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2 POLITIK<br />

SOMMER 2016 Die Friedrichstadt<br />

<strong>Auf</strong> <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en<br />

<strong>Seite</strong><br />

Eine <strong>der</strong> berühmtesten<br />

Shoppingmeilen Berlins<br />

mündet in einen verlassen<br />

Kiez. Ein Streifzug durch<br />

den verborgenen Teil <strong>der</strong><br />

Friedrichstraße<br />

TEXT Mirta San<strong>der</strong>,<br />

Geena Birkenmeier<br />

FOTOS Geena Birkenmeier<br />

Anwohner <strong>der</strong> Friedrichstraße<br />

Leergefegte Gebäude, Spätis<br />

und bröckelnde Fassaden –<br />

was sich wie ein abgehängter<br />

Bezirk im Berliner Osten anhört,<br />

findet man tatsächlich<br />

auf einer <strong>der</strong> beliebtesten Shoppingmeilen<br />

<strong>der</strong> Hauptstadt: <strong>der</strong> gut drei Kilometer<br />

langen Friedrichstraße.<br />

Nach <strong>der</strong> Wende entstand zwischen<br />

Checkpoint Charlie und Bahnhof Friedrichstraße<br />

eine Einkaufsmeile mit Luxus-Quartieren,<br />

darunter <strong>der</strong> Berliner Ableger<br />

des bekannten Pariser Kaufhauses<br />

Galeries Lafayette. In den Schaufenstern<br />

liegen aktuelle Kollektionen von Hermès,<br />

Prada und Gucci. <strong>Auf</strong> diesem Teil <strong>der</strong> Straße<br />

reihen sich Modeketten wie H&M, Zara<br />

o<strong>der</strong> Gina Trikot aneinan<strong>der</strong> und verführen<br />

die Touristen, das Portemonnaie aus<br />

<strong>der</strong> Tasche zu ziehen.<br />

Abseits des Touristenrummels<br />

Was den meisten Touristen aber verborgen<br />

bleibt, ist <strong>der</strong> untere Teil <strong>der</strong> Friedrichstraße.<br />

Geht man vom Checkpoint<br />

Charlie weiter nach Süden in Richtung <strong>der</strong><br />

U-Bahn-Station Hallesches Tor, scheint<br />

nach nur zehn Metern die Zeit stehen geblieben<br />

zu sein.<br />

Vereinzelt lassen sich zwar schicke Restaurants<br />

und neu renovierte Kaffees im<br />

Mitte-Stil entdecken, bald schon aber dominieren<br />

graue Betonbauten, Spielotheken<br />

und Billig-Friseure das Straßenbild.<br />

Bis zur Wende verlief genau beim<br />

ehemaligen Grenzkontrollpunkt Checkpoint<br />

Charlie die Berliner Mauer, die die<br />

Stadt in den sozialistischen Osten und<br />

den kapitalistischen Westen teilte. Nach<br />

dem Mauerfall wurde <strong>der</strong> ehemals östliche<br />

Teil <strong>der</strong> Friedrichstraße in Richtung<br />

Unter den Linden rundum erneuert. Der<br />

untere Teil zwischen Checkpoint Charlie<br />

und Mehringplatz – <strong>der</strong> damals im Westen<br />

lag – wurde dagegen komplett vernachlässigt.<br />

Dieser gravierende Unterschied<br />

wird mit jedem weiteren Schritt<br />

sichtbarer.<br />

Mit dem Menschengewimmel <strong>der</strong><br />

oberen Friedrichstraße im Rücken, scheint<br />

die Straße tot zu sein. Vereinzelt laufen<br />

zwar an Lotto-Toto-Läden, Ein-Euro-<br />

Shops und Kneipen Menschen vorbei, die<br />

mehr nach Anwohner als nach Touristen<br />

aussehen – mehr passiert hier aber nicht.<br />

Anstelle von Markengiganten wie<br />

H&M und Zara scheint hier einzig und allein<br />

<strong>der</strong> Billig-Discounter KIK mithalten zu<br />

wollen. Zwei Häuser weiter hat die Straßenzeitung<br />

MOTZ einen Laden. Gegenüber<br />

<strong>der</strong> Baustelle, auf <strong>der</strong> das neue Haus<br />

<strong>der</strong> taz entsteht, betreibt sie einen Secondhand-<br />

und Gebrauchtwaren-Shop.<br />

Eingestaubte Bücher stapeln sich hier neben<br />

antikem Geschirr und Vintage-Mänteln<br />

auf runden Klei<strong>der</strong>stangen.<br />

Die Stadt hat es sich zur <strong>Auf</strong>gabe gemacht,<br />

die gesamte Friedrichstraße zu<br />

mo<strong>der</strong>nisieren und die soziale Diskrepanz<br />

zwischen dem oberen und dem unteren<br />

Ende aufzuheben. MOTZ-Mitarbeiter Thomas<br />

Dringer scheint das allerdings gleichgültig<br />

zu sein. „Was für neue Bauten hierher<br />

kommen sollen, interessiert mich<br />

nicht. In erster Linie geht es mir darum,<br />

dass unsere Obdachlosen überhaupt ein<br />

Dach über dem Kopf haben. Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

und <strong>der</strong> ganze Dreck – solche Luxusprobleme<br />

sind zweitrangig.“<br />

Momentan ist<br />

hier alles tot.<br />

Sogar am<br />

„ Wochenende<br />

Verlässt man den Trödelshop, folgen<br />

lieblose kleine Geschäfte und leerstehende<br />

Galerien, die wie wahllos zusammengewürfelt<br />

nebeneinan<strong>der</strong> stehen. Jugendliche<br />

laufen in Trainingsanzügen herum,<br />

einige muslimische Familien sitzen auf<br />

einem kleinen Spielplatz. Zwischen dem<br />

Wohnhaus, an dessen Stelle zu NS-Zeiten<br />

das Konzentrationslager „Gutschow-Keller“<br />

stand und einer Reihe von<br />

Fast-Food-Imbissen spielen ihre Kin<strong>der</strong> im<br />

Sand. Es ist ein beklemmendes Gefühl,<br />

hier durchzulaufen. Plötzlich drängt sich<br />

<strong>der</strong> Eindruck auf, dass die Anwohner wie<br />

Ausgestoßene auf den unteren Teil <strong>der</strong><br />

Friedrichstraße verbannt worden sind.<br />

Onurs Lotto-Toto<br />

Und trotzdem wirkt es, als fühlten sich die<br />

Menschen hier zu Hause. Über Kreuzungen<br />

und Querstraßen begrüßen sich lauthals<br />

junge Leute, die mit aufgedrehter<br />

Musik hupend an den Menschengrüppchen<br />

vorbeifahren. Anscheinend haben<br />

sie gelernt, das Beste aus ihrer Misslage<br />

zu machen und sich damit abgefunden.<br />

Der 28-jährige Onur wohnt bereits<br />

sein Leben lang in Berlin. Ihm gehört einer<br />

<strong>der</strong> Lotto-Toto-Läden in <strong>der</strong> Friedrichstra-


Die Friedrichstadt WWW.AMD.NET POLITIK 3<br />

Der Checkpoint Charlie trennte früher Ost und West<br />

<strong>Auf</strong> dem Mehringplatz<br />

Grafitti-Kunst an Häuserwänden<br />

Fastfood findet man hier aus allen Län<strong>der</strong>n<br />

ße, den er seit 12 Jahren führt. Onur blickt<br />

<strong>der</strong> Tatsache nüchtern ins Auge, dass er<br />

im vernachlässigten Teil <strong>der</strong> Straße wohnt.<br />

Trotzdem wünscht er sich mehr Kundschaft<br />

und findet, dass es Zeit für Verän<strong>der</strong>ung<br />

ist. „Ich bekomme hier natürlich<br />

noch ein paar Touristen als Kunden ab,<br />

aber auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>es <strong>Seite</strong> des Checkpoint<br />

Charlie würde es besser laufen. Ich<br />

finde es richtig, dass die Gegend mo<strong>der</strong>nisiert<br />

wird. Momentan ist hier alles tot.<br />

Sogar am Wochenende.“<br />

Nach Verän<strong>der</strong>ung scheint jedoch <strong>der</strong><br />

unterste Teil <strong>der</strong> Friedrichstraße nicht zu<br />

schreien. Vor den Imbiss-Buden spürt man<br />

nun schnell den für Berlin so typischen<br />

sympathischen Kiez-Flair. Altbauhäuser<br />

mit besprühten Türen, Menschen, die mit<br />

einem Feierabendbier den warmen Frühlingsabend<br />

auf Bänken genießen. Wir sind<br />

spürbar in Kreuzberg angekommen: Supermärkte<br />

und Drogerien stehen neben<br />

kleinen Cafés und türkischen Restaurants.<br />

<strong>Auf</strong>wändige Graffiti-Kunst zieht die Blicke<br />

auf sich und vor einem Jugendzentrum<br />

hängen die Kids ab.<br />

Je weiter entfernt von <strong>der</strong> belebten<br />

Kochstraße, desto bedürftiger und ärmlicher<br />

wird zwar <strong>der</strong> Brennpunkt, trotzdem<br />

sorgt <strong>der</strong> authentische Kiez-Charakter für<br />

eine vertraute Atmosphäre – fernab des<br />

Konsums und <strong>der</strong> Kommerzialisierung.<br />

Am Ende <strong>der</strong> Straße ist <strong>der</strong> U-Bahn<br />

Eingang zum Halleschen Tor und kurz dahinter,<br />

umzäunt von einem riesigen Bauzaun,<br />

<strong>der</strong> Mehringplatz. Inmitten von<br />

Schutt und Betonabfällen steht die Viktoria-Statue.<br />

Wie ein stolzer Engel wacht sie<br />

über den missachteten Teil <strong>der</strong> Friedrichstraße<br />

und lässt ihn, trotz seiner Kahlheit<br />

und Einfachheit, in einem ganz beson<strong>der</strong>en<br />

Licht erstrahlen.


4<br />

RESSORT<br />

SOMMER 2016 Die Friedrichstadt

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