Leseprobe_FJ16_Schachinger_Unzeit
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Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2
Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />
Marlen <strong>Schachinger</strong><br />
<strong>Unzeit</strong><br />
Erzählungen<br />
OTTO MÜLLER VERLAG
Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />
www.omvs.at<br />
ISBN 978-3-7013-1241-2<br />
© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG GmbH, SALZBURG-WIEN<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg<br />
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan<br />
Cover: Leopold Fellinger<br />
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Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
I Hinter Mauern 7<br />
II More than a useless burden 27<br />
III Grenzgänge 43<br />
IV Dich rufen 78<br />
V Tote Seelen 101<br />
VI Was heißt schon Freiheit? 118<br />
VII Suche und sei es in China 138<br />
VIII Das Auge verpflichtet zu sehen 158<br />
IX Gegessen wird, was eingekocht 180<br />
X Stiller Frieden 227<br />
XI Schrei vor Glück oder: Zurück! 239<br />
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II More than a useless burden<br />
1894, Jahr der Fertigstellung der Tower Bridge, der<br />
Entdeckung des Pestbazillus und der Erfindung des<br />
Edinsonschen Guckapparates Kinetoskop, 1894, Gründung<br />
der »Austria«, erste Schwimmvereinigung für<br />
Frauen sowie des Wiener Zweiges der »Ethischen Gesellschaft<br />
in Österreich«, 1894, das Jahr, als Gabriele<br />
Possanner von Ehrenthal als erste Österreicherin zur<br />
Doktorin der Medizin promoviert und Zeitschriften<br />
wie »Frauenleben« und »Frauen-Werke« 1 herausgegeben<br />
werden, 1894, im Monat April, und ein Mädchen<br />
namens Marietta wird geboren, Etta genannt.<br />
Wien<br />
Immer wieder Wien, und einzige Tochter unter drei<br />
Söhnen, Mariettas Weg in die Schule, Montag bis Freitag,<br />
fünfklassige Übungsschule der k. k. Lehrerbildungsanstalt,<br />
Hegelgasse 12. Marietta ist noch zu klein,<br />
um, wenige Häuser weiter, Hegelgasse 19, die Klassen<br />
des Privaten-Mädchen-Obergymnasiums des »Vereins<br />
für Erweiterte Frauenbildung« zu besuchen.<br />
Jene Zeit, als Marietta Lesen und Schreiben zu lernen<br />
beginnt, ist eine Epoche der Ersten-Male, und in den<br />
Gymnasialklassen beginnt Dr. Cäcilie Wendt ihre Unterrichtstätigkeit.<br />
Wenige Monate vor Schulbeginn war<br />
aus Cäcilie eine Frau Doktor geworden, Mathematik<br />
und Physik, und der Rektor der Wiener Universität<br />
hatte gesprochen:<br />
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»Es ereignet sich heute an unserer Universität zum<br />
erstenmale, dass unter den Candidaten des Doctorates<br />
eine Dame sich befindet, und da erscheint es mir von<br />
Bedeutung, dass Sie, mein Fräulein, sich ein Wissensgebiet<br />
gewählt haben, welches zu den abstractesten<br />
und schwierigsten gehört, welche der Menschengeist<br />
geschaffen, dass Sie aber trotzdem Ihr Fachrigorosum<br />
mit Auszeichnung abgelegt und durch eine vorzügliche<br />
Dissertation Ihre Vertrautheit mit diesem Fache, der<br />
Mathematik, nachgewiesen haben, zum Beweise, dass<br />
Anlage und Begabung selbst für die schwierigsten Wissenschaftsgebiete<br />
nicht an das Geschlecht gebunden<br />
sind.« 2 Überzeugungsarbeit leisten, beweisen, eine<br />
Frau nach der anderen, immer wieder zu jener Zeit<br />
zum ersten Mal, und Marietta hineingeboren, in diese<br />
Ersten-Male, zwei Jahrzehnte davon geprägt. Denn so<br />
manche wird Cäcilie folgen; auch Marietta, später.<br />
Vorerst plagt sie sich mit Schreibschrift und artigen<br />
Zöpfen. Dass sie alle überfliegen wird, steht in den<br />
Sternen, die zu jener Zeit der Ersten-Male noch hell<br />
und ganz leuchten; allem keimenden Hass zum Trotz.<br />
Wien – Berlin – Frankfurt am Main – Göteborg – Göttingen<br />
– Paris – Wien<br />
Und der Vater, Dr. Markus Blau, ein k. k. Hof- und<br />
Gerichtsadvokat, und die Mutter Florentine, eine geborene<br />
Goldenzweig. Nomen est omen, denn sie werden<br />
Marietta einen starken Ast zur Heimat geben, und<br />
die blaue Weite, denn Marietta soll lernen, mehr als zu<br />
ihrer Zeit zumeist erlaubt wurde, sie soll Jahr um Jahr<br />
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die Schule besuchen, das Mädchengymnasium, Hegelgasse<br />
19, und als dieser Ort zu eng wird, übersiedelt die<br />
Schule in die Rahlgasse 4, und Marietta weiß, was sie<br />
will, jetzt ebenso wie später, Kinder-Nervenärztin<br />
möchte sie werden, da wohnt die Familie schon draußen,<br />
im Cottageviertel, in der Grinzingerstraße 93,<br />
nicht mehr in den inneren Bezirken eins bis drei.<br />
Marietta soll studieren, aber nicht Medizin, nein,<br />
Physik und Mathematik, vor allem die aufstrebende<br />
Physik, Alphateilchen 3 , ß-Strahlung, zehn Jahre bevor<br />
jeder dritte Studierende dieses Faches eine Studentin<br />
sein wird, Protonen, Mariettas Welt, y-Strahlung, Absorption,<br />
Neutronen, Mariettas Lied, bis ihr die Krankheit<br />
die Lunge belegt, müde und schwach, sie hat »die<br />
Motten«, so sagt man; sie hat sich angesteckt, bei einem<br />
anderen, vielleicht durch Milch, die sie trank, und sie<br />
muss hustend um Luft ringen, gelblich-grüner Schleim,<br />
Nachtschweiß. Eine Ruhezeit.<br />
Verordnete Pause.<br />
Danach die Auszeichnung, Doktorat wie zuvor Matura,<br />
und dazu die Eltern-Sorgen, Tod des Vaters, die<br />
Mutter versorgt weiterhin. Das Zentralröntgeninstitut<br />
in Wien, die Röntgenröhrenfabrik in Berlin, ein bisschen<br />
eigenes Geld, und Assistentin am Institut für<br />
Physikalische Grundlagen der Medizin in Frankfurt<br />
am Main, zweieinhalb Jahre Deutschland, und wieder<br />
Wien. Weil die Mutter erkrankt ist, und keiner sich<br />
sonst sorgen kann. Wien ist Marietta gut, und Wien ist<br />
Marietta nicht gut, weiß und schwarz, alles fügt sich<br />
ineinander, denn Marietta kann tun, was sie möchte:<br />
Forschen; daran hängt ihr Herz. Das Familienvermögen<br />
erlaubt es, dass sie ohne Bezahlung am Institut für<br />
Radiumforschung tätig ist – wie einhunderteinund-<br />
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siebzig andere auch 4 . Marietta will beweisen, was sie<br />
kann, und nach sieben Jahren schreibt ihr einer zu: minutiöse<br />
Präcision, theoretisches und experimentelles<br />
Können, Ausdauer und peinlichste Gewissenhaftigkeit.<br />
5 Weshalb Marietta ein Stipendium des »Verbandes<br />
Österreichischer Akademikerinnen« erhält, und<br />
dieses sowie die verbesserte Gesundheit der Mutter ermöglichen<br />
Marietta Göttingen und Paris, den Gott<br />
Professor Pohl und die gestrenge Marie Curie, von<br />
Alpha-Partikeln in Beryllium ausgelöste Neutronenstrahlen.<br />
Von Paris jedoch führt kein Weg nach Deutschland<br />
zurück, denn Göttingen ist schon braun gesprenkelt,<br />
und Marietta wieder in Wien.<br />
Marietta denkt, sie könne sich nun um eine Assistentinnenstelle<br />
bewerben, um Entgelt für ihre Arbeit,<br />
denn sie leiste Wesentliches, und sie fragt mit leiser<br />
Stimme, überlegt und langsam, wie es ihrer Art entspricht.<br />
Sie sind Frau und Jüdin, das ist einfach zu viel,<br />
sagt man ihr, und sie kann es nicht ändern, das eine<br />
nicht, das andere nicht.<br />
Dass dies nicht nur ihr bestimmt, nimmt allem nicht<br />
den Stachel, der sich ins Fleisch bohrt, Jahr für Jahr.<br />
Frau und Jüdin, und Hans Pettersson, ein Schwede in<br />
Wien, im Streit mit Rutherford und Chadwick aus<br />
Cambridge, Pettersson, der sagt, am Wiener Radiuminstitut<br />
könne man alles machen. Er ist es, der die<br />
Atomzertrümmerungsgruppe leitet, und er bittet Marietta.<br />
Er schlägt Marietta vor.<br />
Er weist Marietta darauf hin und zu.<br />
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1924, das Jahr, als der Schilling die Krone ersetzt, 1924,<br />
und in Österreich wird Radiogeschichte geschrieben,<br />
während in der Mongolei Frauen das Wahlrecht erhalten,<br />
1924, und Marietta beginnt zu untersuchen, ob<br />
nicht photographische Emulsionen zum Nachweis<br />
von Atomzertrümmerungsprozessen verwendet werden<br />
könnten.<br />
Denn Pettersson meint, dem sei so, er suche nur eine<br />
objektivierbare Variante, ergänzend zur bisher verwendeten<br />
Szintillationsmethode; und Marietta forscht:<br />
photographische Platten von Ilford, und Pinakryptol,<br />
reine Asorptionskoeffizienten, Ionisation, und Marietta<br />
beschreibt langwierige vergebliche Versuche, bis es ihr<br />
gelingt, die Bahnspuren von Protonen nachzuweisen,<br />
Streukoeffizienten, photographische Intensitätsmessung.<br />
Spuren der Strahlung an ihrer Hand, Blasen, Verbrennungen<br />
nicht unähnlich. Und Marietta verfasst<br />
Essay um Essay, immer wieder mit ihren Doktorandinnen,<br />
Elisabeth Rona, H-Partikeln, oder Elisabeth<br />
Kara-Michailova, die durchdringende Strahlung des<br />
Poloniums …<br />
»Wohl die größten Vorteile der photographischen<br />
Methode«, schreibt Marietta, »liegen in der Einfachheit,<br />
mit der Experimente bewerkstelligt werden können«,<br />
schreibt Marietta, und die Einfachheit der Methode<br />
wird sie begleiten, über viele Jahre, denn was sie<br />
für dieses kleine, tragbare Labor benötigt: eine Schachtel<br />
Photoplatten, ein Mikroskop, einige einfache Chemikalien,<br />
als Frau und Jüdin ist es wesentlich, mobil zu<br />
sein, es ist bereits der Tanz am Abgrund, Ilford-Photoplatten,<br />
und es wird nicht so werden, ein Mikroskop,<br />
und es wird nichts geschehen, einige einfache Chemi-<br />
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kalien, und die Arbeit verankert, wenn der Boden<br />
wankt. Einstein fühlt für sie vor, auch wenn er glaubt,<br />
es sei Hitler, der wanke, und nicht der Boden, und den<br />
Blick ins Mikroskopenauge, konzentriert, und dann:<br />
Das Abklingen des latenten Bildes, es löscht sich aus,<br />
verändert sich, wird nicht Bestand haben, denn Frau<br />
und Jüdin, das ist zu viel, das war schon in den späten<br />
1920er-Jahren zu viel, erst recht 1932, 33, 34, 35, 36, 37,<br />
38. Ende.<br />
Zurück.<br />
1932, und Marietta findet in ihrer Doktorandin eine<br />
Mitarbeiterin, Hertha Wambacher, der das R im Namen<br />
zur Wärme fehlt, groß, blond, kräftig und laut,<br />
überzeugt von ihren Vorrechten seit Ahnen und Ahninnen,<br />
Frau ist sie auch, aber keine Jüdin. Die beiden<br />
ungleichen Frauen eint die ehemalige Schule, die Rahlgasse,<br />
und sie arbeiten zusammen, Marietta, die Wissende,<br />
die Entdeckende, und Hertha, Mitglied der<br />
Heimwehr, und nach zwei Jahren gemeinsamer Arbeit,<br />
kornlose Emulsion, Fremdabsorption, Alkalihalogenidkristallen,<br />
trägt Hertha den Antrag zur Aufnahme<br />
in die NSDAP in der Tasche, Desensibilisierung,<br />
1934, zur Frage der Verteilung, lange bevor Österreich<br />
nicht mehr Österreich, Bromsallösung, photographische<br />
Ultrastrahluntersuchungen, simultaneous emission.<br />
Marietta und Hertha forschen Seite an Seite, und<br />
sie entdecken die Sterne.<br />
Mariettas Augensterne sehen Himmelsmuster auf<br />
Photoplatten gebannt, ineinanderfließende Linien,<br />
dort, wo sie aneinanderstoßen, Sterne über Sterne, so<br />
weit das Auge reicht. Zertrümmerungssterne, nennt<br />
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Marietta, was sie sieht. Die Braunhemden bemerkt sie<br />
nur aus der Entfernung; ihre Forschungspläne sind<br />
wichtiger, die Gefahr scheint ihr noch gebannt: Freie<br />
oder mit dünnen Folien verschiedenster Materialien<br />
bedeckte Emulsionen werden exponiert, denn die<br />
Sterngröße hängt ab. Verschieden gewachsene Zertrümmerungssterne<br />
sieht Marietta. Ihre Größe mitbestimmt<br />
durch die Atomnummer, Ordnungszahl, Kernladungszahl<br />
– 2, 3, 4 – des zu zertrümmernden Elements.<br />
Marietta ignoriert die Strahlenschäden, die das<br />
Wachstum der Nägel hemmen, nässende Blasen, zur<br />
Behandlung werden Umschläge mit essigsaurer Tonerde<br />
empfohlen, und weil sie, Marietta und Hertha, entdecken,<br />
erhalten sie den Preis, den Marietta teilt, mit<br />
Hertha, der ein R zur Wärme fehlt. Jeder ihre 500<br />
Schilling, und Marietta notiert ihren »herzlichsten und<br />
ergebensten Dank. In Verehrung und Dankbarkeit«<br />
und schreibt das Jahr 1936, obgleich es 1937 sein müsste,<br />
oben auf ihren Verehrungs-und-Dankbarkeits-<br />
Brief, und dann ist das Schreiben schon im Kuvert, zu<br />
spät, um noch etwas daran zu ändern.<br />
Hinauf in die Berge mit jenen Emulsionen! Für Geld<br />
soll ein Ballon fliegen, Emulsionen an Bord, der Ballon<br />
solle Marietta irgendwann bis zum Nobelpreis bringen,<br />
und alle Ergebnisse zuvor unter Mariettas Mikroskop,<br />
wo sie nobel zu analysieren wären. Und ein weiterer<br />
Nobel, Jahre später, drei Mal wird Marietta für<br />
jenen Preis vorgeschlagen, drei Mal wird nichts daraus<br />
werden. Andere werden bekommen, wofür sie Vorarbeit<br />
leistete, Männer werden bekommen, wofür sie tätig<br />
war. Ein anderer, ein glücklicherer, ein begünstigter<br />
– vom Schicksal, von der Geographie, den Genen,<br />
von seinen Sternen, er führt aus, was Marietta plante,<br />
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und entdeckt das Pion sowie die Ehrung des Nobelpreises,<br />
Cecil F. Powell, Nobel im Preis, Strich durch<br />
die Rechnung. Ende.<br />
Zurück.<br />
Wien – Oslo – Hamburg – London<br />
Marietta ist Frau und Jüdin, und heavy particles, cosmic<br />
rays ändern nichts daran, es geht nur noch sobre la existencia<br />
in jenem März, sie schiebt die Abreise, Tag um<br />
Tag, bis zum 12. des Monats, und sieben Uhr abends<br />
ist es, als sie ihre Stadt und Mutter verlässt. Bloß ein<br />
Forschungsaufenthalt, so wird es genannt werden, bei<br />
Professorin Ellen Gleditsch, Anorganische Chemie,<br />
Wien – Oslo, »u. habe es immer wieder verschoben«,<br />
wird Marietta schreiben, »u. bin vielleicht als letzter<br />
Oesterreicher über die deutsche Grenze gekommen« 6 ,<br />
Frau und Jüdin und Ausländerin; nun in Sicherheit.<br />
Vorerst, denn die Quote ist erschöpft, und die Quote<br />
bestimmt, wer bleiben kann, wer gehen muss: Marietta<br />
zum Beispiel.<br />
»Man wußte«, wird Marietta schreiben, »man wußte in<br />
Wien bis zum letzten Moment nicht, was uns<br />
bevorstand«, wird Marietta schreiben, »mir kamen erst<br />
auf der Reise die deutschen Truppen entgegen« 7 , wird<br />
Marietta schreiben, die nicht mehr weiß, wer sie ist, hoffnungslos<br />
und Flüchtling; oder hoffnungloser Flüchtling?<br />
Und keine Möglichkeit, Boden zu finden, denn Norwegen<br />
ist kühl, und keiner hat an jenem Ort auf sie gewartet,<br />
weder die dortige Physik noch die Universität.<br />
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Albert Einstein schreitet ein. Es sei eine wunderbare<br />
Gelegenheit! Mexiko müsse sich glücklich schätzen,<br />
wenn es diesem Land gelänge, jene begabte Experimental-Physikerin<br />
in sein Klima zu verpflanzen, denn<br />
Marietta könne auch mit den bescheidensten Mitteln<br />
Großes leisten, Mexiko werde sich ein dauerndes Verdienst<br />
um die Wissenschaftspflege erwerben, wenn<br />
man Marietta rufe, und sie zum Kommen nach und<br />
Bleiben an der Technischen Hochschule zu bewegen<br />
sei.<br />
Und Marietta fliegt, ein Luftschiff unter den Sternen,<br />
über skandinavische Erde, unter den Sternen bis Hamburg,<br />
Zwischenlandung, und Marietta wird befohlen:<br />
Aussteigen, alles Gepäck offenlegen …<br />
Mariettas Photoplatten. Mariettas Aufzeichnungen,<br />
Samariumlösung, Alpha-Teilchen mit Reichweiten<br />
zwischen, Mariettas Pläne für zu machende Experimente.<br />
Werden konfisziert. Beschlagnahmt. Geklaut.<br />
Marietta schreibt, es bestünde kein Zweifel: Diese<br />
Aktion sei vorbereitet gewesen, man habe gewusst,<br />
wonach man suchen wolle. 8<br />
Ihr aber wird gestattet weiter zu fliegen, von Hamburg<br />
nach London, und bis in jenes ferne Land namens<br />
México, Marietta darf sich selbst retten, Marietta im<br />
Flugzeug, Landung in London, wo Mariettas Mutter<br />
bereits wartet, und Mutter und Tochter besteigen das<br />
Schiff nach México.<br />
Ihre Arbeit nützen andere, Wambacher und Stetter,<br />
dem Hertha, der das R zur Wärme fehlt, nun assistiert;<br />
er ist überzeugt wie sie.<br />
Marietta liest von ihren eigenen Arbeiten, darunter<br />
stehen fremde Namen, Stetter und Wambacher, ihnen<br />
gehört die Welt, und Marietta nur ein Eckchen, irgend-<br />
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wo, im fernen México DF. Wambacher und Stetter,<br />
und Marietta in México DF nützt die bescheidenen<br />
Mittel, sobre la existencia.<br />
Und Hertha, der ein R zur Wärme fehlt, schreibt<br />
1940, erbost über die erfahrene Ablehnung, denn sie sei<br />
zwar Frau, doch eine Überzeugte, noch vor dem Beginn<br />
sei sie dies gewesen, und sie wolle so gerne und so<br />
lange schon dorthin, wo sie sich Zuhause fühle, zu Unrecht<br />
sei ihr Antrag auf Mitgliedschaft abgelehnt worden.<br />
Sie sei doch wie all die anderen »aufrechten illegalen<br />
Nazis« 9 . »Natürlich habe ich«, schreibt Hertha,<br />
»mich nicht dieser Schweinerei unterworfen und mich<br />
zuerst an das Büro für Mitgliedschaft in Wien gewandt«,<br />
schreibt Hertha, »Ich bestehe darauf, dass<br />
[S]ie sich endlich mit meinem Sachverhalt in einer Weise<br />
befassen, wie es sich für ein Nationalsozialistisches<br />
Amt gehört«, schreibt Hertha, die gedenkt, »diese Sache<br />
durch alle rechtlichen Instanzen bis hinauf in das<br />
Amt des Führers zu verfolgen …« 10 , ja, sie möchte sich<br />
nennen dürfen, was sie längst ist, will ihren Beitrag<br />
leisten, nun endlich offiziell, Geld in den Klingelbeutel<br />
der Partei.<br />
México Distrito Federal / Mexiko-Stadt<br />
Und Marietta in Mexiko lehrt zum Überleben. Sie<br />
kann nicht mehr arbeiten, weder Geräte, noch Zeit; arbeiten,<br />
das heißt in ihren Augen forschen, und sie sieht<br />
sich um, Vorträge in Morelia, und für wenige Wochen,<br />
ein bisschen Hoffnung: ein Labor sei vorhanden, noch<br />
verpackt in jenen Kisten, in denen es geliefert wurde,<br />
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denn keiner könne es aufbauen, Marietta solle, Marietta<br />
müsse kommen. Plötzlich jedoch fehlen einige Kisten,<br />
tauchen danach im Pfandleihhaus auf … Und<br />
Marietta bleibt, wo sie ist, México DF, und ihr Leben<br />
in jener Stadt sei »außerordentlich anregend u. interessant<br />
aber auch ziemlich abenteuerlich« gewesen, wird<br />
Marietta Jahre danach schreiben. »Ich«, wird Marietta<br />
schreiben, »habe damals so viel Güte und Liebe von<br />
Menschen dort empfangen, daß mir die Erinnerung daran<br />
sehr wertvoll ist« 11 , wird Marietta schreiben, im<br />
Nachhinein, als die Worte leichter fielen, weil ihr Gewicht<br />
weniger schwer wog, und die guten Erinnerungen<br />
die Enttäuschungen übertünchten.<br />
Zurück.<br />
México DF – New York – Long Island – Miami<br />
Und Albert Einstein gebeten. »Wenn man mich nur<br />
einfach arbeiten ließe, dann könnte ich beweisen, zumindest<br />
im Rahmen meines Könnens, dass ein Emigrant<br />
mehr sein kann als nur eine Belastung« 12 , und<br />
Marietta lehrt, kann nicht forschen, nur einige wenige<br />
Essays, la radiactividad, el estado térmico, notas para,<br />
»If one would simply let me work. I could prove, at<br />
least to the best of my abilities, that an emigrant can be<br />
more than a useless burden« 13 , nach drei vergeudeten<br />
Jahren ohne Forschung, »ser más que una carga« 14 ,<br />
Einstein erneut, ein Brief an die mexikanische Botschaft,<br />
man möge Marietta endlich »the opportunity<br />
for useful work« 15 einräumen, bitte, dann würde sie<br />
sicher »valuable service to your country« 16 leisten, Ma-<br />
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riettas Mutter stirbt an Leberkrebs, alle Ohren sind<br />
taub, und Marietta trägt Flecktyphus in sich, Frau und<br />
Jüdin und nur eine Belastung? Von México DF weiter<br />
nach New York, wo ihr jüngerer Bruder lebt. Und Marietta<br />
verfasst Essay um Essay, extended alpha-sources,<br />
two-bath method, grain density, lehrt an der Columbia<br />
University und in Brookhaven auf Long Island, in the<br />
light elements of the emulsion, und als eine den dortigen<br />
Direktor Jahrzehnte später befragte, weshalb<br />
man denn Marietta so ignorant behandelt habe, erklärte<br />
er lakonisch: »Women were not treated very well in<br />
those days« 17 , slow K-mesons, produced in K-capture<br />
stars at rest, Frau und Jüdin und Emigrantin, das sei<br />
noch immer zu viel.<br />
Marietta lernt Auto fahren; das heißt: Sie hält an, wo<br />
ihr ein geeigneter Ort dafür zu sein dünkt, vielleicht<br />
um eine Zigarette zu rauchen, vielleicht mitten auf dem<br />
Bahnübergang, und selbst der Zug bleibt stehen, damit<br />
Marietta passieren kann. Selten jedoch erlischt ein<br />
Stoppschild, ändert eine Ampel ihre Farbe für Marietta,<br />
das Autogespenst, deren Kopf kaum über dem<br />
Lenkrad zu sehen ist.<br />
Und Marietta-Flüchtling nimmt eine andere auf, eine<br />
junge Ungarin, es ist das Jahr 1956, der ungarische<br />
Volksaufstand wird niedergeschlagen, eine Verwandte<br />
von Bekannten, und Marietta in Miami, das sie ein<br />
bisschen an México DF erinnere, auch wenn Miami die<br />
Berge fehlen, natürlich, sagt Marietta, und dass in Miami<br />
alles »artificial« sei, sagt Marietta, für Touristen gemacht,<br />
fürchterliche, aufgedonnerte und laute Leute,<br />
sagt Marietta. Miami Beach habe sie einmal besucht,<br />
doch könne man dort die See hinter all den pompösen<br />
Hotels nicht mehr erkennen. In der Nähe ihres Hauses<br />
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jedoch, erzählt Marietta, in der Nähe ihres Hauses sei<br />
eine Brücke, die zu einer kleinen Insel führe, Palmen<br />
am Strand, und sie habe einen Mondscheinspaziergang<br />
gemacht, und die Schatten der Palmen auf dem smaragdgrünen<br />
Wasser genossen …<br />
Schönheit umgebe ihr Haus, erzählt Marietta, ein<br />
Garten mit Kokospalmen, Mango- und Avocadobäumen.<br />
Und erst die Vögel, sagt Marietta, wunderbare<br />
Vögel, selbst wenn die Konturen nach und nach verschwimmen,<br />
aber was, sagt Marietta leise, sei all dies<br />
im Vergleich zu Wien und den schönen Tagen, die sie<br />
dort verbracht habe. 18 Erinnerungen, wie durch einen<br />
Schleier, and other interactions of, ja, trotzdem mache<br />
es sie froh, Industrie und Lehre gegen die Wissenschaft<br />
eintauschen zu dürfen, endlich wieder, alles durch eine<br />
Scheibe aus Milchglas betrachtet, und alte Freunde aus<br />
den Wiener Tagen getroffen, Elisabeth Rona zum Beispiel,<br />
ihre ehemalige Doktorandin, das Bild unscharf,<br />
denn Mariettas Augen sind nicht mehr, wie sie früher<br />
waren, das Leben hat sie zertrümmert und grau gemacht,<br />
und Mariettas Hände sind nicht mehr, was sie<br />
einmal waren, vernarbt, verhornt und punktweise auftretende<br />
Blutungen unter der Haut. Alle natürlichen<br />
Gravuren ausradiert, da ist keine Herzlinie mehr, keine<br />
Kopf- und keine Lebenslinie, die Strahlen, die Mariettas<br />
Leben sind, haben sie zerstört, und Marietta sieht ihre<br />
Hände nur noch durch Grauschleier, auch der Mangobaum<br />
ist grau, und grau der Himmel, Tag für Tag, selbst<br />
in Miami, und Marietta weiß, sie muss etwas tun, sie<br />
muss das Grau aufhalten, wenn es ihr nicht den Blick<br />
verdrängen soll, bis alles in Schwärze versinkt.<br />
Vor ihrer Zeit ist Marietta eine alte Frau geworden,<br />
und sie stürzt, der Arm gebrochen, diese Kosten ver-<br />
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schlingen viel zu viel, ihre Rente in Miami würde nie<br />
genügen, um nach dem Arm auch noch die Augen zu<br />
retten, es ist das Jahr 1960, und Hertha, der ein R zur<br />
Wärme fehlt, ist seit zehn Jahren tot. Marietta vergleicht<br />
die Arztkosten und kehrt zurück. Es ist vernünftiger<br />
so.<br />
Miami – Wien<br />
Und da ist Wien, und die Landschaft, die sie liebt, die<br />
Musik, und wieder kein Gehalt für ihre Arbeit, und<br />
Berta Karlik, langjährig gekannt, nunmehr ist Berta<br />
Institutsleiterin. Berta hat keine Zeit, hat ihr eigenes<br />
Leben. Im Nachhinein meinte Berta, Marietta habe<br />
sich doch selbst ins Eck gestellt. 19 Also ihre eigene Verantwortung,<br />
dass sie nicht wusste wie heraus, Frau und<br />
Jüdin und nicht zu ändern.<br />
Der Chirurg nun betrachtet Mariettas Augen und erklärt,<br />
es sei unmöglich, unverantwortlich, er könne das<br />
Grau nicht bei Seite schieben, Marietta sei viel zu<br />
schwach. Also arbeitet Marietta weiter, betreut Dissertationen<br />
am CERN und forscht am Radiuminstitut, an<br />
dem wieder und das seit Jahren die Alten sitzen: Georg<br />
Stetter ist noch dort. Seine Liste all jener, die als »politisch<br />
unzuverlässig« einzustufen seien, hat ihm nicht<br />
geschadet, er sei ja nur gelegentlich ein Nazi gewesen,<br />
und auch dies bloß, um Stefan Meyer und Hans Thirring<br />
zu schützen. Obendrein habe ihm die NSDAP<br />
niemals eine Mitgliederkarte ausgefolgt, somit sei er<br />
gemäß deren Statuten kein Mitglied gewesen. Das müsse<br />
man verstehen …<br />
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Marlen <strong>Schachinger</strong> | <strong>Unzeit</strong> | © 2016 Otto Müller Verlag | ISBN 978-3-7013-1241-2<br />
Und Stetter gibt Ortner die Hand, denn Ortner habe<br />
keinesfalls gewusst, wohin seine Mitgliedsbeiträge gegangen<br />
wären, die er der NSDAP bezahlt habe, das<br />
müsse man ihm glauben, er habe nur karitative Zwecke<br />
unterstützen wollen, und eine ehemalige Studentin beschwört,<br />
sie sei damals »Mischling« genannt worden,<br />
dennoch habe Ortner ihr geholfen, das Studium zu beenden.<br />
Und Stetter und Ortner geben Kirsch die Hand: Seine<br />
Entlassung nach dem Krieg dauert bereits zwei Jahre,<br />
zwei Monate, nun habe er sich seinen Ruhestand<br />
wohlweislich verdient, er sei ja bloß ein alter Mann.<br />
Nur Hertha Wambacher, die hatte man nach dem<br />
Krieg zum Teufel gejagt …<br />
Und Jahre danach kommt Marietta zurück. Sie will<br />
Stetter und Ortner nicht die Hand geben, Tau-Neutron<br />
und fotografitseckie emulsii, und nein, sie wolle<br />
kein Geld, nicht von Ilford, nicht von Kodak, keine<br />
Ehrenpension, so weit unten sei ihr Herz noch lange<br />
nicht, Geld ohne entsprechende Arbeitsleistung?, unvorstellbar,<br />
wo sie früher ohne entsprechendes Entgelt<br />
arbeitete, ein bisschen Bern und Genf, auch den Bruder<br />
mag sie nicht um finanzielle Hilfe bitten, und sie geht<br />
über die Straße, sieht die Autos kaum. »Wenn mich jemand<br />
zusammenführt«, sagt Marietta, »wenn mich jemand<br />
zusammenführt, dann hat er mehr Scherereien<br />
als ich« 20 , sagt Marietta.<br />
Endlich: die Augenoperation. Nun könne sie nach<br />
Amerika zurück, nach New York, zu Freunden …<br />
Doch schlägt ihr die Operation aufs Herz, das herzlich<br />
Weite, das die Sterne gesehen hatte, und vor den Trümmern<br />
fliehen musste, weit über das blaue Meer, bis<br />
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dorthin, wo Mangobäume und Avocados Schatten<br />
werfen, die Operation schlägt ihr aufs Herz, und da ist<br />
noch etwas in ihr, dem sie nicht auf den Grund gehen<br />
mag, nächtliche Atemnot, ihr Gang erschüttert, die<br />
Sprache zerbricht …<br />
Es folgen Tage im Krankenhaus, sie jedoch will nicht<br />
bleiben, kann nicht bleiben, zu teuer kämen ihr die<br />
Stunden dort zu stehen; auf Wunsch der Patientin Entlassung<br />
in häusliche Pflege … Wer aber soll nun für sie<br />
sorgen? Auf dem Patientinnenblatt des Krankenhauses<br />
wird als Vertrauensperson der Name der Hausbesorgerin<br />
vermerkt; nicht der Bruder, nicht die Freunde.<br />
Marietta mag nicht klagen, mag niemanden bitten, und<br />
der Schatten auf der Lunge verdichtet sich, der Tumor<br />
breitet sich weiter aus, und Marietta erneut im Krankenhaus,<br />
wo ihr bald das Herz holpert, sein letzter<br />
Schlag im Januar.<br />
Und niemand ruft ihr nach. Niemand schreibt: Am 27.<br />
Januar 1970 starb die exzellente Physikerin Marietta<br />
Blau, geboren in Wien am 29. April 1894, Entdeckerin<br />
der Zertrümmerungssterne.<br />
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