17.03.2016 Aufrufe

Leseprobe_FJ16_Schachinger_Unzeit

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

Marlen <strong>Schachinger</strong><br />

<strong>Unzeit</strong><br />

Erzählungen<br />

OTTO MÜLLER VERLAG


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

www.omvs.at<br />

ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG GmbH, SALZBURG-WIEN<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg<br />

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan<br />

Cover: Leopold Fellinger<br />

4


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

I Hinter Mauern 7<br />

II More than a useless burden 27<br />

III Grenzgänge 43<br />

IV Dich rufen 78<br />

V Tote Seelen 101<br />

VI Was heißt schon Freiheit? 118<br />

VII Suche und sei es in China 138<br />

VIII Das Auge verpflichtet zu sehen 158<br />

IX Gegessen wird, was eingekocht 180<br />

X Stiller Frieden 227<br />

XI Schrei vor Glück oder: Zurück! 239<br />

5


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

II More than a useless burden<br />

1894, Jahr der Fertigstellung der Tower Bridge, der<br />

Entdeckung des Pestbazillus und der Erfindung des<br />

Edinsonschen Guckapparates Kinetoskop, 1894, Gründung<br />

der »Austria«, erste Schwimmvereinigung für<br />

Frauen sowie des Wiener Zweiges der »Ethischen Gesellschaft<br />

in Österreich«, 1894, das Jahr, als Gabriele<br />

Possanner von Ehrenthal als erste Österreicherin zur<br />

Doktorin der Medizin promoviert und Zeitschriften<br />

wie »Frauenleben« und »Frauen-Werke« 1 herausgegeben<br />

werden, 1894, im Monat April, und ein Mädchen<br />

namens Marietta wird geboren, Etta genannt.<br />

Wien<br />

Immer wieder Wien, und einzige Tochter unter drei<br />

Söhnen, Mariettas Weg in die Schule, Montag bis Freitag,<br />

fünfklassige Übungsschule der k. k. Lehrerbildungsanstalt,<br />

Hegelgasse 12. Marietta ist noch zu klein,<br />

um, wenige Häuser weiter, Hegelgasse 19, die Klassen<br />

des Privaten-Mädchen-Obergymnasiums des »Vereins<br />

für Erweiterte Frauenbildung« zu besuchen.<br />

Jene Zeit, als Marietta Lesen und Schreiben zu lernen<br />

beginnt, ist eine Epoche der Ersten-Male, und in den<br />

Gymnasialklassen beginnt Dr. Cäcilie Wendt ihre Unterrichtstätigkeit.<br />

Wenige Monate vor Schulbeginn war<br />

aus Cäcilie eine Frau Doktor geworden, Mathematik<br />

und Physik, und der Rektor der Wiener Universität<br />

hatte gesprochen:<br />

27


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

»Es ereignet sich heute an unserer Universität zum<br />

erstenmale, dass unter den Candidaten des Doctorates<br />

eine Dame sich befindet, und da erscheint es mir von<br />

Bedeutung, dass Sie, mein Fräulein, sich ein Wissensgebiet<br />

gewählt haben, welches zu den abstractesten<br />

und schwierigsten gehört, welche der Menschengeist<br />

geschaffen, dass Sie aber trotzdem Ihr Fachrigorosum<br />

mit Auszeichnung abgelegt und durch eine vorzügliche<br />

Dissertation Ihre Vertrautheit mit diesem Fache, der<br />

Mathematik, nachgewiesen haben, zum Beweise, dass<br />

Anlage und Begabung selbst für die schwierigsten Wissenschaftsgebiete<br />

nicht an das Geschlecht gebunden<br />

sind.« 2 Überzeugungsarbeit leisten, beweisen, eine<br />

Frau nach der anderen, immer wieder zu jener Zeit<br />

zum ersten Mal, und Marietta hineingeboren, in diese<br />

Ersten-Male, zwei Jahrzehnte davon geprägt. Denn so<br />

manche wird Cäcilie folgen; auch Marietta, später.<br />

Vorerst plagt sie sich mit Schreibschrift und artigen<br />

Zöpfen. Dass sie alle überfliegen wird, steht in den<br />

Sternen, die zu jener Zeit der Ersten-Male noch hell<br />

und ganz leuchten; allem keimenden Hass zum Trotz.<br />

Wien – Berlin – Frankfurt am Main – Göteborg – Göttingen<br />

– Paris – Wien<br />

Und der Vater, Dr. Markus Blau, ein k. k. Hof- und<br />

Gerichtsadvokat, und die Mutter Florentine, eine geborene<br />

Goldenzweig. Nomen est omen, denn sie werden<br />

Marietta einen starken Ast zur Heimat geben, und<br />

die blaue Weite, denn Marietta soll lernen, mehr als zu<br />

ihrer Zeit zumeist erlaubt wurde, sie soll Jahr um Jahr<br />

28


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

die Schule besuchen, das Mädchengymnasium, Hegelgasse<br />

19, und als dieser Ort zu eng wird, übersiedelt die<br />

Schule in die Rahlgasse 4, und Marietta weiß, was sie<br />

will, jetzt ebenso wie später, Kinder-Nervenärztin<br />

möchte sie werden, da wohnt die Familie schon draußen,<br />

im Cottageviertel, in der Grinzingerstraße 93,<br />

nicht mehr in den inneren Bezirken eins bis drei.<br />

Marietta soll studieren, aber nicht Medizin, nein,<br />

Physik und Mathematik, vor allem die aufstrebende<br />

Physik, Alphateilchen 3 , ß-Strahlung, zehn Jahre bevor<br />

jeder dritte Studierende dieses Faches eine Studentin<br />

sein wird, Protonen, Mariettas Welt, y-Strahlung, Absorption,<br />

Neutronen, Mariettas Lied, bis ihr die Krankheit<br />

die Lunge belegt, müde und schwach, sie hat »die<br />

Motten«, so sagt man; sie hat sich angesteckt, bei einem<br />

anderen, vielleicht durch Milch, die sie trank, und sie<br />

muss hustend um Luft ringen, gelblich-grüner Schleim,<br />

Nachtschweiß. Eine Ruhezeit.<br />

Verordnete Pause.<br />

Danach die Auszeichnung, Doktorat wie zuvor Matura,<br />

und dazu die Eltern-Sorgen, Tod des Vaters, die<br />

Mutter versorgt weiterhin. Das Zentralröntgeninstitut<br />

in Wien, die Röntgenröhrenfabrik in Berlin, ein bisschen<br />

eigenes Geld, und Assistentin am Institut für<br />

Physikalische Grundlagen der Medizin in Frankfurt<br />

am Main, zweieinhalb Jahre Deutschland, und wieder<br />

Wien. Weil die Mutter erkrankt ist, und keiner sich<br />

sonst sorgen kann. Wien ist Marietta gut, und Wien ist<br />

Marietta nicht gut, weiß und schwarz, alles fügt sich<br />

ineinander, denn Marietta kann tun, was sie möchte:<br />

Forschen; daran hängt ihr Herz. Das Familienvermögen<br />

erlaubt es, dass sie ohne Bezahlung am Institut für<br />

Radiumforschung tätig ist – wie einhunderteinund-<br />

29


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

siebzig andere auch 4 . Marietta will beweisen, was sie<br />

kann, und nach sieben Jahren schreibt ihr einer zu: minutiöse<br />

Präcision, theoretisches und experimentelles<br />

Können, Ausdauer und peinlichste Gewissenhaftigkeit.<br />

5 Weshalb Marietta ein Stipendium des »Verbandes<br />

Österreichischer Akademikerinnen« erhält, und<br />

dieses sowie die verbesserte Gesundheit der Mutter ermöglichen<br />

Marietta Göttingen und Paris, den Gott<br />

Professor Pohl und die gestrenge Marie Curie, von<br />

Alpha-Partikeln in Beryllium ausgelöste Neutronenstrahlen.<br />

Von Paris jedoch führt kein Weg nach Deutschland<br />

zurück, denn Göttingen ist schon braun gesprenkelt,<br />

und Marietta wieder in Wien.<br />

Marietta denkt, sie könne sich nun um eine Assistentinnenstelle<br />

bewerben, um Entgelt für ihre Arbeit,<br />

denn sie leiste Wesentliches, und sie fragt mit leiser<br />

Stimme, überlegt und langsam, wie es ihrer Art entspricht.<br />

Sie sind Frau und Jüdin, das ist einfach zu viel,<br />

sagt man ihr, und sie kann es nicht ändern, das eine<br />

nicht, das andere nicht.<br />

Dass dies nicht nur ihr bestimmt, nimmt allem nicht<br />

den Stachel, der sich ins Fleisch bohrt, Jahr für Jahr.<br />

Frau und Jüdin, und Hans Pettersson, ein Schwede in<br />

Wien, im Streit mit Rutherford und Chadwick aus<br />

Cambridge, Pettersson, der sagt, am Wiener Radiuminstitut<br />

könne man alles machen. Er ist es, der die<br />

Atomzertrümmerungsgruppe leitet, und er bittet Marietta.<br />

Er schlägt Marietta vor.<br />

Er weist Marietta darauf hin und zu.<br />

30


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

1924, das Jahr, als der Schilling die Krone ersetzt, 1924,<br />

und in Österreich wird Radiogeschichte geschrieben,<br />

während in der Mongolei Frauen das Wahlrecht erhalten,<br />

1924, und Marietta beginnt zu untersuchen, ob<br />

nicht photographische Emulsionen zum Nachweis<br />

von Atomzertrümmerungsprozessen verwendet werden<br />

könnten.<br />

Denn Pettersson meint, dem sei so, er suche nur eine<br />

objektivierbare Variante, ergänzend zur bisher verwendeten<br />

Szintillationsmethode; und Marietta forscht:<br />

photographische Platten von Ilford, und Pinakryptol,<br />

reine Asorptionskoeffizienten, Ionisation, und Marietta<br />

beschreibt langwierige vergebliche Versuche, bis es ihr<br />

gelingt, die Bahnspuren von Protonen nachzuweisen,<br />

Streukoeffizienten, photographische Intensitätsmessung.<br />

Spuren der Strahlung an ihrer Hand, Blasen, Verbrennungen<br />

nicht unähnlich. Und Marietta verfasst<br />

Essay um Essay, immer wieder mit ihren Doktorandinnen,<br />

Elisabeth Rona, H-Partikeln, oder Elisabeth<br />

Kara-Michailova, die durchdringende Strahlung des<br />

Poloniums …<br />

»Wohl die größten Vorteile der photographischen<br />

Methode«, schreibt Marietta, »liegen in der Einfachheit,<br />

mit der Experimente bewerkstelligt werden können«,<br />

schreibt Marietta, und die Einfachheit der Methode<br />

wird sie begleiten, über viele Jahre, denn was sie<br />

für dieses kleine, tragbare Labor benötigt: eine Schachtel<br />

Photoplatten, ein Mikroskop, einige einfache Chemikalien,<br />

als Frau und Jüdin ist es wesentlich, mobil zu<br />

sein, es ist bereits der Tanz am Abgrund, Ilford-Photoplatten,<br />

und es wird nicht so werden, ein Mikroskop,<br />

und es wird nichts geschehen, einige einfache Chemi-<br />

31


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

kalien, und die Arbeit verankert, wenn der Boden<br />

wankt. Einstein fühlt für sie vor, auch wenn er glaubt,<br />

es sei Hitler, der wanke, und nicht der Boden, und den<br />

Blick ins Mikroskopenauge, konzentriert, und dann:<br />

Das Abklingen des latenten Bildes, es löscht sich aus,<br />

verändert sich, wird nicht Bestand haben, denn Frau<br />

und Jüdin, das ist zu viel, das war schon in den späten<br />

1920er-Jahren zu viel, erst recht 1932, 33, 34, 35, 36, 37,<br />

38. Ende.<br />

Zurück.<br />

1932, und Marietta findet in ihrer Doktorandin eine<br />

Mitarbeiterin, Hertha Wambacher, der das R im Namen<br />

zur Wärme fehlt, groß, blond, kräftig und laut,<br />

überzeugt von ihren Vorrechten seit Ahnen und Ahninnen,<br />

Frau ist sie auch, aber keine Jüdin. Die beiden<br />

ungleichen Frauen eint die ehemalige Schule, die Rahlgasse,<br />

und sie arbeiten zusammen, Marietta, die Wissende,<br />

die Entdeckende, und Hertha, Mitglied der<br />

Heimwehr, und nach zwei Jahren gemeinsamer Arbeit,<br />

kornlose Emulsion, Fremdabsorption, Alkalihalogenidkristallen,<br />

trägt Hertha den Antrag zur Aufnahme<br />

in die NSDAP in der Tasche, Desensibilisierung,<br />

1934, zur Frage der Verteilung, lange bevor Österreich<br />

nicht mehr Österreich, Bromsallösung, photographische<br />

Ultrastrahluntersuchungen, simultaneous emission.<br />

Marietta und Hertha forschen Seite an Seite, und<br />

sie entdecken die Sterne.<br />

Mariettas Augensterne sehen Himmelsmuster auf<br />

Photoplatten gebannt, ineinanderfließende Linien,<br />

dort, wo sie aneinanderstoßen, Sterne über Sterne, so<br />

weit das Auge reicht. Zertrümmerungssterne, nennt<br />

32


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

Marietta, was sie sieht. Die Braunhemden bemerkt sie<br />

nur aus der Entfernung; ihre Forschungspläne sind<br />

wichtiger, die Gefahr scheint ihr noch gebannt: Freie<br />

oder mit dünnen Folien verschiedenster Materialien<br />

bedeckte Emulsionen werden exponiert, denn die<br />

Sterngröße hängt ab. Verschieden gewachsene Zertrümmerungssterne<br />

sieht Marietta. Ihre Größe mitbestimmt<br />

durch die Atomnummer, Ordnungszahl, Kernladungszahl<br />

– 2, 3, 4 – des zu zertrümmernden Elements.<br />

Marietta ignoriert die Strahlenschäden, die das<br />

Wachstum der Nägel hemmen, nässende Blasen, zur<br />

Behandlung werden Umschläge mit essigsaurer Tonerde<br />

empfohlen, und weil sie, Marietta und Hertha, entdecken,<br />

erhalten sie den Preis, den Marietta teilt, mit<br />

Hertha, der ein R zur Wärme fehlt. Jeder ihre 500<br />

Schilling, und Marietta notiert ihren »herzlichsten und<br />

ergebensten Dank. In Verehrung und Dankbarkeit«<br />

und schreibt das Jahr 1936, obgleich es 1937 sein müsste,<br />

oben auf ihren Verehrungs-und-Dankbarkeits-<br />

Brief, und dann ist das Schreiben schon im Kuvert, zu<br />

spät, um noch etwas daran zu ändern.<br />

Hinauf in die Berge mit jenen Emulsionen! Für Geld<br />

soll ein Ballon fliegen, Emulsionen an Bord, der Ballon<br />

solle Marietta irgendwann bis zum Nobelpreis bringen,<br />

und alle Ergebnisse zuvor unter Mariettas Mikroskop,<br />

wo sie nobel zu analysieren wären. Und ein weiterer<br />

Nobel, Jahre später, drei Mal wird Marietta für<br />

jenen Preis vorgeschlagen, drei Mal wird nichts daraus<br />

werden. Andere werden bekommen, wofür sie Vorarbeit<br />

leistete, Männer werden bekommen, wofür sie tätig<br />

war. Ein anderer, ein glücklicherer, ein begünstigter<br />

– vom Schicksal, von der Geographie, den Genen,<br />

von seinen Sternen, er führt aus, was Marietta plante,<br />

33


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

und entdeckt das Pion sowie die Ehrung des Nobelpreises,<br />

Cecil F. Powell, Nobel im Preis, Strich durch<br />

die Rechnung. Ende.<br />

Zurück.<br />

Wien – Oslo – Hamburg – London<br />

Marietta ist Frau und Jüdin, und heavy particles, cosmic<br />

rays ändern nichts daran, es geht nur noch sobre la existencia<br />

in jenem März, sie schiebt die Abreise, Tag um<br />

Tag, bis zum 12. des Monats, und sieben Uhr abends<br />

ist es, als sie ihre Stadt und Mutter verlässt. Bloß ein<br />

Forschungsaufenthalt, so wird es genannt werden, bei<br />

Professorin Ellen Gleditsch, Anorganische Chemie,<br />

Wien – Oslo, »u. habe es immer wieder verschoben«,<br />

wird Marietta schreiben, »u. bin vielleicht als letzter<br />

Oesterreicher über die deutsche Grenze gekommen« 6 ,<br />

Frau und Jüdin und Ausländerin; nun in Sicherheit.<br />

Vorerst, denn die Quote ist erschöpft, und die Quote<br />

bestimmt, wer bleiben kann, wer gehen muss: Marietta<br />

zum Beispiel.<br />

»Man wußte«, wird Marietta schreiben, »man wußte in<br />

Wien bis zum letzten Moment nicht, was uns<br />

bevorstand«, wird Marietta schreiben, »mir kamen erst<br />

auf der Reise die deutschen Truppen entgegen« 7 , wird<br />

Marietta schreiben, die nicht mehr weiß, wer sie ist, hoffnungslos<br />

und Flüchtling; oder hoffnungloser Flüchtling?<br />

Und keine Möglichkeit, Boden zu finden, denn Norwegen<br />

ist kühl, und keiner hat an jenem Ort auf sie gewartet,<br />

weder die dortige Physik noch die Universität.<br />

34


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

Albert Einstein schreitet ein. Es sei eine wunderbare<br />

Gelegenheit! Mexiko müsse sich glücklich schätzen,<br />

wenn es diesem Land gelänge, jene begabte Experimental-Physikerin<br />

in sein Klima zu verpflanzen, denn<br />

Marietta könne auch mit den bescheidensten Mitteln<br />

Großes leisten, Mexiko werde sich ein dauerndes Verdienst<br />

um die Wissenschaftspflege erwerben, wenn<br />

man Marietta rufe, und sie zum Kommen nach und<br />

Bleiben an der Technischen Hochschule zu bewegen<br />

sei.<br />

Und Marietta fliegt, ein Luftschiff unter den Sternen,<br />

über skandinavische Erde, unter den Sternen bis Hamburg,<br />

Zwischenlandung, und Marietta wird befohlen:<br />

Aussteigen, alles Gepäck offenlegen …<br />

Mariettas Photoplatten. Mariettas Aufzeichnungen,<br />

Samariumlösung, Alpha-Teilchen mit Reichweiten<br />

zwischen, Mariettas Pläne für zu machende Experimente.<br />

Werden konfisziert. Beschlagnahmt. Geklaut.<br />

Marietta schreibt, es bestünde kein Zweifel: Diese<br />

Aktion sei vorbereitet gewesen, man habe gewusst,<br />

wonach man suchen wolle. 8<br />

Ihr aber wird gestattet weiter zu fliegen, von Hamburg<br />

nach London, und bis in jenes ferne Land namens<br />

México, Marietta darf sich selbst retten, Marietta im<br />

Flugzeug, Landung in London, wo Mariettas Mutter<br />

bereits wartet, und Mutter und Tochter besteigen das<br />

Schiff nach México.<br />

Ihre Arbeit nützen andere, Wambacher und Stetter,<br />

dem Hertha, der das R zur Wärme fehlt, nun assistiert;<br />

er ist überzeugt wie sie.<br />

Marietta liest von ihren eigenen Arbeiten, darunter<br />

stehen fremde Namen, Stetter und Wambacher, ihnen<br />

gehört die Welt, und Marietta nur ein Eckchen, irgend-<br />

35


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

wo, im fernen México DF. Wambacher und Stetter,<br />

und Marietta in México DF nützt die bescheidenen<br />

Mittel, sobre la existencia.<br />

Und Hertha, der ein R zur Wärme fehlt, schreibt<br />

1940, erbost über die erfahrene Ablehnung, denn sie sei<br />

zwar Frau, doch eine Überzeugte, noch vor dem Beginn<br />

sei sie dies gewesen, und sie wolle so gerne und so<br />

lange schon dorthin, wo sie sich Zuhause fühle, zu Unrecht<br />

sei ihr Antrag auf Mitgliedschaft abgelehnt worden.<br />

Sie sei doch wie all die anderen »aufrechten illegalen<br />

Nazis« 9 . »Natürlich habe ich«, schreibt Hertha,<br />

»mich nicht dieser Schweinerei unterworfen und mich<br />

zuerst an das Büro für Mitgliedschaft in Wien gewandt«,<br />

schreibt Hertha, »Ich bestehe darauf, dass<br />

[S]ie sich endlich mit meinem Sachverhalt in einer Weise<br />

befassen, wie es sich für ein Nationalsozialistisches<br />

Amt gehört«, schreibt Hertha, die gedenkt, »diese Sache<br />

durch alle rechtlichen Instanzen bis hinauf in das<br />

Amt des Führers zu verfolgen …« 10 , ja, sie möchte sich<br />

nennen dürfen, was sie längst ist, will ihren Beitrag<br />

leisten, nun endlich offiziell, Geld in den Klingelbeutel<br />

der Partei.<br />

México Distrito Federal / Mexiko-Stadt<br />

Und Marietta in Mexiko lehrt zum Überleben. Sie<br />

kann nicht mehr arbeiten, weder Geräte, noch Zeit; arbeiten,<br />

das heißt in ihren Augen forschen, und sie sieht<br />

sich um, Vorträge in Morelia, und für wenige Wochen,<br />

ein bisschen Hoffnung: ein Labor sei vorhanden, noch<br />

verpackt in jenen Kisten, in denen es geliefert wurde,<br />

36


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

denn keiner könne es aufbauen, Marietta solle, Marietta<br />

müsse kommen. Plötzlich jedoch fehlen einige Kisten,<br />

tauchen danach im Pfandleihhaus auf … Und<br />

Marietta bleibt, wo sie ist, México DF, und ihr Leben<br />

in jener Stadt sei »außerordentlich anregend u. interessant<br />

aber auch ziemlich abenteuerlich« gewesen, wird<br />

Marietta Jahre danach schreiben. »Ich«, wird Marietta<br />

schreiben, »habe damals so viel Güte und Liebe von<br />

Menschen dort empfangen, daß mir die Erinnerung daran<br />

sehr wertvoll ist« 11 , wird Marietta schreiben, im<br />

Nachhinein, als die Worte leichter fielen, weil ihr Gewicht<br />

weniger schwer wog, und die guten Erinnerungen<br />

die Enttäuschungen übertünchten.<br />

Zurück.<br />

México DF – New York – Long Island – Miami<br />

Und Albert Einstein gebeten. »Wenn man mich nur<br />

einfach arbeiten ließe, dann könnte ich beweisen, zumindest<br />

im Rahmen meines Könnens, dass ein Emigrant<br />

mehr sein kann als nur eine Belastung« 12 , und<br />

Marietta lehrt, kann nicht forschen, nur einige wenige<br />

Essays, la radiactividad, el estado térmico, notas para,<br />

»If one would simply let me work. I could prove, at<br />

least to the best of my abilities, that an emigrant can be<br />

more than a useless burden« 13 , nach drei vergeudeten<br />

Jahren ohne Forschung, »ser más que una carga« 14 ,<br />

Einstein erneut, ein Brief an die mexikanische Botschaft,<br />

man möge Marietta endlich »the opportunity<br />

for useful work« 15 einräumen, bitte, dann würde sie<br />

sicher »valuable service to your country« 16 leisten, Ma-<br />

37


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

riettas Mutter stirbt an Leberkrebs, alle Ohren sind<br />

taub, und Marietta trägt Flecktyphus in sich, Frau und<br />

Jüdin und nur eine Belastung? Von México DF weiter<br />

nach New York, wo ihr jüngerer Bruder lebt. Und Marietta<br />

verfasst Essay um Essay, extended alpha-sources,<br />

two-bath method, grain density, lehrt an der Columbia<br />

University und in Brookhaven auf Long Island, in the<br />

light elements of the emulsion, und als eine den dortigen<br />

Direktor Jahrzehnte später befragte, weshalb<br />

man denn Marietta so ignorant behandelt habe, erklärte<br />

er lakonisch: »Women were not treated very well in<br />

those days« 17 , slow K-mesons, produced in K-capture<br />

stars at rest, Frau und Jüdin und Emigrantin, das sei<br />

noch immer zu viel.<br />

Marietta lernt Auto fahren; das heißt: Sie hält an, wo<br />

ihr ein geeigneter Ort dafür zu sein dünkt, vielleicht<br />

um eine Zigarette zu rauchen, vielleicht mitten auf dem<br />

Bahnübergang, und selbst der Zug bleibt stehen, damit<br />

Marietta passieren kann. Selten jedoch erlischt ein<br />

Stoppschild, ändert eine Ampel ihre Farbe für Marietta,<br />

das Autogespenst, deren Kopf kaum über dem<br />

Lenkrad zu sehen ist.<br />

Und Marietta-Flüchtling nimmt eine andere auf, eine<br />

junge Ungarin, es ist das Jahr 1956, der ungarische<br />

Volksaufstand wird niedergeschlagen, eine Verwandte<br />

von Bekannten, und Marietta in Miami, das sie ein<br />

bisschen an México DF erinnere, auch wenn Miami die<br />

Berge fehlen, natürlich, sagt Marietta, und dass in Miami<br />

alles »artificial« sei, sagt Marietta, für Touristen gemacht,<br />

fürchterliche, aufgedonnerte und laute Leute,<br />

sagt Marietta. Miami Beach habe sie einmal besucht,<br />

doch könne man dort die See hinter all den pompösen<br />

Hotels nicht mehr erkennen. In der Nähe ihres Hauses<br />

38


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

jedoch, erzählt Marietta, in der Nähe ihres Hauses sei<br />

eine Brücke, die zu einer kleinen Insel führe, Palmen<br />

am Strand, und sie habe einen Mondscheinspaziergang<br />

gemacht, und die Schatten der Palmen auf dem smaragdgrünen<br />

Wasser genossen …<br />

Schönheit umgebe ihr Haus, erzählt Marietta, ein<br />

Garten mit Kokospalmen, Mango- und Avocadobäumen.<br />

Und erst die Vögel, sagt Marietta, wunderbare<br />

Vögel, selbst wenn die Konturen nach und nach verschwimmen,<br />

aber was, sagt Marietta leise, sei all dies<br />

im Vergleich zu Wien und den schönen Tagen, die sie<br />

dort verbracht habe. 18 Erinnerungen, wie durch einen<br />

Schleier, and other interactions of, ja, trotzdem mache<br />

es sie froh, Industrie und Lehre gegen die Wissenschaft<br />

eintauschen zu dürfen, endlich wieder, alles durch eine<br />

Scheibe aus Milchglas betrachtet, und alte Freunde aus<br />

den Wiener Tagen getroffen, Elisabeth Rona zum Beispiel,<br />

ihre ehemalige Doktorandin, das Bild unscharf,<br />

denn Mariettas Augen sind nicht mehr, wie sie früher<br />

waren, das Leben hat sie zertrümmert und grau gemacht,<br />

und Mariettas Hände sind nicht mehr, was sie<br />

einmal waren, vernarbt, verhornt und punktweise auftretende<br />

Blutungen unter der Haut. Alle natürlichen<br />

Gravuren ausradiert, da ist keine Herzlinie mehr, keine<br />

Kopf- und keine Lebenslinie, die Strahlen, die Mariettas<br />

Leben sind, haben sie zerstört, und Marietta sieht ihre<br />

Hände nur noch durch Grauschleier, auch der Mangobaum<br />

ist grau, und grau der Himmel, Tag für Tag, selbst<br />

in Miami, und Marietta weiß, sie muss etwas tun, sie<br />

muss das Grau aufhalten, wenn es ihr nicht den Blick<br />

verdrängen soll, bis alles in Schwärze versinkt.<br />

Vor ihrer Zeit ist Marietta eine alte Frau geworden,<br />

und sie stürzt, der Arm gebrochen, diese Kosten ver-<br />

39


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

schlingen viel zu viel, ihre Rente in Miami würde nie<br />

genügen, um nach dem Arm auch noch die Augen zu<br />

retten, es ist das Jahr 1960, und Hertha, der ein R zur<br />

Wärme fehlt, ist seit zehn Jahren tot. Marietta vergleicht<br />

die Arztkosten und kehrt zurück. Es ist vernünftiger<br />

so.<br />

Miami – Wien<br />

Und da ist Wien, und die Landschaft, die sie liebt, die<br />

Musik, und wieder kein Gehalt für ihre Arbeit, und<br />

Berta Karlik, langjährig gekannt, nunmehr ist Berta<br />

Institutsleiterin. Berta hat keine Zeit, hat ihr eigenes<br />

Leben. Im Nachhinein meinte Berta, Marietta habe<br />

sich doch selbst ins Eck gestellt. 19 Also ihre eigene Verantwortung,<br />

dass sie nicht wusste wie heraus, Frau und<br />

Jüdin und nicht zu ändern.<br />

Der Chirurg nun betrachtet Mariettas Augen und erklärt,<br />

es sei unmöglich, unverantwortlich, er könne das<br />

Grau nicht bei Seite schieben, Marietta sei viel zu<br />

schwach. Also arbeitet Marietta weiter, betreut Dissertationen<br />

am CERN und forscht am Radiuminstitut, an<br />

dem wieder und das seit Jahren die Alten sitzen: Georg<br />

Stetter ist noch dort. Seine Liste all jener, die als »politisch<br />

unzuverlässig« einzustufen seien, hat ihm nicht<br />

geschadet, er sei ja nur gelegentlich ein Nazi gewesen,<br />

und auch dies bloß, um Stefan Meyer und Hans Thirring<br />

zu schützen. Obendrein habe ihm die NSDAP<br />

niemals eine Mitgliederkarte ausgefolgt, somit sei er<br />

gemäß deren Statuten kein Mitglied gewesen. Das müsse<br />

man verstehen …<br />

40


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

Und Stetter gibt Ortner die Hand, denn Ortner habe<br />

keinesfalls gewusst, wohin seine Mitgliedsbeiträge gegangen<br />

wären, die er der NSDAP bezahlt habe, das<br />

müsse man ihm glauben, er habe nur karitative Zwecke<br />

unterstützen wollen, und eine ehemalige Studentin beschwört,<br />

sie sei damals »Mischling« genannt worden,<br />

dennoch habe Ortner ihr geholfen, das Studium zu beenden.<br />

Und Stetter und Ortner geben Kirsch die Hand: Seine<br />

Entlassung nach dem Krieg dauert bereits zwei Jahre,<br />

zwei Monate, nun habe er sich seinen Ruhestand<br />

wohlweislich verdient, er sei ja bloß ein alter Mann.<br />

Nur Hertha Wambacher, die hatte man nach dem<br />

Krieg zum Teufel gejagt …<br />

Und Jahre danach kommt Marietta zurück. Sie will<br />

Stetter und Ortner nicht die Hand geben, Tau-Neutron<br />

und fotografitseckie emulsii, und nein, sie wolle<br />

kein Geld, nicht von Ilford, nicht von Kodak, keine<br />

Ehrenpension, so weit unten sei ihr Herz noch lange<br />

nicht, Geld ohne entsprechende Arbeitsleistung?, unvorstellbar,<br />

wo sie früher ohne entsprechendes Entgelt<br />

arbeitete, ein bisschen Bern und Genf, auch den Bruder<br />

mag sie nicht um finanzielle Hilfe bitten, und sie geht<br />

über die Straße, sieht die Autos kaum. »Wenn mich jemand<br />

zusammenführt«, sagt Marietta, »wenn mich jemand<br />

zusammenführt, dann hat er mehr Scherereien<br />

als ich« 20 , sagt Marietta.<br />

Endlich: die Augenoperation. Nun könne sie nach<br />

Amerika zurück, nach New York, zu Freunden …<br />

Doch schlägt ihr die Operation aufs Herz, das herzlich<br />

Weite, das die Sterne gesehen hatte, und vor den Trümmern<br />

fliehen musste, weit über das blaue Meer, bis<br />

41


Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />

dorthin, wo Mangobäume und Avocados Schatten<br />

werfen, die Operation schlägt ihr aufs Herz, und da ist<br />

noch etwas in ihr, dem sie nicht auf den Grund gehen<br />

mag, nächtliche Atemnot, ihr Gang erschüttert, die<br />

Sprache zerbricht …<br />

Es folgen Tage im Krankenhaus, sie jedoch will nicht<br />

bleiben, kann nicht bleiben, zu teuer kämen ihr die<br />

Stunden dort zu stehen; auf Wunsch der Patientin Entlassung<br />

in häusliche Pflege … Wer aber soll nun für sie<br />

sorgen? Auf dem Patientinnenblatt des Krankenhauses<br />

wird als Vertrauensperson der Name der Hausbesorgerin<br />

vermerkt; nicht der Bruder, nicht die Freunde.<br />

Marietta mag nicht klagen, mag niemanden bitten, und<br />

der Schatten auf der Lunge verdichtet sich, der Tumor<br />

breitet sich weiter aus, und Marietta erneut im Krankenhaus,<br />

wo ihr bald das Herz holpert, sein letzter<br />

Schlag im Januar.<br />

Und niemand ruft ihr nach. Niemand schreibt: Am 27.<br />

Januar 1970 starb die exzellente Physikerin Marietta<br />

Blau, geboren in Wien am 29. April 1894, Entdeckerin<br />

der Zertrümmerungssterne.<br />

42

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!