SIMULATION UND TEST
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Das Wirtschaftsfachmagazin für Ingenieure<br />
Deutschland / Österreich € 14,90<br />
Schweiz CHF 18,35<br />
ISSN 1866-5004, 10811<br />
April / Mai 2016 2-2016<br />
www.economic-engineering.de<br />
TRANSFORMATION<br />
<strong>SIMULATION</strong> <strong>UND</strong> <strong>TEST</strong><br />
GESCHICKT KOMBINIEREN<br />
AUTONOMES FAHREN<br />
Hersteller im Spagat<br />
zwischen strategischen<br />
Partnerschaften und<br />
Eigenentwicklung<br />
WERKZEUGMASCHINEN<br />
Mit Cloud Computing und<br />
Industrie 4.0 Mehrwert in<br />
der Zerspanungsbranche<br />
schaffen<br />
digitalPLANT: Trends in der Anlagenplanung ++ Vorschau Hannover Messe 2016 ++ Wie PLM und IoT zusammenpassen
T I T E L<br />
Gemischt virtuell / realer Prototyp am<br />
Antriebsstrangprüfstand
M O B I L I T Ä T S I N D U S T R I E<br />
Durch Kombination von Simulation<br />
und Test in eine<br />
NEUE ÄRA<br />
Bestehendes bewahren und<br />
zugleich in ein völlig neues<br />
Entwicklungszeitalter eintreten.<br />
So lassen sich die Vorteile der<br />
Co-Simulation auf Basis der<br />
AVL Integrated and Open<br />
Development Platform auf den<br />
Punkt bringen. Die offene<br />
Entwicklungsplattform<br />
von AVL bringt endlich das<br />
zusammen, was schon längst<br />
zusammen gehört: physischer<br />
Test und Virtual Prototyping.<br />
Von BERNHARD D. VALNION<br />
Wolfgang Puntigam<br />
Die Automobilindustrie war bereits von<br />
Beginn für die Sprengung bestehender<br />
Grenzen und für faszinierende und innovative<br />
neue Lösungen und Konzepte bekannt. Besonders<br />
in der heutigen Zeit, in der es immer<br />
schwerer wird, die hohe Komplexität in der<br />
Fahrzeugentwicklung zu beherrschen, bedarf<br />
es neuer transformaler Ansätze um vorhandenes<br />
Wissen, Know-How und Kompetenz<br />
aus einzelnen Entwicklungsabteilungen<br />
zu bündeln.<br />
Dieses vorhandene Wissen ist unwahrscheinlich<br />
wertvoll und komplex. Es steckt in<br />
Bilder: AVL<br />
den Köpfen der Mitarbeiter, in Prozessen, in<br />
Simulationsmodellen, liegt in Datenquellen,<br />
in Beschreibungen von Anforderungen in<br />
Testverfahren und natürlich in den Produkten<br />
und seinen Bauteilen. Es ist von größter<br />
Bedeutung dieses Wissen zu bewahren,<br />
gleichzeitig verlangen aber steigende Entwicklungskosten,<br />
Variantenkomplexität, oder<br />
sinkende Time-to-Market danach, dass wir<br />
neue Wege beschreiten. Die enorme Herausforderung,<br />
die sich daraus ergibt ist es, bestehende<br />
Expertise zu erhalten und zu nutzen<br />
und gleichzeitig die Effizienz im Entwicklungsprozess<br />
zu steigern und den Entwicklungsprozess<br />
agiler zu gestalten. Genau hier<br />
setzt die „Integrated and Open Development<br />
Platform“ der AVL List GmbH mit Sitz in<br />
Graz, Österreich, an. Die integrierte und offene<br />
Entwicklungsplattform hat die Vision<br />
virtuelle und reale Welt zu verbinden. Ein<br />
wesentlicher Teil dieser Strategie ist es die<br />
funktionsorientierte Entwicklung in den<br />
frühen Phasen der Produktentstehung abzusichern.<br />
Der reale Prototyp wird in den<br />
frühen Phasen durch virtuelle Prototypen<br />
ersetzt und im Laufe der Entwicklung zu<br />
einem kombiniert virtuell/realen Prototypen<br />
weiterentwickelt, der schließlich aus einer<br />
Kombination von realen und virtuellen Komponenten<br />
besteht.<br />
Anstatt physische Prototypen und Prüfstandsversuche<br />
zu nutzen, wird vermehrt versucht<br />
über die Simulation von virtuellen<br />
Prototypen und die gezielte Berechnung von<br />
Systemeigenschaften (Stichwort „Systemsimulation“)<br />
möglichst viele Design-Entscheidungen<br />
möglichst früh herbeizuführen.<br />
Hierbei kommen Methoden, wie multidisziplinäre<br />
Simulation, „Model in the Loop“<br />
(MiL), „Software in the Loop“ (SiL) und<br />
„Hardware in the Loop“ (HiL) zum Einsatz.<br />
Multidisziplinäre Simulation bedeutet in<br />
ECONOMIC ENGINEERING 2/2016 33
MOBILITÄTSINDUSTRIE<br />
OFFICE<br />
<strong>SIMULATION</strong><br />
XIL<br />
<strong>TEST</strong><br />
E-MOTOR<br />
<strong>TEST</strong> BED<br />
BATTERY<br />
<strong>TEST</strong> BED<br />
ENGINE<br />
<strong>TEST</strong> BED<br />
POWERTRAIN<br />
<strong>TEST</strong> BED<br />
CHASSIS<br />
DYNO<br />
ROAD<br />
<strong>TEST</strong><br />
Software-Lösungen von<br />
IODP. Data.CONNECT<br />
befindet sich noch im<br />
Prototypen-Stadium<br />
Model Backbone<br />
Execution Backbone<br />
Data Backbone<br />
Process Backbone<br />
Automation Backbone<br />
Model.CONNECT<br />
Data.CONNECT<br />
Quelle: AVL 2016<br />
diesem Zusammenhang die modelltechnische<br />
Abbildung mehrerer physikalischer Ansätze,<br />
um Wechselwirkungen zu bewerten. Bei MiL<br />
werden Simulationsmodelle und Kontrollfunktionen<br />
integriert, um ein Design auf<br />
einem hohen Abstraktionsniveau abzusichern.<br />
Bei SiL liegen die Kontrollfunktionen bereits<br />
in kompilierter Form vor. Bei HiL-Anwendungen<br />
werden die Kontrollfunktionen<br />
und physisch existierende Hardware, etwa<br />
Steuerungsgeräte, ein ganzer Motor, oder ein<br />
gesamter Antriebstrang unter Echtzeit-<br />
Bedingungen getestet. Hier gilt das Motto:<br />
Alles was nicht real vorhanden ist, wird durch<br />
Simulationsmodelle ergänzt.<br />
Ansätze zur Systemsimulation sind sehr anspruchsvoll,<br />
da sie die vollständige Abbildung<br />
aller Funktionen und Wechselwirkungen<br />
eines Systems und dessen Interaktion<br />
mit seiner Umgebung voraussetzen. In dem<br />
hier beschriebenen Ansatz wird die Systemsimulation<br />
um reale Komponenten ergänzt.<br />
Dies bedeutet, dass im Rahmen der integrierten<br />
und offenen Entwicklungs- umgebung<br />
von AVL nicht mehr zwischen realen<br />
und simulierten Komponenten unterschieden<br />
wird. Es steht immer das System als Ganzes<br />
im Vordergrund. Der Reifegrad des Systems<br />
und all seiner virtuellen und realen Komponenten<br />
wird durch die zu bewertenden Anforderungen<br />
bestimmt.<br />
Von Anfang an erfolgreich<br />
Insbesondere bei der Entwicklung eines mechatronischen<br />
Systems wird verlangt, dass die<br />
disziplinübergreifenden Abhängigkeiten in<br />
den frühen Entwicklungsphasen vollständig<br />
virtuell abgebildet sind. Diese Forderung<br />
wird auch dadurch bestärkt, dass zukünftige<br />
Fahrzeugeigenschaften immer stärker durch<br />
Software und Softwarefunktionen bestimmt<br />
sein werden.<br />
Ein Beispiel um dies zu verdeutlichen ist die<br />
Aufgabe der Entwicklung von Betriebsstrategien<br />
für Plug-in-Hybride oder rein elektrisch<br />
betriebene Fahrzeuge. Die Festlegung<br />
einer Betriebsstrategie hat wesentlichen Einfluss<br />
auf die Dimensionierung der Komponenten<br />
eines mechatronischen Systems.<br />
Sportlich orientierte Strategien, die große und<br />
dynamische Stromgradienten zulassen, erfordern<br />
zum Beispiel größere Dimensionierungen<br />
von elektrischen und thermischen<br />
Komponenten. Werden hier die Komponenten<br />
ohne Berücksichtigung der Betriebsstrategie<br />
ausgelegt und dimensioniert, wird möglicherweise<br />
später die Betriebsstrategie durch die<br />
Hardware-Komponenten bestimmt und hat<br />
gegebenenfalls Einschränkungen in den<br />
gewünschten Fahrzeugeigenschaften zur<br />
Folge. Schlussfolgernd muss hier bereits in<br />
der frühen Entwicklungsphase das Wechselspiel<br />
zwischen Komponenten und Betriebsstrategie<br />
– die als Softwarefunktionen umgesetzt<br />
werden – berücksichtigt werden. Hier<br />
kann ein funktionaler virtueller Prototyp<br />
helfen, die gewünschten Produkteigenschaften<br />
optimal zu gestalten.<br />
Zwar stehen entsprechende Simulationswerkzeuge<br />
und Modellierungssprachen zur<br />
Verfügung, jedoch wird aufgrund der Aufgabenteilung<br />
— die einzelnen Abteilungen<br />
bearbeiten unterschiedliche Domänen — mit<br />
unterschiedlichen Werkzeugen gearbeitet.<br />
Eine sukzessive Integration der (Sub-)Berechnungsmodelle<br />
in eine einzige Simulationsumgebung<br />
hat sich bisher als nicht<br />
zielführend herausgestellt, da die Aufwände<br />
dafür zu groß wären. Ein Grund ist darin zu<br />
finden, dass die verwendeten Modelliersprachen<br />
und Algorithmen erheblich an die<br />
domänenspezifischen Berechnungsmodelle<br />
angepasst sind und nicht einfach auf andere<br />
Simulation Virtual Test Bed Test Bed Chassis Dyno Road Test<br />
Im Rahmen von Lead-<br />
Projekten wird gemeinsam<br />
mit dem Kunden die<br />
Wiederverwendung von<br />
Simulationsmodellen für<br />
weiteres Frontloading<br />
genutzt<br />
Simulation Virtual Test Bed Test Bed Chassis Dyno Road Test<br />
Quelle: AVL 2016<br />
34 ECONOMIC ENGINEERING 2/2016
FRONTLOADING<br />
Anwendungen übertragen werden können.<br />
Außerdem sollte man sich vor Augen führen,<br />
dass in den domänenspezifischen Berechnungsmodellen<br />
viel Know-How der einzelnen<br />
Abteilungen steckt, das über Jahre<br />
aufgebaut wurde, etabliert ist, die genutzten<br />
Prozesse validiert und folglich mit<br />
hoher Effizienz Anwendung findet. Daher<br />
erweist sich Co-Simulation, oder auch<br />
„gekoppelte Simulation“, immer öfter als<br />
Lösungsweg, der einerseits die Schwierigkeiten<br />
bei der Gesamtsystemmodellierung<br />
überwindet und sich andererseits vorhandenes<br />
Wissen, Modelle und Daten zu<br />
Nutze macht.<br />
Aus heterogen wird durchgängig –<br />
im Dienste der Anwendung<br />
Co-Simulation beschreibt nicht das Gesamtsystem<br />
mit einer einzigen Modelliersprache,<br />
sondern integriert Elemente aus verschiedenen<br />
Domänen. So wird eine effiziente<br />
Absicherung von Konfigurationen auch in<br />
Kombination mit Softwarefunktionen möglich.<br />
Mit der Kopplung von Hardware und<br />
Simulation, also der Verschmelzung von<br />
Simulation mit dem konventionellen Versuch,<br />
wird im Bereich der „klassische Co-<br />
Simulation“ ein neues Kapitel aufgeschlagen,<br />
wobei die bisherige Arbeitsweise weiter bestehen<br />
bleiben kann. Beispielsweise wird so<br />
die Variantenentwicklung nachhaltig dabei<br />
unterstützt, in den frühen Entwicklungsphasen<br />
die richtige Auswahl an Fahrzeugkomponenten<br />
für das jeweilige Fahrzeugprojekt<br />
zu treffen. Indem Sub-Modelle<br />
nach Bedarf gekoppelt werden, können automatisiert<br />
verschiedenste Fahrzeugkomponententypen<br />
kombiniert und bewertet<br />
werden (Stichwort „Baukastensysteme“).<br />
Eine Auslagerung dieser Variantenrechnungen<br />
in die Cloud steigert zudem die Geschwindigkeit<br />
der Bewertung erheblich.<br />
Werden reale Komponenten in Verbindung<br />
mit virtuellen verwendet (SiL, HiL, Prüfstand),<br />
ist die Echtzeit-Simulation des<br />
Gesamtsystems möglich. Das Ziel eines<br />
solchen Ansatzes ist es nicht mehr zwischen<br />
physisch existierenden und simulierten Komponenten<br />
unterscheiden zu müssen und stets<br />
das Gesamtsystem vor Augen zu haben.<br />
Die Absicherung einer Konfiguration auf<br />
Basis von Co-Simulation bietet auch deswegen<br />
Vorteile, weil die Co-Simulationsanwender<br />
nicht Experten in allen relevanten<br />
Domänen sein können. So können sie sich<br />
also weiterhin auf das eigene Arbeitsfeld beschränken.<br />
Dies vereinfacht die Beherrschung der Komplexität<br />
des Gesamtsystems und ermöglicht<br />
Anwendern aus unterschiedlichen<br />
Disziplinen und Bereichen, wie Simulation<br />
und Versuch, die gleiche Sprache zu sprechen.<br />
Modellbibliotheken steigern Effizienz<br />
Ein CAE-Repository (Simulationsdatenbank)<br />
zur Verwaltung von Modellen und<br />
Simulationsergebnissen ist eine der Grundlagen<br />
eines effizienten, funktionsgetriebenen<br />
Entwicklungsprozesses. In der Pre-Processing-Phase<br />
werden die Modelle, die von<br />
den einzelnen Abteilungen oder Lieferanten<br />
zur Verfügung gestellt werden, auf Gültigkeit<br />
geprüft, mit Metadaten angereichert (zum<br />
Beispiel Informationen zur verwendeten Version<br />
des Simulationstools, Datenformats, der<br />
Modellierungstiefe, Gültigkeitsbereich oder<br />
des Modells) und in der Datenbank mit weiterer<br />
Dokumentation gespeichert. Zu diesem<br />
Zweck können spezielle Simulationsdatenmanagement-<br />
oder PLM-Systeme verwendet<br />
werden, die außerdem die Zugangs- und Versionskontrolle<br />
übernehmen.<br />
Eine andere essentielle Grundlage ist das Vorhandensein<br />
von zweckmäßigen und qualitativ<br />
hochwertigen Simulationsmodellen. Doch<br />
woher kommen solche Simulationsmodelle?<br />
In Zukunft werden verstärkt Komponentenprüfstände<br />
zum Einsatz kommen, um hoch<br />
qualitative Simulationsmodelle zu erzeugen.<br />
Die Integration der einzelnen Komponenten<br />
zu einem Gesamtsystem kann dabei rein<br />
virtuell erfolgen, was eine Art „virtueller Prototypenbau“<br />
erforderlich macht. Diese virtuellen<br />
Prototypen müssen nach dem Vorbild<br />
des physischen Prototypenbaus aufgebaut<br />
werden. Es müssen hier „virtuelle Stücklisten“<br />
geführt werden, die den virtuellen Prototypen<br />
mit den verbauten simulierten Komponenten,<br />
Softwarefunktionen und Applikationsständen<br />
beschreiben. Auch hier gilt es,<br />
vorhandenes Wissen aus der realen Welt in<br />
der virtuellen Welt wiederzuverwenden.<br />
Diese Vorgehensweise lässt sich auch auf<br />
kombiniert virtuell/reale Prototypen übertragen.<br />
Herausforderung: Durchgängige Wiederverwendung<br />
von Simulationsmodellen<br />
Das zuvor Beschriebene liest sich schlüssig<br />
Bild: AVL<br />
und ist zur Umsetzung in der Praxis auch<br />
dringend zu empfehlen, wie das Beispiel<br />
Start/Stopp-Automatik illustrieren soll:<br />
Start/Stopp bedeutet nicht nur, den Motor anoder<br />
abzustellen. Davon ist auch die<br />
Innenraum-Klimatisierung betroffen (wer<br />
will schon, dass an einem heißen Tag an der<br />
Ampel die Klimaanlage abgeschaltet wird,<br />
oder aber, dass man an kalten Wintertagen<br />
frieren muss) oder auch das elektrische<br />
Bordnetz, das bei zu vielen elektrischen Verbrauchern<br />
Gefahr läuft zusammenzubrechen.<br />
Der verstärkte Einzug von elektrischen und<br />
elektrifizierten Komponenten sowie Regelungssystemen<br />
verlangt, dass auf eine entsprechende<br />
Stromversorgung noch mehr als<br />
bisher geachtet werden muss. Mit anderen<br />
Worten, die Funktionsabsicherung muss<br />
Domänen-übergreifend stattfinden.<br />
Typischerweise wird versucht, derartige Abhängigkeiten<br />
manuell über Listen zu erfassen<br />
oder es werden nur statische Abhängigkeiten<br />
geprüft.<br />
Dynamische Vorgängen und Wechselwirkungen<br />
stellen hier eine große Herausforderung<br />
dar, da einerseits die Simulationsmodelle<br />
meist nicht kompatibel sind<br />
(lag nie im Interesse der CAE-Systemanbieter)<br />
und andererseits die notwendigen Integrationsstufen<br />
der Prototypen erst sehr spät<br />
in der Fahrzeugentstehung vorliegen. So ist<br />
es auf diesem Wege sehr schwierig etwaige<br />
Probleme rechtzeitig zu identifizieren. Selbst<br />
kurz vor Serie kann es vorkommen, dass noch<br />
nicht alle aktuellen Software- oder Kalibrationsstände<br />
im Versuchsträger installiert<br />
sind, wodurch Wechselwirkungen zwischen<br />
einzelnen Systemen übersehen werden<br />
können.<br />
Integriert und offen zugleich<br />
Typisches Hardware-in-the-<br />
Loop-Szenario<br />
Genau hier kommt die Integrated and Open<br />
Development Platform (IODP) von AVL List<br />
GmbH ins Spiel. Die Entwicklungsplattform<br />
bietet folgende Vorteile:<br />
■ Vernetzung bestehender Prozessschritte im<br />
Entwicklungsablauf<br />
ECONOMIC ENGINEERING 2/2016 35
FRONTLOADING<br />
Mit der Verbindung von Simulation und Test<br />
in eine neue Ära<br />
■ Vernetzung von Simulation und Test<br />
durchgängig über den gesamten Prozess<br />
(Ausführen derselben Testspezifikation am<br />
rein virtuellen, kombiniert virtuell-realen<br />
Prototypen oder realen Prototypen)<br />
■ Systemmodellierung und Ausführung, unabhängig<br />
von Simulationsmodellen und<br />
damit von CAE-Systemanbietern und ihren<br />
Tools (Wiederverwendung von bestehenden<br />
Modellen)<br />
■ Eine einheitliche System-Konfiguration<br />
und -parametrierung über verschiedene<br />
Entwicklungsumgebungen hinweg (zum<br />
Beispiel in der gekoppelten Simulation, bei<br />
HiL, Prüfstandsversuchen oder Fahrversuchen)<br />
■ Konsequente Ausrichtung auf die Applikation<br />
und den Anwender<br />
■ Management und Nachverfolgung der<br />
Schnittstellen zwischen den einzelnen<br />
Tools.<br />
Eigentlich klingt das zu schön, um wahr zu<br />
sein. Deshalb suchte die Redaktion das Gespräch<br />
mit Wolfgang Puntigam, der sich bei<br />
AVL dafür verantwortlich zeichnet, die beschriebene<br />
Strategie umzusetzen. „Die OEMs<br />
arbeiten normalerweise nach einer Baugruppen-orientierten<br />
Vorgehensweise. So<br />
wird der Antriebsstrang in Motor, Getriebe,<br />
E-Maschinen, Batterie und weiteres<br />
unterteilt. Der Vorteil der Integrated and Open<br />
Development Platform (IODP) ist, dass sich<br />
die funktionale Entwicklung weiter vorantreiben<br />
lässt, weil über Bauteilgrenzen<br />
hinweg gearbeitet werden kann und dabei bestehende<br />
Best Practices weiterhin genutzt<br />
werden können“, erklärt Puntigam als Einstieg.<br />
Die Integration der einzelnen Domänen<br />
und Prozesse werden hier durch den IODP-<br />
Ansatz von AVL ermöglicht. IODP steht<br />
damit für die offene, herstellerunabhängige<br />
Integration der CAE- und Test-Infrastruktur<br />
beim Kunden. Es kann als Management-<br />
Umgebung (hierbei steht immer die Verbindung<br />
zwischen Elementen im<br />
Vordergrund) für insgesamt fünf Elementklassen<br />
aufgefasst werden:<br />
■ Modelle<br />
■ Ausführumgebungen<br />
■ Daten<br />
■ Prozesse<br />
■ Automatisierung.<br />
Development Platform die Brücke<br />
zwischen der virtuellen und realen<br />
Welt schlagen<br />
Bisher sind zwei IODP-Lösungen verfügbar:<br />
die Model.CONNECT Software für die<br />
Kopplung von Simulationsmodellen und die<br />
Modellanbindung an die Ausführumgebung<br />
(HiL, Prüfstände, Realtime-Systeme) und<br />
Data.CONNECT für die Verknüpfung von<br />
Datenbanken und Prozessen. „Unser Anspruch<br />
ist, dass Modelle durchgängig verwendet<br />
werden können, indem beispielsweise<br />
Simulationsmodelle aus dem ‚Virtual<br />
Engineering’ auch auf dem Prüfstand nutzbar<br />
sind“, motiviert Puntigam AVLs integrierte,<br />
offene Entwicklungsumgebung.<br />
Model.CONNECT, das selbst modellfrei<br />
und neutral ist, nutzt den FMI-Standard, um<br />
die einzelnen Modelle, (beispielsweise von<br />
IPG, Matlab Simulink, AVL Cruise,<br />
Flowmaster, Modelica, Amesim, Kulilab,<br />
AVL VSM, CarSim, Gamma Technologies,<br />
um nur einige zu nennen) miteinander zu verbinden.<br />
Es werden auch CAE-Systeme unterstützt,<br />
die das Functional Mock-up Interface<br />
(FMI) noch nicht unterstützen. In diesen<br />
Fällen kommen Wrapper-Konzepte zur Anwendung,<br />
die als eine Art Übersetzungsschicht<br />
zwischen der jeweiligen spezifischen<br />
Toolsprache und FMI gesehen werden<br />
Bild: AVL<br />
können. Des Weiteren bietet<br />
Model.CONNECT die Möglichkeit,<br />
Simulationsmodelle direkt an den Prüfstand<br />
zu bringen um so eine Art „virtuell/realen<br />
Prototypen“ aufzubauen.<br />
Das Produkt Data.CONNECT befindet sich<br />
derzeit noch in der Prototypenphase – dessen<br />
Markteinführung darf aber mit Spannung<br />
erwartet werden. Zum Hintergrund: Die<br />
unterschiedlichen CAE-Anwendungen und<br />
Testsysteme sind sehr spezifisch; nicht nur in<br />
Hinsicht auf die Repräsentation der Modelle,<br />
oder dem Betrieb von realen Komponenten,<br />
sondern ebenso in Hinsicht auf Datenformate,<br />
Navigationsmöglichkeiten, Zugriff auf Daten,<br />
oder Darstellung der Ergebnisse (und KPIs).<br />
Nicht weniger vielfältig sind die zugrunde<br />
liegenden Datenbankstrukturen für die Verwaltung<br />
von Simulationsmodellen, Testergebnisdaten,<br />
Kalibrationsparameterdaten,<br />
Stücklisten und Kostenkalkulationen.<br />
Eine intelligente Verbindungsschicht, ein sogenannter<br />
Data Connection Layer, wird diese<br />
unterschiedlichen „Welten“ durch ein<br />
virtuelles, zentralisiertes Link Repository verbinden,<br />
so dass die Daten weiterhin physisch<br />
in den ursprünglichen Datenbanken abgelegt<br />
bleiben. Damit ist es zum Beispiel möglich<br />
Simulationsdaten Tool- und Prüfstand-übergreifend<br />
zu kalibrieren. So lassen sich Daten<br />
aus unterschiedlichen Quellen in Beziehung<br />
zueinander setzen. Beispielsweise kann so<br />
eruiert werden, mit welchem Kalibrationsdatenstand<br />
ein bestimmter Datensatz auf<br />
einem Prüfstand erzeugt wurde, und in weiterer<br />
Folge mit einer bestimmten Stückliste<br />
und Kostenkalkulation verknüpft werden.<br />
Diese Ergebnisse lassen sich mit bestimmten<br />
Konfigurationen bei Fahrversuchen in Verbindung<br />
setzen. Die Integrated and Open<br />
Development Platform generiert hier dadurch<br />
einen Mehrwert, dass bestehende Datensätze<br />
miteinander vernetzt werden. Aufbauend auf<br />
dieser Vernetzungsschicht können völlig neue<br />
Applikationen zur Anwendung kommen,<br />
welche noch nie dagewesene Einblicke in die<br />
Entwicklung ermöglichen. Eine solche Applikation<br />
ist beispielsweise die Nachverfolgung<br />
von Abhängigkeiten über verschiedene<br />
Datenquellen hinweg und das<br />
Generieren von neuem Wissen und Erkenntnissen,<br />
aufbauend auf vorhandenem, in proprietären<br />
Quellen gespeichertem Wissen.<br />
Optimierungsschleifen werden dadurch<br />
wesentlich schneller und nachvollziehbarer<br />
im Prozess möglich. Andere neue Anwendungsmöglichkeiten<br />
können Prozesse<br />
wesentlich beschleunigen, indem Ereignisse<br />
in einer Quelle erkannt werden und dadurch<br />
Aktionen in einer anderen Quelle und bei<br />
einer anderen Anwendergruppe auslösen.<br />
36 ECONOMIC ENGINEERING 2/2016
INTEGRATED AND OPEN PRODUCT DEVELOPMENT<br />
„Dadurch können Aussagen schneller, fehlerfreier<br />
und in wesentlich kürzerer Zeit<br />
erfolgen“, sagt Puntigam mit Nachdruck.<br />
Die Integrated and Open Development<br />
Platform und das V-Modell<br />
Das V-Modell, das häufig im Zusammenhang<br />
mit CAE-Anwendungen diskutiert wird,<br />
funktioniert laut Puntigam im Bereich der<br />
Software-Entwicklung für mechatronische<br />
Systeme hervorragend, kann jedoch nur mit<br />
Einschränkung auf die funktionalen Entwicklung<br />
übertragen werden, weil die verwendeten<br />
Berechnungsmodelle in der frühen<br />
Phase und reale mit simulierten Komponenten<br />
nicht integriert werden können, um<br />
sie mit den vorgegebenen Spezifikationen<br />
tatsächlich auch vergleichen zu können. Puntigam<br />
betont, dass ein funktionaler Entwicklungsprozess<br />
nur durch den Bau von<br />
virtuellen, und in weiterer Folge kombiniert<br />
virtuell-realen Prototypen funktionieren<br />
kann. Dennoch unterstützt IODP das V-<br />
Modell durch seinen integrativen Ansatz, was<br />
Entscheidungsprozesse enorm beschleunigt.<br />
Damit lassen sich in der frühen Produktentwicklungsphase<br />
viele „kleine Vs durchlaufen“,<br />
wie es Puntigam ausdrückt. Die<br />
Entwicklung fange damit an, die Attribute zu<br />
definieren, indem das künftige Fahrzeug anhand<br />
von Eigenschaften wie Verbrauch, Fahreindruck,<br />
Steifigkeiten und Geräuscheindruck<br />
(NVH) beschrieben wird.<br />
„Über die damit verbundenen „kleinen Vs“<br />
weiß der OEM, wo er tatsächlich bei der Entwicklung<br />
steht“, sagt Puntigam. Der promovierte<br />
Fahrzeugingenieur sieht darin auch<br />
einen wesentlichen Enabler, dass agile Entwicklungsprozesse<br />
in die Automobilentwicklung<br />
Einzug halten können. Auf Fragen wie<br />
zum Beispiel, für welche Effizienzmaßnahmen<br />
man sich entscheiden soll, um seine<br />
Ziele in Hinblick auf das Gesamtfahrzeug zu<br />
erreichen (Gewicht versus Aerodynamik versus<br />
Elektrifizierung versus anderer<br />
Effizienzmaßnahmen), oder welches ADAS-<br />
Konzept man umsetzen soll, müssen in Zukunft<br />
rasch Antworten gefunden werden.<br />
Auch die Tatsache, dass Software in Zukunft<br />
der bestimmende Faktor für die Produkteigenschaften<br />
sein wird, erfordert einen integrativen,<br />
offenen Ansatz, um bereits in den<br />
frühen Phasen der Entwicklung so viele Antworten<br />
wie möglich in sehr kurzer Zeit geben<br />
zu können.<br />
Die Integrated and Open Development<br />
Platform und Systems Engineering<br />
Der funktionale Prototyp ist eine Sicht auf<br />
das künftige Fahrzeug. Eine Ausprägung<br />
davon ermöglicht das Systems Engineering,<br />
bei dem die vom Kunden gewünschten Anforderungen<br />
spezifiziert werden und auf<br />
kleine Einheiten, bis auf die Ebene von Komponenten,<br />
Software und Service aufgeteilt<br />
werden. Dies bedingt, dass Attribute wie etwa<br />
Fahrspaß, Effizienz, Verbrauch oder Total<br />
Cost of Ownership modelliert und mit dem<br />
System in Beziehung gesetzt werden können.<br />
Hierzu hat man sich bei AVL bereits daran<br />
gemacht, erste Software-Prototypen zu erstellen<br />
und setzt die entwickelte Methode intern<br />
wie auch in Kundenprojekten ein. Wenn<br />
auch hier noch ein gutes Stück des Weges zu<br />
gehen ist, ist bereits jetzt offensichtlich, dass<br />
der IODP-Ansatz von AVL einen wertvollen<br />
Beitrag zur Umsetzung von Systems<br />
Engineering in Unternehmen leistet – ganz<br />
nach dem Motto: „Connect existing elements<br />
to enhance capabilities.“<br />
Zum Schluss die Gretchen-Frage: Wie wird<br />
die Integrated and Open Development<br />
Platform verkauft? Wolfgang Puntigam sagt<br />
dazu: „Software an sich ist nicht die Lösung,<br />
sondern lediglich ein Enabler. Wichtig ist,<br />
den Kunden dabei zu unterstützen, die Integrated<br />
and Open Development Platform in<br />
seinen eigenen Prozessen für spezifische Anwendungen<br />
zu implementieren. Wir führen<br />
dies über innovative Lead-Projekte durch.<br />
Hier stehen immer die Entwicklungsaufgaben<br />
des Kunden im Vordergrund – sei es, um ganz<br />
neue innovative Problemstellungen zu lösen,<br />
oder um Effizienzsteigerungen zu realisieren.<br />
Zu Beginn geht es um die Analyse des aktuellen<br />
Prozesses, also welche Entwicklungsaufgaben<br />
in welcher Entwicklungsumgebung<br />
mit welcher Toolkette umgesetzt werden<br />
sollen. Im zweiten Schritt werden Potenziale<br />
für Frontloading beziehungsweise Effizienzsteigerungen<br />
identifiziert und priorisiert, um<br />
die Entwicklungsaufgabe im Prozess weiter<br />
nach vorne zu verlagern. Ein Schwerpunkt<br />
dieser Projekte ist meist, Simulation und Test<br />
in Form von Modellen, realen Komponenten<br />
und Datenquellen miteinander zu verbinden.<br />
Im dritten Schritt erfolgt die Umsetzung des<br />
Frontloadings der Entwicklungsaufgabe gemeinsam<br />
mit dem Kunden.“<br />
Das Ziel der Projekte sei erst erreicht, wenn<br />
die Ergebnisse in der neuen, früher im Prozess<br />
angesiedelten Entwicklungsumgebung,<br />
die gleichen Ergebnisse liefert wie zuvor in<br />
einer späteren Phase. „Am Ende ist eine Methode<br />
ja nur dann erfolgreich eingesetzt,<br />
wenn die Kollegen im Engineering den Mehrwert<br />
erkennen und einsetzen“, fasst Puntigam<br />
zusammen.<br />
INFOCORNER<br />
Weitere Informationen zur integrierten und<br />
offenen Entwicklungsplattform IODP von AVL<br />
unter<br />
www.avl.com/iodp<br />
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ECONOMIC ENGINEERING 2/2016 37