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DIGITALE<br />

17. – 20.03.2016 THEMENTAGE<br />

WELTEN<br />

WELCHEN<br />

FORTSCHRITT<br />

WOLLEN WIR?<br />

thementage_2016 01


Editorial<br />

Editorial<br />

Das Liveerlebnis Theater ist jeden Abend einzigartig. Es berührt, erheitert, fordert<br />

Zustimmung und Widerspruch und besticht durch Unmittelbarkeit. Mit seinen ureigenen<br />

Mitteln entwirft es eine Gegenwelt zur virtuellen Realität. Gleichzeitig<br />

wird das Theater als Ort politischer Auseinandersetzungen und Spiegel gesellschaftlicher<br />

Entwicklungen durch die Digitalisierung radikal herausgefordert.<br />

Dass es im Zuge technologischer Umwälzungen nach neuen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten<br />

und Themen sucht, ist folgerichtig und konsequent: Die<br />

digitale Revolution stellt nicht nur andere mediale Mittel bereit, sie verändert auch<br />

unser Fühlen, Denken und Handeln. Zudem wird ein konsensfähiges Verständnis<br />

von Privatheit und Öffentlichkeit, das den Rahmen klassischer Inszenierungen<br />

bildet, mit der digitalen Überwachung und Vermessung des Menschen neu<br />

verhandelt.<br />

Unter dem Titel »Digitale Welten – welchen Fortschritt wollen wir?« fragt das<br />

Schauspiel Frankfurt in Theaterstücken, Diskussionen und Vorträgen nach künstlerischen<br />

und gesellschaftlichen Veränderungen sowie Risiken und Chancen der<br />

neuen Technologien.<br />

In der Eröffnungsdiskussion wird es um aktuelle Entwicklungen, digitale Zukunftsvisionen<br />

sowie deren Konsequenzen für unser humanistisches Selbstverständnis<br />

gehen. In vier Panels zeigen prominente Gäste aus den Bereichen Wirtschaft, IT,<br />

Publizistik, Soziologie und Philosophie, wie sich unser Verständnis von Privatheit<br />

und Öffentlichkeit im Zuge der digitalen Revolution wandelt und welche Folgen<br />

sich daraus für Biografien, Karrieren, Beziehungen, Freundschaften sowie politische<br />

und kreative Gestaltungsmöglichkeiten ergeben. Regisseure hinterfragen in<br />

einer abschließenden Debatte, in welcher Weise die veränderten sozialen Räume<br />

im Theater bespiegelt, aufgenommen und weiterentwickelt werden können.<br />

Jennifer Haley schreibt: »Die meisten Menschen, besonders Literaten, kämpfen<br />

gegen das technologische Zeitalter. Sie haben Angst, dass die Technik unsere<br />

menschlichen Beziehungen und unsere Intimität bedroht.« Die Begegnung von IT-<br />

Spezialisten und Geisteswissenschaftlern in den Debatten verspricht einen Wirklichkeitsabgleich.<br />

Und auch die Stücke des Schauspiel Frankfurt stellen sich diesen<br />

Fragen. Jennifer Haley wirft in »Die Netzwelt« einen verstörenden Blick in die<br />

Zukunft, fragt nach den Verlockungen virtueller Realitäten und schärft das Bewusstsein<br />

für einen verantwortungsvollen Umgang mit modernen Technologien.<br />

Frédéric Sonntag beschäftigt sich in seiner abgründigen Diskurskomödie<br />

»George Kaplan« mit Vernetzung, Virtualität und Überwachung sowie dem Zusammenwirken<br />

von Macht und Fiktion. Die Inszenierung des Theater Dortmund<br />

»4.48 Psychose« nimmt Sarah Kanes dunkles Gedicht zum Anlass, um die<br />

Quantifizierbarkeit des Menschen zu hinterfragen. Ist die Seele messbar, und was<br />

verspricht eine Mensch-Maschinen-Interaktion? Rimini Protokoll schickt in<br />

»Remote Frankfurt« den Zuschauer auf eine virtuelle Schnitzeljagd und ermöglicht<br />

ihm eine einzigartige Begegnung mit einer künstlichen Intelligenz.<br />

Im zweiten Teil des Heftes finden Sie Essays zu den Themen. Die meisten der<br />

Autoren können Sie auf den Podien erleben. Lassen Sie sich inspirieren. Wir<br />

freuen uns auf Sie.<br />

02 thementage_2016 03


Programm<br />

17.03. – 20.03.2016<br />

Schauspielhaus Kammerspiele Andere Orte Chagallsaal<br />

17.03.<br />

19.30 Uhr<br />

Eröffnungsdiskussion<br />

DIGITALE WELTEN –<br />

WELCHEN FORTSCHRITT<br />

WOLLEN WIR?<br />

Mit Petra Grimm, Christoph<br />

Kucklick, Christoph von der<br />

Malsburg, Lena-Sophie Müller<br />

Moderation Gert Scobel<br />

20.00 Uhr<br />

Inszenierung<br />

GEORGE KAPLAN<br />

Frédéric Sonntag<br />

Regie Alexander Eisenach<br />

18.30 Uhr<br />

Audiowalk<br />

REMOTE FRANKFURT<br />

Rimini Protokoll<br />

Treffpunkt: Friedhof Bornheim,<br />

Haupteingang<br />

18.03.<br />

19.30 Uhr<br />

Gastspiel Schauspiel Dortmund<br />

4.48 PSYCHOSE<br />

Sarah Kane<br />

Regie Kay Voges<br />

20.00 Uhr<br />

Inszenierung<br />

GEORGE KAPLAN<br />

Frédéric Sonntag<br />

Regie Alexander Eisenach<br />

18.30 Uhr<br />

Audiowalk<br />

REMOTE FRANKFURT<br />

Rimini Protokoll<br />

Treffpunkt: Friedhof Bornheim,<br />

Haupteingang<br />

19.03.<br />

19.30 Uhr<br />

Gastspiel Schauspiel Dortmund<br />

4.48 PSYCHOSE<br />

Sarah Kane<br />

Regie Kay Voges<br />

20.00 Uhr<br />

Inszenierung<br />

DIE NETZWELT<br />

Jennifer Haley<br />

Regie Bernhard Mikeska<br />

14.30 & 18.00 Uhr<br />

Audiowalk<br />

REMOTE FRANKFURT<br />

Rimini Protokoll<br />

Treffpunkt: Friedhof Bornheim,<br />

Haupteingang<br />

Vorträge / Diskussionen<br />

PRIVATHEIT UND ÖFFENTLICHKEIT IM DIGITALEN WANDEL<br />

Panel 1<br />

Freiheit. Brauchen wir einen neuen Begriff des Privaten?<br />

11.00 – 13.15 Uhr Impulsvorträge<br />

Ulrike Ackermann Privatheit und Öffentlichkeit im Wandel<br />

Sandro Gaycken Privatheit und Staat: Wie viel Sicherheit verträgt die Demokratie?<br />

Jörg Blumtritt Privatheit und Markt: Warum private Daten die Währung der Zukunft sind<br />

Moderation Ulrike Ackermann<br />

Anschließend Diskussion<br />

Panel 2<br />

Gleichheit. Die Entgrenzung der Arbeit oder Die Ökonomisierung des Privaten<br />

13.30 – 15.45 Uhr Impulsvorträge<br />

Markus Morgenroth Der durchleuchtete Angestellte oder Zum veränderten<br />

Verhältnis von Privatheit und Arbeit<br />

Lena Schiller Clausen Arbeitswelten der Zukunft – Von der Normierung zur Kreativität<br />

Kornelia Hahn Beziehung 2.0 – Wir sehen, was du fühlst<br />

Moderation Jan Tussing<br />

Anschließend Diskussion<br />

Panel 3<br />

Solidarität. Die neue Öffentlichkeit oder Die Macht der Vielen<br />

16.00 – 18.30 Uhr Impulsvorträge<br />

Bernhard Pörksen Die fünfte Gewalt. Empörung und Medienmisstrauen im digitalen Zeitalter<br />

Gesche Joost Politische Teilhabe: Wie viel Transparenz verträgt die Demokratie?<br />

Jürgen Kaube Meinungsgiganten oder Wer interpretiert die Welt?<br />

Moderation Friedemann Karig<br />

Anschließend Diskussion<br />

20.03.<br />

18.00 Uhr<br />

Inszenierung<br />

DIE NETZWELT<br />

Jennifer Haley<br />

Regie Bernhard Mikeska<br />

Panel 4<br />

Theater. Szenen privater Publicity und öffentlicher Interaktion<br />

19.30 – 20.15 Uhr Vortrag<br />

Verena Kuni Peep Show – Parade – Panem et Circenses: Modelle medialer Bühnen<br />

20.30 – 21.30 Uhr Diskussion<br />

Theater zwischen Authentizität und virtueller Realität<br />

Mit Stefan Kaegi, Oliver Reese, Angela Richter, Kay Voges<br />

Moderation Stefan Keim<br />

04<br />

thementage_2016 05


Eröffnungsdiskussion<br />

Eröffnungsdiskussion<br />

DIGITALE WELTEN – WELCHEN FORTSCHRITT WOLLEN WIR?<br />

Diskussion<br />

Donnerstag<br />

17.03.2016<br />

19.30 Uhr<br />

Schauspielhaus<br />

8 / 6 €<br />

Moderation<br />

Gert Scobel,<br />

Philosoph und<br />

Moderator [3sat]<br />

Mit<br />

Petra Grimm<br />

Christoph Kucklick<br />

Christoph von der Malsburg<br />

Lena-Sophie Müller<br />

Die digitale Revolution generiert Entwicklungen, die mehr Komfort ermöglichen,<br />

uns ein längeres Leben und eine bessere Gesundheit bescheren, Arbeitsprozesse<br />

beschleunigen, riesige Wissensbestände erschließen und einen Zugewinn an<br />

persönlichen Kontakten bieten. Obwohl die technischen Errungenschaften eine<br />

Optimierung sämtlicher Lebensbereiche ermöglichen, werden sie mit Skepsis betrachtet.<br />

Während die einen behaupten, große Umwälzungen hätten schon immer<br />

Ängste hervorgerufen, denn sie brächten Gewissheiten ins Wanken, warnen die<br />

anderen vor dem Verlust humanistischer Werte, die sie durch die Verschmelzung<br />

von Mensch und Maschine gefährdet sehen. Einig sind sich sowohl Skeptiker als<br />

auch Optimisten, dass Maschinen dem menschlichen Intellekt zunehmend überlegen<br />

sind. Rechner werden voneinander lernen, doch der Mensch wird ihre Theorien<br />

und Beweise bald nicht mehr verstehen. Unser Selbstbild gerät ins Wanken,<br />

der denkende Mensch, das »cogito ergo sum« ist gekränkt. Welche Vorteile verspricht<br />

die digitale Zukunft und zu welchem Preis? Nach welchen Kriterien wollen<br />

wir sie bewerten? Müssen wir unser humanistisches Selbstverständnis überdenken,<br />

und brauchen wir ein neues Gesellschaftsmodell? Wo verlaufen die<br />

Grenzen von Ethik und Technik? Welche Ängste sind berechtigt und welche entstehen<br />

schlicht aus Unwissenheit?<br />

Diskutanten<br />

Petra Grimm lehrt als Professorin Medienwissenschaft und Medienethik an der<br />

Hochschule der Medien, Stuttgart, und ist dort Leiterin des Instituts für Digitale<br />

Ethik. Sie forscht und publiziert unter anderem über Gewalt in und via Medien,<br />

Handy- und Internetnutzung, Medienethik sowie Privatheit und Medien. Außerdem<br />

gibt sie eine Schriftenreihe zur Medienethik heraus.<br />

Christoph Kucklick ist promovierter Soziologe und Chefredakteur von GEO.<br />

Als Autor schrieb er unter anderem für DIE ZEIT, brand eins und Capital. In seinem<br />

Buch »Die granulare Gesellschaft: Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst«<br />

beschreibt er die grundlegenden Umwälzungen unserer Zeit.<br />

Christoph von der Malsburg war Professor für Computer Science und Neurobiologie<br />

an der University of Southern California und Professor für Neuroinformatik<br />

an der Ruhr-Universität Bochum. Er engagiert sich am Frankfurt Institute for<br />

Advanced Studies [FIAS], das hochqualifizierte, internationale Forscher aus den<br />

Bereichen Physik, Mathematik, Hirnforschung, Life Science und Computerwissenschaften<br />

zusammenführt.<br />

Lena-Sophie Müller ist Geschäftsführerin der Initiative D21, Deutschlands<br />

größter gemeinnütziger Partnerschaft von Wirtschaft und Politik für die Gestaltung<br />

und Entwicklung der digitalen Gesellschaft. Zuvor war die studierte Politologin<br />

als Wissenschaftlerin am Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme<br />

[FOKUS] in Berlin tätig und leitete dort E-Government-Projekte.<br />

06<br />

thementage_2016 07


Audiowalk<br />

Rimini Protokoll<br />

Donnerstag 17.03.2016<br />

18.30 Uhr<br />

Freitag 18.03.2016<br />

18.30 Uhr<br />

REMOTE FRANKFURT<br />

RIMINI PROTOKOLL [KAEGI/KARRENBAUER]<br />

Samstag 19.03.2016<br />

14.30 & 18.00 Uhr<br />

Weitere Termine unter<br />

www.schauspielfrankfurt.de<br />

Treffpunkt: Friedhof<br />

Bornheim, Haupteingang<br />

Dortelweiler Straße 104<br />

60389 Frankfurt am Main<br />

Buslinie 30 und 34, Haltestelle<br />

Bornheimer Friedhof<br />

20 / 12 €<br />

Konzept / Skript / Regie<br />

Stefan Kaegi<br />

Co-Regie / Realisation<br />

»Remote Frankfurt«<br />

Jörg Karrenbauer<br />

Sound Design<br />

Nikolas Neeke<br />

Regieassistenz /<br />

Soundediting<br />

Ilona Marti<br />

Dramaturgie<br />

Aljoscha Begrich<br />

Juliane Männel<br />

Produktionsleitung<br />

Juliane Männel<br />

Produktionsassistenz<br />

Valerie Göhring<br />

Ein Ausweis wird als Pfand<br />

für die Ausgabe der Kopfhörer<br />

benötigt. Da längere Fußwege<br />

Teil des Audiowalks sind,<br />

empfehlen wir festes Schuhwerk<br />

sowie wetterfeste Kleidung.<br />

Die Tour endet nicht am<br />

Ausgangsort.<br />

In Online-Games begeben sich Menschen<br />

auf virtuelle Schnitzeljagd, die<br />

sich in der Realität noch nie begegnet<br />

sind. In »Remote Frankfurt« bricht eine<br />

solche Horde mit Funkkopfhörern in<br />

die reale Stadt auf. Geleitet wird sie<br />

von einer künstlichen Stimme wie man<br />

sie von Navigationssystemen oder Telefonwarteschleifen<br />

kennt. Unterwegs<br />

vertonen Kunstkopf-Aufnahmen und filmische<br />

Kompositionen die urbane<br />

Landschaft. Die Begegnung mit der<br />

künstlichen Intelligenz verleitet die<br />

Horde zum Selbstversuch. Wie können<br />

wir gemeinsam Entscheidungen treffen?<br />

Hören die anderen tatsächlich<br />

dasselbe? 50 Menschen beobachten<br />

sich gegenseitig, treffen individuelle<br />

Entscheidungen und sind doch gleichsam<br />

Teil einer Horde. Könnte das der<br />

Anfang einer Bewegung sein? Die Reise<br />

durch die Stadt wird zu einem kollektiven<br />

Film. Und während die künstliche<br />

Intelligenz menschliches Verhalten<br />

aus der Distanz eines Artfremden beobachtet,<br />

klingt ihre Stimme doch mit<br />

jedem Schritt menschlicher. Das Projekt<br />

»Remote Frankfurt« stellt die Frage<br />

nach der zukünftigen Rolle von künstlicher<br />

Intelligenz in unserem Alltag und<br />

bewegt sich als mobiles Forschungslabor<br />

von Stadt zu Stadt. Jede neue ortsspezifische<br />

Version baut auf der Dramaturgie<br />

der Vor-Stadt auf. Nach Aufführungen<br />

in 25 Städten in Europa, Indien,<br />

Amerika und zuletzt Abu Dhabi<br />

schreibt »Remote Frankfurt« das Stück<br />

weiter fort. | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />

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»Remote Frankfurt« ist eine Produktion<br />

von Rimini Apparat. In Koproduktion<br />

mit dem HAU Hebbel am<br />

Ufer Berlin, dem Maria Matos Teatro<br />

Municipal und dem Goethe-Institut<br />

Portugal, dem Festival Theaterformen<br />

Hannover / Braunschweig,<br />

dem Festival d’Avignon, dem<br />

Zürcher Theater Spektakel, der<br />

Kaserne Basel. | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />

| | | | | | | | | | | | | | | Gefördert aus Mitteln<br />

des Hauptstadtkulturfonds, unterstützt<br />

von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung<br />

und Fachausschuss Tanz und<br />

Theater Basel Stadt. In Koproduktion<br />

mit House on Fire und mit Unterstützung<br />

des Kulturprogramms der Europäischen<br />

Union. Stimmen von Acapela<br />

Group. | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />

08<br />

thementage_2016 09


Inszenierung<br />

Frédéric Sonntag<br />

Donnerstag<br />

17.03.2016<br />

20.00 Uhr<br />

Freitag<br />

18.03.2016<br />

20.00 Uhr<br />

GEORGE KAPLAN<br />

FRÉDÉRIC SONNTAG<br />

Kammerspiele<br />

30 / 22 / 16 €<br />

Schüler / Studenten 8 €<br />

Regie<br />

Alexander Eisenach<br />

Bühne<br />

Daniel Wollenzin<br />

Kostüme<br />

Lena Schmid<br />

Musik<br />

Sven Michelson<br />

Video<br />

Oliver Rossol<br />

Dramaturgie<br />

Michael Billenkamp<br />

Mit<br />

Franziska Junge<br />

Linda Pöppel<br />

Isaak Dentler<br />

Vincent Glander<br />

Viktor Tremmel<br />

Was verbindet eine Gruppe heillos<br />

zerstrittener Untergrund-Aktivisten mit<br />

den besten Drehbuchautoren Hollywoods<br />

und einer geheimen Regierung,<br />

die versucht, eine große Bedrohung für<br />

die innere Sicherheit eines Landes abzuwenden?<br />

Es ist vor allem ein Name:<br />

George Kaplan. Doch wer oder besser<br />

was verbirgt sich eigentlich hinter<br />

»George Kaplan«? Eine reale Person?<br />

Vielleicht ein Mythos? Ein gefährlicher<br />

Virus? Oder sogar eine Waffe? | | | | | | |<br />

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Der junge französische Autor<br />

Frédéric Sonntag spielt in seiner<br />

abgründigen Diskurs-Komödie mit<br />

Themen wie Virtualität, Vernetzung<br />

und Überwachung. In ihrem Kern<br />

kreist sie um die Frage, wie sich in<br />

unserer Zeit und in unserer Gesellschaft<br />

überhaupt noch Geschichten<br />

»glaubhaft« erzählen lassen. Der<br />

Kampf um Macht und Einfluss ist<br />

letztlich zu einem Kampf um die<br />

Deutungshoheit der Erzählungen<br />

und damit eng verknüpft auch der<br />

Bilder geworden. Wer die existierenden<br />

und kursierenden Erzählungen<br />

am geschicktesten für sich zu<br />

nutzen bzw. zu manipulieren versteht,<br />

ist der wahrhaft Mächtige<br />

unserer Zeit. In seiner farcenhaften<br />

Zuspitzung jongliert Frédéric Sonntag<br />

mit unseren Ängsten, Vorstellungen<br />

und unserer Skepsis. Es<br />

geht um Überwachung und Kontrolle,<br />

das Zusammenwirken von Macht<br />

und Fiktion, medial erschaffene<br />

Mythen und um die Unkontrollierbarkeit<br />

der sogenannten Wirklichkeit.<br />

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010<br />

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Gastspiel<br />

Sarah Kane<br />

Gastspiel des<br />

Schauspiel Dortmund<br />

Freitag<br />

18.03.2016<br />

19.30 Uhr<br />

4.48 PSYCHOSE<br />

SARAH KANE<br />

Samstag<br />

19.03.2016<br />

19.30 Uhr<br />

Schauspielhaus<br />

36 / 29 €<br />

Schüler / Studenten 10 €<br />

Regie<br />

Kay Voges<br />

Bühne<br />

Kay Voges<br />

Jan P. Brandt<br />

Kostüme<br />

Mona Ulrich<br />

Bodysounds / Musik<br />

T. D. Finck von Finckenstein<br />

Video Mario Simon<br />

Coding / Engineering<br />

Lucas Pleß<br />

Stefan Gögel<br />

Licht Rolf Giese<br />

Ton<br />

Gertfried Lammersdorf<br />

Chris Sauer<br />

Andreas Sülberg<br />

Dramaturgie<br />

Anne-Kathrin Schulz<br />

Mit<br />

Merle Wasmuth<br />

Björn Gabriel<br />

Uwe Rohbeck<br />

T. D. Finck von Finckenstein<br />

[Live-Soundtrack]<br />

Mario Simon [Live-Video]<br />

Lucas Pleß [Live-Engineering]<br />

Anne-Kathrin Schulz<br />

[Live-Wording]<br />

Chris Sauer [Live-Ton]<br />

Ist die Seele messbar? Inwieweit erfassen Daten einen Menschen? Für »4.48<br />

PSYCHOSE« hat Regisseur Kay Voges eine theatrale Mensch-Maschine realisiert,<br />

die die Metamorphose von Sprache und Körper in Datenströme behandelt<br />

und umgekehrt. Drei verkabelte Schauspieler sprechen im Wechsel Kanes Text.<br />

Aus körpereigenen Signalen wie Puls, Atemfrequenz oder Temperatur werden digitale<br />

Bilder generiert und diese zeitgleich wieder auf die Körper der Performer<br />

und in den Raum projiziert. Woraus besteht ein Ich? | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />

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»4.48 PSYCHOSE« ist ein dunkles Gedicht direkt aus dem Feuer menschlicher<br />

Synapsen, ein hochpoetischer Aufschrei – und Abschied. Denn kurz<br />

nachdem Sarah Kane das Manuskript fertiggestellt hat, nimmt sich 1999 der<br />

damalige Shooting-Star der britischen Dramatik in einer Londoner Klinik das<br />

Leben. Sie war 28 Jahre alt. Der Stücktitel verweist auf den Augenblick der<br />

größten geistigen Klarheit einer Psychiatrie-Patientin: 4 Uhr 48, der Moment<br />

zwischen zwei Medikamentendosen, wo die Tablettenwirkung abklingt und die<br />

Klarheit kommt – die vielleicht zugleich Wahn ist. Die Depression, das Burnout<br />

– eine messbare Stoffwechselstörung? Oder vielmehr die logische<br />

Schlussfolgerung, wenn man mit offenen Augen und offenem Herzen auf unsere<br />

Welt schaut? In ihrem 2000 posthum am Londoner Royal Court Theatre<br />

uraufgeführten Text geht Sarah Kane in die Nahaufnahme, die Kay Voges in<br />

seiner szenischen Anlage weitertreibt. Seziert werden Fleisch und Geist einer<br />

Erkrankung, die selbst Aufgeklärte zutiefst irritiert. Kane lauscht auf den Puls<br />

eines Leidens, von dem Millionen von Menschen betroffen sind, das irgendwo<br />

zwischen Biochemie, Psychologie und Philosophie angesiedelt scheint. Es ist<br />

ein <strong>final</strong>er Krieg, auf den »4.48 PSYCHOSE« blickt: Der Krieg eines Menschen<br />

mit sich selbst, der Krieg des Bewusstseins im Zeitalter der Digitalisierung.<br />

»4.48 PSYCHOSE« ist bereits die vierte Zusammenarbeit von Regisseur Kay<br />

Voges [»Endstation Sehnsucht«] mit dem Chaostreff Dortmund e.V. und den<br />

Software-Ingenieuren vom Chaostreff Dortmund e.V..<br />

012<br />

thementage_2016 013


»4.48 PSYCHOSE«<br />

Sarah Kane<br />

014<br />

thementage_2016 015


Inszenierung<br />

Jennifer Haley<br />

DIE NETZWELT<br />

JENNIFER HALEY<br />

Samstag<br />

19.03.2016<br />

20.00 Uhr<br />

Sonntag<br />

20.03.2016<br />

18.00 Uhr<br />

Kammerspiele<br />

35 / 27 / 19 €<br />

Schüler / Studenten 8 €<br />

Regie<br />

Bernhard Mikeska<br />

Bühne<br />

Steffi Wurster<br />

Kostüme<br />

Almut Eppinger<br />

Musik<br />

Tobias Vethake<br />

Dramaturgie<br />

Alexandra Althoff<br />

Mit<br />

Paula Hans<br />

Alexandra Lukas<br />

Thomas Huber<br />

Peter Schröder<br />

Viktor Tremmel<br />

Mit freundlicher<br />

Unterstützung des<br />

Frankfurter<br />

Patronatsvereins –<br />

Sektion Schauspiel<br />

In einer nahen Zukunft hat sich das Internet<br />

in ein Paralleluniversum verwandelt,<br />

das mit allen Sinnen erfahrbar ist.<br />

Anonym und mit einer anderen Identität<br />

ausgestattet, kann man die unbegrenzten<br />

Möglichkeiten dieses virtuellen<br />

Wunderlandes erkunden. Immer mehr<br />

Menschen ziehen ein Leben in der<br />

Netzwelt ihrer Existenz in der realen<br />

Welt vor. Aufgrund dieser Tatsache<br />

wird die Netzwelt von einer neu eingesetzten<br />

Ermittlungsbehörde untersucht.<br />

Der Einsatzort der jungen Kommissarin<br />

Morris ist das Refugium – ein<br />

virtueller Club, der die geheimsten<br />

Wünsche seiner Kunden wahr werden<br />

lässt. Was man in diesem verführerischen<br />

Paradies erlebt, fühlt sich echter<br />

an als die Wirklichkeit und intensiver als<br />

alles, was die reale Welt zu bieten hat.<br />

Die Verlockungen der totalen Freiheit<br />

offenbaren sich Morris jedoch als Alptraum:<br />

Im Refugium floriert das Geschäft<br />

mit den dunkelsten Fantasien<br />

des Menschen – mit Sex und Gewalt.<br />

Morris bewegt sich mit ihren Untersuchungen<br />

auf Neuland. Alle Machenschaften<br />

im Refugium sind eigentlich<br />

keine Verbrechen, da sie lediglich eine<br />

Simulation im Einverständnis aller Beteiligten<br />

und ohne Konsequenzen für<br />

die reale Welt sind – oder nicht? Sie<br />

schickt den verdeckten Ermittler<br />

Woodnut in das Refugium, um Beweise<br />

gegen den Betreiber und Programmierer<br />

Sims zu sammeln. Doch ihr Spitzel<br />

vergisst immer mehr, wer er zu sein<br />

glaubte und entdeckt, was er in der<br />

neuen Welt alles sein könnte. Als er der<br />

neunjährigen Iris begegnet, einem von<br />

Sims’ Geschöpfen, erfährt Woodnut<br />

erschreckende Wahrheiten über die eigenen<br />

Sehnsüchte. Woodnut ist fest<br />

entschlossen, das Mädchen aus dem<br />

Bannkreis seines geliebten Schöpfers<br />

zu befreien – mit fatalen Folgen. | | | | | |<br />

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Jennifer Haley wagt mit ihrem Theaterstück<br />

»Die Netzwelt« einen verstörenden<br />

Blick in eine Zukunft, die<br />

längst begonnen hat. Sie fragt nach<br />

Ethik und Verantwortung im Umgang<br />

mit modernen Technologien<br />

und ihren Auswirkungen auf zwischenmenschliche<br />

Beziehungen.<br />

Die in San Antonio [Texas] aufgewachsene<br />

Autorin hat bereits in frühen<br />

Stücken virtuelle Realitäten thematisiert.<br />

Mit »Neighborhood 3: Requisition<br />

of Doom« schrieb sie eine<br />

Horror-Story über Videospielsucht<br />

in einer Vorstadt und in »Froggy«<br />

entwarf sie einen Noir-Thriller mit interaktiver<br />

Mediengestaltung. 2012<br />

hat sie den Susan Smith Blackburn<br />

Preis für ihr Drama »Die Netzwelt«<br />

gewonnen, das bereits in Los Angeles,<br />

im Royal Court Theatre London<br />

und in New York mit großem Erfolg<br />

inszeniert worden ist. Haley ist Mitglied<br />

der New Dramatists New York<br />

City und lebt in Los Angeles, wo sie<br />

die Playwrights Union gegründet<br />

hat und nun auch für Film und Fernsehen<br />

schreibt. | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />

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thementage_2016<br />

017


Vorträge / Diskussionen<br />

PRIVATHEIT UND ÖFFENTLICHKEIT<br />

IM DIGITALEN WANDEL<br />

ARGUING THAT YOU<br />

DON’T CARE ABOUT THE RIGHT TO<br />

PRIVACY<br />

BECAUSE YOU HAVE<br />

NOTHING TO HIDE<br />

IS NOT DIFFERENT<br />

THAN SAYING YOU DON’T CARE ABOUT<br />

FREE SPEECH<br />

BECAUSE YOU HAVE<br />

Samstag, 19.03.2016<br />

11.00 – 18.30 Uhr<br />

Chagallsaal<br />

Panel 1 11.00 – 13.15 Uhr<br />

Panel 2 13.30 – 15.45 Uhr<br />

Panel 3 16.00 – 18.30 Uhr<br />

Freiheit. Brauchen wir einen neuen Begriff des Privaten?<br />

Impulsvorträge<br />

Ulrike Ackermann Privatheit und Öffentlichkeit im Wandel<br />

Sandro Gaycken Privatheit und Staat: Wie viel Sicherheit verträgt<br />

die Demokratie?<br />

Jörg Blumtritt Privatheit und Markt: Warum private Daten die<br />

Währung der Zukunft sind<br />

Anschließend Diskussion<br />

Moderation Ulrike Ackermann<br />

Gleichheit. Die Entgrenzung der Arbeit oder Die Ökonomisierung des Privaten<br />

Impulsvorträge<br />

Markus Morgenroth Der durchleuchtete Angestellte oder Zum veränderten<br />

Verhältnis von Privatheit und Arbeit<br />

Lena Schiller Clausen Arbeitswelten der Zukunft – Von der Normierung zur<br />

Kreativität<br />

Kornelia Hahn Beziehung 2.0 – Wir sehen, was du fühlst<br />

Anschließend Diskussion<br />

Moderation Jan Tussing<br />

Solidarität. Die neue Öffentlichkeit oder Die Macht der Vielen<br />

Impulsvorträge<br />

Bernhard Pörksen Die fünfte Gewalt. Empörung und Medienmisstrauen<br />

im digitalen Zeitalter<br />

Gesche Joost Politische Teilhabe: Wie viel Transparenz verträgt die<br />

Demokratie?<br />

Jürgen Kaube Meinungsgiganten oder Wer interpretiert die Welt?<br />

Anschließend Diskussion<br />

Moderation Friedemann Karig<br />

NOTHING TO<br />

EDWARD SNOWDEN<br />

SAY.<br />

Sonntag, 20.03.2016<br />

Chagallsaal<br />

Panel 4 19.30 – 20.15 Uhr<br />

20.30 – 21.30 Uhr<br />

Theater. Szenen privater Publicity und öffentlicher Interaktion<br />

Vortrag<br />

Verena Kuni Peep Show – Parade – Panem et Circenses:<br />

Modelle medialer Bühnen<br />

Diskussion<br />

Theater zwischen Authentizität und virtueller Realität<br />

Mit Stefan Kaegi, Oliver Reese, Angela Richter, Kay Voges<br />

Moderation Stefan Keim<br />

018<br />

thementage_2016 019


Vorträge / Diskussionen<br />

Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />

FREIHEIT. BRAUCHEN WIR EINEN NEUEN BEGRIFF DES PRIVATEN?<br />

Panel 1<br />

Vorträge<br />

Diskussion<br />

Samstag<br />

19.03.2016<br />

11.00 – 13.15 Uhr<br />

Chagallsaal<br />

Eintritt frei<br />

Moderation<br />

Ulrike Ackermann,<br />

Leiterin des John Stuart<br />

Mill Instituts für<br />

Freiheitsforschung,<br />

Journalistin und<br />

Moderatorin<br />

»Die Fähigkeit, Geheimnisse zu haben, oder anders gesagt: das Bewusstsein<br />

dafür, dass es eine Intimzone gibt, ist eigentlich das, was den Menschen wirklich<br />

ausmacht. […] Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. Man verliert dann im Grunde<br />

sich selbst.« Juli Zeh<br />

Die kommerzielle Datensammelwut ermöglicht großen Konzernen lukrative Geschäfte,<br />

und die staatliche Überwachung der Bürger verspricht Sicherheit. Ob wir<br />

uns in sozialen Netzwerken bewegen, im Internet surfen, telefonieren, uns auf öffentlichen<br />

Plätzen bewegen oder die Apple-Watch am Handgelenk tragen – unsere<br />

Bewegungen, Wünsche, Gefühle, Handlungen und Körperfunktionen werden<br />

registriert, vermessen, ausgewertet und nutzbar gemacht. Kaum etwas bleibt<br />

noch privat – und die Macht der Algorithmen wächst. Mit Hilfe von Big Data werden<br />

unsere zukünftigen Handlungen vorausberechnet und profilgerechte Angebote<br />

geschaffen, deren Mechanismen wir nicht verstehen. Das Private tritt in ein<br />

neues Spannungsverhältnis zu Markt, Staat und Öffentlichkeit, und der Begriff der<br />

Freiheit unterliegt einem fundamentalen Wandel.<br />

Wie verändert sich Privatheit, wenn ihre Veröffentlichung und die daraus folgenden<br />

Konsequenzen immer mitgedacht werden müssen? Denken wir anders, wenn<br />

wir permanent beobachtet werden? Stehen Freiheit und Autonomie im Widerspruch<br />

zur neuen Technologie oder geht es vor allem darum, passende Gesetze<br />

und neue ethische Richtlinien zu entwickeln?<br />

Vortrag<br />

11.30 – 12.00 Uhr<br />

Sandro Gaycken<br />

Privatheit und Staat: Wie viel Sicherheit verträgt die Demokratie?<br />

In vielen Ländern wandelt sich das Internet von einer Utopie der Freiheit in eine<br />

Dystopie der Kontrolle. Staaten wie Russland, China oder der Iran, aber auch die<br />

USA und Großbritannien haben das Netz umfangreich unter ihre Kontrolle gebracht<br />

und können mit diesem neuen Werkzeug alles und jeden überwachen und<br />

manipulieren. Sogar das Vorhersagen von Verhaltensweisen und Interessen wird<br />

inzwischen ermöglicht. Aber wie verträgt sich eine so umfassende Möglichkeit<br />

der Kontrolle mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie? Sandro Gaycken stellt in<br />

seinem Vortrag die verschiedenen Überwachungsnetze vor, beleuchtet die Gefahren<br />

der vielen neuen Überwachungsgesellschaften und geht der Frage nach,<br />

in welchem Spannungsverhältnis Privatheit und Staat stehen.<br />

Sandro Gaycken ist Technikphilosoph, Direktor des Digital Society Instituts und<br />

Senior Researcher für Cybersecurity und Cyberstrategy an der European School<br />

for Management and Technology in Berlin. Er zählt zu den führenden Experten im<br />

Bereich IT-Security und befasst sich mit den Auswirkungen der Informationstechnologien<br />

auf unsere Gesellschaft. Als Berater für Cybersecurity ist er für die Bundesregierung<br />

wie auch für zahlreiche namhafte Unternehmen aktiv.<br />

Vortrag<br />

11.00 – 11.30 Uhr<br />

Ulrike Ackermann<br />

Privatheit und Öffentlichkeit im Wandel<br />

Privatheit und Freiheit gelten in demokratischen Staaten als unverzichtbar für ein<br />

sinnstiftendes, selbstbestimmtes Leben. Sie gewähren uns Autonomie, sorgen für<br />

emotionalen Ausgleich, unabhängige Reflexion sowie für die Möglichkeit, Lebensbereiche<br />

ohne politischen oder ökonomischen Druck selbst zu gestalten. Privatheit<br />

schützt uns vor weitreichenden und unkalkulierbaren Konsequenzen. Darum<br />

ist sie essentiell für die Kraft der Gedanken und der Fantasie. Die Definition und<br />

das Ausmaß von Privatheit und Freiheit haben sich indes stetig gewandelt, handelt<br />

es sich doch um zivilisatorische Errungenschaften, die sich erst in einem komplexen,<br />

historischen Prozess herausgebildet haben. Ulrike Ackermann skizziert die<br />

historische Entwicklung, umreißt die Errungenschaften einer aufgeklärten Gesellschaft<br />

und beschreibt, wie sich die Parameter unseres Verständnisses von Privatheit<br />

und Freiheit im Zuge der digitalen Revolution sukzessive verschieben.<br />

Ulrike Ackermann ist Professorin für Politische Wissenschaften mit dem<br />

Schwerpunkt »Freiheitsforschung« an der SRH Hochschule in Heidelberg sowie<br />

Gründerin und Leiterin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung. Sie<br />

lebt und arbeitet als freie Autorin in Frankfurt am Main [u.a. für Süddeutsche Zeitung,<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung, taz, Die Welt und Merkur] und ist Verfasserin<br />

und Moderatorin zahlreicher Rundfunksendungen.<br />

Vortrag<br />

12.00 – 12.30 Uhr<br />

Im Anschluss Diskussion<br />

Jörg Blumtritt<br />

Privatheit und Markt: Warum private Daten die Währung der Zukunft sind<br />

Daten spiegeln unser Leben wider. Sie lassen präzise Schlüsse über unsere Einstellungen,<br />

Interessen und zukünftige Verhaltensweisen zu. Jörg Blumtritt beschreibt,<br />

wie mit Big Data unsere Bewegungen, sozialen Kontakte und Alltagsgewohnheiten<br />

analysiert und ausgewertet werden, welche ungenutzten Potentiale in<br />

Messwerten von Smartphone-Sensoren wie z.B. Beschleunigungen und Erschütterungen<br />

liegen und welche Wettbewerbs-Chancen sich für Unternehmen aus<br />

der Verwertung der Daten ergeben. Das Teilen von Daten ist von unschätzbarem<br />

Wert, doch die Intransparenz der komplexen Analyseverfahren birgt erhebliche<br />

Gefahren. Jörg Blumtritt fordert deshalb eine Ethik der Algorithmen.<br />

Jörg Blumtritt ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Datarella.<br />

Er entwickelt Technologien zur Datenauswertung und unterstützt Unternehmen<br />

bei der Datenanalyse und Produktkonzeption. Er arbeitete zunächst in der Verhaltensforschung<br />

und war dann im Marketing und in der Forschung bei ProSieben,<br />

Sat.1, RTL II, Hubert Burda Media sowie als Geschäftsführer der Düsseldorfer<br />

Agentur MediaCom tätig. Er ist Mitverfasser des Slow Media Manifest.<br />

020<br />

thementage_2016 021


Vorträge Programm / Diskussionen<br />

Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />

GLEICHHEIT. DIE ENTGRENZUNG DER ARBEIT ODER DIE ÖKONOMISIERUNG DES PRIVATEN<br />

Panel 2<br />

Vorträge<br />

Diskussion<br />

Samstag<br />

19.03.2016<br />

13.30 – 15.45 Uhr<br />

Chagallsaal<br />

Eintritt frei<br />

Moderation<br />

Jan Tussing,<br />

ARD-Korrespondent<br />

und Kulturreporter bei<br />

hr-iNFO<br />

Die Digitalisierung hat die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben aufgelöst.<br />

Ort und Zeit haben für die Trennung zwischen beruflicher und privater Sphäre oft<br />

keine Bedeutung mehr. Smartphone, Laptop und die permanente Vernetzung erlauben<br />

eine neue Flexibilität. Gearbeitet wird im Café, im Zug, zu Hause oder im<br />

Büro. Die Entgrenzung der Arbeit vollzieht sich aber nicht nur auf einer physischen<br />

Ebene. Mit der Selbstbestimmung wächst auch die Forderung, alle Energien und<br />

persönlichen Kompetenzen dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen. Die hohe<br />

Identifikation mit dem Beruf fordert den ganzen Menschen, und so schwindet in<br />

vielen Arbeitsbereichen die klassische Rollentrennung zwischen Berufs- und Privatperson.<br />

Während einerseits die Vernetzungsmöglichkeiten innovative und unabhängige<br />

Strukturen für Start-ups schaffen, die es ermöglichen, ökonomische<br />

Bereiche jenseits traditioneller Hierarchien nach eigenen Lebensentwürfen selbst<br />

zu gestalten, wird andererseits in großen Unternehmen die Entgrenzung des Privaten<br />

durch einen wachsenden Anpassungsdruck befördert. So zum Beispiel,<br />

wenn unser Verhalten in sozialen Netzwerken von Arbeitgebern beobachtet und<br />

bewertet wird und damit private Aktivitäten dem Konformitätszwang der Arbeitswelt<br />

unterliegen.<br />

Das veränderte Arbeitsverständnis und die damit einhergehende Einebnung des<br />

Privaten führen zu einer neuen Bewertung von »Gleichheit«. Im Kontext der Arbeit<br />

stand der Begriff früher vor allem für Fairness und Gerechtigkeit. Im Zuge der Normierung<br />

individueller Lebens- und Sozialpraktiken erhält er aber eine Bedeutung,<br />

die im Widerspruch zum Individuellen und Unangepassten, also dem Privaten<br />

steht. Wie verändert sich unsere private und berufliche Rolle, wenn wir überwacht<br />

und durch Rechensysteme bewertet werden? Entsteht eine gegenseitige Kontrolle<br />

und damit eine zunehmende Konformität? Wie wirkt sich dies wiederum auf<br />

unser kreatives Gestaltungspotential aus? Sind flexible Start-up-Unternehmen,<br />

die über neue Vernetzungsstrukturen ökonomische und individuelle Freiräume zurückerobern,<br />

ein Gegenmodell?<br />

Vortrag<br />

14.00 – 14.30 Uhr<br />

Vortrag<br />

14.30 – 15.00 Uhr<br />

Lena Schiller Clausen<br />

Arbeitswelten der Zukunft – Von der Normierung zur Kreativität<br />

Die Zukunft zeigt sich in der Gegenwart als Krise. Um die Effizienz zu steigern und<br />

das Risiko zu minimieren, ersetzen große Unternehmen Vertrauen durch Kontrolle<br />

und kreative Lösungen durch Konformität. Lena Schiller Clausen zeigt, dass die<br />

Arbeitswelt mit der digitalen Transformation neue Herausforderungen birgt, die<br />

aber mit den klassischen Instrumenten nicht bewältigt werden können. Technologische<br />

Errungenschaften, die die menschliche Interaktion völlig neu gestalten,<br />

lösen schon jetzt Branchengrenzen auf. Sie machen bekannte Geschäftsmodelle<br />

am laufenden Band obsolet und befördern den Konsumenten zum Selbstproduzenten.<br />

Der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel und die zunehmende<br />

Vernetzung verlangen individuelles, flexibles und dynamisches Denken und Handeln.<br />

Nur wer das entstehende Vakuum mit innovativen Ideen auszugestalten, die<br />

alte Linearität durch Vernetzung zu ersetzen und der Normierung Kreativität entgegenzusetzen<br />

weiß, wird die Krise in eine Chance verwandeln können.<br />

Lena Schiller Clausen beschäftigt sich als Unternehmerin und Autorin mit den<br />

Mitgestaltungsmöglichkeiten unseres Fortschritts und der Zukunft der Arbeit. Als<br />

Mitgründerin des »betahaus Hamburg«, Dozentin für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft<br />

der Universität Hannover und Unternehmensberaterin gestaltet sie<br />

Schnittstellen zwischen der Creative Class, zivilgesellschaftlichen Akteuren und<br />

Konzernen. In ihrem Buch »New Business Order« [Hanser, 2014] erörtert sie, wie<br />

Start-ups Wirtschaft und Gesellschaft verändern.<br />

Kornelia Hahn<br />

Beziehung 2.0 – Wir sehen, was du fühlst<br />

Vortrag<br />

13.30 – 14.00 Uhr<br />

Markus Morgenroth<br />

Der durchleuchtete Angestellte oder Zum veränderten Verhältnis<br />

von Privatheit und Arbeit<br />

Algorithmen beeinflussen heute oft die Karriere. Immer mehr Firmen setzen Backgroundchecks<br />

bzw. Humankapital-Analyseprodukte ein. Diese erfassen präzise,<br />

was Mitarbeiter auf privaten Websites und in sozialen Netzwerken suchen oder schreiben.<br />

Kalendereinträge, Chat-Nachrichten, Telefonkontakte und viele weitere Daten<br />

werden ausgewertet, Kommunikationsmuster analysiert, Anomalien registriert und<br />

das Verhalten überwacht. Per Mausklick wird die Effizienz von Mitarbeitern errechnet<br />

und entsprechend werden diese befördert oder als »schlechte« Angestellte<br />

identifiziert. Die Möglichkeiten von Big Data ersetzen den gesunden Menschenverstand<br />

und erzeugen einen besorgniserregenden Determinismus, ohne dass der Betroffene<br />

Einblick in die ausgewerteten und oft falsch verknüpften Daten bekommt.<br />

Zu unserem Liebes- und Beziehungskonzept gehören Intimität und Privatheit, die<br />

durch Indiskretion verletzt werden können. Dennoch werden im Internet persönliche<br />

Gefühle und Fantasien preisgegeben und kommerziell genutzt. Gleichzeitig<br />

ist längst nicht mehr die vertrauensvolle, emotionale Bindung ein Synonym für<br />

Freundschaft, wenn jede Facebook-Bekanntschaft als »Freund« deklariert wird.<br />

Kornelia Hahn beschreibt, wie sich unsere emotionalen Bindungen durch Internetkommunikation<br />

und mediale Überwachung verändern und geht der Frage nach,<br />

ob sich unsere Vorstellung von Liebe und Freundschaft mit den neuen Formen von<br />

Privatheit wandelt.<br />

Kornelia Hahn ist Professorin für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie<br />

im Fachbereich für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität<br />

Salzburg. Ihr Forschungsfokus liegt auf medienbasierten Zeichen- und Bedeutungstransformationen<br />

in der Moderne. Von der Leuphana Universität Lüneburg<br />

wurde ihr der Preis für herausragende wissenschaftliche Vortragstätigkeit und im<br />

Jahr 2002 für herausragende wissenschaftliche Publikationstätigkeit verliehen.<br />

Markus Morgenroth arbeitete im Silicon Valley als Software-Engineer für Cataphora,<br />

eines der international führenden Unternehmen im Bereich der verhaltensbasierten<br />

Datenanalysen. Von 2007 bis 2013 leitete er die europäische Niederlassung dieses<br />

Unternehmens. Seit seinem Ausstieg berät Markus Morgenroth Unternehmen zu<br />

Fragen rund um den Datenschutz sowie zu den Chancen und Risiken von Big Data.<br />

Im Anschluss Diskussion<br />

022<br />

thementage_2016 023


Vorträge Programm / Diskussionen<br />

Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />

SOLIDARITÄT. DIE NEUE ÖFFENTLICHKEIT ODER DIE MACHT DER VIELEN<br />

Panel 3<br />

Vorträge<br />

Diskussion<br />

Samstag<br />

19.03.2016<br />

16.00 – 18.30 Uhr<br />

Chagallsaal<br />

Eintritt frei<br />

Moderation<br />

Friedemann Karig,<br />

Soziologe, Autor,<br />

Moderator und Journalist<br />

[u.a. für DIE ZEIT,<br />

Süddeutsche Zeitung<br />

und brand eins]<br />

Eine freie Öffentlichkeit gilt als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.<br />

Der öffentliche Diskurs dient der kulturellen Selbstbestimmung sowie der permanenten<br />

Überprüfung und Regulierung ethischer und politischer Normen. Die<br />

Qualität des öffentlichen Diskurses bemisst sich wiederum entscheidend an der<br />

Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppierungen.<br />

Bevor das Internet ein Massenmedium wurde, konnte der Anspruch einer umfassenden<br />

Partizipation zunächst kaum erfüllt werden. Die Bürger konnten unterschiedliche<br />

Medien wie Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk nutzen, allerdings<br />

mit ihren eigenen Botschaften nur beschränkt an die Öffentlichkeit treten. Journalisten<br />

hatten mit ihrer Vermittlungsleistung eine eindeutige Filterfunktion. Sie<br />

entschieden über Relevanz, Zusammensetzung und Einordnung von Informationen.<br />

Die Möglichkeiten des World Wide Web haben einen grundlegenden Wandel<br />

bewirkt. Private Internetnutzer können als Urheber von Botschaften eine neue<br />

Öffentlichkeit bilden. Mittlerweile übernimmt die Netzgemeinschaft als »fünfte<br />

Gewalt« sogar die Funktion einer meinungsbildenden Instanz. Sie deckt Verborgenes<br />

auf, kommentiert Behauptungen, kritisiert die journalistische Vorgehensweise<br />

und versteht sich als Bürgerrechts-, Transparenz- und Demokratiebewegung.<br />

Worin bestehen ihre Qualitäten? Schlägt sie die Objektivität des Journalismus<br />

mit einer neuen Unmittelbarkeit oder ergänzt sie diesen vielmehr mit einer<br />

Stimmenvielfalt? Ist die neue Öffentlichkeit vielfältiger, fundierter und transparenter<br />

als der klassische Journalismus? Oder entwickelt sich mit ihr eine Kultur der<br />

Meinungsnabelschau?<br />

Der Wert der Solidarität bekommt durch das Web 2.0 eine neue Qualität. Die neue<br />

Macht der Öffentlichkeit generiert sich nämlich vorwiegend aus der Eigenschaft<br />

des Teilens. Doch ist die neue Netzcommunity mit ihren Like- und Sharebuttons solidarisch?<br />

Wie formieren und organisieren sich neue Gruppen? Bildet sich hier ein<br />

neuer Gemeinschaftsbegriff heraus, der auch unser analoges Leben verändert?<br />

Vortrag<br />

16.30 – 17.00 Uhr<br />

Vortrag<br />

17.00 – 17.30 Uhr<br />

Gesche Joost<br />

Politische Teilhabe: Wie viel Transparenz verträgt die Demokratie?<br />

In Autokratien kann die neue Öffentlichkeit den Demokratisierungsprozess beschleunigen,<br />

das hat der Arabische Frühling gezeigt. Gleichzeitig beobachten wir<br />

jedoch auch eine Radikalisierung über das Netz, die erschreckt. Welche Chancen<br />

und welche Herausforderungen birgt die Digitalisierung in einer bereits etablierten<br />

Demokratie? Kann sie die Kluft zwischen politischen Akteuren und Bürgern schmälern<br />

und das Vertrauen in faire Entscheidungen durch Beteiligung und Transparenz<br />

stärken? Oder beteiligt sich sowieso nur die sogenannte »digitale Elite«? Viele Parteien<br />

antworten auf die Politikverdrossenheit der Wähler mit Partizipationsangeboten.<br />

Sie fordern im Zuge des digitalen Wandels eine neue politische Kultur. Doch<br />

wie viel Mitbestimmung und wie viel Transparenz verträgt unsere Demokratie? Untergräbt<br />

die Netzöffentlichkeit den Schutz von Minderheiteninteressen sowie ein<br />

verantwortungsvolles, autonomes und weitsichtiges Handeln, das nicht auf die<br />

Wählergunst schielt? Oder bildet das Internet wirklich den ersehnten neuen, radikal-demokratischen<br />

Raum der Teilhabe aller?<br />

Gesche Joost vertritt Deutschland als Digital-Botschafterin in der Initiative »Digitale<br />

Champions« der EU-Kommission. Sie berät die Kommission bei der Umsetzung<br />

der Digitalen Agenda für Europa. Gesche Joost ist Professorin für Designforschung<br />

an der Universität der Künste Berlin und leitet das Design Research<br />

Lab. Gemeinsam mit internationalen Partnern entwickelt sie Forschungs- und<br />

Lehrprojekte zu den Themen Mensch-Maschine-Interaktion, Wearable Computing<br />

sowie zu nutzerzentrierter Technologie-Entwicklung.<br />

Jürgen Kaube<br />

Meinungsgiganten oder Wer interpretiert die Welt?<br />

Vortrag<br />

16.00 – 16.30 Uhr<br />

Bernhard Pörksen<br />

Die fünfte Gewalt. Empörung und Medienmisstrauen im digitalen<br />

Zeitalter<br />

Die fünfte Gewalt ist mächtig. Sie nutzt den radikalen Pluralismus der vernetzten<br />

Vielen und wirkt als Agendasetter und Meinungskorrektiv. Bernhard Pörksen beschreibt<br />

die fünfte Gewalt als Konnektiv, als eine neuartige Form aus Gemeinschaft<br />

und Individualität. Doch wie funktionieren ihre Organisations- und Vernetzungsmuster<br />

und welche Machtstrukturen sind ihr inhärent? Welche Rolle übernimmt sie<br />

in der Informationsgesellschaft? Und auf welche Weise verhindert man, ohne die<br />

Möglichkeit offensiver Korrektur und Exklusion, dass ideologische Parallelitäten<br />

und bizarre Bestätigungsmillieus entstehen, die einer offenen Gesellschaft insgesamt<br />

gefährlich werden können?<br />

Das Internet verändert den Journalismus grundlegend. Vor allem anspruchsvolle<br />

Printmedien haben sich mit der »Umsonstkultur« des Netzes auseinanderzusetzen.<br />

Während fast alle Zeitungen über einen stetigen Rückgang der Auflagen<br />

klagen, bringen wenige Mediengiganten die übrigen Unternehmen in eine fatale Abhängigkeit.<br />

So mischt sich zum Beispiel das soziale Netzwerk Facebook in die Kontextualisierung<br />

der Inhalte ein, wenn es auf Verlinkungen verzichtet und die Angebote<br />

der Zeitungsverlage direkt publiziert. Algorithmen bestimmen, wer welche Nachricht<br />

zu lesen bekommt. Sie bieten auf das Nutzerprofil zugeschnittene Themenfelder<br />

an. Lernen wir Unbekanntes, das unsere Wahrheit und Weltsicht in Frage stellen<br />

könnte, bald nicht mehr kennen? Nehmen wir nur noch jene Nachrichten wahr,<br />

die unsere Meinung bestärken? Welche Rolle kommt den Qualitätsmedien zukünftig<br />

zu? Wie können und sollten sie auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters<br />

reagieren?<br />

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.<br />

Er analysiert in seinen Forschungsarbeiten die Inszenierungsstile in Politik<br />

und Medien und kommentiert in Zeitungskolumnen aktuelle Debatten. Seine Bücher,<br />

die er mit dem Physiker und Philosophen Heinz von Foerster [»Wahrheit ist<br />

die Erfindung eines Lügners«] und dem Kommunikationspsychologen Friedemann<br />

Schulz von Thun [»Kommunikation als Lebenskunst«] veröffentlichte, wurden<br />

Bestseller. Im Jahre 2008 wurde Bernhard Pörksen zum »Professor des Jahres«<br />

gewählt und für seine Lehrtätigkeit ausgezeichnet.<br />

Im Anschluss Diskussion<br />

Jürgen Kaube ist seit 2015 der für das Feuilleton zuständige Mitherausgeber der<br />

Frankfurter Allgemeinen Zeitung, für die er bereits seit 1992 tätig ist. Zuständig<br />

für Wissenschafts- und Bildungspolitik, wurde er im August 2008 Ressortleiter<br />

für die »Geisteswissenschaften« und 2012 für »Neue Sachbücher« sowie stellvertretender<br />

Leiter des Feuilletons.<br />

024<br />

thementage_2016 025


Vorträge Programm / Diskussionen<br />

Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />

THEATER. SZENEN PRIVATER PUBLICITY UND ÖFFENTLICHER INTERAKTION<br />

Panel 4<br />

Vortrag<br />

Diskussion<br />

Sonntag<br />

20.03.2016<br />

19.30 – 21.30 Uhr<br />

Chagallsaal<br />

Eintritt frei<br />

Moderation<br />

Stefan Keim,<br />

Autor, Moderator und<br />

Journalist [WDR, NDR,<br />

Deutschlandradio, Die Welt,<br />

Die Deutsche Bühne]<br />

Im Zeitalter der Digitalisierung wirkt das Theater wie die letzte Bastion der Unmittelbarkeit,<br />

es ist der Ort der direkten Kommunikation. Auch wenn das Theater sich<br />

als Gegenwelt zur virtuellen Realität begreift, so stellt sich doch die Frage, wie<br />

das veränderte Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Theater bespiegelt,<br />

aufgenommen und weiterentwickelt werden kann und neue mediale Mittel Eingang<br />

in Inszenierungskonzepte finden.<br />

Ein Merkmal der Digitalisierung und der damit einhergehenden neuen Öffentlichkeit<br />

ist die Partizipation. Zunächst sind die Strukturen von Netz und Theater komplementär:<br />

Im Theater sind die Schauspieler Sender und die Zuschauer Empfänger.<br />

Die Netzöffentlichkeit ist hingegen sowohl Player als auch Rezipient. Löst sich<br />

im Zuge der digitalen Entwicklungen auch im Theater die alte Rollenzuweisung<br />

auf? Wird der Zuschauer zum Akteur? Die veränderten digitalen und analogen<br />

Räume führen jedenfalls auch im Theater zu spielerischen Experimenten und kreativen<br />

Partizipationsmöglichkeiten.<br />

Umgekehrt bedient sich auch das Netz theatraler Mittel: Ob es sich um virtuelle<br />

Shoppingerlebnisse, die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken oder politische<br />

Auftritte handelt, im Netz und zunehmend auch im analogen Leben geht es um die<br />

Theatralisierung sämtlicher Lebenswelten, um die Inszenierung des Alltags; löst<br />

sich doch die Trennlinie zwischen Wahrheit und Fiktion in den digitalen Sphären<br />

zunehmend auf. Schein und Sein verschmelzen auch in der virtuellen Realität. Wie<br />

reagiert darauf das Theater, das mit seiner Unmittelbarkeit und Nichtreproduzierbarkeit<br />

per se einem Authentizitätsimperativ folgt, dessen Wesenskern andrerseits<br />

aber gerade aus der Inszenierung und der Behauptung besteht?<br />

Diskussion<br />

20.30 – 21.30 Uhr<br />

Mit<br />

Stefan Kaegi<br />

Oliver Reese<br />

Angela Richter<br />

Kay Voges<br />

Theater zwischen Authentizität und virtueller Realität<br />

Auf der Bühne werden auf vielfältige Weise der technologische Wandel und dessen<br />

gesellschaftliche Auswirkungen behandelt. Dabei werden auch neue ästhetische<br />

Mittel erprobt, die das veränderte Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit<br />

widerspiegeln und den Zuschauer als Mitspieler in das Geschehen integrieren. In<br />

Angela Richters »Supernerds« wird beispielsweise das Publikum Teil eines Überwachungsexperiments.<br />

In anderen Inszenierungen können die Zuschauer per App<br />

oder Tweets den Ausgang der Geschichte wählen. Einige Theatermacher fordern<br />

das Publikum sogar zur Dialogentwicklung bzw. zur Fortschreibung der Handlung<br />

auf. Wie kann das Theater auf die durch die Digitalisierung hervorgerufenen sozialen<br />

Veränderungen adäquat reagieren? Welche Mittel stehen dem Theater dafür<br />

zur Verfügung? Wie können sich Netzöffentlichkeit bzw. Publikum und Theater<br />

gegenseitig inspirieren, und wo sollten klare Grenzen gewahrt bleiben? Kann zu<br />

viel Partizipation und mediale Interaktion den Wesenskern des Theaters<br />

zerstören?<br />

Diskutanten<br />

Stefan Kaegi inszenierte in verschiedensten Konstellationen dokumentarische<br />

Theaterstücke, Hörspiele und Stadtrauminszenierungen. Mit Helgard Haug und<br />

Daniel Wetzel gründete er das Regiekollektiv »Rimini Protokoll«. Ziel des Regietrios<br />

ist es, die gefühlte Realität aufzubrechen und all ihre Facetten auch aus unbekannten<br />

Blickwinkeln zu präsentieren. Das Kollektiv arbeitet oft mit Strukturen<br />

von Computergames und bezieht den Zuschauer als Akteur mit ein. So z.B. bei der<br />

Performance »Remote Frankfurt«, die während der <strong>Thementage</strong> zu sehen ist.<br />

Vortrag<br />

19.30 – 20.15 Uhr<br />

Verena Kuni<br />

Peep Show – Parade – Panem et Circenses: Modelle medialer Bühnen<br />

Wenn heute von digitalen Medien und Netzwerken die Rede ist, wird häufig das<br />

Verschwinden des Privaten beklagt. Allerdings ist dabei oft nicht etwa der schamlose<br />

Zugriff auf persönliche Daten von Nutzern gemeint, sondern die Zurschaustellung,<br />

die nicht wenige aus freien Stücken betreiben. Begriffe wie »Selfie«<br />

scheinen wie passgenau auf eine Kultur der medialen Selbstinszenierung gemünzt.<br />

Aber um welches »Selbst« geht es hier eigentlich? Spielen wir nicht ohnehin<br />

alle immer Theater? Wenn dem so ist, sollte es lohnen, einen genaueren Blick<br />

auf die Bühnen zu werfen, die für die Inszenierungen zur Verfügung stehen. Möglich,<br />

dass sich in diesem Zuge erhellende Perspektiven auf die aktuelle Gemengelage<br />

gerade dort ergeben, wo sich in neueren Medienformationen tradierte<br />

Formate nachgerade modellhaft abbilden.<br />

Verena Kuni ist Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaftlerin und Professorin für<br />

Visuelle Kultur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Auseinandersetzung<br />

mit Ästhetiken und Politiken von Medien- und Netzkulturen gehört seit Anfang<br />

der 1990er Jahre zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten.<br />

Oliver Reese ist Regisseur und Intendant des Schauspiel Frankfurt. Er brachte<br />

zahlreiche Dramatisierungen und Stücke nach biografischen Texten auf die Bühne.<br />

Reese konzentriert sich in seinen Inszenierungen auf theaterimmanente künstlerische<br />

Mittel wie die Wirkkraft der Sprache. In seiner jüngsten Inszenierung<br />

»Terror« lässt er das Publikum mit Abstimmungsgeräten über den Ausgang der<br />

Handlung entscheiden.<br />

Angela Richter ist Hausregisseurin am Schauspiel Köln. Sie war von 1996 bis<br />

2000 Mitglied der Hamburger Künstlergruppe Akademie Isotrop und gründete<br />

2006 das Fleetstreet Theater in Hamburg, das sie bis 2010 leitete. Für ihr multimediales<br />

Projekt »Supernerds«, das sie am Kölner Schauspiel inszenierte, hat sie<br />

Interviews mit Edward Snowden, Julian Assange und anderen digitalen Dissidenten<br />

geführt und einen wichtigen sowie viel beachteten Beitrag zur digitalen Überwachung<br />

in Szene gesetzt.<br />

Kay Voges ist Regisseur und Intendant des Schauspiel Dortmund. Er erforscht<br />

die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung und lotet die<br />

Schnittstellen von Theater, Film und Videokunst aus. Am Schauspiel Frankfurt hat<br />

Kay Voges in der Spielzeit 2014 / 15 »Endstation Sehnsucht« auf die Bühne gebracht.<br />

Seine Inszenierung von Sarah Kanes »4.48 Psychose« ist während der<br />

<strong>Thementage</strong> zu sehen.<br />

026<br />

thementage_2016 027


Essays<br />

Prof. Petra Grimm<br />

Eine Geschichte über das Unsichtbare im digitalen<br />

Zeitalter – ein Essay ausgehend von dem Stück<br />

»George Kaplan« 30<br />

Lisa Ströhlein<br />

Virtuelles Morden in der Netzwelt. Ein Essay zum<br />

Stück »Die Netzwelt« 34<br />

AIexandre Lacroix<br />

Reportage aus dem Silicon Valley:<br />

Unternehmen Unsterblichkeit 38<br />

Friedemann Karig<br />

Hilfe oder Hetze? Das Netz und die Flüchtlinge 42<br />

Stefan Keim<br />

Überwachungsshows und Realitygames – wie das<br />

Theater auf virtuelle Welten reagiert 46<br />

028 thementage_2016 029


Essay<br />

EINE<br />

Petra Grimm<br />

ÜBER DAS<br />

UNSICHTBARE<br />

GESCHICHTE<br />

IM DIGITALEN<br />

ZEITALTER<br />

Frédéric Sonntags farcenhafte Komödie<br />

»Georg Kaplan« zum Thema Überwachung,<br />

Subversion und unbewusster<br />

Beeinflussung nimmt die Medienwissenschaftlerin<br />

Petra Grimm zum<br />

Anlass, um kritische Fragen zu unserer<br />

Manipulierbarkeit in der schrankenlosen<br />

und vermeintlich anonymen Welt<br />

des World Wide Web zu stellen. Wie<br />

groß sind beispielsweise die Spuren,<br />

die wir bei der tagtäglichen Internetnutzung<br />

hinterlassen? Oder lässt der einfache<br />

Klick auf den Like-Button Rückschlüsse<br />

auf die eigene Persönlichkeit<br />

zu? Petra Grimm ist Leiterin des Instituts<br />

für digitale Ethik an der Hochschule<br />

der Medien Stuttgart. Sie wird als<br />

Diskutantin an der Eröffnungsdiskussion<br />

»Digitale Welten – welchen Fortschritt<br />

wollen wir?« teilnehmen.<br />

Die digitale Revolution,<br />

die unsere Gesellschaft<br />

fundamental ändern wird,<br />

ist ein Prozess, der Meta-<br />

Narrative des Utopischen<br />

und Dystopischen hervorbringt.<br />

Eine dieser großen<br />

dystopischen Erzählungen,<br />

vielleicht sogar die<br />

wichtigste, ist die der unsichtbaren<br />

Überwachung.<br />

Frédéric Sonntag erzählt<br />

in seinem Theaterstück<br />

»George Kaplan« 1 unter<br />

anderem die fiktive Geschichte<br />

einer unsichtbaren Regierung,<br />

die mittels Algorithmen eine unschuldige<br />

Person als »suspect zero« identifiziert:<br />

»Epsilon, unser Kommunikations-<br />

Überwachungs-System, analysiert täglich<br />

Millionen von Nachrichten, um diejenigen<br />

unter ihnen ausfindig zu machen,<br />

die bestimmte vorprogrammierte<br />

Schlagwörter enthalten.« Um die Bevölkerung<br />

von der Notwendigkeit zu<br />

überzeugen, dass »eine Reihe von Gesetzen<br />

[…] zur Einrichtung einer Datenbank,<br />

die die biometrischen, medizinischen<br />

und finanziellen Angaben der<br />

gesamten Bevölkerung sammelt« notwendig<br />

sei, soll die Angst vor einer<br />

opaken Bedrohung namens »George<br />

Kaplan« geschürt werden. Allerdings<br />

ist diese Geschichte der unsichtbaren<br />

Überwachung im Kern keine Fiktion.<br />

Spätestens seit den Enthüllungen Edward<br />

Snowdens im Juni 2013 über die<br />

Überwachungsprogramme des US-<br />

Nachrichtendienstes National Security<br />

Agency [NSA] »Prism« und des britischen<br />

Government Communications<br />

Headquarters [GCHQ] »Tempora« ist<br />

ins öffentliche Bewusstsein gerückt,<br />

dass eine Datafizierung der Privatsphäre<br />

durch ausländische Geheimdienste<br />

alltäglich ist. Trotz massiver Kritik, die<br />

von den Medien und der Netzpolitik geäußert<br />

wurde, ist weder Widerstand<br />

seitens der Bevölkerung [wie z.B. bei<br />

der Volkszählung in den 1980er Jahren]<br />

noch aktives Handeln der maßgeblichen<br />

politischen Akteure gegen solche<br />

Überwachungsmaßnahmen, die jeden<br />

im hypervernetzten »Onlife« 2 betrifft,<br />

zu erkennen. Vielmehr wurde mit der<br />

Verabschiedung des Gesetzes zur<br />

Vorratsdatenspeicherung im Herbst<br />

2015 noch ein weiteres Paket zur<br />

Überwachung geschnürt: Wer mit wem<br />

an welchem Ort zu welcher Zeit telefoniert,<br />

skypt oder simst, wird erfasst.<br />

Solche Meta-Daten sind nicht harmlos.<br />

Wenn z.B. eine Frau mit ihrem Gynäkologen<br />

telefoniert, dann ihren Partner<br />

und anschließend bei einem Babyausstatter<br />

anruft, dann lassen sich auch<br />

ohne Kenntnis des Telefongesprächs<br />

eindeutige Schlussfolgerungen über<br />

den Zustand dieser Frau ziehen.<br />

DER NUTZER WIRD<br />

KAPITALISIERBAR<br />

Überwachung findet aber nicht nur seitens<br />

des Staats, sondern auch durch<br />

die Unternehmen statt. So können z.B.<br />

Versicherungen, Banken und Unternehmen<br />

ihre Kunden raten, scoren, taxieren<br />

und deren zukünftiges Verhalten<br />

bzw. Befinden prognostizieren. Wie erfolgreich<br />

solche Black-Box-Prognosen<br />

sein können, veranschaulicht eine Untersuchung<br />

3 , bei der die aus Profilen<br />

von sozialen Online-Netzwerken gewonnenen<br />

Daten bessere Ergebnisse<br />

über die Leistungsfähigkeit von Job-<br />

Bewerbern vorhersagen konnten als<br />

klassische Eignungs-Tests. Des Weiteren<br />

zeigten Wissenschaftler 4 , dass<br />

Computer das Persönlichkeitsprofil<br />

von Menschen anhand von Facebook-<br />

Likes besser beurteilen können als die<br />

meisten nahestehenden Menschen wie<br />

Freunde und Familie.<br />

Bei der Nutzung digitaler Dienste bzw.<br />

Endgeräte und in einer zunehmend digitalisierten<br />

Umwelt hinterlassen und<br />

generieren wir unablässig meist unbewusst<br />

persönliche Daten [Big Personal<br />

Data]. Menschen werden bei der<br />

Datensammlung auf der Basis von<br />

Korrelationen als Digitales Double klassifiziert<br />

mit der Folge, dass ihnen<br />

bestimmte Angebote und Optionen unterbreitet<br />

oder gegebenenfalls auch<br />

vorenthalten werden. Die Nutzer werden<br />

dabei nicht als Individuen erfasst,<br />

sondern als »ITentitäten«, die quantifizierbar<br />

und kapitalisierbar sind. Die<br />

Folge dieser Sammlung personenbezogener<br />

Daten ist, dass jede Einzelperson<br />

im Onlife identifizierbar, transparent<br />

und de-anonymisiert ist. Das Wissen<br />

und die Macht zwischen Anbieter<br />

und Nutzer ist dabei ungleich verteilt<br />

030<br />

thementage_2016 031


Essay<br />

Petra Grimm<br />

[Informationsasymmetrie]: Weder wissen<br />

die Nutzer, welche Daten in und<br />

aus welchem Kontext genutzt werden,<br />

noch ist ihnen der Algorithmus bekannt,<br />

mittels dessen sie klassifiziert<br />

werden. Ebenso ist vielen Nutzern<br />

nicht klar, welche Risiken mit der Datafizierung<br />

ihres Onlife verbunden sind.<br />

Völlig opak sind für uns die Algorithmen,<br />

die man als Kernelement des Betriebssystems<br />

der digitalen Gesellschaft<br />

verstehen kann. Algorithmen<br />

entscheiden, welche Informationen an<br />

welcher Stelle innerhalb einer Suchanfrage<br />

erscheinen, und sie schätzen<br />

ein, ob eine Person etwa kreditwürdig<br />

ist. Welche Faktoren dabei genau ausschlaggebend<br />

sind und wie sie gewichtet<br />

werden, ist weitgehend intransparent<br />

[Black-Box-Prognosen].<br />

Auch gibt es für den Einzelnen mit der<br />

zunehmenden Digitalisierung der Lebens-<br />

und Arbeitsbereiche nicht mehr<br />

die Alternative, aus dem System der<br />

Datenverwertung auszusteigen, es sei<br />

denn, man ist privilegiert und kann es<br />

sich leisten, seine private Identität zu<br />

schützen. Zudem zeigt sich eine zunehmende<br />

Konzentration auf der Anbieterseite:<br />

Alphabet [Google], Apple,<br />

Facebook, Amazon etc. sind die Neo-<br />

Kolonialisten, die in unseren Alltag immer<br />

weiter vorgedrungen sind.<br />

Nach zehn Jahren Web 2.0 lässt sich<br />

rückblickend erkennen, dass sich durch<br />

diesen digitalen Neokolonialismus die<br />

Rahmenbedingungen für die Privatsphäre<br />

fundamental verändert haben.<br />

Niemals zuvor war die potenzielle Zugänglichkeit<br />

zu persönlichen bzw. privaten<br />

Informationen größer. Dieser Transformationsprozess<br />

vollzieht sich nicht<br />

nur durch das seit 2004 etablierte sogenannte<br />

Web 2.0 bzw. Social Web,<br />

sondern auch durch die tiefgreifende<br />

Digitalisierung aller Gesellschaftssysteme.<br />

Zukünftig wird sich das Überwachungspotenzial<br />

durch die Ausweitung<br />

der Internetzone in den analogen<br />

Lebensraum noch erweitern: Selbstvermessende<br />

Wearables [Fitnessarmbänder<br />

etc.], vernetzte Autos und Wohnungen<br />

werden die Datensammlung und<br />

-verarbeitung exorbitant steigern und<br />

damit das Risiko erhöhen, dass wir<br />

nicht mehr selbstbestimmt darüber entscheiden<br />

können, wer was wann und in<br />

welchem Zusammenhang über uns<br />

weiß.<br />

VERLUST DER<br />

PRIVATSPHÄRE<br />

Dabei sind die Unsichtbarkeit der Datensammler<br />

und deren Unkontrollierbarkeit<br />

wesentliche Merkmale, worauf<br />

Umberto Eco schon in Venedig im Jahr<br />

2000 in seinem Vortrag »Verlust der<br />

Privatsphäre« 5 hinweist: »Doch wenn<br />

der Große Bruder in Orwells Roman<br />

eine Allegorie auf ’Väterchen’ Stalin<br />

war, hat der Big Brother, der uns heute<br />

beobachtet, kein Gesicht und ist nicht<br />

nur einer, sondern die Gesamtheit der<br />

Ökonomie. Wie die Macht bei Foucault<br />

ist diese Wesenheit nicht mehr erkennbar,<br />

sie ist die Gesamtheit einer Reihe<br />

von Machtzentren, die das Spiel mitmachen<br />

und sich gegenseitig stützen,<br />

dergestalt, dass einer, der für ein<br />

Machtzentrum die Leute ausspäht, die<br />

in einem Supermarkt einkaufen, seinerseits<br />

ausgespäht wird, wenn er die Hotelrechnung<br />

mit einer Kreditkarte bezahlt.<br />

Wenn die Macht kein Gesicht<br />

mehr hat, wird sie unbesiegbar. Oder<br />

zumindest schwer kontrollierbar.« 6 Was<br />

Eco hier beschreibt, widerspricht der<br />

Grundidee des Internets, das analog<br />

den Weltmeeren als eine Sache aller<br />

und niemandes [res omnium et nullius]<br />

zu begreifen ist. Wenn insbesondere<br />

unser Verhalten im Netz permanent<br />

verfolgt, aufgezeichnet und ausgewertet<br />

wird, verkehrt sich das Internet als<br />

vermeintliches Instrument der Freiheit,<br />

der Teilhabe und der Transparenz in<br />

sein Gegenteil: zum Instrument der<br />

Überwachung. Braucht es also eine<br />

Ethik der Algorithmen, um die digitalisierte<br />

Welt zu einer Sache aller und<br />

niemandes zu machen? Und brauchen<br />

wir eine Grundrechtecharta des Digitalen,<br />

in der wir uns auf die »alten« Grundwerte<br />

wie Menschenwürde, Freiheit<br />

und Privatsphäre verständigen? In Bezug<br />

auf den Wert der Privatheit stellt<br />

sich aus ethischer Sicht die Frage, ob<br />

wir ein neues Verständnis von privaten<br />

Daten brauchen. So meint Floridi 7 , dass<br />

wir private Daten nicht als Besitz bzw.<br />

Eigentum verstehen sollten [sie gehören<br />

uns nicht wie ein Auto], sondern<br />

1<br />

F. Sonntag [2015]: George Kaplan.<br />

Deutsch von J. Schumann. Textbuch.<br />

Reinbek: Rowohlt Theater Verlag. Online:<br />

http://www.rowohlt-theaterverlag.de/<br />

stueck/George_Kaplan.3168006.html<br />

2<br />

L. Floridi [2015]: Die 4. Revolution.<br />

Wie die Infosphäre unser Leben<br />

verändert. Aus dem Englischen von<br />

A. Walter. Berlin: Suhrkamp Verlag<br />

3<br />

D.H. Kluemper / P.A. Rosen / K.W. Mossholder<br />

[2012]: Social networking websi<br />

tes, personality ratings, and the organizational<br />

context: More than meets the eye?<br />

Journal of Applied Social Psychology, 42,<br />

1143-1172<br />

4<br />

W. Youyou / M. Kosinski / D. Stillwell<br />

[2015]: Computer-based personality<br />

judgments are more accurate than those<br />

made by humans. In: PNAS, Vol. 112,<br />

No. 4, S. 1036-1040. Online: http://www.<br />

pnas.org/content/112/4/1036.abstract<br />

5<br />

U. Eco [2007]: Der Verlust der Privatsphäre.<br />

In: Ders.: Im Krebsgang voraus.<br />

Heiße Kriege und medialer Populismus.<br />

Aus dem Italienischen von B. Kroeber.<br />

München: Carl Hanser Verlag, S. 73-86<br />

6<br />

U. Eco 2007, S. 76<br />

7<br />

L. Floridi 2015, S. 162<br />

8<br />

I. Kant [1786/1999]: Grundlegung zur<br />

Metaphysik der Sitte. Mit einer Einl. hrsg.<br />

von B. Kraft und D. Schönecke. Hamburg:<br />

Meiner, S. 61<br />

dass sie Teil unserer Identität sind, so wie unser Körper. Des<br />

Weiteren stellt sich die Frage, ob die Objektivierung und Kapitalisierung<br />

des Menschen als Digitales Double mit dem<br />

Würdekonzept des Menschen vereinbar ist. »Würde« steht<br />

nach Kant im Gegensatz zu »Preis«. Während Dinge einen<br />

Preis haben und ausgetauscht werden können, hat der<br />

Mensch einen Wert, der über jeden Preis erhaben ist: »Im<br />

Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine<br />

Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas<br />

anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen<br />

über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet,<br />

das hat eine Würde.« 8<br />

Unsere Demokratie basiert darauf, dass wir autonome Bürgerinnen<br />

und Bürger sind, die eine Entscheidungs- und<br />

Handlungsfreiheit haben. Der Schutz der Privatheit ist ein<br />

Mittel, um autonom entscheiden und handeln zu können.<br />

Wenn nun aber ein Score, der anhand meiner Daten und der<br />

meiner Freunde im Netz berechnet, ob ich kreditwürdig bin,<br />

eine bestimmte Prämie bei der Krankenversicherung zahlen<br />

muss, einen Job bekomme etc., dann ist meine persönliche<br />

Autonomie eingeschränkt.<br />

Überwachung, sei es durch den Staat oder durch die Unternehmen,<br />

hat noch weitreichendere Folgen. Wer nicht weiß<br />

oder beeinflussen kann, welche Informationen bezüglich seines<br />

Verhaltens gespeichert und bevorratet werden, wird aus<br />

Vorsicht sein Verhalten anpassen. Man nennt dies »Chilling<br />

Effects«: vorauseilendes, selbstbeschränkendes Handeln<br />

aus Angst vor möglichen Folgen. Sich nur stromlinienförmig<br />

zu verhalten und zu äußern bzw. die eigene Meinung zu verschweigen<br />

oder gar den Kontakt zu Menschen unterbinden,<br />

die sich politisch kritisch äußern, hätte fatale Folgen für eine<br />

auf Meinungsfreiheit und Autonomie begründete Demokratie.<br />

Es würde sich damit im digitalen Zeitalter eine selbstzensorische<br />

Schweigespirale in Gang setzen.<br />

MANIPULIERBARKEIT DER<br />

EIGENEN MEINUNG<br />

Mit der digitalen Revolution eng verknüpft ist aber nicht nur<br />

die Dystopie der Überwachung, auch das politische Narrativ<br />

der Freiheit taucht am Horizont immer wieder auf. Spätestens<br />

seit dem Arabischen Frühling 2010 wurde davon ausgegangen,<br />

dass Social Media das Werkzeug sei, um autoritären<br />

Regimen ihre Legitimationsbasis zu entziehen und sie<br />

zum Sturz zu bringen. Auch wenn sich aufgrund der meist<br />

enttäuschenden Entwicklungen in den betreffenden Ländern<br />

das Internet nicht als Medium der Freiheit de facto herauskristallisiert<br />

hat, ist es als utopisches Narrativ nach wie vor<br />

virulent. Ob die Geschichte der Freiheit lebendig bleibt, ist<br />

letztlich eine Sache der User und der Politik. So ist das Web-<br />

Portal »Lobbyplag« ein Beispiel dafür, dass mittels des Internets<br />

ein Mehr an politischer Transparenz möglich ist. Denn<br />

die Betreiber konnten anhand der Analyse diplomatischer<br />

Unterlagen und Dokumente aufzeigen, wie Lobbyisten die<br />

Verhandlungen über die neue EU-Datenschutzverordnung<br />

beeinflussen. Manipulation ist dagegen die andere Seite der<br />

Medaille. Die Idee der jungen Aktivisten in Sonntags »George<br />

Kaplan«, ein virales Mem im Internet zu verbreiten, um<br />

»Schwachstellen und Missstände des Mediensystems« aufzuzeigen,<br />

verweist auf dieses Narrativ der Manipulation. Allerdings<br />

ist die Sachlage komplexer, als die Aktivisten es begreifen,<br />

denn erstens gibt es nicht mehr das Mediensystem,<br />

sondern ein fragmentiertes: Neben den »klassischen« Massenmedien<br />

werden die sozialen Online-Medien wie Twitter,<br />

Youtube und Facebook, und letztlich auch Suchmaschinen<br />

wie Google, zu den Hauptlieferanten von Nachrichten und<br />

Informationen. Gleichzeitig entsteht ein paradoxes Phänomen:<br />

auf der einen Seite eine unglaubliche Menge an zirkulierenden<br />

Informationen und auf der anderen Seite algorithmenbasierte<br />

»Filterbubbles«. Diese »Bubbles« sorgen dafür,<br />

dass Webseiten mittels Algorithmen vorfiltern, welche Informationen<br />

für den Benutzer relevant sein könnten. Sie basieren<br />

auf den verfügbaren Informationen der Benutzer – nutzen<br />

beispielsweise dessen Standort, sein bisheriges Klickverhalten,<br />

womit dem Nutzer häufig nur die Informationen angezeigt<br />

werden, die seinen bisherigen <strong>Ansicht</strong>en nicht<br />

widersprechen.<br />

Angesichts dessen, dass soziale Online-Netzwerke wie<br />

Facebook und Google von immer mehr Nutzern als Informationsquelle<br />

benutzt werden und damit meinungsbildungsrelevant<br />

sind, stellt sich die Frage, ob personalisierte, also auf<br />

den individuellen Nutzer zugeschnittene Informationen, einen<br />

manipulativen Charakter haben. So gelangten zum Beispiel<br />

die Nachrichten über die Proteste der schwarzen Bevölkerung<br />

gegen die Polizeigewalt in Ferguson auf Facebook<br />

erst verzögert zu den Nutzern. Der Slogan von Facebook<br />

»Our mission is to make the world more open and connected«<br />

konterkariert hingegen das, was de facto, aber unsichtbar,<br />

in der digitalen Welt passiert. Ob es nun Meme, Geschichten<br />

oder Bilder sind, die uns das Abstractum »Überwachung«<br />

verständlich machen, es wäre an der Zeit, »das<br />

Unsichtbare, das nie Gesehene sichtbar zu machen«, wie es<br />

in »George Kaplan« vehement gefordert wird. Der Ring des<br />

Gyges, den die Datensammler Whatsapp & Co. tragen,<br />

müsste ihnen entrissen werden. Sonst müssen wir uns vielleicht<br />

in einem späteren Leben von unseren Kindern fragen<br />

lassen: Warum habt ihr damals eigentlich alle mitgemacht?<br />

Petra Grimm<br />

032<br />

thementage_2016 033


Essay<br />

Lisa Ströhlein<br />

COMPUTERSPIELE:<br />

FANTASTISCHE<br />

PARALLELWELTEN<br />

VIRTUELLES<br />

»Die Netzwelt« von Jennifer Haley ist ein fesselnder Krimi<br />

über Technologie und menschliches Begehren im anbrechenden<br />

virtuellen Zeitalter, der alle moralischen Gewissheiten<br />

auf den Prüfstand stellt. In der nahen Zukunft hat sich<br />

die Menschheit mehr und mehr in die Virtualität der Netzwelt<br />

zurückgezogen, die mit allen Sinnen erlebbar ist. Der<br />

Programmierer Sims hat in der Netzwelt einen virtuellen<br />

Club geschaffen, in dem Kunden auf Kinder treffen, um mit<br />

ihnen ihre dunkelsten Fantasien auszuleben. Die Kinder in<br />

Sims Refugium sind aber, ebenso wie die Kunden, lediglich<br />

Avatare von Erwachsenen. Die junge Ermittlerin Morris ist<br />

mit der Frage konfrontiert, wie man mit Straftaten in der<br />

MORDEN<br />

IN DER<br />

NETZWELT<br />

Netzwelt umgeht, da sie ja nur eine Simulation und ein Rollenspiel<br />

im Einverständnis aller Beteiligten sind. Dürfen wir<br />

dunkle Neigungen in einer virtuellen Welt ausleben – oder<br />

sollten wir sie gerade dort ausleben können? Das Schauspiel<br />

Frankfurt ist an die Journalistin Lisa Ströhlein herangetreten<br />

mit der Frage, inwiefern Aspekte von Haleys »Die<br />

Netzwelt« bereits in unserer Gegenwart diskutiert und erforscht<br />

werden. Hat unser Erscheinungsbild und unser Verhalten<br />

in der virtuellen Welt Einfluss auf unsere Persönlichkeit<br />

und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen?<br />

Lisa Ströhlein ist studierte Biologin und schreibt u.a. für<br />

Internetfachmagazine.<br />

Ist Super Mario ein Mörder?<br />

Der populäre Protagonist der<br />

Nintendo-Spielreihe Super Mario<br />

Bros. tötet in seiner bunten Comicwelt<br />

tausende von Gegnern, um seine<br />

begehrte Prinzessin zu retten. Mithilfe<br />

verschiedener Boni springt er seinen<br />

Gegnern auf die Köpfe oder beschießt<br />

sie mit Feuerbällen. Doch wer würde<br />

dem Spieler, der Mario steuert, tatsächlich<br />

mörderische Absichten unterstellen?<br />

Immerhin handelt es sich bei<br />

seinen Opfern nicht um Lebewesen<br />

aus Fleisch und Blut, sondern bloß um<br />

in Form gepresste Bildpunkte.<br />

Weniger harmlos kommen die sogenannten<br />

Shooter Games daher: In den<br />

sehr realistisch anmutenden Kriegsszenarien<br />

kommt es darauf an, mit schweren<br />

Geschützen möglichst viele Gegner<br />

zu erschießen. Seit Anfang der Nullerjahre<br />

sind Shooter wie Counter Strike<br />

oder Grand Theft Auto immer wieder<br />

Gegenstand kontroverser Diskussionen<br />

über die Frage, ob die sogenannten<br />

»Killerspiele« Aggressionen und Gewaltbereitschaft<br />

fördern. Spätestens<br />

seit dem Amoklauf von Winnenden, bei<br />

dem ein 17-jähriger Schüler mit der Pistole<br />

seines Vaters 15 Menschen und<br />

letztendlich sich selbst erschoss, sprechen<br />

sich viele Eltern, Lehrer und Politiker<br />

für ein Verbot der Shooter aus. In<br />

ihrem Stück »Die Netzwelt« macht Jennifer<br />

Haley diese Thematik zu einer ihrer<br />

Kernfragen: Bieten virtuelle Realitäten<br />

einen rechtsfreien Raum, in dem Menschen<br />

kriminellen Neigungen nachgehen<br />

dürfen oder fördern virtuelle Gewalthandlungen<br />

gar kriminelles Verhalten<br />

in der wirklichen Welt?<br />

Computerspiele begeistern weltweit<br />

Millionen Menschen und sind auch<br />

hierzulande ein fester Bestandteil der<br />

Unterhaltungskultur geworden. So<br />

boomte das Browserspiel Second Life<br />

im Jahr 2003 mit 36 Millionen Nutzern,<br />

die ein zweites Leben in einer digitalen<br />

Parallelwelt begannen. In Second Life<br />

konnte der Spieler arbeiten, ausgehen,<br />

Beziehungen zu anderen Spielern aufbauen<br />

und alles umsetzen, was ihm in<br />

seiner wirklichen Welt verwehrt blieb.<br />

2004 erschien World of Warcraft<br />

[WoW], das mit 5,6 Millionen festen<br />

Abonnenten den Guiness-Weltrekord<br />

als beliebtestes Mehrspieler-Rollenspiel<br />

hält. In der märchenhaften Fantasiewelt<br />

ziehen Spieler als fahrende<br />

Helden umher und erledigen Aufgaben<br />

für verschiedene Auftraggeber. Bei erfolgreicher<br />

Ausführung erhält der Spieler<br />

Gold und Erfahrungspunkte, mit denen<br />

er den Spielcharakter optimieren<br />

kann. Die Aufträge können im Alleingang<br />

oder in Teams absolviert werden.<br />

AVATARE: KÖRPERLICHE<br />

VERSCHMELZUNG MIT<br />

DER VIRTUELLEN WELT<br />

Um sich in der virtuellen Welt bewegen<br />

zu können, benötigen Spieler einen virtuellen<br />

Körper – den Avatar. In den<br />

meisten Computerspielen leiht der<br />

Hauptprotagonist dem Spieler seinen<br />

Körper. Second Life oder WoW bieten<br />

die Möglichkeit, sich einen persönlichen<br />

Avatar zu erstellen. Diese personalisierten<br />

Avatare haben Psychologen<br />

und Neurowissenschaftler in den letzten<br />

Jahren als Forschungsgegenstand<br />

entdeckt. Mithilfe spezieller VR-Brillen<br />

schicken sie Probanden in virtuelle<br />

Welten und beobachten, wie sie sich<br />

dort verhalten und was dabei im Gehirn<br />

passiert. Bisherige Erkenntnisse zeigen:<br />

Avatare verraten nicht nur viel über<br />

die Person, die sie steuert; sie üben<br />

auch Einfluss auf sie aus.<br />

Forscher der Universität Barcelona<br />

ließen Probanden eine Tischplatte mit<br />

einem speziellen Stoff streicheln. Dabei<br />

sahen die Testpersonen zwei virtuelle<br />

Arme vor sich, die synchrone<br />

034<br />

thementage_2016 035


Essay<br />

Lisa Ströhlein<br />

EIN<br />

BESSERES<br />

ICH<br />

VOM SPIEL<br />

Z UR<br />

WIRKLICHKEIT<br />

Bewegungen ausführten. Ohne Vorwarnung<br />

ließen die Forscher eine Kreissäge<br />

auf die virtuellen Arme der Probanden<br />

fallen. Diese zogen reflexartig<br />

die Arme zurück, obwohl sie natürlich<br />

wussten, dass für ihren wirklichen Körper<br />

keine Verletzungsgefahr bestand.<br />

Der Effekt trat sogar dann noch auf,<br />

wenn die Probanden selbst nicht über<br />

den Stoff strichen, sondern die Hände<br />

still auf der Platte ruhen ließen. Die<br />

Wahrnehmung des virtuellen Körpers<br />

in Kombination mit der gefühlten Berührung<br />

erzeugt eine sogenannte<br />

Ganzkörper-Illusion. Bei diesem Gefühl,<br />

sich nicht im eigenen Körper zu<br />

befinden, wird eine Struktur des Gehirns<br />

aktiv, die Neurowissenschaftler<br />

als temporoparietale Übergangsregion<br />

bezeichnen. Diese Region spielt auch<br />

bei außerkörperlichen Erfahrungen eine<br />

Rolle, bei denen Betroffene die Illusion<br />

haben, als eine Art Geist über ihrem<br />

Körper zu schweben. Eine niederländische<br />

Studie zeigt, dass diese Illusion<br />

auch durch das Verknüpfen von<br />

visuellen und motorischen Reizen entstehen<br />

kann: Das Gehirn des Spielers<br />

will den Avatar steuern und führt dazu<br />

Bewegungen mit der Tastatur, der<br />

Maus oder dem Controller aus. Gleichzeitig<br />

führt der Avatar genau die geplanten<br />

Bewegungen aus. So verschmilzt<br />

das Gehirn den Avatar mit dem<br />

Körper des Spielers. Versuche im<br />

Hirnscanner zeigen eine sehr hohe Aktivität<br />

in einer Hirnregion namens Gyrus<br />

angularis, wenn sich die Probanden<br />

gedanklich mit ihrem Avatar beschäftigen.<br />

Dieselbe Region wird auch bei außerkörperlichen<br />

Erfahrungen aktiv.<br />

EIN HERZ<br />

UND<br />

EINE SEELE<br />

Nicht nur körperlich formen Spieler und<br />

Avatar eine Einheit. Auch emotional<br />

empfinden erfahrene Spieler eine starke<br />

Bindung mit ihren virtuellen Charakteren.<br />

In der niederländischen Studie<br />

ließen Psychologen ihre Probanden<br />

ausgewählte Charaktereigenschaften<br />

entweder sich selbst, ihrem WoW-Avatar<br />

oder ihrem besten Freund zuordnen.<br />

Dabei maßen sie unter dem Hirnscanner<br />

die Aktivität des Gyrus cinguli, einer<br />

Hirnregion, die an der Entstehung von<br />

Emotionen mitwirkt. Die höchste Aktivität<br />

maßen die Forscher, wenn der Spieler<br />

an seine eigenen Persönlichkeitszüge<br />

dachte. Beschäftigte sich der Spieler<br />

mit seinem Avatar, war die Aktivität<br />

genauso hoch wie bei Charaktermerkmalen<br />

des besten Freundes.<br />

In der Parallelwelt Second Life können<br />

Spieler ihren menschlichen Avatar sehr<br />

detailliert selbst gestalten. Intuitiv entscheiden<br />

sich die meisten für eine idealisierte<br />

Variante ihrer selbst. Introvertierte<br />

Spieler legen dabei mehr Wert<br />

auf körperliche Attraktivität, während<br />

extrovertierte Spieler eher mit exzentrischen<br />

Identitäten experimentieren. Eine<br />

Erklärung für diese Entscheidungen<br />

bietet die Selbstwahrnehmungstheorie<br />

des Psychologen Daryl Bem. Dieser<br />

zufolge beobachten Menschen sich<br />

selbst und reflektieren aus ihren Wahrnehmungen<br />

auf die eigene Persönlichkeit.<br />

Fragt uns beispielsweise jemand,<br />

ob wir ein gerechter Mensch sind, rufen<br />

wir uns intuitiv Situationen ins Gedächtnis,<br />

die Auskunft über unseren<br />

Gerechtigkeitssinn geben. Dass viele<br />

Aspekte der Selbstwahrnehmungstheorie<br />

auch in der virtuellen Welt zutreffen,<br />

demonstrierten amerikanische<br />

Sozialwissenschaftler, indem sie Testpersonen<br />

in der virtuellen Welt den<br />

Spiegel vorhielten. Dazu gaben sie ihnen<br />

entweder einen attraktiven oder einen<br />

unansehnlichen Körper. Nachdem<br />

die Tester Gelegenheit hatten, ihre virtuelle<br />

Gestalt zu betrachten, kam ein<br />

weiterer Spielcharakter hinzu, der die<br />

Teilnehmer bat, etwas über sich selbst<br />

zu erzählen. Die Reaktionen der Testpersonen<br />

hingen dabei gänzlich von ihrer<br />

körperlichen Erscheinung ab. Testpersonen<br />

mit einem attraktiven Avatar<br />

traten sehr selbstbewusst auf und gaben<br />

mehr über sich preis, während<br />

hässliche Avatare den Spieler schüchterner<br />

werden ließen. Laut der Forscher<br />

sind dies die gleichen Verhaltensweisen,<br />

die wir Menschen auch im wahren<br />

Leben einer bestimmten körperlichen<br />

Erscheinung zuschreiben.<br />

ÜBER<br />

DIE GRENZEN<br />

DES SPIELS<br />

HINAUS<br />

Inwieweit der Avatar seinen Spieler<br />

auch in der realen Welt beeinflussen<br />

kann, untersucht Jeremy Bailenson von<br />

der Stanford University. Kämpfe mit<br />

mehreren Gegnern gleichzeitig oder<br />

das Klettern durch einen gefährlichen<br />

Hindernisparcours lösen Stressreaktionen<br />

im Körper des Spielers aus,<br />

als müsse er die Herausforderung<br />

selbst meistern. Diese Erlebnisse haben<br />

eine nachhaltige Wirkung, die den<br />

Spieler über die Grenzen des Spiels<br />

hinaus prägt, wie Bailenson in mehreren<br />

Experimenten demonstrierte. In einem<br />

Helikopter-Szenario ließ der Psychologe<br />

Testpersonen entweder in die<br />

Rolle des Superhelden oder die des<br />

unbeteiligten Passagiers schlüpfen.<br />

Dabei bekam der Superheld den Auftrag,<br />

ein an Diabetes erkranktes Kind<br />

vor einem Zuckerschock zu bewahren.<br />

Zurück in der realen Welt, hatten die<br />

Testpersonen ihre Heldenrolle verinnerlicht<br />

und zeigten sich sofort hilfsbereit,<br />

als die Forscher einen Behälter mit<br />

Stiften umstießen. Die teilnahmslosen<br />

Passagiere machten keine Anstalten zu<br />

helfen.<br />

Die Stanford-Studien zeigen, dass<br />

Avatare ihre Spieler nachhaltig beeinflussen.<br />

Doch wie weit reicht dieser Effekt?<br />

Kann das virtuelle Prügeln und<br />

Töten zu mehr Gewaltbereitschaft im<br />

alltäglichen Leben führen? Und könnte<br />

man Sims aus Haleys »Die Netzwelt«<br />

folglich beschuldigen, Misshandlung<br />

und sexuellen Missbrauch von Kindern<br />

zu fördern? Aus wissenschaftlicher<br />

Perspektive lässt sich das nicht eindeutig<br />

sagen. Viele Studien zu dieser<br />

Thematik kranken an methodischen<br />

Mängeln, beispielsweise in der Frage,<br />

ob sich das Töten eines virtuellen Gegners<br />

als aggressives Verhalten definieren<br />

lässt. Denn auch auf den Kontext<br />

des Tötens kommt es an. In WoW töten<br />

die Spieler als Helden, die Schwache<br />

vor »den Bösen« schützen. Selbst bei<br />

den kontroversen Shooter-Spielen<br />

herrscht bislang kein Konsens: zwar<br />

gibt es Untersuchungen, die zumindest<br />

eine kurzfristige Erhöhung des Aggressionspotenzials<br />

andeuten. Mit einer<br />

dreijährigen Beobachtungsstudie unter<br />

Jugendlichen, die regelmäßig Shooter<br />

spielen, konnte jedoch kein vergleichbarer<br />

Effekt bestätigt werden. Die Forscher<br />

betonten, dass Umweltfaktoren<br />

wie sozialökonomischer Status, traumatische<br />

Erlebnisse oder Vernachlässigung<br />

einen wesentlich größeren Einfluss<br />

auf die menschliche Psyche<br />

haben.<br />

Lisa Ströhlein<br />

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/<br />

amoklauf-von-winnenden-vater-von-tim-kmuss-schadensersatz-zahlen-a-1047255.<br />

html<br />

K. Kilteni, J. Normand, M.V. Sanchez-Vives,<br />

M. Slater: »Extending body space in immersive<br />

virtual reality: a very long arm illusion«,<br />

PlosOne, 19. Juli 2012<br />

S. Ganesh, H.T. van Schie, F.P. de Lange,<br />

E. Thompson, D.H.J. Wigboldus: »How the<br />

human brain goes virtual: distinct cortical<br />

regions of the person-processing network<br />

are involved in self-identification with virtual<br />

agents«, Oxford Journals, 13. September<br />

2011<br />

N. Yee, J.N. Bailenson, N. Ducheneaut: »The<br />

Proteus Effect: implications of transformed<br />

digital self-presentation on online and<br />

offline behavior«, Communication Research,<br />

22. Januar 2009<br />

R.S. Rosenberg, S.L. Baughman,<br />

J.N. Bailenson: »Virtual superheroes: using<br />

superpowers in virtual reality to encourage<br />

prosocial behaviour«, PlosOne, 30. Januar<br />

2013<br />

Y. Hasan, L. Bègue, M. Scharkow, B.J.<br />

Bushman: »The more you play, the more<br />

aggressive you become: a long-term<br />

experimental study of cumulative violent<br />

video game effects on hostile expectations<br />

and aggressive behavior«, Journal of<br />

Experimental Social Psychology, März 2013,<br />

49[2]:224-227<br />

C.J. Ferguson, C. San Miguel, A. Garza,<br />

J.M. Jerabeck: »A longitudinal test of<br />

video game violence influences on dating<br />

and aggression: a 3-year longitudinal study<br />

of adolescents«, Journal of Psychiatric<br />

Research, Februar 2012, 46[2]:141-6<br />

036<br />

thementage_2016 037


Essay<br />

Alexandre Lacroix<br />

REPORTAGE AUS DEM SILICON VALLEY<br />

UNTERNEHMEN<br />

UN<br />

STERBLICHKEIT<br />

Seit mehr als 40 Jahren ist das Silicon<br />

Valley das kreative Zentrum unserer<br />

Welt. Derzeit wird auf einen neuen, vorgeblich<br />

epochalen Sprung in der Evolution<br />

unserer Art hingearbeitet. Im<br />

»Posthumanismus« sollen Mensch und<br />

Maschine verschmelzen und so der<br />

älteste aller Menschheitsträume<br />

Wirklichkeit werden: ewiges Leben.<br />

Bei einem Ortsbesuch der Architekten<br />

unserer »singulären« Zukunft wird<br />

deutlich: Sie haben bereits einen<br />

anderen Blick auf die Welt. Ändert sich<br />

auch allmählich unser Referenzrahmen<br />

in Bezug auf die Einschätzung digitaler<br />

und gesellschaftlicher Veränderungen?<br />

In der Eröffnungsdiskussion<br />

»Digitale Welten – welchen Fortschritt<br />

wollen wir?« untersuchen die Diskutanten,<br />

wie die Digitalisierung unsere<br />

Wahrnehmung verändert und nach<br />

welchen Kriterien wir die technologischen<br />

Entwicklungen analysieren, einordnen<br />

und bewerten wollen.<br />

San Francisco hat sein eigenes<br />

Mikroklima: Auch an<br />

diesem Morgen hüllt ein<br />

frischer, grauer Nebel die<br />

Stadt ein. Bei meinem<br />

Spaziergang am Jachthafen<br />

nahe der Golden Gate<br />

Bridge, von der mich nur<br />

ein Strand trennt, auf dem<br />

die pet sitters die Hunde<br />

ihrer reichen Arbeitgeber<br />

ausführen, bemerke ich ein<br />

Holzschiff, das ein wenig<br />

wie eine Freibeuterkorvette aussieht.<br />

»SINGULARITY« lautet sein Name.<br />

Seltsame Koinzidenz. Wenn es stimmt,<br />

dass Kalifornien eine Welt für sich mit<br />

ihrem eigenen zivilisatorischen Mikroklima<br />

ist, so beruht ihr charakteristischster<br />

Zug in dem erstaunlichen<br />

Hang ihrer Bewohner, Träume auf die<br />

Erde herabzuholen und die Ideen der<br />

Avantgarde in die Tat umzusetzen. Und<br />

eben für eine Recherche über die letzte<br />

gerade hoch im Kurs stehende Idee,<br />

die Singularität, habe ich die Reise<br />

hierher unternommen.<br />

Den Begriff »technologische Singularität«<br />

hat der Mathematiker und Science-Fiction-Autor<br />

Vernor Vinge 1993<br />

auf einem von der NASA organisierten<br />

Symposium eingeführt. In Analogie zur<br />

allgemeinen Relativitätstheorie, in der<br />

die Schwarzen Löcher als Krümmungssingularitäten<br />

bezeichnet werden,<br />

das heißt als Objekte von unendlicher<br />

Dichte, in deren Nähe die traditionellen<br />

physikalischen Gesetze aufgehoben<br />

werden, nimmt Vinge an,<br />

dass es bald auch zu einer »technologischen<br />

Singularität« kommen wird.<br />

Von da an werden alle Gesetze der<br />

Menschheitsgeschichte anders sein.<br />

Glaubt man Vinge, werden die Menschen<br />

bis 2030 »Entitäten mit höherer<br />

Intelligenz als der menschlichen« erschaffen.<br />

Dies kann auf verschiedene<br />

Weise erreicht werden: Entweder<br />

werden die Computer klüger als die<br />

Menschen, oder das Computernetzwerk<br />

»erwacht«, oder aber der Mensch<br />

schließt seinen Körper an Computer<br />

an, oder er modifiziert die Biologie<br />

seines Gehirns, um seine Fähigkeiten<br />

zu steigern. In all diesen Fällen, warnt<br />

Vinge, wird diese superintelligente<br />

Entität den Lauf der Geschichte ändern.<br />

Es wird sich um die letzte vom<br />

Menschen erfundene Maschine handeln,<br />

die alle künftigen Maschinen erschaffen<br />

und die Entscheidungen zur<br />

globalen Regulierung [Geld- und Warenflüsse,<br />

Transport usw.] übernehmen<br />

wird. Mit der Singularität werden<br />

wir mit einem Mal ins posthumane<br />

Zeitalter wechseln.<br />

Der Singularitätsbegriff ist 2005 durch<br />

Ray Kurzweils Bestseller »The Singularity<br />

is Near« [dt. »Menschheit 2.0«,<br />

Lola Books, 2014] wirklich populär geworden.<br />

Der Informatiker und Zukunftsforscher<br />

Kurzweil arbeitet seit<br />

2012 als Leiter der technischen Entwicklung<br />

bei Google. Auch Kurzweil<br />

ist überzeugt, dass wir an der Schwelle<br />

zum Stadium des Sigularitätszeitalters<br />

stehen, dessen Beginn er etwa für<br />

2045 prognostiziert. Danach werden<br />

wir in die »Epoche der Fusion von<br />

Technologie und menschlicher Intelligenz«<br />

eintreten. In diesem Zeitalter<br />

wird sich der Mensch in ein halb biologisches,<br />

halb informatisches, mit dem<br />

Internet verbundenes Wesen verwandeln;<br />

wir werden die Möglichkeit haben,<br />

uns unsterblich zu machen, indem<br />

wir unser Bewusstsein auf einen<br />

Computer überspielen.<br />

Dank dieser provokanten Thesen ist<br />

die technologische Singularität in<br />

Mode gekommen. Sie steht nicht nur<br />

im Mittelpunkt zahlreicher Science-<br />

Fiction-Filme – wie etwa in »Her« von<br />

Spike Jonze oder »Lucy« von Luc<br />

Besson –, sondern bildet eine Art regulative<br />

Idee und Handlungshorizont<br />

für die gesamte Kultur des Silicon Valley.<br />

Das Epizentrum dieses Phänomens<br />

ist die von Ray Kurzweil gegründete<br />

und von dem Internet-Entrepreneur<br />

Peter Thiel teilfinanzierte Singularity<br />

University, in der renommierte<br />

Hochschulforscher und Unternehmer<br />

aufeinandertreffen. Sämtliche Gesprächspartner,<br />

denen ich im Laufe<br />

meines Aufenthalts in Kalifornien begegnen<br />

werde, stehen in Beziehung<br />

zur Singularity University. Den Auftakt<br />

bildet ein Abendessen mit verschiedenen<br />

Leitern von Forschungsprogrammen<br />

dieser einflussreichen Institution.<br />

038<br />

thementage_2016 039


Essay<br />

Alexandre Lacroix<br />

DER VERNETZTE KÖRPER<br />

In seinem Vortrag bei der NASA legte Vernor Vinge nahe,<br />

dass die Menschen ihre Körper bald mit Computern vernetzen<br />

würden, indem sie zum Beispiel ein Kabel direkt ans Gehirn<br />

anschließen oder auch an den Sehnerv. Neben rein<br />

technischen sind dabei nicht zuletzt auch psychologische<br />

Barrieren zu überwinden. »Würden Sie denn akzeptieren,<br />

dass man Ihnen beispielsweise einen USB-Anschluss mitten<br />

in den Nacken implantiert?« Diese Frage stelle ich beim<br />

Abendessen meinen Tischgenossen.<br />

»Natürlich, ohne zu zögern!«, antwortet Christine Peterson.<br />

Spezialistin für Nanotechnologie. Der neben ihr sitzende<br />

Luke Muehlhauser, Experte für künstliche Intelligenz, stimmt<br />

zu: »Das ist wie die Geschichte mit den Retortenbabys. Nach<br />

der ersten Befruchtung im Reagenzglas haben sich die Journalisten<br />

auf das Neugeborene gestürzt, um sich zu vergewissern,<br />

ob es auch ganz normal ist. Seither ist diese Praxis zu<br />

etwas Alltäglichem geworden …«<br />

Auch wenn der an unserem Tisch ausgeschenkte kalifornische<br />

Pinot Noir exzellent ist, muss ich zugeben, dass ich von<br />

der Aussicht, einen elektronischen Chip unter die Haut verpflanzt<br />

oder E-Mails auf meiner Netzhaut angezeigt zu bekommen,<br />

nicht sonderlich berauscht bin. »Aber alles hängt<br />

davon ab, was Sie unter der Vernetzung von Mensch und<br />

Maschine verstehen«, schaltet sich ein weiterer Wissenschaftler<br />

ein. Daniel Kraft, Absolvent der Medizinischen Fakultät<br />

von Stanford, Ieitet die medizinischen Programme der<br />

Singularity University und hat mit FutureMed eine weitere<br />

Organisation geschaffen, die im Bereich der biomedizinischen<br />

Zukunftsforschung tätig ist. »ln Wirklichkeit existieren<br />

bereits zahlreiche Schnittstellen. Manche Herzschrittmacher<br />

haben eine IP-Adresse und sind über Apps steuerbar.« Bereits<br />

jetzt gebe es Headsets, die gegen geistige Ermüdung<br />

bei der Arbeit schützen, indem sie das Gehirn durch Stromschläge<br />

stimulieren – leider wurden sie bislang noch nicht<br />

zugelassen. Google Glass, das Zugang zur erweiterten Realität<br />

gewährt – wenn Sie jemanden anschauen, sehen Sie<br />

alle online verfügbaren Daten über diese Person in ihrem<br />

Sichtfeld vorüberziehen –, werde, obwohl noch nicht einmal<br />

auf dem Markt, schon bald durch Kontaktlinsen ersetzt werden.<br />

Schließlich erwähnt Daniel noch die Optogenetik. Diese<br />

neue Technologie besteht darin, bestimmte Nervenzellen<br />

lichtempfindlich zu machen und sie dann über ins Gehirn implantierte<br />

Lichtwellenleiter mit Lichtstrahlen zu stimulieren.<br />

Bei Tests an Mäusen konnte dadurch positiv auf die Stimmung<br />

des Tieres eingewirkt werden, es wurde empathischer<br />

oder aktiver. Ein Forschungsteam in Stanford plant, die Optogenetik<br />

bei der Behandlung von Depressionen beim Menschen<br />

anzuwenden.<br />

An diesem Punkt wird mir klar, dass meine alteuropäischen<br />

Begriffsoppositionen, wie etwa Natur – Kultur, organisch –<br />

künstlich, beseelt – unbeseelt, für meine Gesprächspartner<br />

jede Verbindlichkeit und Plausibilität eingebüßt haben. ln ihren<br />

Augen ist der menschliche Körper bereits eine Maschine.<br />

Zwischen dem Natürlichen und dem Artifiziellen gibt es also<br />

keinen Bruch, sondern eine Kontinuität. Was läge näher, als<br />

die zugleich fragile und unvollkommene Mechanik des<br />

menschlichen Leibes immer weiter zu optimieren?<br />

Anfang Juni letzten Jahres kündigte Apple an, eine paramedizinische<br />

Plattform namens HealthKit auf den Markt zu bringen.<br />

Zwei Monate später ließ Google die Einführung von<br />

Google Fit verlautbaren. Diese Ankündigungen sind in Europa<br />

kaum kommentiert worden, wahrscheinlich, weil ihre Bedeutung<br />

nicht begriffen wurde. In einem Wort: Die Internetriesen<br />

haben beschlossen, den Gesundheitsmarkt zu erobern.<br />

Ein neuer Wirtschaftszweig soll entstehen, die »digitale<br />

Medizin«, die Amerikaner sprechen auch von »mobile<br />

health«.<br />

»Was wird denn passieren mit diesen von Technologieriesen<br />

eingeführten Plattformen?«, frage ich Daniel Kraft. »Das ist<br />

die Zukunft der Medizin … Heute sind wir dazu in der Lage,<br />

viele Informationen über einen Patienten zu sammeln: Gewicht,<br />

Blutdruck, Zusammensetzung des Blutes; wir können<br />

seinen genetischen Code analysieren. Ein Ganzkörperscan<br />

liefert 2400 Schnittbilder vom Körper des Patienten, was eine<br />

Datenmenge von 20 Gigaoktett bedeutet. Natürlich ist<br />

kein Arzt mehr imstande, alle diese Daten zu analysieren. Das<br />

werden also Anwendungsprogramme machen müssen. Indem<br />

sie die Entwicklung der variablen Daten überwachen,<br />

werden diese Apps eine maßgebliche Rolle bei der Krankheitsvorsorge<br />

und Diagnose spielen.«<br />

»Und wenn die Leute keine Lust haben auf diese Check-ups,<br />

aus Angst, dass man ihnen schlechte Neuigkeiten bringt?«<br />

»Dann werden sie aus anderen Gründen kommen. Denken<br />

Sie an das Beispiel Aspirin: Wir wissen, dass Aspirin lediglich<br />

bei einem von drei weißen Amerikanern wirkt. Mit einer<br />

detaillierteren Kenntnis des Stoffwechsels jedes Patienten<br />

werden wir personalisierte Medikamente verschreiben. Möglicherweise<br />

genügen für Sie 360 mg Aspirin, während ich<br />

470 mg benötige. In naher Zukunft wird jeder seine biomedizinischen<br />

Daten stets aktualisiert auf seinem Handy bereitgestellt<br />

haben.«<br />

Ich frage Daniel, wie es möglich sein soll, in industrieller Größenordnung<br />

personalisierte Medikamente herzustellen. Seine<br />

Antwort verblüfft mich: »Mithilfe von 3-D-Druckern! Sie<br />

sind bereits dazu in der Lage, zahlreiche aktive Moleküle zu<br />

drucken. Eines Tages wird man Ihnen Ihre Medikamente ausdrucken.<br />

Das Verfahren nennt man Bioprinting. Bald werden<br />

übrigens auch alle zahnmedizinischen Prothesen von 3-D-<br />

Druckern hergestellt.«<br />

Nachdenklich versuche ich mir eine nahe Zukunft vorzustellen,<br />

in der Apple und Google die Weltmarktführer im Gesundheitsbereich<br />

und die Ärzte immens abhängig von ihren<br />

Anwendungsprogrammen wären. Aber wie, wenn überhaupt,<br />

hängen diese Innovationen und Pläne mit der Singularitätsthese<br />

und den Entwicklungssprüngen im Bereich der künstlichen<br />

Intelligenz zusammen?<br />

Um dieser Frage nachzugehen, begebe ich mich am folgenden<br />

Morgen nach Berkeley, dem Sitz des Machine lntelligence<br />

Research Institute [MIRI]. Dort bin ich mit einem Mann<br />

verabredet, dessen Leidenschaft der künstlichen Intelligenz<br />

gilt, Eliezer Yudkowsky. Yudkowsky mahnt in seinem Aufsatz<br />

»Artificial Intelligence as a Positive and Negative Factor in<br />

Global Risk« mit verstörender Dringlichkeit, wir sollten uns<br />

darum kümmern, dass die von uns fabrizierten künstlichen<br />

Intelligenzen »freundlich« und »wohlwollend« seien. Er argumentiert<br />

folgendermaßen: Die künstlichen Intelligenzen werden<br />

eingesetzt, um zahlreiche Aspekte der menschlichen<br />

Gesellschaftsordnung zu optimieren. So wäre eine Gesellschaft<br />

ohne alte und behinderte Menschen von einem makroökonomischen<br />

Standpunkt her viel leistungsfähiger beziehungsweise<br />

optimiert. Wenn wir verhindern wollen, dass es<br />

in der posthumanen Ära zu drastischen Selektionen kommt,<br />

müssen unsere Computer eine ethische Dimension in ihre<br />

Entscheidungsprozesse integrieren.<br />

ETHISCHE MASCHINEN?<br />

Doch wie soll das geschehen? »Sollte man ihnen die ›Allgemeine<br />

Erklärung der Menschenrechte‹ oder das ›Strafgesetzbuch‹<br />

implementieren?«, frage ich Eliezer, der in seinem<br />

Büro am MIRI gerade zwei große Whiteboards mit Algorithmen<br />

füllt. »Aber nein! Ich arbeite auf einer Metaebene, ich<br />

interessiere mich nur für die indirekte Normativität. Nehmen<br />

wir ein Beispiel: Wäre ein Bewohner Athens im 4. Jahrhundert<br />

v. Chr. imstande gewesen, Gesetze zu formulieren, die<br />

uns heute gemäß erscheinen würden? Nein, denn er hätte<br />

weder die Sklaverei noch die Ungleichheit von Mann und<br />

Frau verurteilt. Genauso wenig können wir eine Charta von<br />

Normen formulieren, die in 2000 Jahren noch adäquat erscheinen<br />

wird. Doch die Lösung ist einfach: Sie müssen<br />

künstliche Intelligenzen dazu anweisen, in jeder Epoche gemäß<br />

dem zu handeln, was die Leute für gut halten.«<br />

Doch kann man wirklich auf direkte Normativität verzichten?<br />

Was würde sich in einem totalitären Staat ereignen, wenn<br />

sich zu einem genozidären Vorhaben ein Konsens gebildet<br />

hätte? Als ich diesen Einwand vorbringe, schaut mich Eliezer<br />

bekümmert an, als sei ich eine Art geistig Zurückgebliebener.<br />

»Hören Sie, in den kommenden Jahren wird sich vieles ändern,<br />

weitaus mehr, als Sie sich anscheinend vorstellen können.<br />

Schauen Sie hier.« Er zeigt auf seinen Kopf. »Was sehen<br />

Sie? Einen Computer. Er ist aus Zellen gemacht, also aus<br />

Molekülen. Die lebende Materie ist aus 20 Aminosäuren zusammengesetzt.<br />

Es ist eine fragile Materie, und aus etlichen<br />

Perspektiven ist das menschliche Dasein ein Albtraum. Zunächst,<br />

weil wir sterblich sind. Dann, weil wir Raubtierinstinkte<br />

haben. Jetzt stellen Sie sich vor, was passieren wird, wenn<br />

wir unsere Bewusstseine auf Festplatten überspielen können.<br />

Wir werden potenziell unsterblich und müssen bestimmte<br />

idiotische Szenen nicht mehr erleben, zum Beispiel<br />

die des betrunkenen Ehemanns, der seine Frau schlägt.<br />

Deshalb müssen wir eine Welt entwerfen, in der unsere Bewusstseine<br />

nicht mehr Aminosäuren als Träger haben, sondern<br />

Silizium.«<br />

»Es wäre trotzdem schade, gar keinen Körper mehr zu haben,<br />

nicht mehr inkarniert zu sein«, sage ich. »Warum?«, fragt Eliezer.<br />

»Mir kommt es so vor, als verlöre man so einiges, was das<br />

Leben interessant macht. Die sexuelle Lust zum Beispiel.«<br />

Bei diesen Worten reißt Eliezer die Augen weit auf. »Aber die<br />

Computer werden doch viel besser Liebe machen als wir!<br />

Alle Empfindungen laufen zum Gehirn, und wir können es so<br />

einrichten, dass digitalisierte menschliche Bewusstseine sexuelle<br />

Gefühle empfinden, die viel intensiver sind, viel länger<br />

andauern als unsere armseligen Orgasmen. Denken Sie<br />

doch nur, zwei auf Computer geladene Geiste werden beschließen<br />

können, ihre Quellcodes zu teilen – was damit<br />

möglich wird, ist Sex mit Telepathie, eine Verschmelzung, wie<br />

Sie sie noch nie erlebt haben!«<br />

Für einen Moment, in dem ich nicht weiß, ob ich lächeln oder<br />

beunruhigt sein soll, verschlägt es mir die Sprache. »Doch es<br />

ist nicht die Zukunft der Menschheit, die mich beschäftigt«,<br />

fährt Eliezer fort. »Eher die der Galaxien. Denken Sie nicht<br />

nur an die Sonne, sondern an all die anderen Sterne mit ihren<br />

um sie kreisenden Exoplaneten … Das ist kein Spiel auf einem<br />

Rummelplatz – wir werden das Ziel nie erreichen, indem<br />

wir fleischgefüllte Konservenbüchsen in die Luft werfen.« Ich<br />

brauche eine Weile, bis ich verstehe, dass sich Eliezers Metapher<br />

auf Raketen und Raumschiffe bezieht.<br />

»Anders gesagt, der biologische Mensch wird niemals zur<br />

Eroberung anderer Planeten aufbrechen können. Wenn wir<br />

wollen, dass eine intergalaktische Zivilisation das Licht der<br />

Welt erblickt – wovon ich seit meiner Kindheit träume –,<br />

dann muss die Erkundung und Kolonisierung des Weltraums<br />

zwangsläufig von intelligenten Maschinen, von unsterblichen<br />

Geistern geführt werden. Wir stehen am Anfang dieser<br />

Revolution.«<br />

Ich frage ihn, ob er schätzt, lange genug zu leben, damit diese<br />

Technologien ausgearbeitet wären und sein Geist auf einen<br />

Computer überspielt werden könnte. »Ich habe einen<br />

Vertrag bei Cryonics Institute unterschrieben«, sagt er und<br />

zeigt mir eine Medaille aus graviertem Metall, die er an einer<br />

dicken Kette um den Hals trägt. »Das kostet mich jährlich<br />

300 Dollar. Nehmen wir an, ich sterbe heute bei einem Autounfall<br />

– die würden meinen Körper dann in flüssigem Stickstoff<br />

lagern. Werde ich später wieder zum Leben erweckt?<br />

Ich weiß es nicht, aber derzeit ist das die beste Option.«<br />

Mich drängt es, auf die Erde zurückzukehren, wieder festen<br />

argumentativen Boden unter die Füße zu bekommen. Doch<br />

hier, in Nordkalifornien, dem Land der klaffenden Abgründe<br />

und dynamischen Tektonik scheint das keine sehr ausgeprägte<br />

Sehnsucht zu sein. Viel lieber berauschen sich die<br />

Menschen hier an der Sehnsucht nach einem großen innovativen<br />

Beben, nach Prozessen, die alles für immer verändern<br />

sollen. Vermutlich ist es kein geografischer Zufall, dass die<br />

Hoffnung auf »disruptive Ereignisse« zu den häufigst verwendeten<br />

Phrasen der hiesigen Tech-Community gehört. […]<br />

Alexandre Lacroix<br />

Aus dem Französischen von Till Bardoux<br />

040<br />

thementage_2016 041


Essay<br />

Friedemann Karig<br />

HILFE ODER<br />

HETZE? DAS<br />

NETZ<br />

UND DIE<br />

FLÜCHTLINGE<br />

Die digitale Revolution hat das Verständnis<br />

und die Strukturen von Öffentlichkeit<br />

grundlegend verändert. Im<br />

World Wide Web kulminieren Meinungen<br />

und entstehen Dynamiken, die gerade<br />

in Hinblick auf die Flüchtlingskrise<br />

nicht nur die Gespaltenheit einer Gesellschaft<br />

offenbaren. Sie entfalten<br />

auch eine Macht, der sich politische<br />

Entscheidungsträger offenbar nicht zu<br />

entziehen vermögen. Doch wie funktionieren<br />

die Vernetzungsstrukturen der<br />

neuen Öffentlichkeit, wie formt sich der<br />

Diskurs und welchen Einfluss hat er<br />

auf das reale Leben? Das Schauspiel<br />

Frankfurt hat Friedemann Karig gebeten,<br />

dies anhand der aktuellen Flüchtlingsdebatte<br />

zu untersuchen. Karig hat<br />

Medienwissenschaften, Soziologie und<br />

Politik studiert und arbeitet als Autor,<br />

Moderator und Journalist. Während der<br />

<strong>Thementage</strong> wird er das Panel »Solidarität.<br />

Die neue Öffentlichkeit oder Die<br />

Macht der Vielen« moderieren.<br />

Angela Merkel kommt dem Mann nahe. So nah wie selten einem<br />

Fremden. Beide lächeln, lachen fast. Dann drückt er auf<br />

den Auslöser. Der Flüchtling aus Syrien hat sein Selfie mit der<br />

Kanzlerin. An diesem 10. September 2015 wird sie dutzendfach<br />

fotografiert, mit Handykameras, im Stehen. So wie jeden<br />

Tag als Kanzlerin. Doch diese spontanen Selbstporträts in<br />

der Erstaufnahmeeinrichtung Berlin-Spandau – es sollen besondere<br />

Bilder werden. Sie gehen um die Welt. Als Beweis<br />

für die Offenheit Deutschlands und seiner Regierungschefin.<br />

Und das nicht nur sekundär in den Massenmedien. Sondern<br />

zuallererst auf Facebook und Twitter, besonders im arabischen<br />

Raum. »Angela Merkel« wird einer der meistgesuchten<br />

Begriffe in Syrien. Die Kanzlerin wird zum Online-Star. Doch<br />

was löst das hier in unserem gelobten Land aus, für das die<br />

Porträtierten ihre Leben riskiert haben? Wie formt sich in der<br />

deutschen digitalen Republik der Diskurs um die Zuwanderung?<br />

Wer hat Angst vor diesen Bildern?<br />

DAS SMARTPHONE ALS DIRIGENT<br />

UND MUSEUM DER FLUCHT<br />

Ron Schickler ist kein Träumer. Der Münchner Radiojournalist<br />

weiß: »Man kann online nur eine kleine Hilfe für die Flüchtlinge<br />

leisten. Aber eine wichtige«. So erzählt er es im September<br />

2015 auf dem Zündfunk-Netzkongress in München.<br />

Der Stadt, die im Sommer 2015 zum Schauplatz einer ungeahnten<br />

Willkommenskultur steht. Der Hashtag der Helfer:<br />

#refugeeswelcome. Unter diesem Slogan entsteht am<br />

2. September 2015 eine Dynamik, wie man sie in der deutschen<br />

Netzöffentlichkeit selten erlebt hat. Der Hashtag verbreitet<br />

sich vor allem von Deutschland aus – und so genannten<br />

lokalen »Hot Spots« der Flüchtlingsproblematik wie dem<br />

französischen Calais. Wo wirklich Not herrscht, blüht die<br />

Solidarität. Bis am Nachmittag des 3. Septembers ganz<br />

Europa #refugeeeswelcome nutzt. Hier sammeln sich akute<br />

Hilfegesuche [»Wir brauchen dringend Wasser am Hauptbahnhof!«],<br />

Augenzeugenberichte zur verzweifelten Situation<br />

in Griechenland oder Ungarn, Appelle an Bevölkerung und<br />

Politik. Und natürlich Aufklärung zu populistischen Fragen:<br />

Nimmt Deutschland wirklich am meisten Flüchtlinge auf?<br />

Sind das alles frustrierte junge Männer? Und warum haben<br />

die alle ein Smartphone?<br />

Diese letzte Frage ist leicht beantwortet: Wenn Schlepper<br />

auf Facebook ihre Dienste anbieten, Google Maps zur<br />

lebenswichtigen Orientierungshilfe wird, der einzige Kontakt<br />

zu den Zurückgebliebenen eine Whatsapp-Gruppe ist –<br />

dann werden die Smartphones der Flüchtenden »Dirigent<br />

und Museum der Flucht« zugleich, wie es der Journalist Sammy<br />

Khamis formuliert. Gleichzeitig scheint das Digitale in einer<br />

bemerkenswerten Dialektik nicht nur ihre Flucht, sondern<br />

auch ihr Ankommen zu entscheiden. Denn im Netz verbünden<br />

sich ihre Freunde wie Ron Schickler. Und ihre Feinde.<br />

042 thementage_2016 043


Essay<br />

Friedemann Karig<br />

WAS BEGÜNSTIGT DAS NETZ:<br />

#REFUGEESWELCOME ODER PEGIDA?<br />

Von Beginn an primär über Facebook organisiert, nutzen<br />

fremdenfeindliche Bewegungen wie Pegida [Patriotische<br />

Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes] die<br />

Ungunst der Stunde. Am 10. September 2015, auf dem<br />

Höhepunkt von #refugeeswelcome, postet Pegida auf<br />

ihrer Facebook-Seite »10 Forderungen an die deutsche<br />

Asylpolitik«, die bis heute tausendfach geteilt und kommentiert<br />

und gelikt werden. Ihre Agenda: ein sofortiger<br />

Aufnahmestopp, ein Aussetzen des Schengen-Abkommens,<br />

Massen-Abschiebungen, Asyl nur für Christen. Die<br />

neuen Rechten nennen die Regierung »Hochverräter« und<br />

erklären deren Motivation, Flüchtlingen zu helfen, wie<br />

folgt: »Die grünen Sozialisten benutzen die Asylanten, um<br />

hier ein rot-grünes Job-Wunder für die Bachelor-Absolventen<br />

der Geschwätzwissenschaften zu kreieren.« Das<br />

ist freilich nur ein Tentakel eines monströsen Aufstandes<br />

der sogenannten »besorgten Bürger«, die die Mechanismen<br />

der sozialen Netzwerke für fremdenfeindliche Hetze<br />

und Propaganda nutzen. Xenophobe Verschwörungstheoretiker,<br />

die man am besten ignoriert? Einen guten Monat<br />

später beschließt der Bundestag unter dem Eindruck<br />

der Millionen Flüchtlinge – und der davon inzwischen teils<br />

irritierten deutschen Öffentlichkeit – tatsächlich eine<br />

massive Verschärfung der Asylgesetzgebung, die in vielen<br />

Punkten den Pegida-Forderungen befremdlich nahe<br />

kommt. Man muss sich also fragen: Wie groß war der Einfluss<br />

der virtuellen Brandstifter? Größer etwa als die Solidarität?<br />

Was begünstigt das Netz: Hilfe oder Hetze?<br />

Im Dezember 2009 fragte eine Studie der Universität<br />

Pennsylvania: »What makes online content go viral?«. Also:<br />

Was wird geteilt? Die Antwort: Alles, das uns in eine<br />

extreme Emotion versetzt und damit aktiviert. Dabei sind<br />

positive Nachrichten durchaus sehr »teilfreundlich«. Am<br />

wahrscheinlichsten jedoch wird verbreitet, was Wut und<br />

Angst hervorruft. So wie die fremdenfeindliche Hetze –<br />

aus Angst, weil die Flüchtlinge als Bedrohung wahrgenommen<br />

werden. Oder aus Wut über Angela Merkels Politik<br />

der offenen Grenzen. Andererseits verbreiten sich<br />

auch Nachrichten über die Willkommenskultur in Deutschland,<br />

über Applaus für die Flüchtlinge an Bahnhöfen, über<br />

eine tatkräftig helfende Zivilgesellschaft.<br />

Eine zentrale Rolle nehmen dabei Facebook und seine<br />

spezifischen Mechanismen ein. »Facebook war für uns<br />

essentiell«, sagt Ron Schickler. Aber auch: »Ohne Facebook<br />

kein Pegida.« So fasst die Medienjournalistin Ingrid<br />

Brodnig zusammen, wie wichtig für entstehende politische<br />

Bewegungen heute eine solche Plattform ist. Facebook<br />

als größtes soziales Netzwerk der Welt zählt in<br />

Deutschland knapp 30 Millionen aktive Nutzer. Sie spornt<br />

es systematisch an, miteinander zu interagieren. Es versucht<br />

ihnen möglichst relevante, unterhaltsame und bewegende<br />

Inhalte zu zeigen. Auf dass sie teilen, was ihre<br />

Freunde sehen sollen. Auf dass sie sich zusammenfinden,<br />

nach Haltung und Interesse. Doch während Helfer wie<br />

Schicker vor allem von den »gesunkenen Informations-<br />

und Transaktionskosten« des Digitalen profitieren, wie der<br />

Netzexperte Clay Shirky es ausdrückt, von effizienten<br />

Tools wie Facebook-Gruppen oder Doodle-Kalendern,<br />

von Mailinglisten, mit denen Übersetzer oder Ärzte schnell<br />

aktiviert werden können, um mittels Geo-Lokalisierung direkt<br />

dorthin geschickt zu werden, wo Hilfe nötig ist; während<br />

also tausende altruistische Deutsche online kooperieren,<br />

wirken die Netzwerkeffekte auf die Hetzer vor allem<br />

emotionalisierend und radikalisierend. Das Gefühl, nur bei<br />

Facebook, also abseits der »gleichgeschalteten Mainstream-Lügenpresse«<br />

auf Gesinnungsgenossen zu treffen,<br />

die endlich eine sonst unterdrückte, unbequeme<br />

Wahrheit ausdrücken dürfen, ist für eine sich selbst als<br />

marginalisiert wahrnehmende Bewegung wie Pegida Teil<br />

ihres Mythos.<br />

ECHO-<br />

KAM-<br />

MERN UND<br />

»LÜGEN-<br />

PRESSE«<br />

Verstärkend wirkt<br />

der sogenannte<br />

»Majority Effect«:<br />

Wer sich überwiegend<br />

mit Gleichdenkenden<br />

vernetzt und<br />

derweil die Angebote<br />

des Mainstreams grundsätzlich<br />

boykottiert, gewinnt<br />

schnell den Eindruck,<br />

die eigene Haltung<br />

werde von einer relevant<br />

großen Gruppe, womöglich<br />

sogar einer »schweigenden<br />

Mehrheit« geteilt. Dass die eigenen<br />

Positionen – wie im Falle<br />

von Pegida – in der konventionellen<br />

Medienöffentlichkeit keine<br />

Rolle spielen bzw. als rechtsextrem<br />

stigmatisiert werden, ist dazu<br />

kein Widerspruch. Sondern Zeichen<br />

der Plausibilität einer in den<br />

letzten Jahren erstarkenden Verschwörungstheorie<br />

von der »Lügenpresse«.<br />

Die »rot-grün-versifften« Medien,<br />

in einer extremen Ausprägung dieser<br />

Theorie sogar zentral von außen [den<br />

USA, dem Kapital, den Juden] gesteuert,<br />

würde aus Angst vor einem gerechten<br />

Volkszorn unterdrücken, was nicht in ihre<br />

Ideologie passt. In diese vermeintlich ungerechte Position<br />

des politischen Davids gedrängt, der eigentlich ein Goliath<br />

ist, entwickeln die Pegida-Anhänger und ihresgleichen zuerst<br />

online eine Energie der narzisstischen Kränkung, ein<br />

Selbstbewusstsein als Märtyrer für die gerechte Sache, eine<br />

vermeintlich mehrheitsfähige Wut und aus all dem einen ehrlichen<br />

Eifer, der offline sicherlich weitaus schwieriger zu katalysieren<br />

wäre – wenn er überhaupt außerhalb der Echokammern<br />

des Netzes derart aufheizen könnte.<br />

Doch ob aus der losen Gruppe von anfangs einigen hundert<br />

eine leider ernstzunehmende soziale Bewegung wird, entscheidet<br />

sich immer noch an der frischen Luft. Erst seit in<br />

Dresden, Ausgangspunkt von Pegida, wieder und wieder<br />

tausende Fremdenfeinde aufmarschieren, erstarken sie wiederum<br />

auch online, zählen heute 180.000 Facebook-»Fans«.<br />

Und erst jetzt, angesichts des anhaltenden Protests im »Real<br />

Life«, zündeln »bürgerliche« Politiker wie Horst Seehofer mit<br />

Pegida-nahen Ideen von »geschlossenen Grenzen« oder der<br />

»Notwehr« gegen den »Flüchtlingsstrom«. Das Digitale war<br />

und ist also Brutkasten für fremdenfeindliche Ideologie. Der<br />

Prüfstein jedoch liegt auf der Straße. Dort schreit eine Minderheit:<br />

»Wir sind das Volk«. Auf dem Dresdner Theaterplatz<br />

und in ihren Teilöffentlichkeiten, in Facebook-Gruppen und<br />

Kommentarspalten, mag das sogar stimmen. Aber nur dort.<br />

»COUNTER SPEECH«<br />

UND NEUE REGELN<br />

Bleibt die Frage, wie die virtuelle Hetze einzudämmen ist.<br />

Auf Facebook als amerikanischem Konzern, geleitet von<br />

einer libertären Weltsicht, in der jeder eher alles darf, so lange<br />

keine Brustwarzen aufblitzen, ist nur sehr bedingt zu zählen.<br />

Ganze 188 Inhalte hat Facebook in Deutschland zwischen<br />

Januar und Juni 2015 gelöscht. Ein schlechter Witz.<br />

Auch wenn Chef Mark Zuckerberg im September 2015 Angela<br />

Merkel verspricht, gegen den Hass in seinem Netzwerk<br />

vorzugehen, auch wenn ab Oktober immerhin »Androhungen<br />

von physischer Gewalt als glaubhafte Drohungen eingeschätzt<br />

und entfernt« werden sollen, so bleibt doch offizielle<br />

Konzernlinie: Meinungsfreiheit deckt auch Fremdenfeindlichkeit<br />

ab. Reagiert werden soll mit »Counter speech«, Gegenrede,<br />

einem angelsächsischem Konzept des rhetorischen<br />

Para-Engagements auf individueller Ebene.<br />

In Sachen Facebook und anderer Netzwerke muss tatsächlich<br />

politisch etwas geschehen. Kein Unternehmen darf über<br />

dem stehen, was wir als Gesellschaft an Regeln aushandeln.<br />

Die Hetzer werden nicht freiwillig verstummen. Und damit<br />

stellen sich weitere Frage: Wollen wir einem privatwirtschaftlichen<br />

Konzern demokratische Aufgaben überantworten?<br />

Wenn ja, in welchem Maße? Und nach welchem transparenten<br />

bürokratischen Verfahren? Treibt man damit den<br />

Teufel mit dem Beelzebub aus? Oder, um es mit Christoph<br />

Kappes zu sagen: »Wer Facebook auffordert, nach eigenen<br />

Regeln Kommentare zu löschen, fordert im Namen der Freiheit<br />

ein totalitäres Regime.« Es braucht also eine neue Instanz<br />

der demokratischen Kritik für die Demokratie, eine pluralistische,<br />

transparente, nachvollziehbare Einrichtung der<br />

Zivilgesellschaft. Der neue öffentliche Kommunikationsraum<br />

der sozialen Netzwerke braucht neue Instrumente der Kontrolle.<br />

Darüber müssen wir sprechen, mit allen Akteuren.<br />

Das Netz, und dafür kann man es gar nicht hoch genug<br />

schätzen, verleiht Minderheiten eine Stimme. Auch solchen,<br />

die wir lieber leiser drehen würden. Sie auszuhalten, ohne<br />

den Rückzug ins Analoge anzutreten, ohne die großartigen<br />

Chancen des Mediums für die gute Sache zu vergessen, ist<br />

die Aufgabe der Medien-Demokratie heutiger Ausprägung.<br />

Vielfalt und Mitmenschlichkeit ist Widerstand. Angesichts<br />

der Hetze zu schweigen, die Hetzer zu ignorieren, wirkt wie<br />

Nichtwählen: Es stärkt die Extreme. Wenn also #refugeeswelcome<br />

durchs Netz geht, müssen wir mitziehen. Konkreter:<br />

Wenn unsere Kanzlerin mit den Schwachen dieser<br />

Welt Selfies schießt, sollten wir sie liken.<br />

Friedemann Karig<br />

044<br />

thementage_2016 045


Essay<br />

Stefan Keim<br />

ÜBERWACHUNGSSHOWS<br />

WIE<br />

UND<br />

REALITY GAMES<br />

DAS<br />

THEATER AUF<br />

VIRTUELLE WELTEN<br />

REAGIERT<br />

Angela Richter hat mit »Supernerds« ein multimediales Aufklärungsprojekt unternommen.<br />

Die Premiere im Kölner Schauspiel wurde im WDR live übertragen. Sowohl<br />

im Fernsehen, moderiert von Talkqueen Bettina Böttinger als Infotainmentshow,<br />

als auch im Radio, da saß ein Reporter auf der Bühne akustisch abgeschottet<br />

in einem Hörfunkstudio und kommentierte live. Angela Richter hat Interviews<br />

mit Whistleblower-Superstar Edward Snowden und Wikileaks-Sprecher Julian<br />

Assange und anderen digitalen Dissidenten geführt. Assange spielt als holographische<br />

Projektion auch in der Aufführung mit. Diese Gespräche gibt es auch als<br />

Buch im Alexander Verlag, eine Totholzausgabe für virtuelle Totalverweigerer und<br />

solche, die es werden wollen.<br />

Natürlich steckt »Supernerds« voller Warnungen vor einer neuen Form der Diktatur,<br />

deren Spielregeln im normalen Alltag kaum ersichtlich sind. Aber diese Warnungen<br />

werden nicht mehr düster bis pathetisch – quasi orwellianisch – geäußert,<br />

sondern heiter bis spielerisch. Das Theater nähert sich in seiner Form dem Internet<br />

an, natürlich mit der Absicht, sie zu dekonstruieren und die Mechanismen<br />

sichtbar zu machen. Die Gefahr dabei ist, dass die Freude am Spiel das kritische<br />

Denken überlagert.<br />

OFFLINE IST KEINE ALTERNATIVE<br />

Das gilt auch für das Projekt »Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big<br />

Data« von Hermann Schmidt-Rahmer am Schauspiel Essen. Auch dieser Abend<br />

beruht auf Recherchen, und ein Internetvisionär tritt auf, in diesem Fall Jaron Lanier,<br />

Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2014. Jaron trägt einen<br />

schwabbeligen Bodysuit und ist der Vater einer Sitcomfamilie. Sein Kind Baby Big<br />

Data erfasst alle Sinneseindrücke in Form binärer Daten und sucht im weltweiten<br />

Netz nach ähnlichen Bildern. Derweil fühlt sich die Tochter vernachlässigt und<br />

lässt sich von einer niedlichen blonden App trösten. Die heruntergeladene Anwendung<br />

sieht so aus, wie sich Lisa ihre beste Freundin vorstellt. Kein Wunder,<br />

denn die App weiß alles über Lisa.<br />

Die virtuelle Welt des Internets verändert<br />

unser Wahrnehmen grundlegend.<br />

Sie ermöglicht auch auf der<br />

Bühne neue künstlerische Formen<br />

im Umgang mit Fiktion und Realität.<br />

Stefan Keim ist Theaterkritiker und<br />

Moderator. Er hat sich mit den aktuellen<br />

Entwicklungen auseinandergesetzt<br />

und beschreibt anhand diverser<br />

Beispiele, welche ästhetischen<br />

Reaktionen es auf die veränderte<br />

Medienwelt von Theatermachern wie<br />

Angela Richter, Kay Voges oder Stefan<br />

Kaegi gibt. Die drei Regisseure<br />

sind am 20. März im Schauspiel<br />

Frankfurt zu Gast und diskutieren mit<br />

Stefan Keim und Oliver Reese über<br />

die Fragen und Aufgaben, die die<br />

digitale Revolution dem Theater<br />

stellt.<br />

Die Zuschauer sollen ihre Handys anlassen, während der gesamten<br />

Vorstellung. Das ist kein Versuch, WhatsApp-süchtige Teenager in<br />

das sozialreale Netzwerk einer Theatervorstellung zu integrieren,<br />

sondern eine Notwendigkeit für Angela Richters Inszenierung »Supernerds«<br />

am Schauspiel Köln – einer der bisher aufwändigsten<br />

Versuche, auf der Bühne die gesellschaftliche Dimension des virtuellen<br />

Datenflusses zu behandeln.<br />

Das Publikum ist Teil eines Überwachungsexperiments. Jeder musste<br />

vorher einige Angaben – Namen, Adresse, Handynummer, Facebookkontakte<br />

usw. – zur Verfügung stellen. Die Moderatoren stellen<br />

Fragen. Welcher der Anwesenden würde ohne Probleme einen<br />

Bankkredit bekommen? Klingelnde Handys allerorten. Dann hackt<br />

eine Schauspielerin die Handykamera eines Zuschauers, alle werden<br />

gebeten, auf ihre Displays zu schauen, und schon erscheint das<br />

Gesicht eines Mannes überlebensgroß auf der Projektionswand. 1984 ist vorbei,<br />

George Orwells düstere Zukunftsvision Geschichte, wir sind längst viel weiter in<br />

der schönen neuen Onlinewelt. »Alle Menschen sind miteinander verbunden« war<br />

mal ein liebes, naives Kirchentagslied. Nun beschreibt es die Realität. Welche<br />

Götter diese Verbindungen nutzen und wofür, kann kaum jemand durchschauen.<br />

Wer online einkauft oder sich in sozialen Netzwerken bewegt, gibt mehr über sich<br />

preis, als er denkt. Da gibt es zum Beispiel ein Programm namens Badge Dataset,<br />

das die Bewegungen und Gespräche, die Tonfälle, Stimmlage und Körperhaltungen<br />

aller Mitarbeiter eines Büros analysiert. Heraus kommen exakte Ergebnisse,<br />

wie effizient die Einzelnen arbeiten und was die Gründe dafür sind. Die totale<br />

Überwachung ermöglicht ein perfektes Leben. Wenn sich ein Mann mit nicht ganz<br />

idealem Bodymassindex einem Süßigkeitenautomaten nähert, warnt ihn sein Onlineprogramm<br />

schon, wenn er noch einige Meter entfernt ist. Privatsphäre war<br />

gestern, Datenschutz ist nur ein netter Witz. Die Regeln der »sozialen Physik« fordern<br />

völlige Unterordnung. Die Aufführung hat harte Momente, aber sie bleibt offen<br />

und spielerisch. Denn einen Ausweg gibt es nicht. Wer Geld verdienen und<br />

ein gesellschaftliches Leben führen möchte, kann nicht mehr offline gehen. So<br />

etwas auf der Bühne zu fordern, wäre unrealistisch – und auch irgendwie<br />

uncool.<br />

DAS LEBEN IST EIN BATTLE<br />

Das Dortmunder Schauspiel ist die Bühne, die seit Jahren am konsequentesten<br />

die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Online-Dominanz erforscht. Medienkritische<br />

Theorien gehören hier zum selbstverständlichen Vokabular der Dramaturgie.<br />

Intendant Kay Voges hat eine berühmte Fernsehsatire von 1970 einem<br />

Update unterzogen, aus Wolfgangs Menges »Millionenspiel« wurde die »Die<br />

Show« [Todesshow]. Die Grundidee hat Voges übernommen. Wieder wird ein<br />

Kandidat von einem Killerkommando durch die Stadt gejagt. Wenn er es schafft,<br />

lebend das Fernsehstudio zu erreichen und einen roten Knopf zu drücken, bekommt<br />

er die Million.<br />

046<br />

thementage_2016 047


Essay<br />

Stefan Keim<br />

Die Showstars, die zwischendurch auftreten, sind alle erfunden, haben aber – wie<br />

die völlig durchgeknallte japanische Sängerin Baeby Beng – eine eigene Facebookseite<br />

und ein Musikvideo. Kritiker werden nicht aus der Show verbannt, im<br />

Gegenteil, zwei Medienwissenschaftler dürfen ihre Meinungen äußern. Aber sie<br />

sind längst Teil des Systems, eitle, gierige Säcke, die nur ihre Bücher verkaufen<br />

wollen. Auch diese Aufführung ist enorm unterhaltend, verstörende Momente gibt<br />

es selten. Die Show bricht niemals auseinander, das System ist so flexibel, und die<br />

Moderatoren agieren so souverän, dass sie niemals wirklich in Gefahr geraten.<br />

Das könnte man als Schwäche der Inszenierung verstehen, aber auch als Aussage.<br />

»Das ganze Leben ist ein Quiz« [Hape Kerkeling]. »You see, it’s all a show, keep<br />

on laughing as you go.« [Monty Python]<br />

DIE UTOPIE-ENERGIE DER SCHAUSPIELER<br />

Vor dieser metamerkelschen Alternativlosigkeit des Virtuellen strecken die meisten<br />

Theateraufführungen bisher die Waffen. Wenn sie andere Möglichkeiten aufzeigen,<br />

dann nicht direkt, sondern unterschwellig, durch die Kraft der Schauspieler.<br />

Denn sie sind nicht nur Rädchen im System, sondern Gestaltende. Darin liegt<br />

der utopische Moment. Auch »Minority Report oder Mörder der Zukunft« in Dortmund<br />

lebt von der Energie der vier Schauspieler, die eine Menge Figuren als Live-<br />

Film darstellen. Die Idee des Autors Philip K. Dick, dass Verbrechen vorhergesagt<br />

und geahndet werden, bevor sie überhaupt passieren, treibt Regisseur Klaus<br />

Gehre weiter. Das Publikum soll per App abstimmen, ob der Verdächtige den<br />

Mord begehen wird oder nicht. Allerdings geht das nur auf Android-Handys, das<br />

»App Review Team« von Apple hat seine Zustimmung verweigert.<br />

Der gelungenste Versuch scheint mir bisher die Dortmunder Performance »Das<br />

goldene Zeitalter« zu sein. In der vergangenen Saison gab es sogar eine Fortsetzung,<br />

»The Return of ’Das Goldene Zeitalter’ – 100 neue Wege, dem Schicksal<br />

das Sorgerecht zu entziehen«. Kay Voges und Dramaturg Alexander Kerlin sitzen<br />

mitten im Publikum und entscheiden spontan, welches der vorbereiteten Module<br />

die Schauspieler zeigen sollen. Voges greift auch direkt in die Szenen ein, lässt<br />

Elemente wiederholen. Der Erklär-Bär wird zum Serienkiller, eine Raupe schiebt<br />

sich langsam die Treppe hoch und lässt – kaum oben angekommen – einen Salatkopf<br />

aus dem Mund fallen. Jetzt liegt er wieder ganz unten. Die Wiederholung<br />

oder Wieder-Holung von Wirklichkeit spielt eine große Rolle an diesem Abend.<br />

Groteske, tragische Lebensgleichnisse wechseln mit Splattercomedy und philosophisch-poetischen<br />

Erkenntnissen, Hochkultur und Trash fliegen wild durcheinander.<br />

Ein Versuch, der Welt eine Ordnung abzuringen mit den Mitteln, die das<br />

Internet bereitstellt. Theater für eine Zeit, in der Wikipedia längst den großen<br />

Brockhaus ersetzt hat, in der Quatsch und Bildung kaum zu unterscheiden sind.<br />

Die Aufführung klickt sich durch den Wust der Informationen, wieder sehr unterhaltsam,<br />

doch hinter dem Spaß lauert der Schrecken. Solange man über dem Abgrund<br />

tanzen kann, merkt man nicht, dass der Boden unter den Füßen fehlt.<br />

Ein Extrempunkt des Theaterlaboratoriums von Kay Voges ist auch die Inszenierung<br />

»4.48 Psychose« von Sarah Kane. Das beeindruckende, tiefsttraurige, wütende<br />

Bühnengedicht, die radikale Analyse der eigenen Depression der Autorin,<br />

die sich kurz nach Fertigstellung das Leben nahm, sprechen drei Schauspieler in<br />

einem Kubus, um den herum die Zuschauer sitzen. Jeder Darsteller ist verkabelt,<br />

ihre Körpersignale – Puls, Temperatur, Atemfrequenz – werden von sechs Gestalten<br />

in Metzgerschürzen in Bildprojektionen verwandelt. Die Körper steuern die<br />

Technik. Voges arbeitet bei diesem »Mensch-Maschine-Knoten« mit dem Chaostreff<br />

Dortmund und zwei Softwareingenieuren zusammen, um eine einzigartige<br />

Performance zu schaffen. »4.48 Psychose« wurde während einer Berliner Konferenz<br />

über Livestreams von Theateraufführungen als praktisches Beispiel online<br />

übertragen.<br />

DAS NEUE GENRE DER THEATERGAMES<br />

Medientheater verlässt allerdings auch oft den gewohnten Bühnenraum. Theatergames<br />

sind längst zu einem eigenen Genre geworden, freie Produktionslabels<br />

sind hier führend. Zum Beispiel »machina eX« aus Berlin, unter denen es mehr<br />

Gamedesigner als Theatermacher gibt. Die Zuschauer – Quatsch, die Spieler –<br />

betreten Räume, die wie Computerspiele gestaltet sind. Sie müssen Aufgaben<br />

lösen, Informationen beschaffen, Dinge finden. Die Performer reagieren im Rahmen<br />

ihrer Programmierung. Die größte Produktion war bisher »Rights of Passage«,<br />

in der es darum ging, ein Flüchtlingscamp zu verlassen.<br />

Auch das Performancekollektiv Rimini Protokoll arbeitet mit den Strukturen von<br />

Computergames. Das sehr erfolgreiche Projekt »Situation Rooms« ist wie ein<br />

Egoshooter aufgebaut, nur mit weniger Balleraction. Jeder Besucher bekommt ein<br />

iPad und Kopfhörer, bewegt sich durch ein Haus, nimmt verschiedene Rollen ein.<br />

Im ersten Raum stehen ein runder Tisch und Ledersessel. In diesem Augenblick<br />

bin ich Wolfgang Ohlert, Oberstleutnant der Bundeswehr im Ruhestand. Draußen<br />

wird der Kampfpanzer Leopard 2 vorgeführt, Ohlert bereitet den Verhandlungsraum<br />

vor. Oder genauer: Ich tue das. Die Stimme des echten Ohlert sagt mir aus<br />

dem iPad, was ich machen soll, einen Spielzeugpanzer auf den Tisch stellen, die<br />

eintreffenden Leute begrüßen. Dabei handelt es sich um andere Zuschauer, die<br />

ebenfalls ein iPad vor sich haben und eine Rolle verkörpern. Alle sieben Minuten<br />

wird es dunkel, danach ist man jemand anderes. Im Prinzip verlieren die Besucher<br />

ihre Körper. Sie tun, was ihnen die Stimmen aus dem iPad sagen und bewegen<br />

sich durch verschiedene Räume. Ein staubiges, zerbombtes Haus, das Direktorenzimmer<br />

der Deutschen Bank, ein Friedhof. Man lässt sich von einem Waffenhändler<br />

in eine schwere kugelsichere Weste helfen und begleitet einen israelischen<br />

Soldaten in einen Hinterhalt. Dann liegt man im Dreck. Nicht stundenlang<br />

wie der Soldat, aber die paar Minuten reichen, um einen Eindruck zu bekommen.<br />

Durch das körperliche Erleben kommen einem die Waffenhändler und -hersteller,<br />

die Ärzte und die Opfer wirklich nah. Nach 80 Minuten Spieldauer rast der Kopf.<br />

Der Zwang, ständig etwas tun zu müssen, verhindert die Reflexion. Aber das<br />

kommt später. Dieses Erlebnis hat Nachwirkung.<br />

Ähnlich funktioniert die Performance »Remote X«. Diesmal allerdings bewegen<br />

sich die Mitspieler in einer wirklichen Stadt. Durch Musik, Geräusche und eine<br />

künstliche Stimme aus dem Kopfhörer verändern sich Straßen, Parkgaragen, Kirchen<br />

und Hinterhöfe. 50 Menschen können mitmachen, sie beobachten sich gegenseitig<br />

und wissen nicht, ob die anderen das gleiche hören wie sie selbst. Jeder<br />

muss Entscheidungen treffen, der Stimme zu folgen oder nicht, sich als Teil eines<br />

Schwarmes zu begreifen oder als Individuum.<br />

Es gibt also bereits einige künstlerisch wie ästhetisch überzeugende Reaktionen<br />

der Theater auf die veränderte Wahrnehmung und die Strukturen der Onlinemedien.<br />

Die Entwicklung steht allerdings erst noch am Anfang. Theatergames werden<br />

sich ausbreiten, denn sie bieten über das Spielerlebnis hinaus die Möglichkeit<br />

körperlicher Erfahrungen. Ob das »klassische« Schauspiel eher nach Verschmelzungen<br />

sucht oder die eigene Form der Begegnung und des Erzählens selbstbewusst<br />

als Alternative formuliert, ist noch nicht zu erkennen. Auf jeden Fall wird es<br />

beides geben, denn – wie fast alle Aufführungen nahelegen – ein Leben offline<br />

wird es nicht mehr geben. Höchstens nach einer Apokalypse. Stefan Keim<br />

048<br />

thementage_2016 049


Impressum<br />

Herausgeber<br />

Schauspiel Frankfurt<br />

Intendant<br />

Oliver Reese<br />

Kuratorin der Vorträge und<br />

Diskussionsveranstaltungen<br />

Veronika Breuning<br />

Redaktionsleitung<br />

Veronika Breuning<br />

Redaktion<br />

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,<br />

Dramaturgie, Künstlerisches Betriebsbüro<br />

Lektorat: Sabine Büsgen<br />

Essays<br />

Petra Grimm, Friedemann Karig,<br />

Stefan Keim, Lisa Ströhlein,<br />

Der Artikel auf S. 38 von Alexandre<br />

Lacroix ist ein Nachdruck aus dem<br />

Philosophie <strong>Magazin</strong> Nr. 03 / 2015<br />

Gestaltung<br />

Mirjam Kremer<br />

Fotos<br />

Maxime Ballesteros [Titel/2/17/42/43/50/51]<br />

EXPANDER Film [S. 9]<br />

Birgit Hupfeld [S. 7/11]<br />

Florian Merdes / Badisches Staatstheater<br />

Karlsruhe [S. 9]<br />

Gregg Segal [S. 38]<br />

Edi Szekely [S. 13/14/15]<br />

Druck<br />

Druckerei Zarbock, Frankfurt am Main<br />

Schauspiel Frankfurt, Neue Mainzer Straße 17<br />

60311 Frankfurt am Main<br />

Kartentelefon 069.212.49.49.4<br />

www.schauspielfrankfurt.de<br />

Schauspiel Frankfurt ist eine Sparte der<br />

Städtische Bühnen Frankfurt am Main GmbH<br />

Geschäftsführer: Bernd Loebe, Oliver Reese<br />

Aufsichtsratsvorsitzender: Prof. Dr. Felix Semmelroth<br />

HRB-Nr. 52240 beim Amtsgericht Frankfurt am Main,<br />

Steuernummer: 047 250 38165.<br />

Medienpartner<br />

Mit freundlicher Unterstützung von<br />

050<br />

thementage_2016 051


WWW.SCHAUSPIELFRANKFURT.DE

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