />
Nach Agnes' Tod 1988 finden ihre Kinder Queenie und<br />
Erich im Nachlass zwei Briefe ihres Vaters an die Mutter aus<br />
dem Jahr 1938. Die Kinder sind fassungslos. Warum diese<br />
Lüge, der Vater sei 1918 gestorben? Erst hundert Jahre nach<br />
Jacobs' Internierung erfahren seine Enkel in Großbritannien<br />
die ganze Wahrheit und die Geschichte der Gefangenenschaft.<br />
Und sie lernen ihre deutschen Verwandten kennen.<br />
Erichs Kinder erleben dieses Zusammentreffen allerdings<br />
nicht mehr. Queenie stirbt 1998, ihr Bruder zwei Jahre später.<br />
Corinna Meiß bewegte besonders das Schicksal<br />
eines Verwandten. der im Ersten Weltkrieg als Zivilist<br />
in England interniert wurde. Aus der Passion wurde<br />
eine Profession: Seither recherchiert sie für Briten<br />
den Verbleib ihrer deutschen Vorfahren nach 1914.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 73
76 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Käthe Buchler ist von dem Wunsch getrieben,<br />
jene Zeit festzuhalten, in die sie geworfen ist<br />
Gemeinsam anpacken<br />
Weil die Männer im Alltag fehlen,<br />
übernehmen Frauen ihre Aufgaben.<br />
Auch wenn dies bedeutet, dass sie<br />
schwer schleppen müssen. Diese Dame<br />
arbeitet als Vorladerin (siehe Foto<br />
rechts) und muss Fässer auf Güterzüge<br />
hieven. Andere Frauen werden als<br />
Schaffnerinnen, Postkutscherinnen und<br />
Briefträgerinnen eingesetzt. Der<br />
Arbeitseinsatz geschieht größtenteils<br />
auf freiwilliger Basis. Es gibt nur eine<br />
Dienstverpflichtung für alle nicht<br />
wehrfähigen Männer zwischen 17 und<br />
60 Jahren. Im Soldatenheim, eingerichtet<br />
in einem Barockpalais, wird den<br />
Offizieren ihr Mittagessen von einem<br />
Jungen serviert (Foto oben)<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 77
Mit klaren Sinnen stellt sich die Fotografin vor allem<br />
auch der sozialen Lage der Menschen im Krieg<br />
Improvisiertes Leben<br />
Die Menschen machen das Beste<br />
aus ihrer Situation: Die Kinder helfen,<br />
Büchsen oder andere noch verwertbare<br />
Rohstoffe zu sammeln - und die<br />
stärksten Hunde werden vor den<br />
Karren gespannt (siehe Bilder oben). In<br />
Braunschweig gibt es mehr Lazarette<br />
als in anderen Städten der gleichen<br />
Größe: rund 25 Krankenstationen mit<br />
insgesamt 2350 Betten. In den eher<br />
notdürftig ausgestatteten Schulen<br />
oder Turnhallen wird Weihnachten<br />
trotzdem stimmungsvoll gefeiert (siehe<br />
Bild rechts). Käthe Buchler, Mitglied im<br />
Roten Kreuz und in Frauenvereinen,<br />
gelingt es als einer der wenigen, im<br />
Lazarett fotografieren zu dürfen. Zum<br />
Schutz der Patienten wird anderen der<br />
Zutritt untersagt<br />
78 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
Nachlass einer Beobachterin<br />
Die Fotografin Käthe Buchler (1876-1930; siehe Foto mit<br />
Sohn Walther, 1903) hinterließ rund 2000 Aufnahmen auf<br />
verschiedenen Bildträgern. Erst 50 Jahre nach ihrem Tod<br />
wurden diese gesichtet und veröffentlicht. Eine Auswahl<br />
findet sich in dem Band: "Fotografien zwischen Idyll und<br />
Heimatfront" (Appelhans Verlag, 2012, 200 S., 19 Euro)<br />
Von Christine Dohler<br />
Das also war unsere Großmutter: eine visuell und<br />
technisch offensichtlich ungewöhnlich begabte,<br />
moderne Frau." Erst als die Enkelin Sabine Solf<br />
die Fotografien ihrer Großmutter Käthe Buchler<br />
im Städtischen Museum Braunschweig ausgestellt<br />
sieht, öffnen sich ihre Augen. Sie hat nicht nur das Gefühl,<br />
ihre lange verstorbene Oma kennenzulernen, die sich mit<br />
klarem Blick vor allem auch der sozialen Lage der Menschen<br />
im Krieg stellte. Nein, sie erhält auch ein Gefühl für alle anderen<br />
Großeltern, die in Zeiten des Krieges ihre Kinder erzogen,<br />
arbeiteten, lachten, lebten und litten. In den zahlreichen Bildern<br />
spiegelt sich, was unsere Ahnen prägte. Und dank ihrer<br />
Großmutter bleibt vieles bis heute sichtbar.<br />
Im Alter von 19 Jahren heiratete die junge Käthe den<br />
Sohn des Inhabers einer örtlichen Fabrik. Mit Walther Friedrich<br />
Theodor Buchler bekam sie eine Tochter (Ellen, 1896)<br />
und einen Sohn (Walther, 1900). Als der Jüngste ein Jahr alt<br />
war, widmete sie sich ihrem Hobby. Eigentlich wollte Käthe<br />
Buchler Aquarelle und Ölgemälde erschaffen. Doch des Maiens<br />
wurde sie schnell überdrüssig, viel zu lange dauerte es, bis<br />
ein Bild entstanden war. Außerdem war sie seit Kindstagen<br />
fast taub und suchte über das Visuelle einen anderen Zugang<br />
zu Menschen. Durch Fotografien konnte die Tochter aus gutbürgerlichem<br />
Hause schneller zeigen, was sie wahrnahm -<br />
und wie. Deshalb schaffte sie sich eine Kamera an und richtete<br />
sich im ersten Stock in ihrer Villa am Löwenwall in Braunschweig<br />
eine Dunkelkammer ein, in der sie zunächst Bilder<br />
ihrer Familie selbst entwickelte. Dabei mutete sie den Kindern<br />
eine Geduldsprobe zu. Oft verschwanden diese blitzartig<br />
in einem Versteck, wenn die Mutter mit dem Fotoapparat<br />
um die Ecke kam. Denn das bedeutete für sie oft langes<br />
Stillhalten. 1906 wollte Buchler ihr Fachwissen erweitern<br />
und belegte einen Kurs in der Photo graphischen Lehranstalt<br />
des Berliner Lette-Vereins und holte sich zusätzlich Tipps von<br />
dem Profifotografen Wilhelm Müller. Sie durfte sein Atelier<br />
nutzen und konnte über ihn Material beziehen.<br />
Bald danach baute sie ihre auf einem Stativ montierte<br />
Plattenkamera auch im öffentlichen Raum auf. So lichtete sie<br />
im Auftrag des Braunschweiger Rettungshauses, einer Erziehungsanstalt<br />
für sozial benachteiligte Kinder, die Verhältnisse<br />
ab, um für Spenden zu werben. Schließlich dokumentierte<br />
sie auch den Einsatz des Braunschweiger Bürgertums an<br />
der sogenannten Heimatfront: das Leben der verwundeten<br />
Soldaten in Lazaretten; Frauen, die notdürftig in die Rolle<br />
von Männerberufen schlüpften; Kinder, die Glasflaschen und<br />
Büchsen sammelten.<br />
Die Fotografien zeigte sie auf Dia-Abenden einem größeren<br />
Publikum, erlangte dadurch Anerkennung - und erreichte,<br />
dass sich noch mehr Türen öffneten. In ihrem eigenen<br />
Leben mangelte es ihr an wenig, auch nicht an Aufgaben. Sie<br />
fotografierte aus Idealismus. "Was sie beschäftigte, entstand<br />
nicht als ein aus Langeweile geborener Zeitvertreib einer<br />
Dame der Gesellschaft. Sie wurde angetrieben vom Interesse<br />
am Menschen und von dem Wunsch, jene Zeit festzuhalten<br />
und zu überliefern, in die sie geworfen war", sagt ihre Enkelin<br />
Sabine Solf.<br />
Nach dem Ende des Krieges richtete sie die Linse wieder<br />
auf die Geschehnisse in ihrem familiären Umfeld, nur einmal<br />
erstellte sie noch eine Serie von Architekturfotografien. Mit<br />
54 Jahren starb die Fotografin an einem Herzinfarkt. Ihre<br />
Werke verstaubten lange in einem Schrank auf dem Dachboden<br />
- bis ihre Enkel diese entdeckten.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 79
DIE DEUTSCHEN 1916<br />
ZUnt Vertiefen ...<br />
Buchtipps zum Titelthema von der Redaktion<br />
BEWEGEND<br />
Drei deutsche Reiche,<br />
zwei Weltkriege: Käthe<br />
Kollwitz' Tagebücher aus<br />
35 Jahren umfassen nicht<br />
nur elementare Epochen<br />
deutscher Geschichte,<br />
sie zeigen auch den<br />
Wandel ihrer politischen<br />
Einstellung von revolutionärer<br />
Begeisterung bis<br />
zu kritischer Distanz.<br />
Vor allem stellen sie in<br />
wunderbar schlichten,<br />
aber präzisen Formulierungen<br />
die Ängste und<br />
Zweifel, das Leid und die<br />
Hoffnung einer Mutter<br />
und Künstlerin dar.<br />
Käthe Kollwitz<br />
Die Tagebücher 1908-1943<br />
btb 2012, 14,99 Euro<br />
TIEFSCHÜRFEND<br />
Was erlebten die Deutschen<br />
im Ersten Weltkrieg als<br />
Soldaten in Frankreich und<br />
in Russland oder als Zivilisten<br />
an der Heimatfront? Zwei<br />
Historiker schildern eindringlich,<br />
mit vielen Zeitdokumenten,<br />
wie es 1914 zum<br />
Konflikt kam und wie stark er<br />
Deutschland veränderte.<br />
Gerhard Hirschfeld/<br />
Gerd Krumeich<br />
Deutschland im Ersten<br />
Weltkrieg<br />
S. Fischer 2013, 24,99 Euro<br />
ANSCHAULICH<br />
Die Autorin hatte Zugang<br />
zu bislang unbekannten<br />
Quellen und kann dadurch<br />
einige Irrtümer über den<br />
Maler Franz Mare ausräumen.<br />
Sehr anschaulich<br />
erzählt.<br />
Brigitte Roßbeck<br />
Franz Mare. Die Träume<br />
und das Leben<br />
Siedler 2015, 24,99 Euro<br />
SPANNEND<br />
Volker Ullrich, Historiker und<br />
Journalist, weiß, wie Geschichte<br />
packend erzählt wird. Kenntnisreich<br />
schreibt er auch über Karl<br />
Liebknecht und dessen Kampf<br />
gegen den Kaiser.<br />
Volker Ullrich<br />
Fünf Schüsse auf Bismarck<br />
C.H. Beck 2002, 9,90 Euro<br />
EINFACH MÖRDERISCH<br />
Wie kam die Leiche in den Korb? Und wer war der Mörder?<br />
Regina Stürickow rekonstruiert 32 Verbrechen, die von 1890<br />
bis 1960 in Serlin begangen wurden, natürlich auch in der<br />
Kriegszeit. Mit Fotos von Tatorten, Ermittlern, Verdächtigen.<br />
Regina Stürickow<br />
Verbrechen in Berlin<br />
Elsengold 2014, 24,95 Euro<br />
80 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
11111111 1111111111111111111111111111111111111 Ulllllltllilitullllllllllllllllllllllllllllllilltlill 111111111111 11111111111111111111111111111111111111 11111111111111111 11 11 111 111111 111111 11<br />
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Mächtiges Karthago<br />
Die Rekonstruktion der Hafenstadt:<br />
Eine hohe Mauer schützt Karthago<br />
vor Angriffen. Im runden Kriegshafen<br />
können Hunderte Schiffe<br />
anlegen (ganz links, oben). Bis zu<br />
400000 Menschen leben in der<br />
Stadt, die meisten von ihnen auf<br />
dem Berg Byrsa. Heute finden sich<br />
nur noch wenige Ruinen aus der<br />
Antike (links unten). Karthagos<br />
Pracht und Macht lassen nur noch<br />
einige archäologische Funde<br />
erahnen, wie diese Münze aus dem<br />
4. Jahrhundert<br />
Von Rauke Friederichs<br />
Es ist das Jahr der Entscheidung. 540 v. Chr. kommt<br />
es auf dem Mittelmeer zu einer gewaltigen Schlacht.<br />
Mit geblähten Segeln, wirbelnden Ruderblättern,<br />
schäumenden Bugwellen schießen 120 Kriegsschiffe<br />
auf die halb so große Flotte des Feindes zu.<br />
Endlich hat das verbündete Geschwader der Karthager und<br />
Etrusker die Griechen vor Alalia auf Korsika gestellt. Beide<br />
Seiten setzen Pentekonteren ein, Kampfmaschinen aus Holz,<br />
gezimmert, vonje 50 Ruderern angetrieben.<br />
Obwohl sie klar unterlegen sind, stellen sich die Griechen,<br />
die Phokäer genannt werden, dem Gegner. Die Übermacht<br />
der Phönizier aus Karthago und ihrer Verbündeten ist erdrückend.<br />
Dennoch stehen sie vor keinem leichten Sieg. Die<br />
Phokäer sind vor wenigen Jahren von den Persern aus ihrer<br />
Heimat vertrieben worden. Auf Korsika haben sie sich eine<br />
neue Kolonie aufgebaut. Diesmal wollen sie ihre Heimat verteidigen,<br />
um jeden Preis.<br />
Für Tausende Männer ist es an diesem Tag ihr letzter<br />
Kampf. Schiffe sinken auf den Meeresboden, reißen Verwundete<br />
und Tote mit in die Tiefe. In Seegefechten setzen die<br />
Mannschaften metallene Sporne am Bug ein, um feindliche<br />
Pentekonteren in den Grund zu rammen. Mit Brandgeschossen<br />
setzen sie die Gegner in Flammen. Am Ende siegen die<br />
Karthager und Etrusker. Die griechische Expansion nach<br />
Westen ist gestoppt.<br />
Nach dem Sieg geht der Stadtstaat aus Nordafrika erst<br />
recht in die Offensive: Noch im selben Jahr schickt Karthago<br />
seinen Feldherrn Malchus mit einem gewaltigen Heer nach<br />
Sizilien, der die Insel zu großen Teilen erobert. Malchus gewinnt<br />
so viel Ansehen, so großen Einfluss, dass er von man-<br />
chen antiken Chronisten gar als König von Karthago bezeichnet<br />
wird. Er hat eine Supermacht geformt. Und wird dennoch<br />
bald zu ihrem gefährlichsten Feind.<br />
Doch zunächst scheint niemand den Aufstieg Karthagos<br />
bedrohen zu können. Als "reich an Schätzen und rau in den<br />
Werken des Krieges" wird Jahrhunderte später der römische<br />
Dichter Vergil den wichtigsten phönizischen Staat beschreiben.<br />
Karthagos Handelsschiffe bringen Kostbarkeiten nach<br />
Nordafrika, ihre Diplomaten schließen kluge Verträge, ihre<br />
Freibeuter plündern fremde Küsten, ihre Armeen verbreiten<br />
Angst und Schrecken. Nur wenige andere antike Imperien dominierten<br />
die Mittelmeerwelt so sehr - und dennoch wissen<br />
wir heute kaum etwas über die Karthager.<br />
Ihre Kultur bleibt geheimnisvoll, mehr Mythos als klar<br />
umrissene Überlieferung. Zahlreiche Fakten haben Ausgrabungen<br />
von Archäologen zur Forschung beigetragen. Doch<br />
die antiken Quellen sind problematisch. Denn über die Entwicklungen<br />
der Großstadt an der heutigen tunesischen Küste<br />
haben fast ausschließlich griechische und römische Autoren<br />
berichtet - und die gehörten überwiegend zu den Gegnern<br />
Karthagos. Karthagos Feinde brannten im 2. Jahrhundert v.<br />
Chr. die Stadt nieder, vernichteten alle Dokumente, streuten<br />
der Legende nach Salz über den Ruinen aus und überbauten<br />
sie später mit einer neuen Siedlung.<br />
Und so entstand im Lauf der Zeit ein Bild von Karthago,<br />
das mit der Wirklichkeit nur bedingt übereinstimmte. Selbst<br />
Altertumsexperten nahmen lange an, dass die Karthager ihre<br />
erstgeborenen Söhne den Göttern opferten. Doch tatsächlich<br />
steckte hinter solchen Gerüchten wohl nicht viel mehr als üble<br />
Nachrede.AlsArchäologenindenRestenderuntergegangenen<br />
"Reich an Schätzen und rau in den Werken des Krieges."<br />
So beschreibt Vergil das antike Karthago<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 85
KARTHAGOS AUFSTIEG<br />
Schätze auf dem Meeresgrund<br />
Amphoren sind die Container der Antike. In ihnen transportieren<br />
phönizische Händler ihre Waren wie Purpur.<br />
Der Farbstoff ist so kostbar, dass er mit Gold aufgewogen<br />
wird. Forscher der National Geographie Society haben<br />
1999 vor der israelischen Küste zwei phönizische Schiffswracks<br />
entdeckt. Sie waren um 750 v. Chr. in einem<br />
Sturm gesunken und hatten Wein geladen (rechts)<br />
Stadt ein Feld mit zahlreichen Kinderskeletten ausgruben,<br />
schien zunächst der Beweis für die Brutalität der Phönizier<br />
erbracht. Hatten die Forscher einen Opferplatz der Karthager<br />
entdeckt - geschahen hier die unfasslichen Taten? Nein,<br />
sagen die Ausgräber. Denn die Überreste der Kleinkinder, die<br />
sie hier fanden, lassen die Karthager keineswegs wie Monster<br />
erscheinen. Ein Fünftel der Bestatteten war bei der Geburt<br />
oder kurz danach gestorben. Eine weitere Überraschung: Die<br />
Mehrzahl der Skelette war weiblich - Mädchen aber kamen<br />
als Opfer nicht infrage. Vermutlich waren die Forscher auf<br />
einen Kinderfriedhof gestoßen, der auf eine besondere Bindung<br />
der Eltern zu ihren verstorbenen Söhnen und Töchtern<br />
hinweist. Es handelt sich um den Schauplatz von Tragödien,<br />
nicht von grausamen Ritualen.<br />
G<br />
egründet hat Karthago eine Tochter des Königs von<br />
Tyros, so erzählen es Sagen der Antike. Diese Prinzessin,<br />
Dido genannt, floh vor ihrem Vater, nachdem dieser<br />
ihren Mann ermordet hatte. Der König gierte nach dem<br />
Schatz von Didos Mann, doch die junge Witwe entkam mit<br />
dem Gold an Bord einer Flotte. Sie fuhr nach Nordafrika.<br />
Dort bat sie die Einwohner, an der Küste eine Stadt errichten<br />
zu dürfen. Die Menschen stimmten zu, wollten der fremden<br />
Königstochter aber nur so viel Land geben, wie sie mit einer<br />
Kuhhaut umspannen könnte. Daraufhin schnitt Dido ein Fell<br />
in sehr feine Streifen, nähte diese aneinander, legte sie aus<br />
und markierte so ein großes Areal am Mittelmeer. Dort entstand<br />
Qart Hadasht, die neue Stadt, die später Karthago hieß.<br />
Eine schöne Legende. Tatsächlich aber begann die Geschichte<br />
Karthagos 814 v. Chr. Kaufleute und Siedler aus Tyros gründeten<br />
sie als eine Handelskolonie in Nordafrika. Die Tyrer<br />
gehörten zu den Phöniziern, einem legendären Volk. "Punier"<br />
nannten sie die Römer. Sie bewohnten einen schmalen Streifen<br />
der Küste im heutigen Libanon und Israel. Als begabte<br />
Seefahrer lebten sie vom Handel. Vor allem ihr Purpur, ein<br />
wertvoller Stoff zum Färben, machte sie reich. Er war so kostbar,<br />
dass er mit Gold aufgewogen wurde. Und die Kaufleute<br />
handelten mit Hölzern aus den Bergwäldern des Libanons<br />
wie Zeder, Wacholder, Pinie und Sandelholz sowie mit Kunsthandwerk.<br />
Homer widmete den Phöniziern einige Zeilen in<br />
seiner Ilias: "Ein Silber-Mischgefäß, kunstvolle Arbeit, konnte<br />
sechs Maß fassen, an Schönheit aber trug's den Sieg davon<br />
auf der gesamten Erde, bei weitem, denn Sidoner voller<br />
Kunstsinn hatten's schön gefertigt. Phoiniker aber hatten's<br />
mitgebracht über das dunkle Meer hin (...) "<br />
Über die See waren auch die Gründer Karthagos gekommen.<br />
Sie wählten für ihre Siedlung einen perfekten Ort: Hier<br />
verengt sich das Mittelmeer zwischen afrikanischer Küste<br />
und Italien. Die Phönizier siedelten auf einer vorgeschobenen<br />
Landzunge in der Bucht von Tunis, mit fruchtbarem Hinterland<br />
und einem natürlichen Hafen, der ganz in der Nähe von<br />
einer der wichtigsten Handelsrouten der Antike lag: dem Seeweg<br />
zwischen dem heutigen Nahen Osten und Spanien. Auf<br />
dem Hügel Byrsa entsteht die Oberstadt, die Unterstadt bildete<br />
sich an der Küste, um den Hafen herum. Bis zu 400000<br />
Menschen sollen hier gelebt haben: eine ungeheure Zahl für<br />
die Antike.<br />
Brackwasser umgab kreisförmig den Kriegshafen, in dem<br />
die Pentekonteren ankerten. Er war das Kraftzentrum des<br />
karthagischen Reiches. Bis zu 300 Kriegsschiffe konnten hier<br />
zu den Glanzzeiten der Stadt anlegen. Nebenan, in einem<br />
rechteckigen Hafenbecken, machten die Handelsschiffe fest.<br />
Die Seefahrer aus Karthago holten Silber von der<br />
Iberischen Halbinsel, Blei und Eisen von Sardinien, Zinn aus<br />
Cornwall. Aus Nordafrika exportierten sie Olivenöl und Getreide.<br />
Sie vertrieben zudem Möbel, Keramik, Parfüm, Stoffe,<br />
Schmuck, Stickarbeiten, Glasflacons und Elfenbeinschnitzereien:<br />
Spitzenprodukte des phönizischen Handwerks. Handel<br />
trieben die Karthager mit Kelten, Galliern, Griechen, Etruskern,<br />
Persern und anderen Völkern.<br />
86 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
Phönizier aus Tyros gründen Karthago. Sie wird<br />
zur bedeutendsten Stadt am Mittelmeer<br />
So wurde Karthago reich, mächtiger gar als die Mutterstadt<br />
Tyros, bislang das Zentrum der Phönizier, das unter<br />
Druck durch Babyion und Persien geraten war. 540 v. Chr.<br />
eroberten die Perser Tyros - auch dieses Ereignis fällt in<br />
das Schicksalsjahr Karthagos. Nun suchten die phönizischen<br />
Städte den Schutz der reichen und mächtigen Schwesterstadt<br />
im Westen. Karthago sicherte nun das Einflussgebiet der Phönizier<br />
im Westen, das von den Säulen des Herakles an der<br />
Meerenge von Gibraltar bis zur Straße von Tunis reichte. Und<br />
der Staat scheute keinen Konflikt.<br />
B<br />
esonders hart rangen Phönizier und Griechen um<br />
Sizilien. Dank ihres Feldherrn Malchus kontrollierte<br />
Karthago bald den Westteil der Insel mit den Städten<br />
Panormo (das heutige Palermo), Motye und Soloeis. Nun<br />
blickten die Herrscher von Karthago nach Nordwesten, nach<br />
Sardinien. Dort unterhielten die Phönizier bereits Stützpunkte<br />
- nun strebten sie die Kontrolle der ganzen Insel an.<br />
Erneut sandte die Stadt ihren besten Feldherrn. Malchus<br />
sammelte seine Truppen, ließ seine Soldaten an Bord einer<br />
großen Flotte gehen und befahl die Überfahrt. Was genau auf<br />
der Insel geschah, bleibt unklar. Sicher ist nur, dass Ma\chus'<br />
Mission in einem Desaster endete. Geschlagen wollte er<br />
mit dezimierter Armee in die Heimat zurückkehren. Doch<br />
Karthago zeigte sich gnadenlos gegenüber dem Verlierer.<br />
Die Regierung verbannte den Feldherrn samt allen seinen<br />
überlebenden Soldaten ins Exil.<br />
Ma\chus aber fügte sich diesem Befehl nicht. Er landete<br />
mit seinen Truppen vor den Mauern der Metropole. Er, der<br />
jahrelang erfolgreich Krieg für seine Heimatstadt geführt<br />
hatte, ließ sich nicht einfach verjagen. Als sein eigener Sohn,<br />
ein Priester, ins Feldlager des Vaters kam, um zu vermitteln,<br />
ließ Malchus ihn ans Kreuz schlagen. Nach der Hinrichtung<br />
stürmten Ma\chus' Männer die Stadt. Zehn Mitglieder des<br />
Ältestenrats ließ er töten. Dennoch gelang es Malchus nicht,<br />
die Macht dauerhaft zu ergreifen. Schließlich verurteilte ihn<br />
der Rat zum Tod. Warum ihn diesmal seine Soldaten nicht<br />
retteten, bleibt im Dunkeln der Geschichte verborgen.<br />
Unklar ist auch, welche gesellschaftliche Gruppe sich im<br />
Machtkampf gegen Ma\chus durchgesetzt hat. Wer überhaupt<br />
in Karthago herrschte, ist unter Historikern umstritten. Die<br />
Mehrheit geht davon aus, dass einige wenige einflussreiche<br />
Familien den Stadtstaat lenkten: Ihre Mitglieder saßen im<br />
Senat und im mächtigen Rat. Antike Schriftsteller wie Platon,<br />
Aristoteles und Cicero sahen in Karthago ein Vorbild für<br />
innenpolitische Stabilität. Und auch von außen wurde die<br />
Stadt lange nicht bedroht.<br />
Hohe Mauern schützten sie, die aus schweren Sandsteinblöcken<br />
bestanden, von denen einzelne bis zu 13 Tonnen<br />
wogen. Dieses Bollwerk am Hafen, mehr als zwei Kilometer<br />
lang, war mit weißem Quaderstuck überzogen: Von See aus<br />
war es schon von Weitem zu sehen.<br />
Durch Karthago liefen enge Straßen, meist nur 2,5 Meter<br />
breit, mit kleinen Steinen gepflastert und in der Mitte mit<br />
einer Abwasserrinne versehen. An den Straßen standen<br />
mehrstöckige Häuser, die direkt aneinandergrenzten. Es gab<br />
vornehme Wohnviertel und auch vom Gewerbe geprägte<br />
Quartiere, in denen Handwerker über oder neben ihren<br />
Werkstätten wohnten. Sie arbeiteten mit Metallen, Stoffen<br />
und Färbemitteln oder fertigten Keramikvasen und Geschirr.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 87
KARTHAGOS AUFSTIEG<br />
Karthago schließt erst mit Rom einen Vertrag. Der<br />
Frieden hält lang, doch dann wächst das Misstrauen<br />
Ein großes Gebiet der Handwerker erstreckte sich südlich des<br />
Byrsa-Hügels bis zum Hafen.<br />
Nach Karthago kamen auch fremde Händler, aus den<br />
italienischen Städten, auch aus dem aufstrebenden Rom. Um<br />
508 v. Chr. schlossen Karthago und Rom wohl ihren ersten<br />
Vertrag: Sie teilten ihre Macht- und Handelsbereiche auf. Der<br />
griechische Geschichtsschreiber Polybios gab dessen Inhalt<br />
wieder: "Mit Schiffen sollen die Römer und deren Bundesgenossen<br />
nicht jenseits des Schönen Vorgebirges fahren,<br />
außer wenn sie durch Sturm oder Feinde dazu gezwungen<br />
werden. c. ..) "<br />
M<br />
it diesem Gebirge könnte Kap Farina gemeint gewesen<br />
sein, damit wäre das gesamte Mittelmeer<br />
westlich von Karthago bis zur Enge von Gibraltar für<br />
römische Schiffe gesperrt gewesen. Eindeutig geklärt ist das<br />
bis heute nicht. Sicher ist, dass die Phönizier bessere Bedingungen<br />
erhielten als die Römer, ihre Verhandlungsposition<br />
war wohl stärker. Denn der Vertrag wirkt merkwürdig einseitig.<br />
Er legte den Karthagern keine Grenzen für Schifffahrt<br />
und Handel auf. Sie versicherten darin aber, die römischen<br />
Verbündeten in Italien nicht anzugreifen. Von Städten, die<br />
noch nicht Untertan der Römer waren, sollten sie sich fernhalten,<br />
und wenn sie eine solche Siedlung erobern sollten,<br />
müssten sie diese später an Rom übergeben.<br />
Fast 270 Jahre lang hielt der Frieden - dann ließ sich die<br />
wachsende Konkurrenz zwischen den beiden Rivalen nicht<br />
mehr mit Diplomatie glätten. Zum ersten Konflikt zwischen<br />
Rom und Karthago kam es 264 v. Chr. auf Sizilien. Die Stadt<br />
Messina hatte gleichzeitig Karthago und Rom um Hilfe gerufen.<br />
Sie fühlte sich vom Tyrannen Hieron II. und dessen<br />
Armee bedroht. Während in Rom der Senat noch über einen<br />
Truppeneinsatz debattierte, handelten die Phönizier. Sie entsandten<br />
Soldaten als eine Schutztruppe für Messina. Das<br />
wiederum alarmierte Rom: Karthago, der alte Konkurrent,<br />
schien zu mächtig zu werden.<br />
Nun fühlten sich die Römer bedroht und schickten zwei<br />
Legionen nach Messina. Deren Einwohner vertrieben die<br />
Schutztruppe aus Karthago, die in einer Burg stationiert war,<br />
und öffneten den Römern die Tore. Diesen Affront ließ sich<br />
wiederum Karthago nicht gefallen und befahl Tausende Söldner<br />
auf die Insel.<br />
Es kam zum Krieg der Großmächte. Karthago gegen Rom.<br />
Ein Kampf, der Geschichtsschreiber und Literaten bis heute<br />
beschäftigt. Der Konflikt um Sizilien und um die Dominanz<br />
im westlichen Mittelmeer dauerte 23 Jahre lang. Er ging als<br />
Erster Punischer Krieg in die Historie ein.<br />
Für Karthago endete er desaströs. 241 v. Chr. sah der Rat<br />
keinen anderen Ausweg mehr: Er beauftragte den Kommandeur<br />
Hamilkar Barkas, den Vater von Hannibal, Frieden mit<br />
Rom zu schließen. Dieser musste den Siegern versprechen,<br />
Sizilien aufzugeben, alle römischen Kriegsgefangenen freizulassen<br />
und 2200 Talente zu zahlen. Eine gigantische<br />
Summe: Der gesamte Attische Seebund, ein Zusammenschluss<br />
zahlreicher Städte um Athen, hatte vier Jahre zuvor<br />
rund 1500 Talente als gemeinsame Steuern eingenommen.<br />
In einem Rekordjahr. Karthago war durch den teuren Krieg<br />
ohnehin schon pleite. Die Strafzahlung überforderte den<br />
Staat. Wie sollte er nun seine Kämpfer entlohnen?<br />
Mehrmals hatten die gekauften Soldaten schon auf ihr<br />
Geld warten müssen. Nun hatten sie genug. In Karthago kam<br />
es zu einem vierjährigen Aufstand der gallischen Söldner,<br />
dem sich nordafrikanische Stämme anschlossen. Mühsam<br />
schlug der Rat die Revolte nieder. Doch währenddessen besetzte<br />
Rom einfach Sardinien - auch Karthagos Stützpunkte.<br />
Das Ansehen als Großmacht hatten die Phönizier eingebüßt,<br />
ebenso die Vormachtstellung im Mittelmeerraum.<br />
Die Elite Karthagos wollte sich damit nicht abfinden. Sie<br />
eroberte große Teile des heutigen Spaniens. Als später der<br />
Feldherr Hannibal versuchte, den vergangenen Glanz zurückzugewinnen,<br />
begann der Untergang Karthagos.<br />
Mit einem gewaltigen Söldnerheer samt Kriegselefanten<br />
zog er 218 v. Chr. von Spanien aus über die Alpen, siegte<br />
in zahlreichen Schlachten, rückte auf Rom vor. Zu einem<br />
Triumph über das Imperium Romanum fehlte indes die Verstärkung.<br />
Im Ersten Punischen Krieg hatte Karthago seine<br />
Flotte eingebüßt, das Meer kontrollierten die Römer. Bei<br />
Hannibals Armee traf kaum Nachschub ein. Mit jedem Sieg,<br />
in jeder Schlacht, wurde sein Heer kleiner. Und es gelang ihm<br />
nicht, genügend neue Verbündete gegen Rom zu gewinnen.<br />
201 v. Chr. endete der Zweite Punische Krieg, Hannibal ging<br />
ins Exil. Karthago verlor sein restliches Imperium.<br />
Knapp ein halbes Jahrhundert später fielen die Römer in<br />
Nordafrika ein. Sie marschierten auf Karthago zu, belagerten<br />
die Stadt, überwanden die Mauern und kämpften die Verteidiger<br />
nieder. Die Römer entfachten eine Feuersbrunst, die die<br />
Häuser, die prächtigen Tempel, den stolzen Kriegshafen verzehrte.<br />
Wer überlebte, wurde versklavt. Der Dritte Punische<br />
Krieg endete 146 v. Chr. mit der völligen Zerstörung Karthagos<br />
- der Stadt und des Reiches.<br />
Die Sieger vernichteten alle Spuren der Karthager. Und<br />
die Geschichte schrieben von nun an nur sie. Die Römer.<br />
Hauke Friederichs war auf einer Tunesienreise<br />
enttäuscht. wie wenige Spuren noch vom alten<br />
Karthago zu finden sind. Wie groß muss der Hass<br />
Roms gewesen sein. dass dessen Legionäre alle<br />
Spuren der Rivalin so gründlich vernichteten?<br />
88 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
Zahlen der Geschichte<br />
Die alten<br />
Ägypter kannten<br />
2000<br />
Gottheiten.<br />
Um durchschnittlich VIER STOCKWERKE<br />
pro Woche wuchs das Chrysler Building<br />
in New York bei seinem Bau von 1928 bis<br />
1930. Für die damalige Zeit ein Rekord.<br />
Chinesen sind durch<br />
MAO ZEDONGS "Kulturrevolution"<br />
ums Leben gekommen.<br />
10 MAL SO VIEL WIE EIN<br />
HOLLÄNDISCHER HANDWERKER IM<br />
JAHR VERDIENTE, KOSTETE EINE<br />
TULPENZWIEBEL ZUM HÖHEPUNKT<br />
DER TULPENMANIE 1636.<br />
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Diesmal im Originalton: Walt Whitman schildert die Ermordung Abraham Lincolns<br />
Die populäre Nachmittagszeitung<br />
Washingtons,<br />
der kleine "Evening Star",<br />
hatte (. . .) die Meldung<br />
verbreitet Der Präsident<br />
und seine Gattin werden am heutigen<br />
Abend im Theater sein ( . . . ) Und so<br />
war das Theater bis auf den letzten<br />
Platz besetzt, viele der Damen in ihren<br />
besten und schönsten Kleidern, die<br />
Offiziere in Uniform, viele bekannte<br />
Bürger, junge Leute, der übliche Glanz<br />
der Gaslaternen, der übliche Magnetismus<br />
so vieler Menschen, eine fröhliche<br />
Stimmung, Parfüm, Musik von Geigen<br />
und Flöten ( . . .)<br />
Der Präsident kam zeitig und verfolgte<br />
zusammen mit seiner Frau das Stück<br />
von der großen Staatsloge im zweiten<br />
Rang aus, ursprünglich zwei Logen,<br />
bei denen man die Wand herausgenommen<br />
hatte, üppig in den National-<br />
farben geschmückt. Der Lauf des<br />
Stückes (. . .) ("Unser amerikanischer<br />
Vetter"), in welchem neben anderen<br />
Personen, wenn man sie so nennen<br />
will, ein Yankee, wie man ihn noch<br />
niemals erblickt, jedenfalls gewiß<br />
nicht in Nordamerika, nach England<br />
kommt, mit all dem eitlen Geschwätz,<br />
den Verwicklungen, den Kulissen, wie<br />
sie heute zum populären Theater<br />
gehören (...) war wohl etwa bis zum<br />
zweiten Akt vorgedrungen, als mitten<br />
in dieser Tragödie oder Komödie oder<br />
wie es auch immer genannt werden<br />
mag, wie zum Kontrapunkt, als wolle<br />
die Natur, die Muse selbst, die armseligen<br />
Mimen verspotten, jene Szene<br />
kam, die sich so schwer in Worte<br />
fassen läßt ( . ..) Es gibt in dem Stück<br />
eine Szene, die in einem Salon unserer<br />
Tage spielt und in welcher zwei<br />
formidable englische Damen von dem<br />
formidablen und unmöglichen Yankee<br />
erklärt bekommen, dass er mitnichten<br />
der wohlhabende Mann ist, für den<br />
sie ihn gehalten haben, und folglich<br />
kein attraktiver Heiratskandidat; und<br />
nachdem die Mitteilung gemacht ist,<br />
geht das Trio von der Bühne ab, so dass<br />
diese einen Moment lang leer bleibt.<br />
Eine Pause, und für einen Augenblick<br />
stockte die Handlung. Und das war der<br />
Augenblick, in dem Abraham Lincoln<br />
ermordet wurde. Es war ein ungeheuerliches<br />
Ereignis, dessen Wellen bis in<br />
die weiteste Ferne reichten, eines, das<br />
über Jahrhunderte in die Zukunft<br />
hinaus greift, in die Politik, Geschichte,<br />
Kunst etc. der Neuen Welt, doch der<br />
Mord selbst geschah mit der Unauffälligkeit<br />
und Bescheidenheit eines ganz<br />
alltäglichen Ereignisses - dem Aufplatzen<br />
einer Samenkapsel an einer<br />
Pflanze etwa. Ein Gemurmel hatte sich<br />
92 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
erhoben, während Kulissen geschoben<br />
wurden usw., und in diesem Gemurmel<br />
fiel ein Pistolenschuß, den damals<br />
nicht ein Hundertstel des Theaterpublikums<br />
hörte - und doch wurde es einen<br />
Moment lang stiller - eine unbestimmte,<br />
erschrockene Erregung -, und dann<br />
erhebt sich in der sternenbannergeschmückten<br />
Präsidentenloge plötzlich<br />
eine Gestalt, ein Mann klettert auf die<br />
Brüstung, steht einen Moment lang auf<br />
dem Geländer und springt dann hinab<br />
zur Bühne, ein Sprung von vielleicht<br />
vierzehn oder fünfzehn Fuß, strauchelt<br />
beim Aufprall, bleibt mit dem Absatz in<br />
der üppigen Drapierung (der amerikanischen<br />
Flagge) hängen, fällt auf ein<br />
Knie, kommt sofort wieder hoch und<br />
richtet sich auf, als sei nichts gewesen<br />
(tatsächlich verrenkt er sich den<br />
Knöchel, doch spürt er es zunächst<br />
nicht), und dann geht diese Gestalt<br />
Booth, der Mörder, in einen schlichten<br />
schwarzen Anzug gekleidet, barhäuptig,<br />
mit vollem, schimmerndem,<br />
rabenschwarzem Haar, die Augen<br />
blitzend vor Entschlossenheit wie die<br />
eines wilden Tieres, und doch mit einer<br />
merkwürdigen Ruhe, in der einen<br />
Hand ein großes Messer - über die<br />
Bühne, nur einen Schritt vom Rampenlicht,<br />
dreht sich dem Publikum zu,<br />
zeigt sein Gesicht von klassischer<br />
Schönheit, erleuchtet von jenen<br />
Basiliskenaugen, gerötet von Verzweiflung,<br />
vielleicht von Wahnsinn - ruft<br />
mit fester Stimme die Worte Sic<br />
sem per tyrannis - und dann geht er<br />
mit weder langsamen noch allzu<br />
raschen Schritten schräg über die<br />
Bühne ab und verschwindet ( . . . )<br />
Einen Moment lang ungläubige Stille<br />
- ein Schrei - Mord wird gerufen - Mrs.<br />
Lincoln beugt sich aus der Loge vor,<br />
Wangen und Lippen aschfahl, und<br />
unwillkürlich zeigt sie auf den Fliehenden<br />
und ruft: Er hat den Präsidenten<br />
ermordet ... Noch einen Augenblick<br />
lang bleibt alles ungläubig still- und<br />
dann der Thmult - dann die Mischung<br />
aus Entsetzen, Lärm, Ungewißheit-<br />
(in der Ferne das Geräusch eines rasch<br />
davongaloppierenden Pferdes) - Leute<br />
drängen sich vor, werfen Stühle um,<br />
durchbrechen Geländer - eine Szene,<br />
die noch wirrer wird durch den<br />
Lärm - ungeheure Verwirrung und<br />
Furcht - Frauen fallen in Ohnmacht<br />
Gebrechliche stürzen nieder und<br />
geraten unter die Füße der Mengeüberall<br />
Schmerzensschreie - die breite<br />
Bühne quillt plötzlich über vor dichtgedrängten<br />
Menschen jeglicher Herkunft,<br />
wie ein gräßlicher Karneval - alles<br />
stürmt dorthin - die Kräftigeren unter<br />
den Männern zumindest - die Schauspielerinnen<br />
und Schauspieler in ihren<br />
Kostümen, mit geschminkten Gesichtern,<br />
und der Todesschrecken zeigt sich<br />
durch das Rouge, einige zittern - einige<br />
weinen - die Schreie, die Rufe, verwirrte<br />
Reden - alles verdoppelt, verdreifacht<br />
- einigen gelingt es, von der<br />
Bühne aus Wasser zur Präsidentenloge<br />
hinaufzureichen - andere versuchen<br />
hinaufzuklettern (. . .) Inmitten von<br />
all dem sprengen die Soldaten der<br />
Leibgarde herein, von anderen verstärkt<br />
- (etwa zweihundert alles in<br />
allem) - sie stürmen das Haus, vor<br />
allem die oberen Ränge, in flammender<br />
Wut, attackieren das Publikum regelrecht,<br />
mit aufgepflanzten Bajonetten,<br />
Musketen und Pistolen, rufen Hinaus!<br />
Hinaus mit euch, ihr -söhne! ... So war<br />
diese wilde Szene, oder ein Bild davon<br />
eher, im Theater in dieser Nacht.<br />
Auch draußen ein Menschenauflauf,<br />
schockiert, verwirrt, aufgewühlt, Leute,<br />
denen jeder Anlaß recht gewesen wäre,<br />
die Anspannung zu lösen, und mehrmals<br />
kamen Unschuldige nur knapp<br />
mit dem Leben davon. Ein solcher Fall<br />
war ganz besonders dramatisch. Etwas<br />
hatte die Menge gegen einen Mann<br />
aufgebracht, vielleicht etwas, das er<br />
gesagt hatte, vielleicht geschah es auch<br />
ohne jeden Grund, und sie wollten ihn<br />
tatsächlich an einem Laternenpfahl<br />
aufknüpfen, doch eine Handvoll<br />
heldenhafter Polizisten retteten ihn; sie<br />
nahmen ihn in ihre Mitte und kämpften<br />
sich langsam und unter beträchtlichen<br />
Gefahren den Weg zur Wache<br />
frei ... Es war eine Episode, in welcher<br />
sich das ganze Geschehen spiegelte.<br />
Die erregte Menschenmenge, die bald<br />
hierhin, bald dorthin drängte - das<br />
Dunkel, die Rufe, die bleichen Gesichter,<br />
verängstigte Menschen, die<br />
vergebens versuchten, ins Freie zu<br />
kommen - der Angegriffene, noch<br />
nicht ganz der Meute entrissen,<br />
totenbleich - der stille, entschlossene<br />
Trupp Polizisten, unbewaffnet bis auf<br />
ihre machtlosen Schlagstöcke, und<br />
doch ernst und unbeirrbar auf ihrem<br />
Weg durch die wogenden Massen - es<br />
war eine Szene, die paßte, ein Tribut an<br />
das große Drama des Mordes ... Sie<br />
erreichten die Wache mit dem Geretteten,<br />
den sie zu seinem Schutz für die<br />
Nacht einsperrten, und am Morgen<br />
entließen sie ihn wieder.<br />
Und inmitten dieses Pandämoniums<br />
aus sinnlosem Haß, den Soldaten,<br />
dem Publikum, der Menschenmenge<br />
draußen - der Bühne, den Schauspielern<br />
und Schauspielerinnen, den<br />
Schminktöpfen, Pailletten, Gaslaternen<br />
- rinnt das Lebensblut aus den Adern<br />
des Besten, Größten unseres Landes,<br />
schon steht ihm der Todeshauch auf<br />
den Lippen ... So, flüchtig skizziert, trug<br />
sich der Tod des Präsidenten Lincoln<br />
zu. So plötzlich, in einer Mordtat, die an<br />
Entsetzen nicht ihresgleichen kennt.<br />
Doch er starb ohne Schmerzen.<br />
Entnommen aus:<br />
Georg Brunold (Hg.):<br />
Nichts als die Welt.<br />
Reportagen und<br />
Augenzeugenberichte<br />
aus 2500 Jahren.<br />
684 Seiten. 85 Euro.<br />
Verlag Galiani BerHn<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 93
Rätsel<br />
BESONDERE FRAGEN ZUR<br />
13<br />
1 2 3 4<br />
5 6 7 8 9 10 11 12<br />
14<br />
Geschichte<br />
Das Lösungswort ergibt sich aus den B uchstaben<br />
in den gelben Feldern - in richtiger Re ihenfolge<br />
geordnet. Unter den Einsendern des L ösungsworts,<br />
es bezieht sich auf das Foto unten, ver losen wir<br />
zehn Jahresabonnements von P.M. MA GAZIN<br />
15 16<br />
18<br />
20 21<br />
25 26<br />
30<br />
34<br />
37<br />
38<br />
17<br />
19<br />
22 23 24<br />
27 28 29<br />
39<br />
31<br />
32 33<br />
35 36<br />
40 41 42 43<br />
44<br />
45<br />
46 47<br />
48<br />
49<br />
50 51<br />
52<br />
53 54<br />
55<br />
56 57<br />
58 59<br />
60 61 62<br />
63 64 65 66<br />
67 68 69 70 71<br />
72<br />
73<br />
74 75 76<br />
77 78<br />
79 60<br />
81 82 83<br />
Waagerecht: 1 Abk.: Antriebsschlupfregelung<br />
4 Pfrieme 9 Torfartige Schicht 13 Raumtonverfahren<br />
(Kw.) 14 Fabelname des Katers 15<br />
Platzdeckchen 16 Österr. Schriftsteller t 1942<br />
17 Frauenname 18 Angloamerikanisches Flächenmaß<br />
19 Dt. Bildhauerin und Grafikerin (Käthe) t<br />
20 Heiligenbilder der Ostkirchen 22 Niemand 25<br />
Farbton 27 Englischer weibl. Vorname 28 Frz.:<br />
Gott 30 Ausgangsleistung (engl.) 32 Astwerk 34<br />
Andächtiger 35 Sächsischer Generalleutnant<br />
( ... Hammer) t 1926 37 Storchenartiger Vogel 39<br />
Fruchtbare WüstensteIle 41 Ortsbestimmung 44<br />
Scherzhaft: Schüler 49 Britisch-amerikanisches<br />
Hohlmaß 50 Liliengewächse 51 Hölzerne Wandvertäfelung<br />
53 Ungesäuertes Passahbrot 56<br />
Keynes' Bezeichnung tür den Versailler Vertrag:<br />
... -Frieden 58 Angehörige des japanischen<br />
Ritteradels 60 Schmaler Bergeinschnitt 62 Gereizt.<br />
unruhig 64 Erschöpft 67 Trennpunkte über<br />
Vokalen 70 Hilfsgeistlicher 72 Bei Vorlage zahlbar<br />
(ital.. 2 W.) 74 Billionenfaches einer Einheit<br />
76 Küstenfluss in Polen 77 Dt. Maler (Franz)<br />
t1916 78 Verbindungsbolzen 79 Schweiz.: Aperitif<br />
80 Überbleibsel 82 Männername 84 Wütend<br />
85 Vorname Eulenspiegels 86 Felderträge 89<br />
Hafen auf Fehmarn 91 Poetisch: golden 93 Einfaches<br />
Fahrzeug 94 Truppenunterkunft 96 Arab.<br />
Fürstentum 99 Eselslaut 101 Japanische Stadt<br />
auf Hokkaido 102 Spiel beginn beim Faustball<br />
(Mz.) 103 Kopfschutz 104 Politische Einigung<br />
1914 105 Bäuerlicher Nachfolger 106 Stadt und<br />
See in Nordamerika 107 Kohleprodukt 108 Laubbaum<br />
109 Ozean<br />
Senkrecht: 1 Musik: ziemlich 2 Nahrungsersatz<br />
im 1. Weltkrieg 3 Lat. Vorsilbe: rückwärts<br />
4 Gliedmaßen 5 Mantelartiger Überwurf im MA. 6<br />
Ort westlich von Locarno 7 Vorname des Malers<br />
Nolde t 1956 8 Ugs.: ein neues Jahrzehnt be-<br />
84 85<br />
89 90 91 92<br />
94 95 96<br />
101 102<br />
104<br />
106 107<br />
Lösungswort:<br />
ginnen 9 Vorderindische Völkergruppe 10 Weibl.<br />
Kosename 11 Altersruhegeld 12 Hauptstadt der<br />
Steiermark 21 Früh. Reich am Niger 22 Rallenkranich<br />
23 Marschall Napoleons 111. 24 Frauenname<br />
25 Wüste in Innerasien 26 Hunnenkönig 27<br />
Preisrichter 29 Zitterpappeln 31 Krankentransportgerät<br />
33 Hochherzigkeit 36 Abk.: Oberste<br />
Heeresleitung 38 Span. Anrede: Herr 40 Lachsfisch<br />
42 Griech. Buchstabe 43 Stadt am Niederrhein<br />
44 Postsendung 45 Schwung 46 Luftschiff<br />
Amundsens 47 Freundlich 48 Abk.: anhängend<br />
51 Dt. Farbfernsehsystem (Abk.) 52 Buch der<br />
Bibel 54 Cheruskerfürst 55 Bezeichnung für<br />
unter einem best. Kriegstrauma leidende<br />
Frontsoldaten 57 Saiteninstrument 59 Epoche<br />
61 Bruder des Moses (A. T.) 63 Botanische Anlage<br />
65 Teil von Saudi-Arabien 66 Frz. Schauspieler<br />
(Jacques) t 68 Instandsetzung 69 Lat.. ital.: Meer<br />
70 Frz. Schlachtenort 1916 71 Düngesalz 73<br />
Abk.: vor Christus 74 Tropische Knollenfrucht 75<br />
97<br />
86 87 88<br />
93<br />
98 99 100<br />
105<br />
103<br />
108 109<br />
Überbleibsel 77 Lau, sanft, zart 81 Spechtmeise<br />
83 Kirchenbann 85 Junger Mensch 87 Antiker<br />
Dreiruderer 88 Empfänger, Käufer 90 Belg. Zeichner<br />
t 91 Grabgewölbe 92 Ungezwungen, lässig<br />
93 Tee-, Kaffeegefäß 94 Hafenstadt in Japan 95<br />
Wickel gewand der Inderin 97 Fliegenlarve 98<br />
Wirklich, tatsächlich 100 Weißes liturg. Gewand<br />
102 Schweiz. Flächenmaß<br />
Sie haben zwei Möglichkeiten, das Lösungswort an<br />
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Kennwort: HISTORY-Rätsel, 20733 Hamburg<br />
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Einsendeschluss: 12. Januar 2015<br />
Teilnehmen kann nur, wer Postkarte oder Online-Formular<br />
eigenständig ausfüllt und absendet. Ausdrücklich ausgeschlossen<br />
sind Einsendungen, die beauftragte Dienstielster<br />
für ihre Kunden/Mitglieder vornehmen. Mitarbeiter des<br />
Verlags Gruner + Jahr sowie deren Angehörige dürfen nicht<br />
teilnehmen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
94 P. M. HISTORY - JANUAR 2016
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Kanada: German Canadian News<br />
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Lösung<br />
S H 0 P S J e ASS A T A<br />
TAG F A HR T I I L E R<br />
des Rätsels<br />
A G LA I AIN U L. L.!... N<br />
aus 12/2015 RA I ..!1!. NOB ES.!...<br />
N.2...R K elK A o.!... T T<br />
Lösungsworl: SL e l o ...!:... L JJ o B 0 E<br />
HANSESTADT<br />
K l A NG S I IeR U E X<br />
AR T...!...G I I C O..!!JN R2,.<br />
L U E B E e Kle L I T E<br />
E L B Eie N N Are H E RI I N E S<br />
S A L l N El..!.. R A I!!.lS ERB E<br />
L A ENl s P U RI LOOB I ER<br />
A V I S I H E I K E Lli N K A<br />
SEKT I L A OUNGjR ON ER<br />
P R A I Al e ERG E Ni l SE R E<br />
AHN elG AR NIT I E RIA N NI<br />
RAN G E Rl o E REIo E KHA N<br />
K N e F"fE T AGe R erL e E A E<br />
ASCO TIo D E UR"] P UER eE<br />
N U HRl s TAHLH O FIR I N D<br />
K N I L c Hi s R E I T I F I N T E<br />
AG N I IH 0 5 elA N 5 Al e G A L<br />
GEWINNER AUS HEFT 11/2015<br />
Je ein Jahresabo "P.M. Magazin" haben gewonnen:<br />
Daniela Gruber, Wien; Ronny Sc holz, Kraußnitz;<br />
Walfgang Mitiacher, Leonberg; Günter Wahl rabe,<br />
Werdau; Werner Maasch, Markranstädt; Gero Erber,<br />
Tanna; Frank Schulze, Berlin; Klaus Blümel, Hohensee;<br />
Marlene Winkler. Schöllnach; Manika Matzke.<br />
Wolmirstedt<br />
Doppelagent Chapman<br />
-> "Hitlers Geheimagenten"<br />
P.M. HI5TORY 11/2015<br />
Euer Heft "Hitlers Geheimagenten"<br />
war wieder sehr informativ und aufschlussreich.<br />
Einen Mann habe ich<br />
allerdings vermisst: den Doppelagenten<br />
und Topspion Eddie Chapman.<br />
Eddie Chapman war ein Dieb und<br />
Ganove, der von den Deutschen angeworben<br />
wurde, dann aber heimlich<br />
für den britischen Secret Service gearbeitet<br />
hat. Er hätte mindestens auch<br />
einen Artikel verdient. Aber sonst war<br />
euer Heft wieder top. Macht weiter so.<br />
Reinhold Fricke, Braunschweig<br />
Antwort der Redaktion:<br />
Danke für das Lob, das uns sehr freut.<br />
Und ja, Sie haben recht: Eddie Chapman<br />
wäre auch eine Geschichte wert<br />
gewesen. Nur war die Rolle des Doppelagenten<br />
schon besetzt: durch Pujol<br />
alias "Garbo".<br />
Von Anfang an gewusst<br />
-> "Hitlers Geheimagenten"<br />
P.M. HI5TORY 11/2015<br />
Vielen Dank für die interessanten<br />
Artikel in der letzten Ausgabe. Wie<br />
konnten gebildete Menschen Kriege<br />
und Massenmorde planen? Ich widerspreche<br />
Hauke Friederichs, dem Autor.<br />
Am Ende des Artikels über Canaris<br />
schreibt er, dass der Admiral 1944<br />
"sich von den Nazis abgewandt hat<br />
und den militärischen Widerstand gegen<br />
Hit/er unterstützte". Es fällt mir<br />
schwer, daran zu glauben: Für mich<br />
gehört Canaris auch auf die Anklagebank.<br />
Er hat die Kriege mitgeplant,<br />
Erfolge mit dem Führer gefeiert, an<br />
den Massenmorden und am Holocaust<br />
mitgewirkt. So ein intelligenter<br />
Mensch und Offizier muss doch von<br />
Anfang an gewusst haben, was "der<br />
gewöhnliche" Faschismus bedeutet.<br />
Ich halte es für eine falsche Interpretation,<br />
Canaris wie auch andere Offiziere<br />
zu idealisieren: Der Weltkrieg<br />
lief bereits seit fünf Jahren, seine<br />
Planung lag noch weiter zurück. Alle<br />
Beteiligten haben es gewusst.<br />
Antwort der Redaktion:<br />
Galina Greil, per E-Mail<br />
Unser Autor hat sich auf zuverlässige<br />
Quellen gestützt. Dass Canaris vom<br />
Anhänger Hitlers zum Gegner wurde,<br />
ist in der Forschung unumstritten. So<br />
bezeichnen ihn das Deutsche Historische<br />
Museum (OHM) und die KZ<br />
Gedenkstätte Flossenbürg als Teil<br />
des militärischen Widerstands. Das<br />
OHM schreibt: "Ein Widerstandszentrum<br />
in der Wehrmacht war die militärische<br />
Abwehr unter Admiral Wilhelm<br />
Canaris, der auch die Aktivitäten<br />
seines Stabschefs Generalmajor Hans<br />
Oster deckte."<br />
Heydrich, der Sachse<br />
-> "Hitlers Geheimagenten"<br />
P.M. HI5TORY 11/2015<br />
Kleiner Hinweis zum aktuellen Heft<br />
und dem interessanten Artikel über<br />
Heydrich. Ich glaube, er ist kein Sachse<br />
(wie angegeben), sondern stammt<br />
aus Sachsen-Anhalt ... ansonsten tolles<br />
Magazin!<br />
Thomas Grimm, per E-Mail<br />
Antwort der Redaktion:<br />
Das Land Sachsen-Anhalt wurde erst<br />
im Juli<br />
1947 gegründet. Heydrich<br />
wurde am 7. März 1904 in Halle an<br />
der Saale geboren. Damals gehörte<br />
die Stadt noch zur Provinz Sachsen.<br />
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P.M. HISTORY<br />
Am Baumwall 11<br />
20459 Hamburg<br />
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Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 95
Vorschau<br />
TITELTHEMA<br />
DAS JAPAN DER SAMURAI<br />
Bis ins 19. Jahrhundert war das Reich der Shogune vom Rest der Welt abgeschirmt. Die<br />
edlen Samurai-Krieger sicherten das System ihrer Herren - stets bereit, für sie zu sterben.<br />
P.M. HISTORY schildert das Leben der treuen Kämpfer und ihren Ehrenkodex, beleuchtet<br />
die Sicht europäischer Besucher auf Japan und beschreibt, warum jahrhundertelang<br />
verschwiegen wurde, dass auch Frauen Heldentaten auf dem Schlachtfeld vollbrachten<br />
96 P. M. Hl5TORY - JANUAR 2016
IInpressUIn<br />
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Anmerkung zu den BHdnachweisen:<br />
Wir haben uns bemüht. sämtliche Inhaber der 8ildrechte zu ermitteln.<br />
Sollte dem Verlag gegenüber dennoch nachgewiesen werden, dass<br />
eine Rechtsinhaberschaft besteht. entrichten wir das branchenubliche<br />
Honorar nachträglich.<br />
P. M. HISTORY - JANUAR 2016 97
Sprengsatz<br />
"Wer nicht an Wunder<br />
glaubt, ist kein Realist."<br />
DAVID BEN-GURION (1886-1973)<br />
Ich glaube nicht an<br />
Wunder. Ich habe zu viele<br />
Oscar Wilde (1854-1900).<br />
irischer Schriftsteller<br />
Es gibt zwei<br />
Arten zu leben.<br />
Entweder so) als<br />
wäre nichts ein<br />
Wunder., oder so)<br />
als wäre alles<br />
ein Wunder.<br />
/<br />
Albert Einstein (1879-1955).<br />
deutscher Physiker<br />
FÜR WUNDER MUSS<br />
MAN BETEN, FÜR<br />
VERÄNDERUNGEN<br />
ABER ARBEITEN.<br />
Thomas von Aquin (1225-1274),<br />
italienischer Dominikanermönch<br />
und Philosoph<br />
F<br />
est auf dem Boden<br />
der Tatsachen stehen<br />
und zugleich<br />
das Unglaubliche für<br />
möglich ha Iten - wie soll<br />
das zusammenpassen?<br />
David Ben-Gurion war<br />
der erste Ministerpräsident<br />
Israels. ,,2000 Jahre haben wir auf<br />
diese Stunde gewartet", begann er am<br />
14. Mai 1948 die Rede zur Staatsgründung.<br />
"Nun ist es geschehen. Wenn die Zeit erfüllt<br />
ist, kann Gott nichts widerstehen." Israels<br />
Gründung war zweifellos ein Wunder. Ein<br />
"zerstreutes und sterbendes Volk ohne<br />
eigenes Land und eigene Sprache", wie es<br />
der spätere Staatspräsident Schi mon Peres<br />
formulierte, fand sich zu einem souveränen,<br />
demokratischen Staat zusammen - in<br />
den Territorien, die die Vereinten Nationen<br />
1947 der jüdischen Bevölkerung im Mandatsgebiet<br />
Palästina zugestanden hatten.<br />
Der mit knapp 20 Jahren aus Polen nach<br />
Palästina ausgewanderte Ben-Gurion hielt<br />
gegen alle Widerstände unbeirrt an seinen<br />
Visionen und Idealen fest. Er wusste: Ein<br />
Wunder fällt einem nicht durch Nichtstun<br />
in die Hände, es braucht diplomatisches<br />
Geschick, viel Einsatz und Arbeit. Ein<br />
Realist weiß, dass es wundersame Fügungen<br />
in der Geschichte gibt, der deutsche<br />
Mauerfall1989 ist ein anderes Beispiel dafür.<br />
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein<br />
Realist" - ein Satz, der Hoffnung gibt, dass<br />
selbst der Konflikt zwischen Juden und den<br />
ebenfalls hier siedelnden Arabern endlich<br />
sein könnte.<br />
Das Wunder ist das<br />
einzig Reale, es gibt<br />
nichts außer ihm.<br />
Christian Morgenstern (1871-1914).<br />
deutscher Dichter und Schriftsteller<br />
DAS GROSSE<br />
UNZERSTÖRBARE<br />
WUNDER IST DER<br />
MENSCHENGLAUBE<br />
AN WUNDER.<br />
/<br />
Jean Paul (1763-1825).<br />
deutscher Schriftsteller<br />
Das Wunderbarste<br />
an den Wundern ist,<br />
dass sie manchmal<br />
wirklich geschehen.<br />
Gilbert Keith Chesterton (1874-1936),<br />
englischer Journalist und Schriftsteller<br />
("Pater Brown"-Krimis)<br />
DAS GRÖSSTE UND<br />
REINSTE WUNDER,<br />
WÄRE ES ALLEN<br />
SICHTBAR, DAUERTE<br />
ABER NUR EINEN<br />
AUGENBLICK, ES FIELE<br />
DURCH DAS HIRN<br />
DER MENSCHHEIT<br />
GLATT DURCH.<br />
Prentice Mulford (1834-1891).<br />
US-amerikanischer Journalist,<br />
Schriftsteller und Philosoph<br />
98 P. M. HISTORY - JANUAR 2016