Thementage_Magazin_Ansicht_final
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DIGITALE<br />
17. – 20.03.2016 THEMENTAGE<br />
WELTEN<br />
WELCHEN<br />
FORTSCHRITT<br />
WOLLEN WIR?<br />
thementage_2016 01
Editorial<br />
Editorial<br />
Das Liveerlebnis Theater ist jeden Abend einzigartig. Es berührt, erheitert, fordert<br />
Zustimmung und Widerspruch und besticht durch Unmittelbarkeit. Mit seinen ureigenen<br />
Mitteln entwirft es eine Gegenwelt zur virtuellen Realität. Gleichzeitig<br />
wird das Theater als Ort politischer Auseinandersetzungen und Spiegel gesellschaftlicher<br />
Entwicklungen durch die Digitalisierung radikal herausgefordert.<br />
Dass es im Zuge technologischer Umwälzungen nach neuen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten<br />
und Themen sucht, ist folgerichtig und konsequent: Die<br />
digitale Revolution stellt nicht nur andere mediale Mittel bereit, sie verändert auch<br />
unser Fühlen, Denken und Handeln. Zudem wird ein konsensfähiges Verständnis<br />
von Privatheit und Öffentlichkeit, das den Rahmen klassischer Inszenierungen<br />
bildet, mit der digitalen Überwachung und Vermessung des Menschen neu<br />
verhandelt.<br />
Unter dem Titel »Digitale Welten – welchen Fortschritt wollen wir?« fragt das<br />
Schauspiel Frankfurt in Theaterstücken, Diskussionen und Vorträgen nach künstlerischen<br />
und gesellschaftlichen Veränderungen sowie Risiken und Chancen der<br />
neuen Technologien.<br />
In der Eröffnungsdiskussion wird es um aktuelle Entwicklungen, digitale Zukunftsvisionen<br />
sowie deren Konsequenzen für unser humanistisches Selbstverständnis<br />
gehen. In vier Panels zeigen prominente Gäste aus den Bereichen Wirtschaft, IT,<br />
Publizistik, Soziologie und Philosophie, wie sich unser Verständnis von Privatheit<br />
und Öffentlichkeit im Zuge der digitalen Revolution wandelt und welche Folgen<br />
sich daraus für Biografien, Karrieren, Beziehungen, Freundschaften sowie politische<br />
und kreative Gestaltungsmöglichkeiten ergeben. Regisseure hinterfragen in<br />
einer abschließenden Debatte, in welcher Weise die veränderten sozialen Räume<br />
im Theater bespiegelt, aufgenommen und weiterentwickelt werden können.<br />
Jennifer Haley schreibt: »Die meisten Menschen, besonders Literaten, kämpfen<br />
gegen das technologische Zeitalter. Sie haben Angst, dass die Technik unsere<br />
menschlichen Beziehungen und unsere Intimität bedroht.« Die Begegnung von IT-<br />
Spezialisten und Geisteswissenschaftlern in den Debatten verspricht einen Wirklichkeitsabgleich.<br />
Und auch die Stücke des Schauspiel Frankfurt stellen sich diesen<br />
Fragen. Jennifer Haley wirft in »Die Netzwelt« einen verstörenden Blick in die<br />
Zukunft, fragt nach den Verlockungen virtueller Realitäten und schärft das Bewusstsein<br />
für einen verantwortungsvollen Umgang mit modernen Technologien.<br />
Frédéric Sonntag beschäftigt sich in seiner abgründigen Diskurskomödie<br />
»George Kaplan« mit Vernetzung, Virtualität und Überwachung sowie dem Zusammenwirken<br />
von Macht und Fiktion. Die Inszenierung des Theater Dortmund<br />
»4.48 Psychose« nimmt Sarah Kanes dunkles Gedicht zum Anlass, um die<br />
Quantifizierbarkeit des Menschen zu hinterfragen. Ist die Seele messbar, und was<br />
verspricht eine Mensch-Maschinen-Interaktion? Rimini Protokoll schickt in<br />
»Remote Frankfurt« den Zuschauer auf eine virtuelle Schnitzeljagd und ermöglicht<br />
ihm eine einzigartige Begegnung mit einer künstlichen Intelligenz.<br />
Im zweiten Teil des Heftes finden Sie Essays zu den Themen. Die meisten der<br />
Autoren können Sie auf den Podien erleben. Lassen Sie sich inspirieren. Wir<br />
freuen uns auf Sie.<br />
02 thementage_2016 03
Programm<br />
17.03. – 20.03.2016<br />
Schauspielhaus Kammerspiele Andere Orte Chagallsaal<br />
17.03.<br />
19.30 Uhr<br />
Eröffnungsdiskussion<br />
DIGITALE WELTEN –<br />
WELCHEN FORTSCHRITT<br />
WOLLEN WIR?<br />
Mit Petra Grimm, Christoph<br />
Kucklick, Christoph von der<br />
Malsburg, Lena-Sophie Müller<br />
Moderation Gert Scobel<br />
20.00 Uhr<br />
Inszenierung<br />
GEORGE KAPLAN<br />
Frédéric Sonntag<br />
Regie Alexander Eisenach<br />
18.30 Uhr<br />
Audiowalk<br />
REMOTE FRANKFURT<br />
Rimini Protokoll<br />
Treffpunkt: Friedhof Bornheim,<br />
Haupteingang<br />
18.03.<br />
19.30 Uhr<br />
Gastspiel Schauspiel Dortmund<br />
4.48 PSYCHOSE<br />
Sarah Kane<br />
Regie Kay Voges<br />
20.00 Uhr<br />
Inszenierung<br />
GEORGE KAPLAN<br />
Frédéric Sonntag<br />
Regie Alexander Eisenach<br />
18.30 Uhr<br />
Audiowalk<br />
REMOTE FRANKFURT<br />
Rimini Protokoll<br />
Treffpunkt: Friedhof Bornheim,<br />
Haupteingang<br />
19.03.<br />
19.30 Uhr<br />
Gastspiel Schauspiel Dortmund<br />
4.48 PSYCHOSE<br />
Sarah Kane<br />
Regie Kay Voges<br />
20.00 Uhr<br />
Inszenierung<br />
DIE NETZWELT<br />
Jennifer Haley<br />
Regie Bernhard Mikeska<br />
14.30 & 18.00 Uhr<br />
Audiowalk<br />
REMOTE FRANKFURT<br />
Rimini Protokoll<br />
Treffpunkt: Friedhof Bornheim,<br />
Haupteingang<br />
Vorträge / Diskussionen<br />
PRIVATHEIT UND ÖFFENTLICHKEIT IM DIGITALEN WANDEL<br />
Panel 1<br />
Freiheit. Brauchen wir einen neuen Begriff des Privaten?<br />
11.00 – 13.15 Uhr Impulsvorträge<br />
Ulrike Ackermann Privatheit und Öffentlichkeit im Wandel<br />
Sandro Gaycken Privatheit und Staat: Wie viel Sicherheit verträgt die Demokratie?<br />
Jörg Blumtritt Privatheit und Markt: Warum private Daten die Währung der Zukunft sind<br />
Moderation Ulrike Ackermann<br />
Anschließend Diskussion<br />
Panel 2<br />
Gleichheit. Die Entgrenzung der Arbeit oder Die Ökonomisierung des Privaten<br />
13.30 – 15.45 Uhr Impulsvorträge<br />
Markus Morgenroth Der durchleuchtete Angestellte oder Zum veränderten<br />
Verhältnis von Privatheit und Arbeit<br />
Lena Schiller Clausen Arbeitswelten der Zukunft – Von der Normierung zur Kreativität<br />
Kornelia Hahn Beziehung 2.0 – Wir sehen, was du fühlst<br />
Moderation Jan Tussing<br />
Anschließend Diskussion<br />
Panel 3<br />
Solidarität. Die neue Öffentlichkeit oder Die Macht der Vielen<br />
16.00 – 18.30 Uhr Impulsvorträge<br />
Bernhard Pörksen Die fünfte Gewalt. Empörung und Medienmisstrauen im digitalen Zeitalter<br />
Gesche Joost Politische Teilhabe: Wie viel Transparenz verträgt die Demokratie?<br />
Jürgen Kaube Meinungsgiganten oder Wer interpretiert die Welt?<br />
Moderation Friedemann Karig<br />
Anschließend Diskussion<br />
20.03.<br />
18.00 Uhr<br />
Inszenierung<br />
DIE NETZWELT<br />
Jennifer Haley<br />
Regie Bernhard Mikeska<br />
Panel 4<br />
Theater. Szenen privater Publicity und öffentlicher Interaktion<br />
19.30 – 20.15 Uhr Vortrag<br />
Verena Kuni Peep Show – Parade – Panem et Circenses: Modelle medialer Bühnen<br />
20.30 – 21.30 Uhr Diskussion<br />
Theater zwischen Authentizität und virtueller Realität<br />
Mit Stefan Kaegi, Oliver Reese, Angela Richter, Kay Voges<br />
Moderation Stefan Keim<br />
04<br />
thementage_2016 05
Eröffnungsdiskussion<br />
Eröffnungsdiskussion<br />
DIGITALE WELTEN – WELCHEN FORTSCHRITT WOLLEN WIR?<br />
Diskussion<br />
Donnerstag<br />
17.03.2016<br />
19.30 Uhr<br />
Schauspielhaus<br />
8 / 6 €<br />
Moderation<br />
Gert Scobel,<br />
Philosoph und<br />
Moderator [3sat]<br />
Mit<br />
Petra Grimm<br />
Christoph Kucklick<br />
Christoph von der Malsburg<br />
Lena-Sophie Müller<br />
Die digitale Revolution generiert Entwicklungen, die mehr Komfort ermöglichen,<br />
uns ein längeres Leben und eine bessere Gesundheit bescheren, Arbeitsprozesse<br />
beschleunigen, riesige Wissensbestände erschließen und einen Zugewinn an<br />
persönlichen Kontakten bieten. Obwohl die technischen Errungenschaften eine<br />
Optimierung sämtlicher Lebensbereiche ermöglichen, werden sie mit Skepsis betrachtet.<br />
Während die einen behaupten, große Umwälzungen hätten schon immer<br />
Ängste hervorgerufen, denn sie brächten Gewissheiten ins Wanken, warnen die<br />
anderen vor dem Verlust humanistischer Werte, die sie durch die Verschmelzung<br />
von Mensch und Maschine gefährdet sehen. Einig sind sich sowohl Skeptiker als<br />
auch Optimisten, dass Maschinen dem menschlichen Intellekt zunehmend überlegen<br />
sind. Rechner werden voneinander lernen, doch der Mensch wird ihre Theorien<br />
und Beweise bald nicht mehr verstehen. Unser Selbstbild gerät ins Wanken,<br />
der denkende Mensch, das »cogito ergo sum« ist gekränkt. Welche Vorteile verspricht<br />
die digitale Zukunft und zu welchem Preis? Nach welchen Kriterien wollen<br />
wir sie bewerten? Müssen wir unser humanistisches Selbstverständnis überdenken,<br />
und brauchen wir ein neues Gesellschaftsmodell? Wo verlaufen die<br />
Grenzen von Ethik und Technik? Welche Ängste sind berechtigt und welche entstehen<br />
schlicht aus Unwissenheit?<br />
Diskutanten<br />
Petra Grimm lehrt als Professorin Medienwissenschaft und Medienethik an der<br />
Hochschule der Medien, Stuttgart, und ist dort Leiterin des Instituts für Digitale<br />
Ethik. Sie forscht und publiziert unter anderem über Gewalt in und via Medien,<br />
Handy- und Internetnutzung, Medienethik sowie Privatheit und Medien. Außerdem<br />
gibt sie eine Schriftenreihe zur Medienethik heraus.<br />
Christoph Kucklick ist promovierter Soziologe und Chefredakteur von GEO.<br />
Als Autor schrieb er unter anderem für DIE ZEIT, brand eins und Capital. In seinem<br />
Buch »Die granulare Gesellschaft: Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst«<br />
beschreibt er die grundlegenden Umwälzungen unserer Zeit.<br />
Christoph von der Malsburg war Professor für Computer Science und Neurobiologie<br />
an der University of Southern California und Professor für Neuroinformatik<br />
an der Ruhr-Universität Bochum. Er engagiert sich am Frankfurt Institute for<br />
Advanced Studies [FIAS], das hochqualifizierte, internationale Forscher aus den<br />
Bereichen Physik, Mathematik, Hirnforschung, Life Science und Computerwissenschaften<br />
zusammenführt.<br />
Lena-Sophie Müller ist Geschäftsführerin der Initiative D21, Deutschlands<br />
größter gemeinnütziger Partnerschaft von Wirtschaft und Politik für die Gestaltung<br />
und Entwicklung der digitalen Gesellschaft. Zuvor war die studierte Politologin<br />
als Wissenschaftlerin am Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme<br />
[FOKUS] in Berlin tätig und leitete dort E-Government-Projekte.<br />
06<br />
thementage_2016 07
Audiowalk<br />
Rimini Protokoll<br />
Donnerstag 17.03.2016<br />
18.30 Uhr<br />
Freitag 18.03.2016<br />
18.30 Uhr<br />
REMOTE FRANKFURT<br />
RIMINI PROTOKOLL [KAEGI/KARRENBAUER]<br />
Samstag 19.03.2016<br />
14.30 & 18.00 Uhr<br />
Weitere Termine unter<br />
www.schauspielfrankfurt.de<br />
Treffpunkt: Friedhof<br />
Bornheim, Haupteingang<br />
Dortelweiler Straße 104<br />
60389 Frankfurt am Main<br />
Buslinie 30 und 34, Haltestelle<br />
Bornheimer Friedhof<br />
20 / 12 €<br />
Konzept / Skript / Regie<br />
Stefan Kaegi<br />
Co-Regie / Realisation<br />
»Remote Frankfurt«<br />
Jörg Karrenbauer<br />
Sound Design<br />
Nikolas Neeke<br />
Regieassistenz /<br />
Soundediting<br />
Ilona Marti<br />
Dramaturgie<br />
Aljoscha Begrich<br />
Juliane Männel<br />
Produktionsleitung<br />
Juliane Männel<br />
Produktionsassistenz<br />
Valerie Göhring<br />
Ein Ausweis wird als Pfand<br />
für die Ausgabe der Kopfhörer<br />
benötigt. Da längere Fußwege<br />
Teil des Audiowalks sind,<br />
empfehlen wir festes Schuhwerk<br />
sowie wetterfeste Kleidung.<br />
Die Tour endet nicht am<br />
Ausgangsort.<br />
In Online-Games begeben sich Menschen<br />
auf virtuelle Schnitzeljagd, die<br />
sich in der Realität noch nie begegnet<br />
sind. In »Remote Frankfurt« bricht eine<br />
solche Horde mit Funkkopfhörern in<br />
die reale Stadt auf. Geleitet wird sie<br />
von einer künstlichen Stimme wie man<br />
sie von Navigationssystemen oder Telefonwarteschleifen<br />
kennt. Unterwegs<br />
vertonen Kunstkopf-Aufnahmen und filmische<br />
Kompositionen die urbane<br />
Landschaft. Die Begegnung mit der<br />
künstlichen Intelligenz verleitet die<br />
Horde zum Selbstversuch. Wie können<br />
wir gemeinsam Entscheidungen treffen?<br />
Hören die anderen tatsächlich<br />
dasselbe? 50 Menschen beobachten<br />
sich gegenseitig, treffen individuelle<br />
Entscheidungen und sind doch gleichsam<br />
Teil einer Horde. Könnte das der<br />
Anfang einer Bewegung sein? Die Reise<br />
durch die Stadt wird zu einem kollektiven<br />
Film. Und während die künstliche<br />
Intelligenz menschliches Verhalten<br />
aus der Distanz eines Artfremden beobachtet,<br />
klingt ihre Stimme doch mit<br />
jedem Schritt menschlicher. Das Projekt<br />
»Remote Frankfurt« stellt die Frage<br />
nach der zukünftigen Rolle von künstlicher<br />
Intelligenz in unserem Alltag und<br />
bewegt sich als mobiles Forschungslabor<br />
von Stadt zu Stadt. Jede neue ortsspezifische<br />
Version baut auf der Dramaturgie<br />
der Vor-Stadt auf. Nach Aufführungen<br />
in 25 Städten in Europa, Indien,<br />
Amerika und zuletzt Abu Dhabi<br />
schreibt »Remote Frankfurt« das Stück<br />
weiter fort. | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | |<br />
»Remote Frankfurt« ist eine Produktion<br />
von Rimini Apparat. In Koproduktion<br />
mit dem HAU Hebbel am<br />
Ufer Berlin, dem Maria Matos Teatro<br />
Municipal und dem Goethe-Institut<br />
Portugal, dem Festival Theaterformen<br />
Hannover / Braunschweig,<br />
dem Festival d’Avignon, dem<br />
Zürcher Theater Spektakel, der<br />
Kaserne Basel. | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | Gefördert aus Mitteln<br />
des Hauptstadtkulturfonds, unterstützt<br />
von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung<br />
und Fachausschuss Tanz und<br />
Theater Basel Stadt. In Koproduktion<br />
mit House on Fire und mit Unterstützung<br />
des Kulturprogramms der Europäischen<br />
Union. Stimmen von Acapela<br />
Group. | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
08<br />
thementage_2016 09
Inszenierung<br />
Frédéric Sonntag<br />
Donnerstag<br />
17.03.2016<br />
20.00 Uhr<br />
Freitag<br />
18.03.2016<br />
20.00 Uhr<br />
GEORGE KAPLAN<br />
FRÉDÉRIC SONNTAG<br />
Kammerspiele<br />
30 / 22 / 16 €<br />
Schüler / Studenten 8 €<br />
Regie<br />
Alexander Eisenach<br />
Bühne<br />
Daniel Wollenzin<br />
Kostüme<br />
Lena Schmid<br />
Musik<br />
Sven Michelson<br />
Video<br />
Oliver Rossol<br />
Dramaturgie<br />
Michael Billenkamp<br />
Mit<br />
Franziska Junge<br />
Linda Pöppel<br />
Isaak Dentler<br />
Vincent Glander<br />
Viktor Tremmel<br />
Was verbindet eine Gruppe heillos<br />
zerstrittener Untergrund-Aktivisten mit<br />
den besten Drehbuchautoren Hollywoods<br />
und einer geheimen Regierung,<br />
die versucht, eine große Bedrohung für<br />
die innere Sicherheit eines Landes abzuwenden?<br />
Es ist vor allem ein Name:<br />
George Kaplan. Doch wer oder besser<br />
was verbirgt sich eigentlich hinter<br />
»George Kaplan«? Eine reale Person?<br />
Vielleicht ein Mythos? Ein gefährlicher<br />
Virus? Oder sogar eine Waffe? | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
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| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
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| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
Der junge französische Autor<br />
Frédéric Sonntag spielt in seiner<br />
abgründigen Diskurs-Komödie mit<br />
Themen wie Virtualität, Vernetzung<br />
und Überwachung. In ihrem Kern<br />
kreist sie um die Frage, wie sich in<br />
unserer Zeit und in unserer Gesellschaft<br />
überhaupt noch Geschichten<br />
»glaubhaft« erzählen lassen. Der<br />
Kampf um Macht und Einfluss ist<br />
letztlich zu einem Kampf um die<br />
Deutungshoheit der Erzählungen<br />
und damit eng verknüpft auch der<br />
Bilder geworden. Wer die existierenden<br />
und kursierenden Erzählungen<br />
am geschicktesten für sich zu<br />
nutzen bzw. zu manipulieren versteht,<br />
ist der wahrhaft Mächtige<br />
unserer Zeit. In seiner farcenhaften<br />
Zuspitzung jongliert Frédéric Sonntag<br />
mit unseren Ängsten, Vorstellungen<br />
und unserer Skepsis. Es<br />
geht um Überwachung und Kontrolle,<br />
das Zusammenwirken von Macht<br />
und Fiktion, medial erschaffene<br />
Mythen und um die Unkontrollierbarkeit<br />
der sogenannten Wirklichkeit.<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
010<br />
011
Gastspiel<br />
Sarah Kane<br />
Gastspiel des<br />
Schauspiel Dortmund<br />
Freitag<br />
18.03.2016<br />
19.30 Uhr<br />
4.48 PSYCHOSE<br />
SARAH KANE<br />
Samstag<br />
19.03.2016<br />
19.30 Uhr<br />
Schauspielhaus<br />
36 / 29 €<br />
Schüler / Studenten 10 €<br />
Regie<br />
Kay Voges<br />
Bühne<br />
Kay Voges<br />
Jan P. Brandt<br />
Kostüme<br />
Mona Ulrich<br />
Bodysounds / Musik<br />
T. D. Finck von Finckenstein<br />
Video Mario Simon<br />
Coding / Engineering<br />
Lucas Pleß<br />
Stefan Gögel<br />
Licht Rolf Giese<br />
Ton<br />
Gertfried Lammersdorf<br />
Chris Sauer<br />
Andreas Sülberg<br />
Dramaturgie<br />
Anne-Kathrin Schulz<br />
Mit<br />
Merle Wasmuth<br />
Björn Gabriel<br />
Uwe Rohbeck<br />
T. D. Finck von Finckenstein<br />
[Live-Soundtrack]<br />
Mario Simon [Live-Video]<br />
Lucas Pleß [Live-Engineering]<br />
Anne-Kathrin Schulz<br />
[Live-Wording]<br />
Chris Sauer [Live-Ton]<br />
Ist die Seele messbar? Inwieweit erfassen Daten einen Menschen? Für »4.48<br />
PSYCHOSE« hat Regisseur Kay Voges eine theatrale Mensch-Maschine realisiert,<br />
die die Metamorphose von Sprache und Körper in Datenströme behandelt<br />
und umgekehrt. Drei verkabelte Schauspieler sprechen im Wechsel Kanes Text.<br />
Aus körpereigenen Signalen wie Puls, Atemfrequenz oder Temperatur werden digitale<br />
Bilder generiert und diese zeitgleich wieder auf die Körper der Performer<br />
und in den Raum projiziert. Woraus besteht ein Ich? | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
»4.48 PSYCHOSE« ist ein dunkles Gedicht direkt aus dem Feuer menschlicher<br />
Synapsen, ein hochpoetischer Aufschrei – und Abschied. Denn kurz<br />
nachdem Sarah Kane das Manuskript fertiggestellt hat, nimmt sich 1999 der<br />
damalige Shooting-Star der britischen Dramatik in einer Londoner Klinik das<br />
Leben. Sie war 28 Jahre alt. Der Stücktitel verweist auf den Augenblick der<br />
größten geistigen Klarheit einer Psychiatrie-Patientin: 4 Uhr 48, der Moment<br />
zwischen zwei Medikamentendosen, wo die Tablettenwirkung abklingt und die<br />
Klarheit kommt – die vielleicht zugleich Wahn ist. Die Depression, das Burnout<br />
– eine messbare Stoffwechselstörung? Oder vielmehr die logische<br />
Schlussfolgerung, wenn man mit offenen Augen und offenem Herzen auf unsere<br />
Welt schaut? In ihrem 2000 posthum am Londoner Royal Court Theatre<br />
uraufgeführten Text geht Sarah Kane in die Nahaufnahme, die Kay Voges in<br />
seiner szenischen Anlage weitertreibt. Seziert werden Fleisch und Geist einer<br />
Erkrankung, die selbst Aufgeklärte zutiefst irritiert. Kane lauscht auf den Puls<br />
eines Leidens, von dem Millionen von Menschen betroffen sind, das irgendwo<br />
zwischen Biochemie, Psychologie und Philosophie angesiedelt scheint. Es ist<br />
ein <strong>final</strong>er Krieg, auf den »4.48 PSYCHOSE« blickt: Der Krieg eines Menschen<br />
mit sich selbst, der Krieg des Bewusstseins im Zeitalter der Digitalisierung.<br />
»4.48 PSYCHOSE« ist bereits die vierte Zusammenarbeit von Regisseur Kay<br />
Voges [»Endstation Sehnsucht«] mit dem Chaostreff Dortmund e.V. und den<br />
Software-Ingenieuren vom Chaostreff Dortmund e.V..<br />
012<br />
thementage_2016 013
»4.48 PSYCHOSE«<br />
Sarah Kane<br />
014<br />
thementage_2016 015
Inszenierung<br />
Jennifer Haley<br />
DIE NETZWELT<br />
JENNIFER HALEY<br />
Samstag<br />
19.03.2016<br />
20.00 Uhr<br />
Sonntag<br />
20.03.2016<br />
18.00 Uhr<br />
Kammerspiele<br />
35 / 27 / 19 €<br />
Schüler / Studenten 8 €<br />
Regie<br />
Bernhard Mikeska<br />
Bühne<br />
Steffi Wurster<br />
Kostüme<br />
Almut Eppinger<br />
Musik<br />
Tobias Vethake<br />
Dramaturgie<br />
Alexandra Althoff<br />
Mit<br />
Paula Hans<br />
Alexandra Lukas<br />
Thomas Huber<br />
Peter Schröder<br />
Viktor Tremmel<br />
Mit freundlicher<br />
Unterstützung des<br />
Frankfurter<br />
Patronatsvereins –<br />
Sektion Schauspiel<br />
In einer nahen Zukunft hat sich das Internet<br />
in ein Paralleluniversum verwandelt,<br />
das mit allen Sinnen erfahrbar ist.<br />
Anonym und mit einer anderen Identität<br />
ausgestattet, kann man die unbegrenzten<br />
Möglichkeiten dieses virtuellen<br />
Wunderlandes erkunden. Immer mehr<br />
Menschen ziehen ein Leben in der<br />
Netzwelt ihrer Existenz in der realen<br />
Welt vor. Aufgrund dieser Tatsache<br />
wird die Netzwelt von einer neu eingesetzten<br />
Ermittlungsbehörde untersucht.<br />
Der Einsatzort der jungen Kommissarin<br />
Morris ist das Refugium – ein<br />
virtueller Club, der die geheimsten<br />
Wünsche seiner Kunden wahr werden<br />
lässt. Was man in diesem verführerischen<br />
Paradies erlebt, fühlt sich echter<br />
an als die Wirklichkeit und intensiver als<br />
alles, was die reale Welt zu bieten hat.<br />
Die Verlockungen der totalen Freiheit<br />
offenbaren sich Morris jedoch als Alptraum:<br />
Im Refugium floriert das Geschäft<br />
mit den dunkelsten Fantasien<br />
des Menschen – mit Sex und Gewalt.<br />
Morris bewegt sich mit ihren Untersuchungen<br />
auf Neuland. Alle Machenschaften<br />
im Refugium sind eigentlich<br />
keine Verbrechen, da sie lediglich eine<br />
Simulation im Einverständnis aller Beteiligten<br />
und ohne Konsequenzen für<br />
die reale Welt sind – oder nicht? Sie<br />
schickt den verdeckten Ermittler<br />
Woodnut in das Refugium, um Beweise<br />
gegen den Betreiber und Programmierer<br />
Sims zu sammeln. Doch ihr Spitzel<br />
vergisst immer mehr, wer er zu sein<br />
glaubte und entdeckt, was er in der<br />
neuen Welt alles sein könnte. Als er der<br />
neunjährigen Iris begegnet, einem von<br />
Sims’ Geschöpfen, erfährt Woodnut<br />
erschreckende Wahrheiten über die eigenen<br />
Sehnsüchte. Woodnut ist fest<br />
entschlossen, das Mädchen aus dem<br />
Bannkreis seines geliebten Schöpfers<br />
zu befreien – mit fatalen Folgen. | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
| | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
Jennifer Haley wagt mit ihrem Theaterstück<br />
»Die Netzwelt« einen verstörenden<br />
Blick in eine Zukunft, die<br />
längst begonnen hat. Sie fragt nach<br />
Ethik und Verantwortung im Umgang<br />
mit modernen Technologien<br />
und ihren Auswirkungen auf zwischenmenschliche<br />
Beziehungen.<br />
Die in San Antonio [Texas] aufgewachsene<br />
Autorin hat bereits in frühen<br />
Stücken virtuelle Realitäten thematisiert.<br />
Mit »Neighborhood 3: Requisition<br />
of Doom« schrieb sie eine<br />
Horror-Story über Videospielsucht<br />
in einer Vorstadt und in »Froggy«<br />
entwarf sie einen Noir-Thriller mit interaktiver<br />
Mediengestaltung. 2012<br />
hat sie den Susan Smith Blackburn<br />
Preis für ihr Drama »Die Netzwelt«<br />
gewonnen, das bereits in Los Angeles,<br />
im Royal Court Theatre London<br />
und in New York mit großem Erfolg<br />
inszeniert worden ist. Haley ist Mitglied<br />
der New Dramatists New York<br />
City und lebt in Los Angeles, wo sie<br />
die Playwrights Union gegründet<br />
hat und nun auch für Film und Fernsehen<br />
schreibt. | | | | | | | | | | | | | | | | |<br />
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016<br />
thementage_2016<br />
017
Vorträge / Diskussionen<br />
PRIVATHEIT UND ÖFFENTLICHKEIT<br />
IM DIGITALEN WANDEL<br />
ARGUING THAT YOU<br />
DON’T CARE ABOUT THE RIGHT TO<br />
PRIVACY<br />
BECAUSE YOU HAVE<br />
NOTHING TO HIDE<br />
IS NOT DIFFERENT<br />
THAN SAYING YOU DON’T CARE ABOUT<br />
FREE SPEECH<br />
BECAUSE YOU HAVE<br />
Samstag, 19.03.2016<br />
11.00 – 18.30 Uhr<br />
Chagallsaal<br />
Panel 1 11.00 – 13.15 Uhr<br />
Panel 2 13.30 – 15.45 Uhr<br />
Panel 3 16.00 – 18.30 Uhr<br />
Freiheit. Brauchen wir einen neuen Begriff des Privaten?<br />
Impulsvorträge<br />
Ulrike Ackermann Privatheit und Öffentlichkeit im Wandel<br />
Sandro Gaycken Privatheit und Staat: Wie viel Sicherheit verträgt<br />
die Demokratie?<br />
Jörg Blumtritt Privatheit und Markt: Warum private Daten die<br />
Währung der Zukunft sind<br />
Anschließend Diskussion<br />
Moderation Ulrike Ackermann<br />
Gleichheit. Die Entgrenzung der Arbeit oder Die Ökonomisierung des Privaten<br />
Impulsvorträge<br />
Markus Morgenroth Der durchleuchtete Angestellte oder Zum veränderten<br />
Verhältnis von Privatheit und Arbeit<br />
Lena Schiller Clausen Arbeitswelten der Zukunft – Von der Normierung zur<br />
Kreativität<br />
Kornelia Hahn Beziehung 2.0 – Wir sehen, was du fühlst<br />
Anschließend Diskussion<br />
Moderation Jan Tussing<br />
Solidarität. Die neue Öffentlichkeit oder Die Macht der Vielen<br />
Impulsvorträge<br />
Bernhard Pörksen Die fünfte Gewalt. Empörung und Medienmisstrauen<br />
im digitalen Zeitalter<br />
Gesche Joost Politische Teilhabe: Wie viel Transparenz verträgt die<br />
Demokratie?<br />
Jürgen Kaube Meinungsgiganten oder Wer interpretiert die Welt?<br />
Anschließend Diskussion<br />
Moderation Friedemann Karig<br />
NOTHING TO<br />
EDWARD SNOWDEN<br />
SAY.<br />
Sonntag, 20.03.2016<br />
Chagallsaal<br />
Panel 4 19.30 – 20.15 Uhr<br />
20.30 – 21.30 Uhr<br />
Theater. Szenen privater Publicity und öffentlicher Interaktion<br />
Vortrag<br />
Verena Kuni Peep Show – Parade – Panem et Circenses:<br />
Modelle medialer Bühnen<br />
Diskussion<br />
Theater zwischen Authentizität und virtueller Realität<br />
Mit Stefan Kaegi, Oliver Reese, Angela Richter, Kay Voges<br />
Moderation Stefan Keim<br />
018<br />
thementage_2016 019
Vorträge / Diskussionen<br />
Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />
FREIHEIT. BRAUCHEN WIR EINEN NEUEN BEGRIFF DES PRIVATEN?<br />
Panel 1<br />
Vorträge<br />
Diskussion<br />
Samstag<br />
19.03.2016<br />
11.00 – 13.15 Uhr<br />
Chagallsaal<br />
Eintritt frei<br />
Moderation<br />
Ulrike Ackermann,<br />
Leiterin des John Stuart<br />
Mill Instituts für<br />
Freiheitsforschung,<br />
Journalistin und<br />
Moderatorin<br />
»Die Fähigkeit, Geheimnisse zu haben, oder anders gesagt: das Bewusstsein<br />
dafür, dass es eine Intimzone gibt, ist eigentlich das, was den Menschen wirklich<br />
ausmacht. […] Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. Man verliert dann im Grunde<br />
sich selbst.« Juli Zeh<br />
Die kommerzielle Datensammelwut ermöglicht großen Konzernen lukrative Geschäfte,<br />
und die staatliche Überwachung der Bürger verspricht Sicherheit. Ob wir<br />
uns in sozialen Netzwerken bewegen, im Internet surfen, telefonieren, uns auf öffentlichen<br />
Plätzen bewegen oder die Apple-Watch am Handgelenk tragen – unsere<br />
Bewegungen, Wünsche, Gefühle, Handlungen und Körperfunktionen werden<br />
registriert, vermessen, ausgewertet und nutzbar gemacht. Kaum etwas bleibt<br />
noch privat – und die Macht der Algorithmen wächst. Mit Hilfe von Big Data werden<br />
unsere zukünftigen Handlungen vorausberechnet und profilgerechte Angebote<br />
geschaffen, deren Mechanismen wir nicht verstehen. Das Private tritt in ein<br />
neues Spannungsverhältnis zu Markt, Staat und Öffentlichkeit, und der Begriff der<br />
Freiheit unterliegt einem fundamentalen Wandel.<br />
Wie verändert sich Privatheit, wenn ihre Veröffentlichung und die daraus folgenden<br />
Konsequenzen immer mitgedacht werden müssen? Denken wir anders, wenn<br />
wir permanent beobachtet werden? Stehen Freiheit und Autonomie im Widerspruch<br />
zur neuen Technologie oder geht es vor allem darum, passende Gesetze<br />
und neue ethische Richtlinien zu entwickeln?<br />
Vortrag<br />
11.30 – 12.00 Uhr<br />
Sandro Gaycken<br />
Privatheit und Staat: Wie viel Sicherheit verträgt die Demokratie?<br />
In vielen Ländern wandelt sich das Internet von einer Utopie der Freiheit in eine<br />
Dystopie der Kontrolle. Staaten wie Russland, China oder der Iran, aber auch die<br />
USA und Großbritannien haben das Netz umfangreich unter ihre Kontrolle gebracht<br />
und können mit diesem neuen Werkzeug alles und jeden überwachen und<br />
manipulieren. Sogar das Vorhersagen von Verhaltensweisen und Interessen wird<br />
inzwischen ermöglicht. Aber wie verträgt sich eine so umfassende Möglichkeit<br />
der Kontrolle mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie? Sandro Gaycken stellt in<br />
seinem Vortrag die verschiedenen Überwachungsnetze vor, beleuchtet die Gefahren<br />
der vielen neuen Überwachungsgesellschaften und geht der Frage nach,<br />
in welchem Spannungsverhältnis Privatheit und Staat stehen.<br />
Sandro Gaycken ist Technikphilosoph, Direktor des Digital Society Instituts und<br />
Senior Researcher für Cybersecurity und Cyberstrategy an der European School<br />
for Management and Technology in Berlin. Er zählt zu den führenden Experten im<br />
Bereich IT-Security und befasst sich mit den Auswirkungen der Informationstechnologien<br />
auf unsere Gesellschaft. Als Berater für Cybersecurity ist er für die Bundesregierung<br />
wie auch für zahlreiche namhafte Unternehmen aktiv.<br />
Vortrag<br />
11.00 – 11.30 Uhr<br />
Ulrike Ackermann<br />
Privatheit und Öffentlichkeit im Wandel<br />
Privatheit und Freiheit gelten in demokratischen Staaten als unverzichtbar für ein<br />
sinnstiftendes, selbstbestimmtes Leben. Sie gewähren uns Autonomie, sorgen für<br />
emotionalen Ausgleich, unabhängige Reflexion sowie für die Möglichkeit, Lebensbereiche<br />
ohne politischen oder ökonomischen Druck selbst zu gestalten. Privatheit<br />
schützt uns vor weitreichenden und unkalkulierbaren Konsequenzen. Darum<br />
ist sie essentiell für die Kraft der Gedanken und der Fantasie. Die Definition und<br />
das Ausmaß von Privatheit und Freiheit haben sich indes stetig gewandelt, handelt<br />
es sich doch um zivilisatorische Errungenschaften, die sich erst in einem komplexen,<br />
historischen Prozess herausgebildet haben. Ulrike Ackermann skizziert die<br />
historische Entwicklung, umreißt die Errungenschaften einer aufgeklärten Gesellschaft<br />
und beschreibt, wie sich die Parameter unseres Verständnisses von Privatheit<br />
und Freiheit im Zuge der digitalen Revolution sukzessive verschieben.<br />
Ulrike Ackermann ist Professorin für Politische Wissenschaften mit dem<br />
Schwerpunkt »Freiheitsforschung« an der SRH Hochschule in Heidelberg sowie<br />
Gründerin und Leiterin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung. Sie<br />
lebt und arbeitet als freie Autorin in Frankfurt am Main [u.a. für Süddeutsche Zeitung,<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung, taz, Die Welt und Merkur] und ist Verfasserin<br />
und Moderatorin zahlreicher Rundfunksendungen.<br />
Vortrag<br />
12.00 – 12.30 Uhr<br />
Im Anschluss Diskussion<br />
Jörg Blumtritt<br />
Privatheit und Markt: Warum private Daten die Währung der Zukunft sind<br />
Daten spiegeln unser Leben wider. Sie lassen präzise Schlüsse über unsere Einstellungen,<br />
Interessen und zukünftige Verhaltensweisen zu. Jörg Blumtritt beschreibt,<br />
wie mit Big Data unsere Bewegungen, sozialen Kontakte und Alltagsgewohnheiten<br />
analysiert und ausgewertet werden, welche ungenutzten Potentiale in<br />
Messwerten von Smartphone-Sensoren wie z.B. Beschleunigungen und Erschütterungen<br />
liegen und welche Wettbewerbs-Chancen sich für Unternehmen aus<br />
der Verwertung der Daten ergeben. Das Teilen von Daten ist von unschätzbarem<br />
Wert, doch die Intransparenz der komplexen Analyseverfahren birgt erhebliche<br />
Gefahren. Jörg Blumtritt fordert deshalb eine Ethik der Algorithmen.<br />
Jörg Blumtritt ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Datarella.<br />
Er entwickelt Technologien zur Datenauswertung und unterstützt Unternehmen<br />
bei der Datenanalyse und Produktkonzeption. Er arbeitete zunächst in der Verhaltensforschung<br />
und war dann im Marketing und in der Forschung bei ProSieben,<br />
Sat.1, RTL II, Hubert Burda Media sowie als Geschäftsführer der Düsseldorfer<br />
Agentur MediaCom tätig. Er ist Mitverfasser des Slow Media Manifest.<br />
020<br />
thementage_2016 021
Vorträge Programm / Diskussionen<br />
Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />
GLEICHHEIT. DIE ENTGRENZUNG DER ARBEIT ODER DIE ÖKONOMISIERUNG DES PRIVATEN<br />
Panel 2<br />
Vorträge<br />
Diskussion<br />
Samstag<br />
19.03.2016<br />
13.30 – 15.45 Uhr<br />
Chagallsaal<br />
Eintritt frei<br />
Moderation<br />
Jan Tussing,<br />
ARD-Korrespondent<br />
und Kulturreporter bei<br />
hr-iNFO<br />
Die Digitalisierung hat die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben aufgelöst.<br />
Ort und Zeit haben für die Trennung zwischen beruflicher und privater Sphäre oft<br />
keine Bedeutung mehr. Smartphone, Laptop und die permanente Vernetzung erlauben<br />
eine neue Flexibilität. Gearbeitet wird im Café, im Zug, zu Hause oder im<br />
Büro. Die Entgrenzung der Arbeit vollzieht sich aber nicht nur auf einer physischen<br />
Ebene. Mit der Selbstbestimmung wächst auch die Forderung, alle Energien und<br />
persönlichen Kompetenzen dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen. Die hohe<br />
Identifikation mit dem Beruf fordert den ganzen Menschen, und so schwindet in<br />
vielen Arbeitsbereichen die klassische Rollentrennung zwischen Berufs- und Privatperson.<br />
Während einerseits die Vernetzungsmöglichkeiten innovative und unabhängige<br />
Strukturen für Start-ups schaffen, die es ermöglichen, ökonomische<br />
Bereiche jenseits traditioneller Hierarchien nach eigenen Lebensentwürfen selbst<br />
zu gestalten, wird andererseits in großen Unternehmen die Entgrenzung des Privaten<br />
durch einen wachsenden Anpassungsdruck befördert. So zum Beispiel,<br />
wenn unser Verhalten in sozialen Netzwerken von Arbeitgebern beobachtet und<br />
bewertet wird und damit private Aktivitäten dem Konformitätszwang der Arbeitswelt<br />
unterliegen.<br />
Das veränderte Arbeitsverständnis und die damit einhergehende Einebnung des<br />
Privaten führen zu einer neuen Bewertung von »Gleichheit«. Im Kontext der Arbeit<br />
stand der Begriff früher vor allem für Fairness und Gerechtigkeit. Im Zuge der Normierung<br />
individueller Lebens- und Sozialpraktiken erhält er aber eine Bedeutung,<br />
die im Widerspruch zum Individuellen und Unangepassten, also dem Privaten<br />
steht. Wie verändert sich unsere private und berufliche Rolle, wenn wir überwacht<br />
und durch Rechensysteme bewertet werden? Entsteht eine gegenseitige Kontrolle<br />
und damit eine zunehmende Konformität? Wie wirkt sich dies wiederum auf<br />
unser kreatives Gestaltungspotential aus? Sind flexible Start-up-Unternehmen,<br />
die über neue Vernetzungsstrukturen ökonomische und individuelle Freiräume zurückerobern,<br />
ein Gegenmodell?<br />
Vortrag<br />
14.00 – 14.30 Uhr<br />
Vortrag<br />
14.30 – 15.00 Uhr<br />
Lena Schiller Clausen<br />
Arbeitswelten der Zukunft – Von der Normierung zur Kreativität<br />
Die Zukunft zeigt sich in der Gegenwart als Krise. Um die Effizienz zu steigern und<br />
das Risiko zu minimieren, ersetzen große Unternehmen Vertrauen durch Kontrolle<br />
und kreative Lösungen durch Konformität. Lena Schiller Clausen zeigt, dass die<br />
Arbeitswelt mit der digitalen Transformation neue Herausforderungen birgt, die<br />
aber mit den klassischen Instrumenten nicht bewältigt werden können. Technologische<br />
Errungenschaften, die die menschliche Interaktion völlig neu gestalten,<br />
lösen schon jetzt Branchengrenzen auf. Sie machen bekannte Geschäftsmodelle<br />
am laufenden Band obsolet und befördern den Konsumenten zum Selbstproduzenten.<br />
Der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel und die zunehmende<br />
Vernetzung verlangen individuelles, flexibles und dynamisches Denken und Handeln.<br />
Nur wer das entstehende Vakuum mit innovativen Ideen auszugestalten, die<br />
alte Linearität durch Vernetzung zu ersetzen und der Normierung Kreativität entgegenzusetzen<br />
weiß, wird die Krise in eine Chance verwandeln können.<br />
Lena Schiller Clausen beschäftigt sich als Unternehmerin und Autorin mit den<br />
Mitgestaltungsmöglichkeiten unseres Fortschritts und der Zukunft der Arbeit. Als<br />
Mitgründerin des »betahaus Hamburg«, Dozentin für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft<br />
der Universität Hannover und Unternehmensberaterin gestaltet sie<br />
Schnittstellen zwischen der Creative Class, zivilgesellschaftlichen Akteuren und<br />
Konzernen. In ihrem Buch »New Business Order« [Hanser, 2014] erörtert sie, wie<br />
Start-ups Wirtschaft und Gesellschaft verändern.<br />
Kornelia Hahn<br />
Beziehung 2.0 – Wir sehen, was du fühlst<br />
Vortrag<br />
13.30 – 14.00 Uhr<br />
Markus Morgenroth<br />
Der durchleuchtete Angestellte oder Zum veränderten Verhältnis<br />
von Privatheit und Arbeit<br />
Algorithmen beeinflussen heute oft die Karriere. Immer mehr Firmen setzen Backgroundchecks<br />
bzw. Humankapital-Analyseprodukte ein. Diese erfassen präzise,<br />
was Mitarbeiter auf privaten Websites und in sozialen Netzwerken suchen oder schreiben.<br />
Kalendereinträge, Chat-Nachrichten, Telefonkontakte und viele weitere Daten<br />
werden ausgewertet, Kommunikationsmuster analysiert, Anomalien registriert und<br />
das Verhalten überwacht. Per Mausklick wird die Effizienz von Mitarbeitern errechnet<br />
und entsprechend werden diese befördert oder als »schlechte« Angestellte<br />
identifiziert. Die Möglichkeiten von Big Data ersetzen den gesunden Menschenverstand<br />
und erzeugen einen besorgniserregenden Determinismus, ohne dass der Betroffene<br />
Einblick in die ausgewerteten und oft falsch verknüpften Daten bekommt.<br />
Zu unserem Liebes- und Beziehungskonzept gehören Intimität und Privatheit, die<br />
durch Indiskretion verletzt werden können. Dennoch werden im Internet persönliche<br />
Gefühle und Fantasien preisgegeben und kommerziell genutzt. Gleichzeitig<br />
ist längst nicht mehr die vertrauensvolle, emotionale Bindung ein Synonym für<br />
Freundschaft, wenn jede Facebook-Bekanntschaft als »Freund« deklariert wird.<br />
Kornelia Hahn beschreibt, wie sich unsere emotionalen Bindungen durch Internetkommunikation<br />
und mediale Überwachung verändern und geht der Frage nach,<br />
ob sich unsere Vorstellung von Liebe und Freundschaft mit den neuen Formen von<br />
Privatheit wandelt.<br />
Kornelia Hahn ist Professorin für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie<br />
im Fachbereich für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität<br />
Salzburg. Ihr Forschungsfokus liegt auf medienbasierten Zeichen- und Bedeutungstransformationen<br />
in der Moderne. Von der Leuphana Universität Lüneburg<br />
wurde ihr der Preis für herausragende wissenschaftliche Vortragstätigkeit und im<br />
Jahr 2002 für herausragende wissenschaftliche Publikationstätigkeit verliehen.<br />
Markus Morgenroth arbeitete im Silicon Valley als Software-Engineer für Cataphora,<br />
eines der international führenden Unternehmen im Bereich der verhaltensbasierten<br />
Datenanalysen. Von 2007 bis 2013 leitete er die europäische Niederlassung dieses<br />
Unternehmens. Seit seinem Ausstieg berät Markus Morgenroth Unternehmen zu<br />
Fragen rund um den Datenschutz sowie zu den Chancen und Risiken von Big Data.<br />
Im Anschluss Diskussion<br />
022<br />
thementage_2016 023
Vorträge Programm / Diskussionen<br />
Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />
SOLIDARITÄT. DIE NEUE ÖFFENTLICHKEIT ODER DIE MACHT DER VIELEN<br />
Panel 3<br />
Vorträge<br />
Diskussion<br />
Samstag<br />
19.03.2016<br />
16.00 – 18.30 Uhr<br />
Chagallsaal<br />
Eintritt frei<br />
Moderation<br />
Friedemann Karig,<br />
Soziologe, Autor,<br />
Moderator und Journalist<br />
[u.a. für DIE ZEIT,<br />
Süddeutsche Zeitung<br />
und brand eins]<br />
Eine freie Öffentlichkeit gilt als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.<br />
Der öffentliche Diskurs dient der kulturellen Selbstbestimmung sowie der permanenten<br />
Überprüfung und Regulierung ethischer und politischer Normen. Die<br />
Qualität des öffentlichen Diskurses bemisst sich wiederum entscheidend an der<br />
Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppierungen.<br />
Bevor das Internet ein Massenmedium wurde, konnte der Anspruch einer umfassenden<br />
Partizipation zunächst kaum erfüllt werden. Die Bürger konnten unterschiedliche<br />
Medien wie Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk nutzen, allerdings<br />
mit ihren eigenen Botschaften nur beschränkt an die Öffentlichkeit treten. Journalisten<br />
hatten mit ihrer Vermittlungsleistung eine eindeutige Filterfunktion. Sie<br />
entschieden über Relevanz, Zusammensetzung und Einordnung von Informationen.<br />
Die Möglichkeiten des World Wide Web haben einen grundlegenden Wandel<br />
bewirkt. Private Internetnutzer können als Urheber von Botschaften eine neue<br />
Öffentlichkeit bilden. Mittlerweile übernimmt die Netzgemeinschaft als »fünfte<br />
Gewalt« sogar die Funktion einer meinungsbildenden Instanz. Sie deckt Verborgenes<br />
auf, kommentiert Behauptungen, kritisiert die journalistische Vorgehensweise<br />
und versteht sich als Bürgerrechts-, Transparenz- und Demokratiebewegung.<br />
Worin bestehen ihre Qualitäten? Schlägt sie die Objektivität des Journalismus<br />
mit einer neuen Unmittelbarkeit oder ergänzt sie diesen vielmehr mit einer<br />
Stimmenvielfalt? Ist die neue Öffentlichkeit vielfältiger, fundierter und transparenter<br />
als der klassische Journalismus? Oder entwickelt sich mit ihr eine Kultur der<br />
Meinungsnabelschau?<br />
Der Wert der Solidarität bekommt durch das Web 2.0 eine neue Qualität. Die neue<br />
Macht der Öffentlichkeit generiert sich nämlich vorwiegend aus der Eigenschaft<br />
des Teilens. Doch ist die neue Netzcommunity mit ihren Like- und Sharebuttons solidarisch?<br />
Wie formieren und organisieren sich neue Gruppen? Bildet sich hier ein<br />
neuer Gemeinschaftsbegriff heraus, der auch unser analoges Leben verändert?<br />
Vortrag<br />
16.30 – 17.00 Uhr<br />
Vortrag<br />
17.00 – 17.30 Uhr<br />
Gesche Joost<br />
Politische Teilhabe: Wie viel Transparenz verträgt die Demokratie?<br />
In Autokratien kann die neue Öffentlichkeit den Demokratisierungsprozess beschleunigen,<br />
das hat der Arabische Frühling gezeigt. Gleichzeitig beobachten wir<br />
jedoch auch eine Radikalisierung über das Netz, die erschreckt. Welche Chancen<br />
und welche Herausforderungen birgt die Digitalisierung in einer bereits etablierten<br />
Demokratie? Kann sie die Kluft zwischen politischen Akteuren und Bürgern schmälern<br />
und das Vertrauen in faire Entscheidungen durch Beteiligung und Transparenz<br />
stärken? Oder beteiligt sich sowieso nur die sogenannte »digitale Elite«? Viele Parteien<br />
antworten auf die Politikverdrossenheit der Wähler mit Partizipationsangeboten.<br />
Sie fordern im Zuge des digitalen Wandels eine neue politische Kultur. Doch<br />
wie viel Mitbestimmung und wie viel Transparenz verträgt unsere Demokratie? Untergräbt<br />
die Netzöffentlichkeit den Schutz von Minderheiteninteressen sowie ein<br />
verantwortungsvolles, autonomes und weitsichtiges Handeln, das nicht auf die<br />
Wählergunst schielt? Oder bildet das Internet wirklich den ersehnten neuen, radikal-demokratischen<br />
Raum der Teilhabe aller?<br />
Gesche Joost vertritt Deutschland als Digital-Botschafterin in der Initiative »Digitale<br />
Champions« der EU-Kommission. Sie berät die Kommission bei der Umsetzung<br />
der Digitalen Agenda für Europa. Gesche Joost ist Professorin für Designforschung<br />
an der Universität der Künste Berlin und leitet das Design Research<br />
Lab. Gemeinsam mit internationalen Partnern entwickelt sie Forschungs- und<br />
Lehrprojekte zu den Themen Mensch-Maschine-Interaktion, Wearable Computing<br />
sowie zu nutzerzentrierter Technologie-Entwicklung.<br />
Jürgen Kaube<br />
Meinungsgiganten oder Wer interpretiert die Welt?<br />
Vortrag<br />
16.00 – 16.30 Uhr<br />
Bernhard Pörksen<br />
Die fünfte Gewalt. Empörung und Medienmisstrauen im digitalen<br />
Zeitalter<br />
Die fünfte Gewalt ist mächtig. Sie nutzt den radikalen Pluralismus der vernetzten<br />
Vielen und wirkt als Agendasetter und Meinungskorrektiv. Bernhard Pörksen beschreibt<br />
die fünfte Gewalt als Konnektiv, als eine neuartige Form aus Gemeinschaft<br />
und Individualität. Doch wie funktionieren ihre Organisations- und Vernetzungsmuster<br />
und welche Machtstrukturen sind ihr inhärent? Welche Rolle übernimmt sie<br />
in der Informationsgesellschaft? Und auf welche Weise verhindert man, ohne die<br />
Möglichkeit offensiver Korrektur und Exklusion, dass ideologische Parallelitäten<br />
und bizarre Bestätigungsmillieus entstehen, die einer offenen Gesellschaft insgesamt<br />
gefährlich werden können?<br />
Das Internet verändert den Journalismus grundlegend. Vor allem anspruchsvolle<br />
Printmedien haben sich mit der »Umsonstkultur« des Netzes auseinanderzusetzen.<br />
Während fast alle Zeitungen über einen stetigen Rückgang der Auflagen<br />
klagen, bringen wenige Mediengiganten die übrigen Unternehmen in eine fatale Abhängigkeit.<br />
So mischt sich zum Beispiel das soziale Netzwerk Facebook in die Kontextualisierung<br />
der Inhalte ein, wenn es auf Verlinkungen verzichtet und die Angebote<br />
der Zeitungsverlage direkt publiziert. Algorithmen bestimmen, wer welche Nachricht<br />
zu lesen bekommt. Sie bieten auf das Nutzerprofil zugeschnittene Themenfelder<br />
an. Lernen wir Unbekanntes, das unsere Wahrheit und Weltsicht in Frage stellen<br />
könnte, bald nicht mehr kennen? Nehmen wir nur noch jene Nachrichten wahr,<br />
die unsere Meinung bestärken? Welche Rolle kommt den Qualitätsmedien zukünftig<br />
zu? Wie können und sollten sie auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters<br />
reagieren?<br />
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.<br />
Er analysiert in seinen Forschungsarbeiten die Inszenierungsstile in Politik<br />
und Medien und kommentiert in Zeitungskolumnen aktuelle Debatten. Seine Bücher,<br />
die er mit dem Physiker und Philosophen Heinz von Foerster [»Wahrheit ist<br />
die Erfindung eines Lügners«] und dem Kommunikationspsychologen Friedemann<br />
Schulz von Thun [»Kommunikation als Lebenskunst«] veröffentlichte, wurden<br />
Bestseller. Im Jahre 2008 wurde Bernhard Pörksen zum »Professor des Jahres«<br />
gewählt und für seine Lehrtätigkeit ausgezeichnet.<br />
Im Anschluss Diskussion<br />
Jürgen Kaube ist seit 2015 der für das Feuilleton zuständige Mitherausgeber der<br />
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, für die er bereits seit 1992 tätig ist. Zuständig<br />
für Wissenschafts- und Bildungspolitik, wurde er im August 2008 Ressortleiter<br />
für die »Geisteswissenschaften« und 2012 für »Neue Sachbücher« sowie stellvertretender<br />
Leiter des Feuilletons.<br />
024<br />
thementage_2016 025
Vorträge Programm / Diskussionen<br />
Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Wandel<br />
THEATER. SZENEN PRIVATER PUBLICITY UND ÖFFENTLICHER INTERAKTION<br />
Panel 4<br />
Vortrag<br />
Diskussion<br />
Sonntag<br />
20.03.2016<br />
19.30 – 21.30 Uhr<br />
Chagallsaal<br />
Eintritt frei<br />
Moderation<br />
Stefan Keim,<br />
Autor, Moderator und<br />
Journalist [WDR, NDR,<br />
Deutschlandradio, Die Welt,<br />
Die Deutsche Bühne]<br />
Im Zeitalter der Digitalisierung wirkt das Theater wie die letzte Bastion der Unmittelbarkeit,<br />
es ist der Ort der direkten Kommunikation. Auch wenn das Theater sich<br />
als Gegenwelt zur virtuellen Realität begreift, so stellt sich doch die Frage, wie<br />
das veränderte Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Theater bespiegelt,<br />
aufgenommen und weiterentwickelt werden kann und neue mediale Mittel Eingang<br />
in Inszenierungskonzepte finden.<br />
Ein Merkmal der Digitalisierung und der damit einhergehenden neuen Öffentlichkeit<br />
ist die Partizipation. Zunächst sind die Strukturen von Netz und Theater komplementär:<br />
Im Theater sind die Schauspieler Sender und die Zuschauer Empfänger.<br />
Die Netzöffentlichkeit ist hingegen sowohl Player als auch Rezipient. Löst sich<br />
im Zuge der digitalen Entwicklungen auch im Theater die alte Rollenzuweisung<br />
auf? Wird der Zuschauer zum Akteur? Die veränderten digitalen und analogen<br />
Räume führen jedenfalls auch im Theater zu spielerischen Experimenten und kreativen<br />
Partizipationsmöglichkeiten.<br />
Umgekehrt bedient sich auch das Netz theatraler Mittel: Ob es sich um virtuelle<br />
Shoppingerlebnisse, die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken oder politische<br />
Auftritte handelt, im Netz und zunehmend auch im analogen Leben geht es um die<br />
Theatralisierung sämtlicher Lebenswelten, um die Inszenierung des Alltags; löst<br />
sich doch die Trennlinie zwischen Wahrheit und Fiktion in den digitalen Sphären<br />
zunehmend auf. Schein und Sein verschmelzen auch in der virtuellen Realität. Wie<br />
reagiert darauf das Theater, das mit seiner Unmittelbarkeit und Nichtreproduzierbarkeit<br />
per se einem Authentizitätsimperativ folgt, dessen Wesenskern andrerseits<br />
aber gerade aus der Inszenierung und der Behauptung besteht?<br />
Diskussion<br />
20.30 – 21.30 Uhr<br />
Mit<br />
Stefan Kaegi<br />
Oliver Reese<br />
Angela Richter<br />
Kay Voges<br />
Theater zwischen Authentizität und virtueller Realität<br />
Auf der Bühne werden auf vielfältige Weise der technologische Wandel und dessen<br />
gesellschaftliche Auswirkungen behandelt. Dabei werden auch neue ästhetische<br />
Mittel erprobt, die das veränderte Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit<br />
widerspiegeln und den Zuschauer als Mitspieler in das Geschehen integrieren. In<br />
Angela Richters »Supernerds« wird beispielsweise das Publikum Teil eines Überwachungsexperiments.<br />
In anderen Inszenierungen können die Zuschauer per App<br />
oder Tweets den Ausgang der Geschichte wählen. Einige Theatermacher fordern<br />
das Publikum sogar zur Dialogentwicklung bzw. zur Fortschreibung der Handlung<br />
auf. Wie kann das Theater auf die durch die Digitalisierung hervorgerufenen sozialen<br />
Veränderungen adäquat reagieren? Welche Mittel stehen dem Theater dafür<br />
zur Verfügung? Wie können sich Netzöffentlichkeit bzw. Publikum und Theater<br />
gegenseitig inspirieren, und wo sollten klare Grenzen gewahrt bleiben? Kann zu<br />
viel Partizipation und mediale Interaktion den Wesenskern des Theaters<br />
zerstören?<br />
Diskutanten<br />
Stefan Kaegi inszenierte in verschiedensten Konstellationen dokumentarische<br />
Theaterstücke, Hörspiele und Stadtrauminszenierungen. Mit Helgard Haug und<br />
Daniel Wetzel gründete er das Regiekollektiv »Rimini Protokoll«. Ziel des Regietrios<br />
ist es, die gefühlte Realität aufzubrechen und all ihre Facetten auch aus unbekannten<br />
Blickwinkeln zu präsentieren. Das Kollektiv arbeitet oft mit Strukturen<br />
von Computergames und bezieht den Zuschauer als Akteur mit ein. So z.B. bei der<br />
Performance »Remote Frankfurt«, die während der <strong>Thementage</strong> zu sehen ist.<br />
Vortrag<br />
19.30 – 20.15 Uhr<br />
Verena Kuni<br />
Peep Show – Parade – Panem et Circenses: Modelle medialer Bühnen<br />
Wenn heute von digitalen Medien und Netzwerken die Rede ist, wird häufig das<br />
Verschwinden des Privaten beklagt. Allerdings ist dabei oft nicht etwa der schamlose<br />
Zugriff auf persönliche Daten von Nutzern gemeint, sondern die Zurschaustellung,<br />
die nicht wenige aus freien Stücken betreiben. Begriffe wie »Selfie«<br />
scheinen wie passgenau auf eine Kultur der medialen Selbstinszenierung gemünzt.<br />
Aber um welches »Selbst« geht es hier eigentlich? Spielen wir nicht ohnehin<br />
alle immer Theater? Wenn dem so ist, sollte es lohnen, einen genaueren Blick<br />
auf die Bühnen zu werfen, die für die Inszenierungen zur Verfügung stehen. Möglich,<br />
dass sich in diesem Zuge erhellende Perspektiven auf die aktuelle Gemengelage<br />
gerade dort ergeben, wo sich in neueren Medienformationen tradierte<br />
Formate nachgerade modellhaft abbilden.<br />
Verena Kuni ist Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaftlerin und Professorin für<br />
Visuelle Kultur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Auseinandersetzung<br />
mit Ästhetiken und Politiken von Medien- und Netzkulturen gehört seit Anfang<br />
der 1990er Jahre zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten.<br />
Oliver Reese ist Regisseur und Intendant des Schauspiel Frankfurt. Er brachte<br />
zahlreiche Dramatisierungen und Stücke nach biografischen Texten auf die Bühne.<br />
Reese konzentriert sich in seinen Inszenierungen auf theaterimmanente künstlerische<br />
Mittel wie die Wirkkraft der Sprache. In seiner jüngsten Inszenierung<br />
»Terror« lässt er das Publikum mit Abstimmungsgeräten über den Ausgang der<br />
Handlung entscheiden.<br />
Angela Richter ist Hausregisseurin am Schauspiel Köln. Sie war von 1996 bis<br />
2000 Mitglied der Hamburger Künstlergruppe Akademie Isotrop und gründete<br />
2006 das Fleetstreet Theater in Hamburg, das sie bis 2010 leitete. Für ihr multimediales<br />
Projekt »Supernerds«, das sie am Kölner Schauspiel inszenierte, hat sie<br />
Interviews mit Edward Snowden, Julian Assange und anderen digitalen Dissidenten<br />
geführt und einen wichtigen sowie viel beachteten Beitrag zur digitalen Überwachung<br />
in Szene gesetzt.<br />
Kay Voges ist Regisseur und Intendant des Schauspiel Dortmund. Er erforscht<br />
die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung und lotet die<br />
Schnittstellen von Theater, Film und Videokunst aus. Am Schauspiel Frankfurt hat<br />
Kay Voges in der Spielzeit 2014 / 15 »Endstation Sehnsucht« auf die Bühne gebracht.<br />
Seine Inszenierung von Sarah Kanes »4.48 Psychose« ist während der<br />
<strong>Thementage</strong> zu sehen.<br />
026<br />
thementage_2016 027
Essays<br />
Prof. Petra Grimm<br />
Eine Geschichte über das Unsichtbare im digitalen<br />
Zeitalter – ein Essay ausgehend von dem Stück<br />
»George Kaplan« 30<br />
Lisa Ströhlein<br />
Virtuelles Morden in der Netzwelt. Ein Essay zum<br />
Stück »Die Netzwelt« 34<br />
AIexandre Lacroix<br />
Reportage aus dem Silicon Valley:<br />
Unternehmen Unsterblichkeit 38<br />
Friedemann Karig<br />
Hilfe oder Hetze? Das Netz und die Flüchtlinge 42<br />
Stefan Keim<br />
Überwachungsshows und Realitygames – wie das<br />
Theater auf virtuelle Welten reagiert 46<br />
028 thementage_2016 029
Essay<br />
EINE<br />
Petra Grimm<br />
ÜBER DAS<br />
UNSICHTBARE<br />
GESCHICHTE<br />
IM DIGITALEN<br />
ZEITALTER<br />
Frédéric Sonntags farcenhafte Komödie<br />
»Georg Kaplan« zum Thema Überwachung,<br />
Subversion und unbewusster<br />
Beeinflussung nimmt die Medienwissenschaftlerin<br />
Petra Grimm zum<br />
Anlass, um kritische Fragen zu unserer<br />
Manipulierbarkeit in der schrankenlosen<br />
und vermeintlich anonymen Welt<br />
des World Wide Web zu stellen. Wie<br />
groß sind beispielsweise die Spuren,<br />
die wir bei der tagtäglichen Internetnutzung<br />
hinterlassen? Oder lässt der einfache<br />
Klick auf den Like-Button Rückschlüsse<br />
auf die eigene Persönlichkeit<br />
zu? Petra Grimm ist Leiterin des Instituts<br />
für digitale Ethik an der Hochschule<br />
der Medien Stuttgart. Sie wird als<br />
Diskutantin an der Eröffnungsdiskussion<br />
»Digitale Welten – welchen Fortschritt<br />
wollen wir?« teilnehmen.<br />
Die digitale Revolution,<br />
die unsere Gesellschaft<br />
fundamental ändern wird,<br />
ist ein Prozess, der Meta-<br />
Narrative des Utopischen<br />
und Dystopischen hervorbringt.<br />
Eine dieser großen<br />
dystopischen Erzählungen,<br />
vielleicht sogar die<br />
wichtigste, ist die der unsichtbaren<br />
Überwachung.<br />
Frédéric Sonntag erzählt<br />
in seinem Theaterstück<br />
»George Kaplan« 1 unter<br />
anderem die fiktive Geschichte<br />
einer unsichtbaren Regierung,<br />
die mittels Algorithmen eine unschuldige<br />
Person als »suspect zero« identifiziert:<br />
»Epsilon, unser Kommunikations-<br />
Überwachungs-System, analysiert täglich<br />
Millionen von Nachrichten, um diejenigen<br />
unter ihnen ausfindig zu machen,<br />
die bestimmte vorprogrammierte<br />
Schlagwörter enthalten.« Um die Bevölkerung<br />
von der Notwendigkeit zu<br />
überzeugen, dass »eine Reihe von Gesetzen<br />
[…] zur Einrichtung einer Datenbank,<br />
die die biometrischen, medizinischen<br />
und finanziellen Angaben der<br />
gesamten Bevölkerung sammelt« notwendig<br />
sei, soll die Angst vor einer<br />
opaken Bedrohung namens »George<br />
Kaplan« geschürt werden. Allerdings<br />
ist diese Geschichte der unsichtbaren<br />
Überwachung im Kern keine Fiktion.<br />
Spätestens seit den Enthüllungen Edward<br />
Snowdens im Juni 2013 über die<br />
Überwachungsprogramme des US-<br />
Nachrichtendienstes National Security<br />
Agency [NSA] »Prism« und des britischen<br />
Government Communications<br />
Headquarters [GCHQ] »Tempora« ist<br />
ins öffentliche Bewusstsein gerückt,<br />
dass eine Datafizierung der Privatsphäre<br />
durch ausländische Geheimdienste<br />
alltäglich ist. Trotz massiver Kritik, die<br />
von den Medien und der Netzpolitik geäußert<br />
wurde, ist weder Widerstand<br />
seitens der Bevölkerung [wie z.B. bei<br />
der Volkszählung in den 1980er Jahren]<br />
noch aktives Handeln der maßgeblichen<br />
politischen Akteure gegen solche<br />
Überwachungsmaßnahmen, die jeden<br />
im hypervernetzten »Onlife« 2 betrifft,<br />
zu erkennen. Vielmehr wurde mit der<br />
Verabschiedung des Gesetzes zur<br />
Vorratsdatenspeicherung im Herbst<br />
2015 noch ein weiteres Paket zur<br />
Überwachung geschnürt: Wer mit wem<br />
an welchem Ort zu welcher Zeit telefoniert,<br />
skypt oder simst, wird erfasst.<br />
Solche Meta-Daten sind nicht harmlos.<br />
Wenn z.B. eine Frau mit ihrem Gynäkologen<br />
telefoniert, dann ihren Partner<br />
und anschließend bei einem Babyausstatter<br />
anruft, dann lassen sich auch<br />
ohne Kenntnis des Telefongesprächs<br />
eindeutige Schlussfolgerungen über<br />
den Zustand dieser Frau ziehen.<br />
DER NUTZER WIRD<br />
KAPITALISIERBAR<br />
Überwachung findet aber nicht nur seitens<br />
des Staats, sondern auch durch<br />
die Unternehmen statt. So können z.B.<br />
Versicherungen, Banken und Unternehmen<br />
ihre Kunden raten, scoren, taxieren<br />
und deren zukünftiges Verhalten<br />
bzw. Befinden prognostizieren. Wie erfolgreich<br />
solche Black-Box-Prognosen<br />
sein können, veranschaulicht eine Untersuchung<br />
3 , bei der die aus Profilen<br />
von sozialen Online-Netzwerken gewonnenen<br />
Daten bessere Ergebnisse<br />
über die Leistungsfähigkeit von Job-<br />
Bewerbern vorhersagen konnten als<br />
klassische Eignungs-Tests. Des Weiteren<br />
zeigten Wissenschaftler 4 , dass<br />
Computer das Persönlichkeitsprofil<br />
von Menschen anhand von Facebook-<br />
Likes besser beurteilen können als die<br />
meisten nahestehenden Menschen wie<br />
Freunde und Familie.<br />
Bei der Nutzung digitaler Dienste bzw.<br />
Endgeräte und in einer zunehmend digitalisierten<br />
Umwelt hinterlassen und<br />
generieren wir unablässig meist unbewusst<br />
persönliche Daten [Big Personal<br />
Data]. Menschen werden bei der<br />
Datensammlung auf der Basis von<br />
Korrelationen als Digitales Double klassifiziert<br />
mit der Folge, dass ihnen<br />
bestimmte Angebote und Optionen unterbreitet<br />
oder gegebenenfalls auch<br />
vorenthalten werden. Die Nutzer werden<br />
dabei nicht als Individuen erfasst,<br />
sondern als »ITentitäten«, die quantifizierbar<br />
und kapitalisierbar sind. Die<br />
Folge dieser Sammlung personenbezogener<br />
Daten ist, dass jede Einzelperson<br />
im Onlife identifizierbar, transparent<br />
und de-anonymisiert ist. Das Wissen<br />
und die Macht zwischen Anbieter<br />
und Nutzer ist dabei ungleich verteilt<br />
030<br />
thementage_2016 031
Essay<br />
Petra Grimm<br />
[Informationsasymmetrie]: Weder wissen<br />
die Nutzer, welche Daten in und<br />
aus welchem Kontext genutzt werden,<br />
noch ist ihnen der Algorithmus bekannt,<br />
mittels dessen sie klassifiziert<br />
werden. Ebenso ist vielen Nutzern<br />
nicht klar, welche Risiken mit der Datafizierung<br />
ihres Onlife verbunden sind.<br />
Völlig opak sind für uns die Algorithmen,<br />
die man als Kernelement des Betriebssystems<br />
der digitalen Gesellschaft<br />
verstehen kann. Algorithmen<br />
entscheiden, welche Informationen an<br />
welcher Stelle innerhalb einer Suchanfrage<br />
erscheinen, und sie schätzen<br />
ein, ob eine Person etwa kreditwürdig<br />
ist. Welche Faktoren dabei genau ausschlaggebend<br />
sind und wie sie gewichtet<br />
werden, ist weitgehend intransparent<br />
[Black-Box-Prognosen].<br />
Auch gibt es für den Einzelnen mit der<br />
zunehmenden Digitalisierung der Lebens-<br />
und Arbeitsbereiche nicht mehr<br />
die Alternative, aus dem System der<br />
Datenverwertung auszusteigen, es sei<br />
denn, man ist privilegiert und kann es<br />
sich leisten, seine private Identität zu<br />
schützen. Zudem zeigt sich eine zunehmende<br />
Konzentration auf der Anbieterseite:<br />
Alphabet [Google], Apple,<br />
Facebook, Amazon etc. sind die Neo-<br />
Kolonialisten, die in unseren Alltag immer<br />
weiter vorgedrungen sind.<br />
Nach zehn Jahren Web 2.0 lässt sich<br />
rückblickend erkennen, dass sich durch<br />
diesen digitalen Neokolonialismus die<br />
Rahmenbedingungen für die Privatsphäre<br />
fundamental verändert haben.<br />
Niemals zuvor war die potenzielle Zugänglichkeit<br />
zu persönlichen bzw. privaten<br />
Informationen größer. Dieser Transformationsprozess<br />
vollzieht sich nicht<br />
nur durch das seit 2004 etablierte sogenannte<br />
Web 2.0 bzw. Social Web,<br />
sondern auch durch die tiefgreifende<br />
Digitalisierung aller Gesellschaftssysteme.<br />
Zukünftig wird sich das Überwachungspotenzial<br />
durch die Ausweitung<br />
der Internetzone in den analogen<br />
Lebensraum noch erweitern: Selbstvermessende<br />
Wearables [Fitnessarmbänder<br />
etc.], vernetzte Autos und Wohnungen<br />
werden die Datensammlung und<br />
-verarbeitung exorbitant steigern und<br />
damit das Risiko erhöhen, dass wir<br />
nicht mehr selbstbestimmt darüber entscheiden<br />
können, wer was wann und in<br />
welchem Zusammenhang über uns<br />
weiß.<br />
VERLUST DER<br />
PRIVATSPHÄRE<br />
Dabei sind die Unsichtbarkeit der Datensammler<br />
und deren Unkontrollierbarkeit<br />
wesentliche Merkmale, worauf<br />
Umberto Eco schon in Venedig im Jahr<br />
2000 in seinem Vortrag »Verlust der<br />
Privatsphäre« 5 hinweist: »Doch wenn<br />
der Große Bruder in Orwells Roman<br />
eine Allegorie auf ’Väterchen’ Stalin<br />
war, hat der Big Brother, der uns heute<br />
beobachtet, kein Gesicht und ist nicht<br />
nur einer, sondern die Gesamtheit der<br />
Ökonomie. Wie die Macht bei Foucault<br />
ist diese Wesenheit nicht mehr erkennbar,<br />
sie ist die Gesamtheit einer Reihe<br />
von Machtzentren, die das Spiel mitmachen<br />
und sich gegenseitig stützen,<br />
dergestalt, dass einer, der für ein<br />
Machtzentrum die Leute ausspäht, die<br />
in einem Supermarkt einkaufen, seinerseits<br />
ausgespäht wird, wenn er die Hotelrechnung<br />
mit einer Kreditkarte bezahlt.<br />
Wenn die Macht kein Gesicht<br />
mehr hat, wird sie unbesiegbar. Oder<br />
zumindest schwer kontrollierbar.« 6 Was<br />
Eco hier beschreibt, widerspricht der<br />
Grundidee des Internets, das analog<br />
den Weltmeeren als eine Sache aller<br />
und niemandes [res omnium et nullius]<br />
zu begreifen ist. Wenn insbesondere<br />
unser Verhalten im Netz permanent<br />
verfolgt, aufgezeichnet und ausgewertet<br />
wird, verkehrt sich das Internet als<br />
vermeintliches Instrument der Freiheit,<br />
der Teilhabe und der Transparenz in<br />
sein Gegenteil: zum Instrument der<br />
Überwachung. Braucht es also eine<br />
Ethik der Algorithmen, um die digitalisierte<br />
Welt zu einer Sache aller und<br />
niemandes zu machen? Und brauchen<br />
wir eine Grundrechtecharta des Digitalen,<br />
in der wir uns auf die »alten« Grundwerte<br />
wie Menschenwürde, Freiheit<br />
und Privatsphäre verständigen? In Bezug<br />
auf den Wert der Privatheit stellt<br />
sich aus ethischer Sicht die Frage, ob<br />
wir ein neues Verständnis von privaten<br />
Daten brauchen. So meint Floridi 7 , dass<br />
wir private Daten nicht als Besitz bzw.<br />
Eigentum verstehen sollten [sie gehören<br />
uns nicht wie ein Auto], sondern<br />
1<br />
F. Sonntag [2015]: George Kaplan.<br />
Deutsch von J. Schumann. Textbuch.<br />
Reinbek: Rowohlt Theater Verlag. Online:<br />
http://www.rowohlt-theaterverlag.de/<br />
stueck/George_Kaplan.3168006.html<br />
2<br />
L. Floridi [2015]: Die 4. Revolution.<br />
Wie die Infosphäre unser Leben<br />
verändert. Aus dem Englischen von<br />
A. Walter. Berlin: Suhrkamp Verlag<br />
3<br />
D.H. Kluemper / P.A. Rosen / K.W. Mossholder<br />
[2012]: Social networking websi<br />
tes, personality ratings, and the organizational<br />
context: More than meets the eye?<br />
Journal of Applied Social Psychology, 42,<br />
1143-1172<br />
4<br />
W. Youyou / M. Kosinski / D. Stillwell<br />
[2015]: Computer-based personality<br />
judgments are more accurate than those<br />
made by humans. In: PNAS, Vol. 112,<br />
No. 4, S. 1036-1040. Online: http://www.<br />
pnas.org/content/112/4/1036.abstract<br />
5<br />
U. Eco [2007]: Der Verlust der Privatsphäre.<br />
In: Ders.: Im Krebsgang voraus.<br />
Heiße Kriege und medialer Populismus.<br />
Aus dem Italienischen von B. Kroeber.<br />
München: Carl Hanser Verlag, S. 73-86<br />
6<br />
U. Eco 2007, S. 76<br />
7<br />
L. Floridi 2015, S. 162<br />
8<br />
I. Kant [1786/1999]: Grundlegung zur<br />
Metaphysik der Sitte. Mit einer Einl. hrsg.<br />
von B. Kraft und D. Schönecke. Hamburg:<br />
Meiner, S. 61<br />
dass sie Teil unserer Identität sind, so wie unser Körper. Des<br />
Weiteren stellt sich die Frage, ob die Objektivierung und Kapitalisierung<br />
des Menschen als Digitales Double mit dem<br />
Würdekonzept des Menschen vereinbar ist. »Würde« steht<br />
nach Kant im Gegensatz zu »Preis«. Während Dinge einen<br />
Preis haben und ausgetauscht werden können, hat der<br />
Mensch einen Wert, der über jeden Preis erhaben ist: »Im<br />
Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine<br />
Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas<br />
anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen<br />
über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet,<br />
das hat eine Würde.« 8<br />
Unsere Demokratie basiert darauf, dass wir autonome Bürgerinnen<br />
und Bürger sind, die eine Entscheidungs- und<br />
Handlungsfreiheit haben. Der Schutz der Privatheit ist ein<br />
Mittel, um autonom entscheiden und handeln zu können.<br />
Wenn nun aber ein Score, der anhand meiner Daten und der<br />
meiner Freunde im Netz berechnet, ob ich kreditwürdig bin,<br />
eine bestimmte Prämie bei der Krankenversicherung zahlen<br />
muss, einen Job bekomme etc., dann ist meine persönliche<br />
Autonomie eingeschränkt.<br />
Überwachung, sei es durch den Staat oder durch die Unternehmen,<br />
hat noch weitreichendere Folgen. Wer nicht weiß<br />
oder beeinflussen kann, welche Informationen bezüglich seines<br />
Verhaltens gespeichert und bevorratet werden, wird aus<br />
Vorsicht sein Verhalten anpassen. Man nennt dies »Chilling<br />
Effects«: vorauseilendes, selbstbeschränkendes Handeln<br />
aus Angst vor möglichen Folgen. Sich nur stromlinienförmig<br />
zu verhalten und zu äußern bzw. die eigene Meinung zu verschweigen<br />
oder gar den Kontakt zu Menschen unterbinden,<br />
die sich politisch kritisch äußern, hätte fatale Folgen für eine<br />
auf Meinungsfreiheit und Autonomie begründete Demokratie.<br />
Es würde sich damit im digitalen Zeitalter eine selbstzensorische<br />
Schweigespirale in Gang setzen.<br />
MANIPULIERBARKEIT DER<br />
EIGENEN MEINUNG<br />
Mit der digitalen Revolution eng verknüpft ist aber nicht nur<br />
die Dystopie der Überwachung, auch das politische Narrativ<br />
der Freiheit taucht am Horizont immer wieder auf. Spätestens<br />
seit dem Arabischen Frühling 2010 wurde davon ausgegangen,<br />
dass Social Media das Werkzeug sei, um autoritären<br />
Regimen ihre Legitimationsbasis zu entziehen und sie<br />
zum Sturz zu bringen. Auch wenn sich aufgrund der meist<br />
enttäuschenden Entwicklungen in den betreffenden Ländern<br />
das Internet nicht als Medium der Freiheit de facto herauskristallisiert<br />
hat, ist es als utopisches Narrativ nach wie vor<br />
virulent. Ob die Geschichte der Freiheit lebendig bleibt, ist<br />
letztlich eine Sache der User und der Politik. So ist das Web-<br />
Portal »Lobbyplag« ein Beispiel dafür, dass mittels des Internets<br />
ein Mehr an politischer Transparenz möglich ist. Denn<br />
die Betreiber konnten anhand der Analyse diplomatischer<br />
Unterlagen und Dokumente aufzeigen, wie Lobbyisten die<br />
Verhandlungen über die neue EU-Datenschutzverordnung<br />
beeinflussen. Manipulation ist dagegen die andere Seite der<br />
Medaille. Die Idee der jungen Aktivisten in Sonntags »George<br />
Kaplan«, ein virales Mem im Internet zu verbreiten, um<br />
»Schwachstellen und Missstände des Mediensystems« aufzuzeigen,<br />
verweist auf dieses Narrativ der Manipulation. Allerdings<br />
ist die Sachlage komplexer, als die Aktivisten es begreifen,<br />
denn erstens gibt es nicht mehr das Mediensystem,<br />
sondern ein fragmentiertes: Neben den »klassischen« Massenmedien<br />
werden die sozialen Online-Medien wie Twitter,<br />
Youtube und Facebook, und letztlich auch Suchmaschinen<br />
wie Google, zu den Hauptlieferanten von Nachrichten und<br />
Informationen. Gleichzeitig entsteht ein paradoxes Phänomen:<br />
auf der einen Seite eine unglaubliche Menge an zirkulierenden<br />
Informationen und auf der anderen Seite algorithmenbasierte<br />
»Filterbubbles«. Diese »Bubbles« sorgen dafür,<br />
dass Webseiten mittels Algorithmen vorfiltern, welche Informationen<br />
für den Benutzer relevant sein könnten. Sie basieren<br />
auf den verfügbaren Informationen der Benutzer – nutzen<br />
beispielsweise dessen Standort, sein bisheriges Klickverhalten,<br />
womit dem Nutzer häufig nur die Informationen angezeigt<br />
werden, die seinen bisherigen <strong>Ansicht</strong>en nicht<br />
widersprechen.<br />
Angesichts dessen, dass soziale Online-Netzwerke wie<br />
Facebook und Google von immer mehr Nutzern als Informationsquelle<br />
benutzt werden und damit meinungsbildungsrelevant<br />
sind, stellt sich die Frage, ob personalisierte, also auf<br />
den individuellen Nutzer zugeschnittene Informationen, einen<br />
manipulativen Charakter haben. So gelangten zum Beispiel<br />
die Nachrichten über die Proteste der schwarzen Bevölkerung<br />
gegen die Polizeigewalt in Ferguson auf Facebook<br />
erst verzögert zu den Nutzern. Der Slogan von Facebook<br />
»Our mission is to make the world more open and connected«<br />
konterkariert hingegen das, was de facto, aber unsichtbar,<br />
in der digitalen Welt passiert. Ob es nun Meme, Geschichten<br />
oder Bilder sind, die uns das Abstractum »Überwachung«<br />
verständlich machen, es wäre an der Zeit, »das<br />
Unsichtbare, das nie Gesehene sichtbar zu machen«, wie es<br />
in »George Kaplan« vehement gefordert wird. Der Ring des<br />
Gyges, den die Datensammler Whatsapp & Co. tragen,<br />
müsste ihnen entrissen werden. Sonst müssen wir uns vielleicht<br />
in einem späteren Leben von unseren Kindern fragen<br />
lassen: Warum habt ihr damals eigentlich alle mitgemacht?<br />
Petra Grimm<br />
032<br />
thementage_2016 033
Essay<br />
Lisa Ströhlein<br />
COMPUTERSPIELE:<br />
FANTASTISCHE<br />
PARALLELWELTEN<br />
VIRTUELLES<br />
»Die Netzwelt« von Jennifer Haley ist ein fesselnder Krimi<br />
über Technologie und menschliches Begehren im anbrechenden<br />
virtuellen Zeitalter, der alle moralischen Gewissheiten<br />
auf den Prüfstand stellt. In der nahen Zukunft hat sich<br />
die Menschheit mehr und mehr in die Virtualität der Netzwelt<br />
zurückgezogen, die mit allen Sinnen erlebbar ist. Der<br />
Programmierer Sims hat in der Netzwelt einen virtuellen<br />
Club geschaffen, in dem Kunden auf Kinder treffen, um mit<br />
ihnen ihre dunkelsten Fantasien auszuleben. Die Kinder in<br />
Sims Refugium sind aber, ebenso wie die Kunden, lediglich<br />
Avatare von Erwachsenen. Die junge Ermittlerin Morris ist<br />
mit der Frage konfrontiert, wie man mit Straftaten in der<br />
MORDEN<br />
IN DER<br />
NETZWELT<br />
Netzwelt umgeht, da sie ja nur eine Simulation und ein Rollenspiel<br />
im Einverständnis aller Beteiligten sind. Dürfen wir<br />
dunkle Neigungen in einer virtuellen Welt ausleben – oder<br />
sollten wir sie gerade dort ausleben können? Das Schauspiel<br />
Frankfurt ist an die Journalistin Lisa Ströhlein herangetreten<br />
mit der Frage, inwiefern Aspekte von Haleys »Die<br />
Netzwelt« bereits in unserer Gegenwart diskutiert und erforscht<br />
werden. Hat unser Erscheinungsbild und unser Verhalten<br />
in der virtuellen Welt Einfluss auf unsere Persönlichkeit<br />
und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen?<br />
Lisa Ströhlein ist studierte Biologin und schreibt u.a. für<br />
Internetfachmagazine.<br />
Ist Super Mario ein Mörder?<br />
Der populäre Protagonist der<br />
Nintendo-Spielreihe Super Mario<br />
Bros. tötet in seiner bunten Comicwelt<br />
tausende von Gegnern, um seine<br />
begehrte Prinzessin zu retten. Mithilfe<br />
verschiedener Boni springt er seinen<br />
Gegnern auf die Köpfe oder beschießt<br />
sie mit Feuerbällen. Doch wer würde<br />
dem Spieler, der Mario steuert, tatsächlich<br />
mörderische Absichten unterstellen?<br />
Immerhin handelt es sich bei<br />
seinen Opfern nicht um Lebewesen<br />
aus Fleisch und Blut, sondern bloß um<br />
in Form gepresste Bildpunkte.<br />
Weniger harmlos kommen die sogenannten<br />
Shooter Games daher: In den<br />
sehr realistisch anmutenden Kriegsszenarien<br />
kommt es darauf an, mit schweren<br />
Geschützen möglichst viele Gegner<br />
zu erschießen. Seit Anfang der Nullerjahre<br />
sind Shooter wie Counter Strike<br />
oder Grand Theft Auto immer wieder<br />
Gegenstand kontroverser Diskussionen<br />
über die Frage, ob die sogenannten<br />
»Killerspiele« Aggressionen und Gewaltbereitschaft<br />
fördern. Spätestens<br />
seit dem Amoklauf von Winnenden, bei<br />
dem ein 17-jähriger Schüler mit der Pistole<br />
seines Vaters 15 Menschen und<br />
letztendlich sich selbst erschoss, sprechen<br />
sich viele Eltern, Lehrer und Politiker<br />
für ein Verbot der Shooter aus. In<br />
ihrem Stück »Die Netzwelt« macht Jennifer<br />
Haley diese Thematik zu einer ihrer<br />
Kernfragen: Bieten virtuelle Realitäten<br />
einen rechtsfreien Raum, in dem Menschen<br />
kriminellen Neigungen nachgehen<br />
dürfen oder fördern virtuelle Gewalthandlungen<br />
gar kriminelles Verhalten<br />
in der wirklichen Welt?<br />
Computerspiele begeistern weltweit<br />
Millionen Menschen und sind auch<br />
hierzulande ein fester Bestandteil der<br />
Unterhaltungskultur geworden. So<br />
boomte das Browserspiel Second Life<br />
im Jahr 2003 mit 36 Millionen Nutzern,<br />
die ein zweites Leben in einer digitalen<br />
Parallelwelt begannen. In Second Life<br />
konnte der Spieler arbeiten, ausgehen,<br />
Beziehungen zu anderen Spielern aufbauen<br />
und alles umsetzen, was ihm in<br />
seiner wirklichen Welt verwehrt blieb.<br />
2004 erschien World of Warcraft<br />
[WoW], das mit 5,6 Millionen festen<br />
Abonnenten den Guiness-Weltrekord<br />
als beliebtestes Mehrspieler-Rollenspiel<br />
hält. In der märchenhaften Fantasiewelt<br />
ziehen Spieler als fahrende<br />
Helden umher und erledigen Aufgaben<br />
für verschiedene Auftraggeber. Bei erfolgreicher<br />
Ausführung erhält der Spieler<br />
Gold und Erfahrungspunkte, mit denen<br />
er den Spielcharakter optimieren<br />
kann. Die Aufträge können im Alleingang<br />
oder in Teams absolviert werden.<br />
AVATARE: KÖRPERLICHE<br />
VERSCHMELZUNG MIT<br />
DER VIRTUELLEN WELT<br />
Um sich in der virtuellen Welt bewegen<br />
zu können, benötigen Spieler einen virtuellen<br />
Körper – den Avatar. In den<br />
meisten Computerspielen leiht der<br />
Hauptprotagonist dem Spieler seinen<br />
Körper. Second Life oder WoW bieten<br />
die Möglichkeit, sich einen persönlichen<br />
Avatar zu erstellen. Diese personalisierten<br />
Avatare haben Psychologen<br />
und Neurowissenschaftler in den letzten<br />
Jahren als Forschungsgegenstand<br />
entdeckt. Mithilfe spezieller VR-Brillen<br />
schicken sie Probanden in virtuelle<br />
Welten und beobachten, wie sie sich<br />
dort verhalten und was dabei im Gehirn<br />
passiert. Bisherige Erkenntnisse zeigen:<br />
Avatare verraten nicht nur viel über<br />
die Person, die sie steuert; sie üben<br />
auch Einfluss auf sie aus.<br />
Forscher der Universität Barcelona<br />
ließen Probanden eine Tischplatte mit<br />
einem speziellen Stoff streicheln. Dabei<br />
sahen die Testpersonen zwei virtuelle<br />
Arme vor sich, die synchrone<br />
034<br />
thementage_2016 035
Essay<br />
Lisa Ströhlein<br />
EIN<br />
BESSERES<br />
ICH<br />
VOM SPIEL<br />
Z UR<br />
WIRKLICHKEIT<br />
Bewegungen ausführten. Ohne Vorwarnung<br />
ließen die Forscher eine Kreissäge<br />
auf die virtuellen Arme der Probanden<br />
fallen. Diese zogen reflexartig<br />
die Arme zurück, obwohl sie natürlich<br />
wussten, dass für ihren wirklichen Körper<br />
keine Verletzungsgefahr bestand.<br />
Der Effekt trat sogar dann noch auf,<br />
wenn die Probanden selbst nicht über<br />
den Stoff strichen, sondern die Hände<br />
still auf der Platte ruhen ließen. Die<br />
Wahrnehmung des virtuellen Körpers<br />
in Kombination mit der gefühlten Berührung<br />
erzeugt eine sogenannte<br />
Ganzkörper-Illusion. Bei diesem Gefühl,<br />
sich nicht im eigenen Körper zu<br />
befinden, wird eine Struktur des Gehirns<br />
aktiv, die Neurowissenschaftler<br />
als temporoparietale Übergangsregion<br />
bezeichnen. Diese Region spielt auch<br />
bei außerkörperlichen Erfahrungen eine<br />
Rolle, bei denen Betroffene die Illusion<br />
haben, als eine Art Geist über ihrem<br />
Körper zu schweben. Eine niederländische<br />
Studie zeigt, dass diese Illusion<br />
auch durch das Verknüpfen von<br />
visuellen und motorischen Reizen entstehen<br />
kann: Das Gehirn des Spielers<br />
will den Avatar steuern und führt dazu<br />
Bewegungen mit der Tastatur, der<br />
Maus oder dem Controller aus. Gleichzeitig<br />
führt der Avatar genau die geplanten<br />
Bewegungen aus. So verschmilzt<br />
das Gehirn den Avatar mit dem<br />
Körper des Spielers. Versuche im<br />
Hirnscanner zeigen eine sehr hohe Aktivität<br />
in einer Hirnregion namens Gyrus<br />
angularis, wenn sich die Probanden<br />
gedanklich mit ihrem Avatar beschäftigen.<br />
Dieselbe Region wird auch bei außerkörperlichen<br />
Erfahrungen aktiv.<br />
EIN HERZ<br />
UND<br />
EINE SEELE<br />
Nicht nur körperlich formen Spieler und<br />
Avatar eine Einheit. Auch emotional<br />
empfinden erfahrene Spieler eine starke<br />
Bindung mit ihren virtuellen Charakteren.<br />
In der niederländischen Studie<br />
ließen Psychologen ihre Probanden<br />
ausgewählte Charaktereigenschaften<br />
entweder sich selbst, ihrem WoW-Avatar<br />
oder ihrem besten Freund zuordnen.<br />
Dabei maßen sie unter dem Hirnscanner<br />
die Aktivität des Gyrus cinguli, einer<br />
Hirnregion, die an der Entstehung von<br />
Emotionen mitwirkt. Die höchste Aktivität<br />
maßen die Forscher, wenn der Spieler<br />
an seine eigenen Persönlichkeitszüge<br />
dachte. Beschäftigte sich der Spieler<br />
mit seinem Avatar, war die Aktivität<br />
genauso hoch wie bei Charaktermerkmalen<br />
des besten Freundes.<br />
In der Parallelwelt Second Life können<br />
Spieler ihren menschlichen Avatar sehr<br />
detailliert selbst gestalten. Intuitiv entscheiden<br />
sich die meisten für eine idealisierte<br />
Variante ihrer selbst. Introvertierte<br />
Spieler legen dabei mehr Wert<br />
auf körperliche Attraktivität, während<br />
extrovertierte Spieler eher mit exzentrischen<br />
Identitäten experimentieren. Eine<br />
Erklärung für diese Entscheidungen<br />
bietet die Selbstwahrnehmungstheorie<br />
des Psychologen Daryl Bem. Dieser<br />
zufolge beobachten Menschen sich<br />
selbst und reflektieren aus ihren Wahrnehmungen<br />
auf die eigene Persönlichkeit.<br />
Fragt uns beispielsweise jemand,<br />
ob wir ein gerechter Mensch sind, rufen<br />
wir uns intuitiv Situationen ins Gedächtnis,<br />
die Auskunft über unseren<br />
Gerechtigkeitssinn geben. Dass viele<br />
Aspekte der Selbstwahrnehmungstheorie<br />
auch in der virtuellen Welt zutreffen,<br />
demonstrierten amerikanische<br />
Sozialwissenschaftler, indem sie Testpersonen<br />
in der virtuellen Welt den<br />
Spiegel vorhielten. Dazu gaben sie ihnen<br />
entweder einen attraktiven oder einen<br />
unansehnlichen Körper. Nachdem<br />
die Tester Gelegenheit hatten, ihre virtuelle<br />
Gestalt zu betrachten, kam ein<br />
weiterer Spielcharakter hinzu, der die<br />
Teilnehmer bat, etwas über sich selbst<br />
zu erzählen. Die Reaktionen der Testpersonen<br />
hingen dabei gänzlich von ihrer<br />
körperlichen Erscheinung ab. Testpersonen<br />
mit einem attraktiven Avatar<br />
traten sehr selbstbewusst auf und gaben<br />
mehr über sich preis, während<br />
hässliche Avatare den Spieler schüchterner<br />
werden ließen. Laut der Forscher<br />
sind dies die gleichen Verhaltensweisen,<br />
die wir Menschen auch im wahren<br />
Leben einer bestimmten körperlichen<br />
Erscheinung zuschreiben.<br />
ÜBER<br />
DIE GRENZEN<br />
DES SPIELS<br />
HINAUS<br />
Inwieweit der Avatar seinen Spieler<br />
auch in der realen Welt beeinflussen<br />
kann, untersucht Jeremy Bailenson von<br />
der Stanford University. Kämpfe mit<br />
mehreren Gegnern gleichzeitig oder<br />
das Klettern durch einen gefährlichen<br />
Hindernisparcours lösen Stressreaktionen<br />
im Körper des Spielers aus,<br />
als müsse er die Herausforderung<br />
selbst meistern. Diese Erlebnisse haben<br />
eine nachhaltige Wirkung, die den<br />
Spieler über die Grenzen des Spiels<br />
hinaus prägt, wie Bailenson in mehreren<br />
Experimenten demonstrierte. In einem<br />
Helikopter-Szenario ließ der Psychologe<br />
Testpersonen entweder in die<br />
Rolle des Superhelden oder die des<br />
unbeteiligten Passagiers schlüpfen.<br />
Dabei bekam der Superheld den Auftrag,<br />
ein an Diabetes erkranktes Kind<br />
vor einem Zuckerschock zu bewahren.<br />
Zurück in der realen Welt, hatten die<br />
Testpersonen ihre Heldenrolle verinnerlicht<br />
und zeigten sich sofort hilfsbereit,<br />
als die Forscher einen Behälter mit<br />
Stiften umstießen. Die teilnahmslosen<br />
Passagiere machten keine Anstalten zu<br />
helfen.<br />
Die Stanford-Studien zeigen, dass<br />
Avatare ihre Spieler nachhaltig beeinflussen.<br />
Doch wie weit reicht dieser Effekt?<br />
Kann das virtuelle Prügeln und<br />
Töten zu mehr Gewaltbereitschaft im<br />
alltäglichen Leben führen? Und könnte<br />
man Sims aus Haleys »Die Netzwelt«<br />
folglich beschuldigen, Misshandlung<br />
und sexuellen Missbrauch von Kindern<br />
zu fördern? Aus wissenschaftlicher<br />
Perspektive lässt sich das nicht eindeutig<br />
sagen. Viele Studien zu dieser<br />
Thematik kranken an methodischen<br />
Mängeln, beispielsweise in der Frage,<br />
ob sich das Töten eines virtuellen Gegners<br />
als aggressives Verhalten definieren<br />
lässt. Denn auch auf den Kontext<br />
des Tötens kommt es an. In WoW töten<br />
die Spieler als Helden, die Schwache<br />
vor »den Bösen« schützen. Selbst bei<br />
den kontroversen Shooter-Spielen<br />
herrscht bislang kein Konsens: zwar<br />
gibt es Untersuchungen, die zumindest<br />
eine kurzfristige Erhöhung des Aggressionspotenzials<br />
andeuten. Mit einer<br />
dreijährigen Beobachtungsstudie unter<br />
Jugendlichen, die regelmäßig Shooter<br />
spielen, konnte jedoch kein vergleichbarer<br />
Effekt bestätigt werden. Die Forscher<br />
betonten, dass Umweltfaktoren<br />
wie sozialökonomischer Status, traumatische<br />
Erlebnisse oder Vernachlässigung<br />
einen wesentlich größeren Einfluss<br />
auf die menschliche Psyche<br />
haben.<br />
Lisa Ströhlein<br />
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/<br />
amoklauf-von-winnenden-vater-von-tim-kmuss-schadensersatz-zahlen-a-1047255.<br />
html<br />
K. Kilteni, J. Normand, M.V. Sanchez-Vives,<br />
M. Slater: »Extending body space in immersive<br />
virtual reality: a very long arm illusion«,<br />
PlosOne, 19. Juli 2012<br />
S. Ganesh, H.T. van Schie, F.P. de Lange,<br />
E. Thompson, D.H.J. Wigboldus: »How the<br />
human brain goes virtual: distinct cortical<br />
regions of the person-processing network<br />
are involved in self-identification with virtual<br />
agents«, Oxford Journals, 13. September<br />
2011<br />
N. Yee, J.N. Bailenson, N. Ducheneaut: »The<br />
Proteus Effect: implications of transformed<br />
digital self-presentation on online and<br />
offline behavior«, Communication Research,<br />
22. Januar 2009<br />
R.S. Rosenberg, S.L. Baughman,<br />
J.N. Bailenson: »Virtual superheroes: using<br />
superpowers in virtual reality to encourage<br />
prosocial behaviour«, PlosOne, 30. Januar<br />
2013<br />
Y. Hasan, L. Bègue, M. Scharkow, B.J.<br />
Bushman: »The more you play, the more<br />
aggressive you become: a long-term<br />
experimental study of cumulative violent<br />
video game effects on hostile expectations<br />
and aggressive behavior«, Journal of<br />
Experimental Social Psychology, März 2013,<br />
49[2]:224-227<br />
C.J. Ferguson, C. San Miguel, A. Garza,<br />
J.M. Jerabeck: »A longitudinal test of<br />
video game violence influences on dating<br />
and aggression: a 3-year longitudinal study<br />
of adolescents«, Journal of Psychiatric<br />
Research, Februar 2012, 46[2]:141-6<br />
036<br />
thementage_2016 037
Essay<br />
Alexandre Lacroix<br />
REPORTAGE AUS DEM SILICON VALLEY<br />
UNTERNEHMEN<br />
UN<br />
STERBLICHKEIT<br />
Seit mehr als 40 Jahren ist das Silicon<br />
Valley das kreative Zentrum unserer<br />
Welt. Derzeit wird auf einen neuen, vorgeblich<br />
epochalen Sprung in der Evolution<br />
unserer Art hingearbeitet. Im<br />
»Posthumanismus« sollen Mensch und<br />
Maschine verschmelzen und so der<br />
älteste aller Menschheitsträume<br />
Wirklichkeit werden: ewiges Leben.<br />
Bei einem Ortsbesuch der Architekten<br />
unserer »singulären« Zukunft wird<br />
deutlich: Sie haben bereits einen<br />
anderen Blick auf die Welt. Ändert sich<br />
auch allmählich unser Referenzrahmen<br />
in Bezug auf die Einschätzung digitaler<br />
und gesellschaftlicher Veränderungen?<br />
In der Eröffnungsdiskussion<br />
»Digitale Welten – welchen Fortschritt<br />
wollen wir?« untersuchen die Diskutanten,<br />
wie die Digitalisierung unsere<br />
Wahrnehmung verändert und nach<br />
welchen Kriterien wir die technologischen<br />
Entwicklungen analysieren, einordnen<br />
und bewerten wollen.<br />
San Francisco hat sein eigenes<br />
Mikroklima: Auch an<br />
diesem Morgen hüllt ein<br />
frischer, grauer Nebel die<br />
Stadt ein. Bei meinem<br />
Spaziergang am Jachthafen<br />
nahe der Golden Gate<br />
Bridge, von der mich nur<br />
ein Strand trennt, auf dem<br />
die pet sitters die Hunde<br />
ihrer reichen Arbeitgeber<br />
ausführen, bemerke ich ein<br />
Holzschiff, das ein wenig<br />
wie eine Freibeuterkorvette aussieht.<br />
»SINGULARITY« lautet sein Name.<br />
Seltsame Koinzidenz. Wenn es stimmt,<br />
dass Kalifornien eine Welt für sich mit<br />
ihrem eigenen zivilisatorischen Mikroklima<br />
ist, so beruht ihr charakteristischster<br />
Zug in dem erstaunlichen<br />
Hang ihrer Bewohner, Träume auf die<br />
Erde herabzuholen und die Ideen der<br />
Avantgarde in die Tat umzusetzen. Und<br />
eben für eine Recherche über die letzte<br />
gerade hoch im Kurs stehende Idee,<br />
die Singularität, habe ich die Reise<br />
hierher unternommen.<br />
Den Begriff »technologische Singularität«<br />
hat der Mathematiker und Science-Fiction-Autor<br />
Vernor Vinge 1993<br />
auf einem von der NASA organisierten<br />
Symposium eingeführt. In Analogie zur<br />
allgemeinen Relativitätstheorie, in der<br />
die Schwarzen Löcher als Krümmungssingularitäten<br />
bezeichnet werden,<br />
das heißt als Objekte von unendlicher<br />
Dichte, in deren Nähe die traditionellen<br />
physikalischen Gesetze aufgehoben<br />
werden, nimmt Vinge an,<br />
dass es bald auch zu einer »technologischen<br />
Singularität« kommen wird.<br />
Von da an werden alle Gesetze der<br />
Menschheitsgeschichte anders sein.<br />
Glaubt man Vinge, werden die Menschen<br />
bis 2030 »Entitäten mit höherer<br />
Intelligenz als der menschlichen« erschaffen.<br />
Dies kann auf verschiedene<br />
Weise erreicht werden: Entweder<br />
werden die Computer klüger als die<br />
Menschen, oder das Computernetzwerk<br />
»erwacht«, oder aber der Mensch<br />
schließt seinen Körper an Computer<br />
an, oder er modifiziert die Biologie<br />
seines Gehirns, um seine Fähigkeiten<br />
zu steigern. In all diesen Fällen, warnt<br />
Vinge, wird diese superintelligente<br />
Entität den Lauf der Geschichte ändern.<br />
Es wird sich um die letzte vom<br />
Menschen erfundene Maschine handeln,<br />
die alle künftigen Maschinen erschaffen<br />
und die Entscheidungen zur<br />
globalen Regulierung [Geld- und Warenflüsse,<br />
Transport usw.] übernehmen<br />
wird. Mit der Singularität werden<br />
wir mit einem Mal ins posthumane<br />
Zeitalter wechseln.<br />
Der Singularitätsbegriff ist 2005 durch<br />
Ray Kurzweils Bestseller »The Singularity<br />
is Near« [dt. »Menschheit 2.0«,<br />
Lola Books, 2014] wirklich populär geworden.<br />
Der Informatiker und Zukunftsforscher<br />
Kurzweil arbeitet seit<br />
2012 als Leiter der technischen Entwicklung<br />
bei Google. Auch Kurzweil<br />
ist überzeugt, dass wir an der Schwelle<br />
zum Stadium des Sigularitätszeitalters<br />
stehen, dessen Beginn er etwa für<br />
2045 prognostiziert. Danach werden<br />
wir in die »Epoche der Fusion von<br />
Technologie und menschlicher Intelligenz«<br />
eintreten. In diesem Zeitalter<br />
wird sich der Mensch in ein halb biologisches,<br />
halb informatisches, mit dem<br />
Internet verbundenes Wesen verwandeln;<br />
wir werden die Möglichkeit haben,<br />
uns unsterblich zu machen, indem<br />
wir unser Bewusstsein auf einen<br />
Computer überspielen.<br />
Dank dieser provokanten Thesen ist<br />
die technologische Singularität in<br />
Mode gekommen. Sie steht nicht nur<br />
im Mittelpunkt zahlreicher Science-<br />
Fiction-Filme – wie etwa in »Her« von<br />
Spike Jonze oder »Lucy« von Luc<br />
Besson –, sondern bildet eine Art regulative<br />
Idee und Handlungshorizont<br />
für die gesamte Kultur des Silicon Valley.<br />
Das Epizentrum dieses Phänomens<br />
ist die von Ray Kurzweil gegründete<br />
und von dem Internet-Entrepreneur<br />
Peter Thiel teilfinanzierte Singularity<br />
University, in der renommierte<br />
Hochschulforscher und Unternehmer<br />
aufeinandertreffen. Sämtliche Gesprächspartner,<br />
denen ich im Laufe<br />
meines Aufenthalts in Kalifornien begegnen<br />
werde, stehen in Beziehung<br />
zur Singularity University. Den Auftakt<br />
bildet ein Abendessen mit verschiedenen<br />
Leitern von Forschungsprogrammen<br />
dieser einflussreichen Institution.<br />
038<br />
thementage_2016 039
Essay<br />
Alexandre Lacroix<br />
DER VERNETZTE KÖRPER<br />
In seinem Vortrag bei der NASA legte Vernor Vinge nahe,<br />
dass die Menschen ihre Körper bald mit Computern vernetzen<br />
würden, indem sie zum Beispiel ein Kabel direkt ans Gehirn<br />
anschließen oder auch an den Sehnerv. Neben rein<br />
technischen sind dabei nicht zuletzt auch psychologische<br />
Barrieren zu überwinden. »Würden Sie denn akzeptieren,<br />
dass man Ihnen beispielsweise einen USB-Anschluss mitten<br />
in den Nacken implantiert?« Diese Frage stelle ich beim<br />
Abendessen meinen Tischgenossen.<br />
»Natürlich, ohne zu zögern!«, antwortet Christine Peterson.<br />
Spezialistin für Nanotechnologie. Der neben ihr sitzende<br />
Luke Muehlhauser, Experte für künstliche Intelligenz, stimmt<br />
zu: »Das ist wie die Geschichte mit den Retortenbabys. Nach<br />
der ersten Befruchtung im Reagenzglas haben sich die Journalisten<br />
auf das Neugeborene gestürzt, um sich zu vergewissern,<br />
ob es auch ganz normal ist. Seither ist diese Praxis zu<br />
etwas Alltäglichem geworden …«<br />
Auch wenn der an unserem Tisch ausgeschenkte kalifornische<br />
Pinot Noir exzellent ist, muss ich zugeben, dass ich von<br />
der Aussicht, einen elektronischen Chip unter die Haut verpflanzt<br />
oder E-Mails auf meiner Netzhaut angezeigt zu bekommen,<br />
nicht sonderlich berauscht bin. »Aber alles hängt<br />
davon ab, was Sie unter der Vernetzung von Mensch und<br />
Maschine verstehen«, schaltet sich ein weiterer Wissenschaftler<br />
ein. Daniel Kraft, Absolvent der Medizinischen Fakultät<br />
von Stanford, Ieitet die medizinischen Programme der<br />
Singularity University und hat mit FutureMed eine weitere<br />
Organisation geschaffen, die im Bereich der biomedizinischen<br />
Zukunftsforschung tätig ist. »ln Wirklichkeit existieren<br />
bereits zahlreiche Schnittstellen. Manche Herzschrittmacher<br />
haben eine IP-Adresse und sind über Apps steuerbar.« Bereits<br />
jetzt gebe es Headsets, die gegen geistige Ermüdung<br />
bei der Arbeit schützen, indem sie das Gehirn durch Stromschläge<br />
stimulieren – leider wurden sie bislang noch nicht<br />
zugelassen. Google Glass, das Zugang zur erweiterten Realität<br />
gewährt – wenn Sie jemanden anschauen, sehen Sie<br />
alle online verfügbaren Daten über diese Person in ihrem<br />
Sichtfeld vorüberziehen –, werde, obwohl noch nicht einmal<br />
auf dem Markt, schon bald durch Kontaktlinsen ersetzt werden.<br />
Schließlich erwähnt Daniel noch die Optogenetik. Diese<br />
neue Technologie besteht darin, bestimmte Nervenzellen<br />
lichtempfindlich zu machen und sie dann über ins Gehirn implantierte<br />
Lichtwellenleiter mit Lichtstrahlen zu stimulieren.<br />
Bei Tests an Mäusen konnte dadurch positiv auf die Stimmung<br />
des Tieres eingewirkt werden, es wurde empathischer<br />
oder aktiver. Ein Forschungsteam in Stanford plant, die Optogenetik<br />
bei der Behandlung von Depressionen beim Menschen<br />
anzuwenden.<br />
An diesem Punkt wird mir klar, dass meine alteuropäischen<br />
Begriffsoppositionen, wie etwa Natur – Kultur, organisch –<br />
künstlich, beseelt – unbeseelt, für meine Gesprächspartner<br />
jede Verbindlichkeit und Plausibilität eingebüßt haben. ln ihren<br />
Augen ist der menschliche Körper bereits eine Maschine.<br />
Zwischen dem Natürlichen und dem Artifiziellen gibt es also<br />
keinen Bruch, sondern eine Kontinuität. Was läge näher, als<br />
die zugleich fragile und unvollkommene Mechanik des<br />
menschlichen Leibes immer weiter zu optimieren?<br />
Anfang Juni letzten Jahres kündigte Apple an, eine paramedizinische<br />
Plattform namens HealthKit auf den Markt zu bringen.<br />
Zwei Monate später ließ Google die Einführung von<br />
Google Fit verlautbaren. Diese Ankündigungen sind in Europa<br />
kaum kommentiert worden, wahrscheinlich, weil ihre Bedeutung<br />
nicht begriffen wurde. In einem Wort: Die Internetriesen<br />
haben beschlossen, den Gesundheitsmarkt zu erobern.<br />
Ein neuer Wirtschaftszweig soll entstehen, die »digitale<br />
Medizin«, die Amerikaner sprechen auch von »mobile<br />
health«.<br />
»Was wird denn passieren mit diesen von Technologieriesen<br />
eingeführten Plattformen?«, frage ich Daniel Kraft. »Das ist<br />
die Zukunft der Medizin … Heute sind wir dazu in der Lage,<br />
viele Informationen über einen Patienten zu sammeln: Gewicht,<br />
Blutdruck, Zusammensetzung des Blutes; wir können<br />
seinen genetischen Code analysieren. Ein Ganzkörperscan<br />
liefert 2400 Schnittbilder vom Körper des Patienten, was eine<br />
Datenmenge von 20 Gigaoktett bedeutet. Natürlich ist<br />
kein Arzt mehr imstande, alle diese Daten zu analysieren. Das<br />
werden also Anwendungsprogramme machen müssen. Indem<br />
sie die Entwicklung der variablen Daten überwachen,<br />
werden diese Apps eine maßgebliche Rolle bei der Krankheitsvorsorge<br />
und Diagnose spielen.«<br />
»Und wenn die Leute keine Lust haben auf diese Check-ups,<br />
aus Angst, dass man ihnen schlechte Neuigkeiten bringt?«<br />
»Dann werden sie aus anderen Gründen kommen. Denken<br />
Sie an das Beispiel Aspirin: Wir wissen, dass Aspirin lediglich<br />
bei einem von drei weißen Amerikanern wirkt. Mit einer<br />
detaillierteren Kenntnis des Stoffwechsels jedes Patienten<br />
werden wir personalisierte Medikamente verschreiben. Möglicherweise<br />
genügen für Sie 360 mg Aspirin, während ich<br />
470 mg benötige. In naher Zukunft wird jeder seine biomedizinischen<br />
Daten stets aktualisiert auf seinem Handy bereitgestellt<br />
haben.«<br />
Ich frage Daniel, wie es möglich sein soll, in industrieller Größenordnung<br />
personalisierte Medikamente herzustellen. Seine<br />
Antwort verblüfft mich: »Mithilfe von 3-D-Druckern! Sie<br />
sind bereits dazu in der Lage, zahlreiche aktive Moleküle zu<br />
drucken. Eines Tages wird man Ihnen Ihre Medikamente ausdrucken.<br />
Das Verfahren nennt man Bioprinting. Bald werden<br />
übrigens auch alle zahnmedizinischen Prothesen von 3-D-<br />
Druckern hergestellt.«<br />
Nachdenklich versuche ich mir eine nahe Zukunft vorzustellen,<br />
in der Apple und Google die Weltmarktführer im Gesundheitsbereich<br />
und die Ärzte immens abhängig von ihren<br />
Anwendungsprogrammen wären. Aber wie, wenn überhaupt,<br />
hängen diese Innovationen und Pläne mit der Singularitätsthese<br />
und den Entwicklungssprüngen im Bereich der künstlichen<br />
Intelligenz zusammen?<br />
Um dieser Frage nachzugehen, begebe ich mich am folgenden<br />
Morgen nach Berkeley, dem Sitz des Machine lntelligence<br />
Research Institute [MIRI]. Dort bin ich mit einem Mann<br />
verabredet, dessen Leidenschaft der künstlichen Intelligenz<br />
gilt, Eliezer Yudkowsky. Yudkowsky mahnt in seinem Aufsatz<br />
»Artificial Intelligence as a Positive and Negative Factor in<br />
Global Risk« mit verstörender Dringlichkeit, wir sollten uns<br />
darum kümmern, dass die von uns fabrizierten künstlichen<br />
Intelligenzen »freundlich« und »wohlwollend« seien. Er argumentiert<br />
folgendermaßen: Die künstlichen Intelligenzen werden<br />
eingesetzt, um zahlreiche Aspekte der menschlichen<br />
Gesellschaftsordnung zu optimieren. So wäre eine Gesellschaft<br />
ohne alte und behinderte Menschen von einem makroökonomischen<br />
Standpunkt her viel leistungsfähiger beziehungsweise<br />
optimiert. Wenn wir verhindern wollen, dass es<br />
in der posthumanen Ära zu drastischen Selektionen kommt,<br />
müssen unsere Computer eine ethische Dimension in ihre<br />
Entscheidungsprozesse integrieren.<br />
ETHISCHE MASCHINEN?<br />
Doch wie soll das geschehen? »Sollte man ihnen die ›Allgemeine<br />
Erklärung der Menschenrechte‹ oder das ›Strafgesetzbuch‹<br />
implementieren?«, frage ich Eliezer, der in seinem<br />
Büro am MIRI gerade zwei große Whiteboards mit Algorithmen<br />
füllt. »Aber nein! Ich arbeite auf einer Metaebene, ich<br />
interessiere mich nur für die indirekte Normativität. Nehmen<br />
wir ein Beispiel: Wäre ein Bewohner Athens im 4. Jahrhundert<br />
v. Chr. imstande gewesen, Gesetze zu formulieren, die<br />
uns heute gemäß erscheinen würden? Nein, denn er hätte<br />
weder die Sklaverei noch die Ungleichheit von Mann und<br />
Frau verurteilt. Genauso wenig können wir eine Charta von<br />
Normen formulieren, die in 2000 Jahren noch adäquat erscheinen<br />
wird. Doch die Lösung ist einfach: Sie müssen<br />
künstliche Intelligenzen dazu anweisen, in jeder Epoche gemäß<br />
dem zu handeln, was die Leute für gut halten.«<br />
Doch kann man wirklich auf direkte Normativität verzichten?<br />
Was würde sich in einem totalitären Staat ereignen, wenn<br />
sich zu einem genozidären Vorhaben ein Konsens gebildet<br />
hätte? Als ich diesen Einwand vorbringe, schaut mich Eliezer<br />
bekümmert an, als sei ich eine Art geistig Zurückgebliebener.<br />
»Hören Sie, in den kommenden Jahren wird sich vieles ändern,<br />
weitaus mehr, als Sie sich anscheinend vorstellen können.<br />
Schauen Sie hier.« Er zeigt auf seinen Kopf. »Was sehen<br />
Sie? Einen Computer. Er ist aus Zellen gemacht, also aus<br />
Molekülen. Die lebende Materie ist aus 20 Aminosäuren zusammengesetzt.<br />
Es ist eine fragile Materie, und aus etlichen<br />
Perspektiven ist das menschliche Dasein ein Albtraum. Zunächst,<br />
weil wir sterblich sind. Dann, weil wir Raubtierinstinkte<br />
haben. Jetzt stellen Sie sich vor, was passieren wird, wenn<br />
wir unsere Bewusstseine auf Festplatten überspielen können.<br />
Wir werden potenziell unsterblich und müssen bestimmte<br />
idiotische Szenen nicht mehr erleben, zum Beispiel<br />
die des betrunkenen Ehemanns, der seine Frau schlägt.<br />
Deshalb müssen wir eine Welt entwerfen, in der unsere Bewusstseine<br />
nicht mehr Aminosäuren als Träger haben, sondern<br />
Silizium.«<br />
»Es wäre trotzdem schade, gar keinen Körper mehr zu haben,<br />
nicht mehr inkarniert zu sein«, sage ich. »Warum?«, fragt Eliezer.<br />
»Mir kommt es so vor, als verlöre man so einiges, was das<br />
Leben interessant macht. Die sexuelle Lust zum Beispiel.«<br />
Bei diesen Worten reißt Eliezer die Augen weit auf. »Aber die<br />
Computer werden doch viel besser Liebe machen als wir!<br />
Alle Empfindungen laufen zum Gehirn, und wir können es so<br />
einrichten, dass digitalisierte menschliche Bewusstseine sexuelle<br />
Gefühle empfinden, die viel intensiver sind, viel länger<br />
andauern als unsere armseligen Orgasmen. Denken Sie<br />
doch nur, zwei auf Computer geladene Geiste werden beschließen<br />
können, ihre Quellcodes zu teilen – was damit<br />
möglich wird, ist Sex mit Telepathie, eine Verschmelzung, wie<br />
Sie sie noch nie erlebt haben!«<br />
Für einen Moment, in dem ich nicht weiß, ob ich lächeln oder<br />
beunruhigt sein soll, verschlägt es mir die Sprache. »Doch es<br />
ist nicht die Zukunft der Menschheit, die mich beschäftigt«,<br />
fährt Eliezer fort. »Eher die der Galaxien. Denken Sie nicht<br />
nur an die Sonne, sondern an all die anderen Sterne mit ihren<br />
um sie kreisenden Exoplaneten … Das ist kein Spiel auf einem<br />
Rummelplatz – wir werden das Ziel nie erreichen, indem<br />
wir fleischgefüllte Konservenbüchsen in die Luft werfen.« Ich<br />
brauche eine Weile, bis ich verstehe, dass sich Eliezers Metapher<br />
auf Raketen und Raumschiffe bezieht.<br />
»Anders gesagt, der biologische Mensch wird niemals zur<br />
Eroberung anderer Planeten aufbrechen können. Wenn wir<br />
wollen, dass eine intergalaktische Zivilisation das Licht der<br />
Welt erblickt – wovon ich seit meiner Kindheit träume –,<br />
dann muss die Erkundung und Kolonisierung des Weltraums<br />
zwangsläufig von intelligenten Maschinen, von unsterblichen<br />
Geistern geführt werden. Wir stehen am Anfang dieser<br />
Revolution.«<br />
Ich frage ihn, ob er schätzt, lange genug zu leben, damit diese<br />
Technologien ausgearbeitet wären und sein Geist auf einen<br />
Computer überspielt werden könnte. »Ich habe einen<br />
Vertrag bei Cryonics Institute unterschrieben«, sagt er und<br />
zeigt mir eine Medaille aus graviertem Metall, die er an einer<br />
dicken Kette um den Hals trägt. »Das kostet mich jährlich<br />
300 Dollar. Nehmen wir an, ich sterbe heute bei einem Autounfall<br />
– die würden meinen Körper dann in flüssigem Stickstoff<br />
lagern. Werde ich später wieder zum Leben erweckt?<br />
Ich weiß es nicht, aber derzeit ist das die beste Option.«<br />
Mich drängt es, auf die Erde zurückzukehren, wieder festen<br />
argumentativen Boden unter die Füße zu bekommen. Doch<br />
hier, in Nordkalifornien, dem Land der klaffenden Abgründe<br />
und dynamischen Tektonik scheint das keine sehr ausgeprägte<br />
Sehnsucht zu sein. Viel lieber berauschen sich die<br />
Menschen hier an der Sehnsucht nach einem großen innovativen<br />
Beben, nach Prozessen, die alles für immer verändern<br />
sollen. Vermutlich ist es kein geografischer Zufall, dass die<br />
Hoffnung auf »disruptive Ereignisse« zu den häufigst verwendeten<br />
Phrasen der hiesigen Tech-Community gehört. […]<br />
Alexandre Lacroix<br />
Aus dem Französischen von Till Bardoux<br />
040<br />
thementage_2016 041
Essay<br />
Friedemann Karig<br />
HILFE ODER<br />
HETZE? DAS<br />
NETZ<br />
UND DIE<br />
FLÜCHTLINGE<br />
Die digitale Revolution hat das Verständnis<br />
und die Strukturen von Öffentlichkeit<br />
grundlegend verändert. Im<br />
World Wide Web kulminieren Meinungen<br />
und entstehen Dynamiken, die gerade<br />
in Hinblick auf die Flüchtlingskrise<br />
nicht nur die Gespaltenheit einer Gesellschaft<br />
offenbaren. Sie entfalten<br />
auch eine Macht, der sich politische<br />
Entscheidungsträger offenbar nicht zu<br />
entziehen vermögen. Doch wie funktionieren<br />
die Vernetzungsstrukturen der<br />
neuen Öffentlichkeit, wie formt sich der<br />
Diskurs und welchen Einfluss hat er<br />
auf das reale Leben? Das Schauspiel<br />
Frankfurt hat Friedemann Karig gebeten,<br />
dies anhand der aktuellen Flüchtlingsdebatte<br />
zu untersuchen. Karig hat<br />
Medienwissenschaften, Soziologie und<br />
Politik studiert und arbeitet als Autor,<br />
Moderator und Journalist. Während der<br />
<strong>Thementage</strong> wird er das Panel »Solidarität.<br />
Die neue Öffentlichkeit oder Die<br />
Macht der Vielen« moderieren.<br />
Angela Merkel kommt dem Mann nahe. So nah wie selten einem<br />
Fremden. Beide lächeln, lachen fast. Dann drückt er auf<br />
den Auslöser. Der Flüchtling aus Syrien hat sein Selfie mit der<br />
Kanzlerin. An diesem 10. September 2015 wird sie dutzendfach<br />
fotografiert, mit Handykameras, im Stehen. So wie jeden<br />
Tag als Kanzlerin. Doch diese spontanen Selbstporträts in<br />
der Erstaufnahmeeinrichtung Berlin-Spandau – es sollen besondere<br />
Bilder werden. Sie gehen um die Welt. Als Beweis<br />
für die Offenheit Deutschlands und seiner Regierungschefin.<br />
Und das nicht nur sekundär in den Massenmedien. Sondern<br />
zuallererst auf Facebook und Twitter, besonders im arabischen<br />
Raum. »Angela Merkel« wird einer der meistgesuchten<br />
Begriffe in Syrien. Die Kanzlerin wird zum Online-Star. Doch<br />
was löst das hier in unserem gelobten Land aus, für das die<br />
Porträtierten ihre Leben riskiert haben? Wie formt sich in der<br />
deutschen digitalen Republik der Diskurs um die Zuwanderung?<br />
Wer hat Angst vor diesen Bildern?<br />
DAS SMARTPHONE ALS DIRIGENT<br />
UND MUSEUM DER FLUCHT<br />
Ron Schickler ist kein Träumer. Der Münchner Radiojournalist<br />
weiß: »Man kann online nur eine kleine Hilfe für die Flüchtlinge<br />
leisten. Aber eine wichtige«. So erzählt er es im September<br />
2015 auf dem Zündfunk-Netzkongress in München.<br />
Der Stadt, die im Sommer 2015 zum Schauplatz einer ungeahnten<br />
Willkommenskultur steht. Der Hashtag der Helfer:<br />
#refugeeswelcome. Unter diesem Slogan entsteht am<br />
2. September 2015 eine Dynamik, wie man sie in der deutschen<br />
Netzöffentlichkeit selten erlebt hat. Der Hashtag verbreitet<br />
sich vor allem von Deutschland aus – und so genannten<br />
lokalen »Hot Spots« der Flüchtlingsproblematik wie dem<br />
französischen Calais. Wo wirklich Not herrscht, blüht die<br />
Solidarität. Bis am Nachmittag des 3. Septembers ganz<br />
Europa #refugeeeswelcome nutzt. Hier sammeln sich akute<br />
Hilfegesuche [»Wir brauchen dringend Wasser am Hauptbahnhof!«],<br />
Augenzeugenberichte zur verzweifelten Situation<br />
in Griechenland oder Ungarn, Appelle an Bevölkerung und<br />
Politik. Und natürlich Aufklärung zu populistischen Fragen:<br />
Nimmt Deutschland wirklich am meisten Flüchtlinge auf?<br />
Sind das alles frustrierte junge Männer? Und warum haben<br />
die alle ein Smartphone?<br />
Diese letzte Frage ist leicht beantwortet: Wenn Schlepper<br />
auf Facebook ihre Dienste anbieten, Google Maps zur<br />
lebenswichtigen Orientierungshilfe wird, der einzige Kontakt<br />
zu den Zurückgebliebenen eine Whatsapp-Gruppe ist –<br />
dann werden die Smartphones der Flüchtenden »Dirigent<br />
und Museum der Flucht« zugleich, wie es der Journalist Sammy<br />
Khamis formuliert. Gleichzeitig scheint das Digitale in einer<br />
bemerkenswerten Dialektik nicht nur ihre Flucht, sondern<br />
auch ihr Ankommen zu entscheiden. Denn im Netz verbünden<br />
sich ihre Freunde wie Ron Schickler. Und ihre Feinde.<br />
042 thementage_2016 043
Essay<br />
Friedemann Karig<br />
WAS BEGÜNSTIGT DAS NETZ:<br />
#REFUGEESWELCOME ODER PEGIDA?<br />
Von Beginn an primär über Facebook organisiert, nutzen<br />
fremdenfeindliche Bewegungen wie Pegida [Patriotische<br />
Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes] die<br />
Ungunst der Stunde. Am 10. September 2015, auf dem<br />
Höhepunkt von #refugeeswelcome, postet Pegida auf<br />
ihrer Facebook-Seite »10 Forderungen an die deutsche<br />
Asylpolitik«, die bis heute tausendfach geteilt und kommentiert<br />
und gelikt werden. Ihre Agenda: ein sofortiger<br />
Aufnahmestopp, ein Aussetzen des Schengen-Abkommens,<br />
Massen-Abschiebungen, Asyl nur für Christen. Die<br />
neuen Rechten nennen die Regierung »Hochverräter« und<br />
erklären deren Motivation, Flüchtlingen zu helfen, wie<br />
folgt: »Die grünen Sozialisten benutzen die Asylanten, um<br />
hier ein rot-grünes Job-Wunder für die Bachelor-Absolventen<br />
der Geschwätzwissenschaften zu kreieren.« Das<br />
ist freilich nur ein Tentakel eines monströsen Aufstandes<br />
der sogenannten »besorgten Bürger«, die die Mechanismen<br />
der sozialen Netzwerke für fremdenfeindliche Hetze<br />
und Propaganda nutzen. Xenophobe Verschwörungstheoretiker,<br />
die man am besten ignoriert? Einen guten Monat<br />
später beschließt der Bundestag unter dem Eindruck<br />
der Millionen Flüchtlinge – und der davon inzwischen teils<br />
irritierten deutschen Öffentlichkeit – tatsächlich eine<br />
massive Verschärfung der Asylgesetzgebung, die in vielen<br />
Punkten den Pegida-Forderungen befremdlich nahe<br />
kommt. Man muss sich also fragen: Wie groß war der Einfluss<br />
der virtuellen Brandstifter? Größer etwa als die Solidarität?<br />
Was begünstigt das Netz: Hilfe oder Hetze?<br />
Im Dezember 2009 fragte eine Studie der Universität<br />
Pennsylvania: »What makes online content go viral?«. Also:<br />
Was wird geteilt? Die Antwort: Alles, das uns in eine<br />
extreme Emotion versetzt und damit aktiviert. Dabei sind<br />
positive Nachrichten durchaus sehr »teilfreundlich«. Am<br />
wahrscheinlichsten jedoch wird verbreitet, was Wut und<br />
Angst hervorruft. So wie die fremdenfeindliche Hetze –<br />
aus Angst, weil die Flüchtlinge als Bedrohung wahrgenommen<br />
werden. Oder aus Wut über Angela Merkels Politik<br />
der offenen Grenzen. Andererseits verbreiten sich<br />
auch Nachrichten über die Willkommenskultur in Deutschland,<br />
über Applaus für die Flüchtlinge an Bahnhöfen, über<br />
eine tatkräftig helfende Zivilgesellschaft.<br />
Eine zentrale Rolle nehmen dabei Facebook und seine<br />
spezifischen Mechanismen ein. »Facebook war für uns<br />
essentiell«, sagt Ron Schickler. Aber auch: »Ohne Facebook<br />
kein Pegida.« So fasst die Medienjournalistin Ingrid<br />
Brodnig zusammen, wie wichtig für entstehende politische<br />
Bewegungen heute eine solche Plattform ist. Facebook<br />
als größtes soziales Netzwerk der Welt zählt in<br />
Deutschland knapp 30 Millionen aktive Nutzer. Sie spornt<br />
es systematisch an, miteinander zu interagieren. Es versucht<br />
ihnen möglichst relevante, unterhaltsame und bewegende<br />
Inhalte zu zeigen. Auf dass sie teilen, was ihre<br />
Freunde sehen sollen. Auf dass sie sich zusammenfinden,<br />
nach Haltung und Interesse. Doch während Helfer wie<br />
Schicker vor allem von den »gesunkenen Informations-<br />
und Transaktionskosten« des Digitalen profitieren, wie der<br />
Netzexperte Clay Shirky es ausdrückt, von effizienten<br />
Tools wie Facebook-Gruppen oder Doodle-Kalendern,<br />
von Mailinglisten, mit denen Übersetzer oder Ärzte schnell<br />
aktiviert werden können, um mittels Geo-Lokalisierung direkt<br />
dorthin geschickt zu werden, wo Hilfe nötig ist; während<br />
also tausende altruistische Deutsche online kooperieren,<br />
wirken die Netzwerkeffekte auf die Hetzer vor allem<br />
emotionalisierend und radikalisierend. Das Gefühl, nur bei<br />
Facebook, also abseits der »gleichgeschalteten Mainstream-Lügenpresse«<br />
auf Gesinnungsgenossen zu treffen,<br />
die endlich eine sonst unterdrückte, unbequeme<br />
Wahrheit ausdrücken dürfen, ist für eine sich selbst als<br />
marginalisiert wahrnehmende Bewegung wie Pegida Teil<br />
ihres Mythos.<br />
ECHO-<br />
KAM-<br />
MERN UND<br />
»LÜGEN-<br />
PRESSE«<br />
Verstärkend wirkt<br />
der sogenannte<br />
»Majority Effect«:<br />
Wer sich überwiegend<br />
mit Gleichdenkenden<br />
vernetzt und<br />
derweil die Angebote<br />
des Mainstreams grundsätzlich<br />
boykottiert, gewinnt<br />
schnell den Eindruck,<br />
die eigene Haltung<br />
werde von einer relevant<br />
großen Gruppe, womöglich<br />
sogar einer »schweigenden<br />
Mehrheit« geteilt. Dass die eigenen<br />
Positionen – wie im Falle<br />
von Pegida – in der konventionellen<br />
Medienöffentlichkeit keine<br />
Rolle spielen bzw. als rechtsextrem<br />
stigmatisiert werden, ist dazu<br />
kein Widerspruch. Sondern Zeichen<br />
der Plausibilität einer in den<br />
letzten Jahren erstarkenden Verschwörungstheorie<br />
von der »Lügenpresse«.<br />
Die »rot-grün-versifften« Medien,<br />
in einer extremen Ausprägung dieser<br />
Theorie sogar zentral von außen [den<br />
USA, dem Kapital, den Juden] gesteuert,<br />
würde aus Angst vor einem gerechten<br />
Volkszorn unterdrücken, was nicht in ihre<br />
Ideologie passt. In diese vermeintlich ungerechte Position<br />
des politischen Davids gedrängt, der eigentlich ein Goliath<br />
ist, entwickeln die Pegida-Anhänger und ihresgleichen zuerst<br />
online eine Energie der narzisstischen Kränkung, ein<br />
Selbstbewusstsein als Märtyrer für die gerechte Sache, eine<br />
vermeintlich mehrheitsfähige Wut und aus all dem einen ehrlichen<br />
Eifer, der offline sicherlich weitaus schwieriger zu katalysieren<br />
wäre – wenn er überhaupt außerhalb der Echokammern<br />
des Netzes derart aufheizen könnte.<br />
Doch ob aus der losen Gruppe von anfangs einigen hundert<br />
eine leider ernstzunehmende soziale Bewegung wird, entscheidet<br />
sich immer noch an der frischen Luft. Erst seit in<br />
Dresden, Ausgangspunkt von Pegida, wieder und wieder<br />
tausende Fremdenfeinde aufmarschieren, erstarken sie wiederum<br />
auch online, zählen heute 180.000 Facebook-»Fans«.<br />
Und erst jetzt, angesichts des anhaltenden Protests im »Real<br />
Life«, zündeln »bürgerliche« Politiker wie Horst Seehofer mit<br />
Pegida-nahen Ideen von »geschlossenen Grenzen« oder der<br />
»Notwehr« gegen den »Flüchtlingsstrom«. Das Digitale war<br />
und ist also Brutkasten für fremdenfeindliche Ideologie. Der<br />
Prüfstein jedoch liegt auf der Straße. Dort schreit eine Minderheit:<br />
»Wir sind das Volk«. Auf dem Dresdner Theaterplatz<br />
und in ihren Teilöffentlichkeiten, in Facebook-Gruppen und<br />
Kommentarspalten, mag das sogar stimmen. Aber nur dort.<br />
»COUNTER SPEECH«<br />
UND NEUE REGELN<br />
Bleibt die Frage, wie die virtuelle Hetze einzudämmen ist.<br />
Auf Facebook als amerikanischem Konzern, geleitet von<br />
einer libertären Weltsicht, in der jeder eher alles darf, so lange<br />
keine Brustwarzen aufblitzen, ist nur sehr bedingt zu zählen.<br />
Ganze 188 Inhalte hat Facebook in Deutschland zwischen<br />
Januar und Juni 2015 gelöscht. Ein schlechter Witz.<br />
Auch wenn Chef Mark Zuckerberg im September 2015 Angela<br />
Merkel verspricht, gegen den Hass in seinem Netzwerk<br />
vorzugehen, auch wenn ab Oktober immerhin »Androhungen<br />
von physischer Gewalt als glaubhafte Drohungen eingeschätzt<br />
und entfernt« werden sollen, so bleibt doch offizielle<br />
Konzernlinie: Meinungsfreiheit deckt auch Fremdenfeindlichkeit<br />
ab. Reagiert werden soll mit »Counter speech«, Gegenrede,<br />
einem angelsächsischem Konzept des rhetorischen<br />
Para-Engagements auf individueller Ebene.<br />
In Sachen Facebook und anderer Netzwerke muss tatsächlich<br />
politisch etwas geschehen. Kein Unternehmen darf über<br />
dem stehen, was wir als Gesellschaft an Regeln aushandeln.<br />
Die Hetzer werden nicht freiwillig verstummen. Und damit<br />
stellen sich weitere Frage: Wollen wir einem privatwirtschaftlichen<br />
Konzern demokratische Aufgaben überantworten?<br />
Wenn ja, in welchem Maße? Und nach welchem transparenten<br />
bürokratischen Verfahren? Treibt man damit den<br />
Teufel mit dem Beelzebub aus? Oder, um es mit Christoph<br />
Kappes zu sagen: »Wer Facebook auffordert, nach eigenen<br />
Regeln Kommentare zu löschen, fordert im Namen der Freiheit<br />
ein totalitäres Regime.« Es braucht also eine neue Instanz<br />
der demokratischen Kritik für die Demokratie, eine pluralistische,<br />
transparente, nachvollziehbare Einrichtung der<br />
Zivilgesellschaft. Der neue öffentliche Kommunikationsraum<br />
der sozialen Netzwerke braucht neue Instrumente der Kontrolle.<br />
Darüber müssen wir sprechen, mit allen Akteuren.<br />
Das Netz, und dafür kann man es gar nicht hoch genug<br />
schätzen, verleiht Minderheiten eine Stimme. Auch solchen,<br />
die wir lieber leiser drehen würden. Sie auszuhalten, ohne<br />
den Rückzug ins Analoge anzutreten, ohne die großartigen<br />
Chancen des Mediums für die gute Sache zu vergessen, ist<br />
die Aufgabe der Medien-Demokratie heutiger Ausprägung.<br />
Vielfalt und Mitmenschlichkeit ist Widerstand. Angesichts<br />
der Hetze zu schweigen, die Hetzer zu ignorieren, wirkt wie<br />
Nichtwählen: Es stärkt die Extreme. Wenn also #refugeeswelcome<br />
durchs Netz geht, müssen wir mitziehen. Konkreter:<br />
Wenn unsere Kanzlerin mit den Schwachen dieser<br />
Welt Selfies schießt, sollten wir sie liken.<br />
Friedemann Karig<br />
044<br />
thementage_2016 045
Essay<br />
Stefan Keim<br />
ÜBERWACHUNGSSHOWS<br />
WIE<br />
UND<br />
REALITY GAMES<br />
DAS<br />
THEATER AUF<br />
VIRTUELLE WELTEN<br />
REAGIERT<br />
Angela Richter hat mit »Supernerds« ein multimediales Aufklärungsprojekt unternommen.<br />
Die Premiere im Kölner Schauspiel wurde im WDR live übertragen. Sowohl<br />
im Fernsehen, moderiert von Talkqueen Bettina Böttinger als Infotainmentshow,<br />
als auch im Radio, da saß ein Reporter auf der Bühne akustisch abgeschottet<br />
in einem Hörfunkstudio und kommentierte live. Angela Richter hat Interviews<br />
mit Whistleblower-Superstar Edward Snowden und Wikileaks-Sprecher Julian<br />
Assange und anderen digitalen Dissidenten geführt. Assange spielt als holographische<br />
Projektion auch in der Aufführung mit. Diese Gespräche gibt es auch als<br />
Buch im Alexander Verlag, eine Totholzausgabe für virtuelle Totalverweigerer und<br />
solche, die es werden wollen.<br />
Natürlich steckt »Supernerds« voller Warnungen vor einer neuen Form der Diktatur,<br />
deren Spielregeln im normalen Alltag kaum ersichtlich sind. Aber diese Warnungen<br />
werden nicht mehr düster bis pathetisch – quasi orwellianisch – geäußert,<br />
sondern heiter bis spielerisch. Das Theater nähert sich in seiner Form dem Internet<br />
an, natürlich mit der Absicht, sie zu dekonstruieren und die Mechanismen<br />
sichtbar zu machen. Die Gefahr dabei ist, dass die Freude am Spiel das kritische<br />
Denken überlagert.<br />
OFFLINE IST KEINE ALTERNATIVE<br />
Das gilt auch für das Projekt »Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big<br />
Data« von Hermann Schmidt-Rahmer am Schauspiel Essen. Auch dieser Abend<br />
beruht auf Recherchen, und ein Internetvisionär tritt auf, in diesem Fall Jaron Lanier,<br />
Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2014. Jaron trägt einen<br />
schwabbeligen Bodysuit und ist der Vater einer Sitcomfamilie. Sein Kind Baby Big<br />
Data erfasst alle Sinneseindrücke in Form binärer Daten und sucht im weltweiten<br />
Netz nach ähnlichen Bildern. Derweil fühlt sich die Tochter vernachlässigt und<br />
lässt sich von einer niedlichen blonden App trösten. Die heruntergeladene Anwendung<br />
sieht so aus, wie sich Lisa ihre beste Freundin vorstellt. Kein Wunder,<br />
denn die App weiß alles über Lisa.<br />
Die virtuelle Welt des Internets verändert<br />
unser Wahrnehmen grundlegend.<br />
Sie ermöglicht auch auf der<br />
Bühne neue künstlerische Formen<br />
im Umgang mit Fiktion und Realität.<br />
Stefan Keim ist Theaterkritiker und<br />
Moderator. Er hat sich mit den aktuellen<br />
Entwicklungen auseinandergesetzt<br />
und beschreibt anhand diverser<br />
Beispiele, welche ästhetischen<br />
Reaktionen es auf die veränderte<br />
Medienwelt von Theatermachern wie<br />
Angela Richter, Kay Voges oder Stefan<br />
Kaegi gibt. Die drei Regisseure<br />
sind am 20. März im Schauspiel<br />
Frankfurt zu Gast und diskutieren mit<br />
Stefan Keim und Oliver Reese über<br />
die Fragen und Aufgaben, die die<br />
digitale Revolution dem Theater<br />
stellt.<br />
Die Zuschauer sollen ihre Handys anlassen, während der gesamten<br />
Vorstellung. Das ist kein Versuch, WhatsApp-süchtige Teenager in<br />
das sozialreale Netzwerk einer Theatervorstellung zu integrieren,<br />
sondern eine Notwendigkeit für Angela Richters Inszenierung »Supernerds«<br />
am Schauspiel Köln – einer der bisher aufwändigsten<br />
Versuche, auf der Bühne die gesellschaftliche Dimension des virtuellen<br />
Datenflusses zu behandeln.<br />
Das Publikum ist Teil eines Überwachungsexperiments. Jeder musste<br />
vorher einige Angaben – Namen, Adresse, Handynummer, Facebookkontakte<br />
usw. – zur Verfügung stellen. Die Moderatoren stellen<br />
Fragen. Welcher der Anwesenden würde ohne Probleme einen<br />
Bankkredit bekommen? Klingelnde Handys allerorten. Dann hackt<br />
eine Schauspielerin die Handykamera eines Zuschauers, alle werden<br />
gebeten, auf ihre Displays zu schauen, und schon erscheint das<br />
Gesicht eines Mannes überlebensgroß auf der Projektionswand. 1984 ist vorbei,<br />
George Orwells düstere Zukunftsvision Geschichte, wir sind längst viel weiter in<br />
der schönen neuen Onlinewelt. »Alle Menschen sind miteinander verbunden« war<br />
mal ein liebes, naives Kirchentagslied. Nun beschreibt es die Realität. Welche<br />
Götter diese Verbindungen nutzen und wofür, kann kaum jemand durchschauen.<br />
Wer online einkauft oder sich in sozialen Netzwerken bewegt, gibt mehr über sich<br />
preis, als er denkt. Da gibt es zum Beispiel ein Programm namens Badge Dataset,<br />
das die Bewegungen und Gespräche, die Tonfälle, Stimmlage und Körperhaltungen<br />
aller Mitarbeiter eines Büros analysiert. Heraus kommen exakte Ergebnisse,<br />
wie effizient die Einzelnen arbeiten und was die Gründe dafür sind. Die totale<br />
Überwachung ermöglicht ein perfektes Leben. Wenn sich ein Mann mit nicht ganz<br />
idealem Bodymassindex einem Süßigkeitenautomaten nähert, warnt ihn sein Onlineprogramm<br />
schon, wenn er noch einige Meter entfernt ist. Privatsphäre war<br />
gestern, Datenschutz ist nur ein netter Witz. Die Regeln der »sozialen Physik« fordern<br />
völlige Unterordnung. Die Aufführung hat harte Momente, aber sie bleibt offen<br />
und spielerisch. Denn einen Ausweg gibt es nicht. Wer Geld verdienen und<br />
ein gesellschaftliches Leben führen möchte, kann nicht mehr offline gehen. So<br />
etwas auf der Bühne zu fordern, wäre unrealistisch – und auch irgendwie<br />
uncool.<br />
DAS LEBEN IST EIN BATTLE<br />
Das Dortmunder Schauspiel ist die Bühne, die seit Jahren am konsequentesten<br />
die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Online-Dominanz erforscht. Medienkritische<br />
Theorien gehören hier zum selbstverständlichen Vokabular der Dramaturgie.<br />
Intendant Kay Voges hat eine berühmte Fernsehsatire von 1970 einem<br />
Update unterzogen, aus Wolfgangs Menges »Millionenspiel« wurde die »Die<br />
Show« [Todesshow]. Die Grundidee hat Voges übernommen. Wieder wird ein<br />
Kandidat von einem Killerkommando durch die Stadt gejagt. Wenn er es schafft,<br />
lebend das Fernsehstudio zu erreichen und einen roten Knopf zu drücken, bekommt<br />
er die Million.<br />
046<br />
thementage_2016 047
Essay<br />
Stefan Keim<br />
Die Showstars, die zwischendurch auftreten, sind alle erfunden, haben aber – wie<br />
die völlig durchgeknallte japanische Sängerin Baeby Beng – eine eigene Facebookseite<br />
und ein Musikvideo. Kritiker werden nicht aus der Show verbannt, im<br />
Gegenteil, zwei Medienwissenschaftler dürfen ihre Meinungen äußern. Aber sie<br />
sind längst Teil des Systems, eitle, gierige Säcke, die nur ihre Bücher verkaufen<br />
wollen. Auch diese Aufführung ist enorm unterhaltend, verstörende Momente gibt<br />
es selten. Die Show bricht niemals auseinander, das System ist so flexibel, und die<br />
Moderatoren agieren so souverän, dass sie niemals wirklich in Gefahr geraten.<br />
Das könnte man als Schwäche der Inszenierung verstehen, aber auch als Aussage.<br />
»Das ganze Leben ist ein Quiz« [Hape Kerkeling]. »You see, it’s all a show, keep<br />
on laughing as you go.« [Monty Python]<br />
DIE UTOPIE-ENERGIE DER SCHAUSPIELER<br />
Vor dieser metamerkelschen Alternativlosigkeit des Virtuellen strecken die meisten<br />
Theateraufführungen bisher die Waffen. Wenn sie andere Möglichkeiten aufzeigen,<br />
dann nicht direkt, sondern unterschwellig, durch die Kraft der Schauspieler.<br />
Denn sie sind nicht nur Rädchen im System, sondern Gestaltende. Darin liegt<br />
der utopische Moment. Auch »Minority Report oder Mörder der Zukunft« in Dortmund<br />
lebt von der Energie der vier Schauspieler, die eine Menge Figuren als Live-<br />
Film darstellen. Die Idee des Autors Philip K. Dick, dass Verbrechen vorhergesagt<br />
und geahndet werden, bevor sie überhaupt passieren, treibt Regisseur Klaus<br />
Gehre weiter. Das Publikum soll per App abstimmen, ob der Verdächtige den<br />
Mord begehen wird oder nicht. Allerdings geht das nur auf Android-Handys, das<br />
»App Review Team« von Apple hat seine Zustimmung verweigert.<br />
Der gelungenste Versuch scheint mir bisher die Dortmunder Performance »Das<br />
goldene Zeitalter« zu sein. In der vergangenen Saison gab es sogar eine Fortsetzung,<br />
»The Return of ’Das Goldene Zeitalter’ – 100 neue Wege, dem Schicksal<br />
das Sorgerecht zu entziehen«. Kay Voges und Dramaturg Alexander Kerlin sitzen<br />
mitten im Publikum und entscheiden spontan, welches der vorbereiteten Module<br />
die Schauspieler zeigen sollen. Voges greift auch direkt in die Szenen ein, lässt<br />
Elemente wiederholen. Der Erklär-Bär wird zum Serienkiller, eine Raupe schiebt<br />
sich langsam die Treppe hoch und lässt – kaum oben angekommen – einen Salatkopf<br />
aus dem Mund fallen. Jetzt liegt er wieder ganz unten. Die Wiederholung<br />
oder Wieder-Holung von Wirklichkeit spielt eine große Rolle an diesem Abend.<br />
Groteske, tragische Lebensgleichnisse wechseln mit Splattercomedy und philosophisch-poetischen<br />
Erkenntnissen, Hochkultur und Trash fliegen wild durcheinander.<br />
Ein Versuch, der Welt eine Ordnung abzuringen mit den Mitteln, die das<br />
Internet bereitstellt. Theater für eine Zeit, in der Wikipedia längst den großen<br />
Brockhaus ersetzt hat, in der Quatsch und Bildung kaum zu unterscheiden sind.<br />
Die Aufführung klickt sich durch den Wust der Informationen, wieder sehr unterhaltsam,<br />
doch hinter dem Spaß lauert der Schrecken. Solange man über dem Abgrund<br />
tanzen kann, merkt man nicht, dass der Boden unter den Füßen fehlt.<br />
Ein Extrempunkt des Theaterlaboratoriums von Kay Voges ist auch die Inszenierung<br />
»4.48 Psychose« von Sarah Kane. Das beeindruckende, tiefsttraurige, wütende<br />
Bühnengedicht, die radikale Analyse der eigenen Depression der Autorin,<br />
die sich kurz nach Fertigstellung das Leben nahm, sprechen drei Schauspieler in<br />
einem Kubus, um den herum die Zuschauer sitzen. Jeder Darsteller ist verkabelt,<br />
ihre Körpersignale – Puls, Temperatur, Atemfrequenz – werden von sechs Gestalten<br />
in Metzgerschürzen in Bildprojektionen verwandelt. Die Körper steuern die<br />
Technik. Voges arbeitet bei diesem »Mensch-Maschine-Knoten« mit dem Chaostreff<br />
Dortmund und zwei Softwareingenieuren zusammen, um eine einzigartige<br />
Performance zu schaffen. »4.48 Psychose« wurde während einer Berliner Konferenz<br />
über Livestreams von Theateraufführungen als praktisches Beispiel online<br />
übertragen.<br />
DAS NEUE GENRE DER THEATERGAMES<br />
Medientheater verlässt allerdings auch oft den gewohnten Bühnenraum. Theatergames<br />
sind längst zu einem eigenen Genre geworden, freie Produktionslabels<br />
sind hier führend. Zum Beispiel »machina eX« aus Berlin, unter denen es mehr<br />
Gamedesigner als Theatermacher gibt. Die Zuschauer – Quatsch, die Spieler –<br />
betreten Räume, die wie Computerspiele gestaltet sind. Sie müssen Aufgaben<br />
lösen, Informationen beschaffen, Dinge finden. Die Performer reagieren im Rahmen<br />
ihrer Programmierung. Die größte Produktion war bisher »Rights of Passage«,<br />
in der es darum ging, ein Flüchtlingscamp zu verlassen.<br />
Auch das Performancekollektiv Rimini Protokoll arbeitet mit den Strukturen von<br />
Computergames. Das sehr erfolgreiche Projekt »Situation Rooms« ist wie ein<br />
Egoshooter aufgebaut, nur mit weniger Balleraction. Jeder Besucher bekommt ein<br />
iPad und Kopfhörer, bewegt sich durch ein Haus, nimmt verschiedene Rollen ein.<br />
Im ersten Raum stehen ein runder Tisch und Ledersessel. In diesem Augenblick<br />
bin ich Wolfgang Ohlert, Oberstleutnant der Bundeswehr im Ruhestand. Draußen<br />
wird der Kampfpanzer Leopard 2 vorgeführt, Ohlert bereitet den Verhandlungsraum<br />
vor. Oder genauer: Ich tue das. Die Stimme des echten Ohlert sagt mir aus<br />
dem iPad, was ich machen soll, einen Spielzeugpanzer auf den Tisch stellen, die<br />
eintreffenden Leute begrüßen. Dabei handelt es sich um andere Zuschauer, die<br />
ebenfalls ein iPad vor sich haben und eine Rolle verkörpern. Alle sieben Minuten<br />
wird es dunkel, danach ist man jemand anderes. Im Prinzip verlieren die Besucher<br />
ihre Körper. Sie tun, was ihnen die Stimmen aus dem iPad sagen und bewegen<br />
sich durch verschiedene Räume. Ein staubiges, zerbombtes Haus, das Direktorenzimmer<br />
der Deutschen Bank, ein Friedhof. Man lässt sich von einem Waffenhändler<br />
in eine schwere kugelsichere Weste helfen und begleitet einen israelischen<br />
Soldaten in einen Hinterhalt. Dann liegt man im Dreck. Nicht stundenlang<br />
wie der Soldat, aber die paar Minuten reichen, um einen Eindruck zu bekommen.<br />
Durch das körperliche Erleben kommen einem die Waffenhändler und -hersteller,<br />
die Ärzte und die Opfer wirklich nah. Nach 80 Minuten Spieldauer rast der Kopf.<br />
Der Zwang, ständig etwas tun zu müssen, verhindert die Reflexion. Aber das<br />
kommt später. Dieses Erlebnis hat Nachwirkung.<br />
Ähnlich funktioniert die Performance »Remote X«. Diesmal allerdings bewegen<br />
sich die Mitspieler in einer wirklichen Stadt. Durch Musik, Geräusche und eine<br />
künstliche Stimme aus dem Kopfhörer verändern sich Straßen, Parkgaragen, Kirchen<br />
und Hinterhöfe. 50 Menschen können mitmachen, sie beobachten sich gegenseitig<br />
und wissen nicht, ob die anderen das gleiche hören wie sie selbst. Jeder<br />
muss Entscheidungen treffen, der Stimme zu folgen oder nicht, sich als Teil eines<br />
Schwarmes zu begreifen oder als Individuum.<br />
Es gibt also bereits einige künstlerisch wie ästhetisch überzeugende Reaktionen<br />
der Theater auf die veränderte Wahrnehmung und die Strukturen der Onlinemedien.<br />
Die Entwicklung steht allerdings erst noch am Anfang. Theatergames werden<br />
sich ausbreiten, denn sie bieten über das Spielerlebnis hinaus die Möglichkeit<br />
körperlicher Erfahrungen. Ob das »klassische« Schauspiel eher nach Verschmelzungen<br />
sucht oder die eigene Form der Begegnung und des Erzählens selbstbewusst<br />
als Alternative formuliert, ist noch nicht zu erkennen. Auf jeden Fall wird es<br />
beides geben, denn – wie fast alle Aufführungen nahelegen – ein Leben offline<br />
wird es nicht mehr geben. Höchstens nach einer Apokalypse. Stefan Keim<br />
048<br />
thementage_2016 049
Impressum<br />
Herausgeber<br />
Schauspiel Frankfurt<br />
Intendant<br />
Oliver Reese<br />
Kuratorin der Vorträge und<br />
Diskussionsveranstaltungen<br />
Veronika Breuning<br />
Redaktionsleitung<br />
Veronika Breuning<br />
Redaktion<br />
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,<br />
Dramaturgie, Künstlerisches Betriebsbüro<br />
Lektorat: Sabine Büsgen<br />
Essays<br />
Petra Grimm, Friedemann Karig,<br />
Stefan Keim, Lisa Ströhlein,<br />
Der Artikel auf S. 38 von Alexandre<br />
Lacroix ist ein Nachdruck aus dem<br />
Philosophie <strong>Magazin</strong> Nr. 03 / 2015<br />
Gestaltung<br />
Mirjam Kremer<br />
Fotos<br />
Maxime Ballesteros [Titel/2/17/42/43/50/51]<br />
EXPANDER Film [S. 9]<br />
Birgit Hupfeld [S. 7/11]<br />
Florian Merdes / Badisches Staatstheater<br />
Karlsruhe [S. 9]<br />
Gregg Segal [S. 38]<br />
Edi Szekely [S. 13/14/15]<br />
Druck<br />
Druckerei Zarbock, Frankfurt am Main<br />
Schauspiel Frankfurt, Neue Mainzer Straße 17<br />
60311 Frankfurt am Main<br />
Kartentelefon 069.212.49.49.4<br />
www.schauspielfrankfurt.de<br />
Schauspiel Frankfurt ist eine Sparte der<br />
Städtische Bühnen Frankfurt am Main GmbH<br />
Geschäftsführer: Bernd Loebe, Oliver Reese<br />
Aufsichtsratsvorsitzender: Prof. Dr. Felix Semmelroth<br />
HRB-Nr. 52240 beim Amtsgericht Frankfurt am Main,<br />
Steuernummer: 047 250 38165.<br />
Medienpartner<br />
Mit freundlicher Unterstützung von<br />
050<br />
thementage_2016 051
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