Pink up your world - Ausgabe Juli 2016
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Schweigen. -> Lesen. –> Denken. –> Reden.<br />
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Crime and Literture:<br />
Heute: Kleopatra und<br />
<strong>Juli</strong>us<br />
Art Altenberger:<br />
Große Gefühle in<br />
Entenhausen…<br />
Hä?:<br />
Die schrägsten Wortund<br />
Stilblüten in<br />
österreichischen<br />
Gesetzen<br />
<strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World<br />
<strong>Ausgabe</strong> <strong>Juli</strong> <strong>2016</strong><br />
Wortbrüche I:<br />
Appolonia Alberich<br />
sucht das Glück…<br />
Satire im<br />
M ärchenwald:<br />
Die 7 Zwerge in der<br />
Wirtschaftskrise<br />
Aus dem<br />
Gerichtssaal:<br />
Prozess ERDE gegen<br />
GOTT – ein Drama in<br />
mehreren Akten<br />
Aus dem<br />
Bücherfundus<br />
<strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> <strong>world</strong><br />
recycelt ihren<br />
Bücherfundus…<br />
Wortbrüche II:<br />
Nordturm<br />
Schlechter Geschmack<br />
und gute Satire mögen<br />
sich ein Stell-Dich-Ein<br />
geben und den Leser – so<br />
er noch des Lesens<br />
abseits des Wischens<br />
mächtig ist – zu geistigen<br />
Onanien animieren.<br />
<strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World startet<br />
Initiative gegen Leseunlust<br />
und Hirnermüdung !<br />
Die Initiative <strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World<br />
unter der Leitung von „little<br />
Napoleon“ Allegra hat die<br />
Schnauze voll von Bourgeoisie,<br />
Boulevard, Prüderie und<br />
Koketterie. Gemeinsam mit Art-Altenberger<br />
errichtet sie eine Traumwelt voller Bilder und<br />
Texte, Anregungen, Diskurse, Ideengerüste.<br />
Geistige Seifenblasen dürfen platzen,<br />
Absurditäten sollen die Wirklichkeit erobern,<br />
Geschmackloses darf blühen und Groteskes sich<br />
fortpflanzen. Die Kreativität möge die Pferde der<br />
apokalyptischen Reiter erobern und die Täler der Langeweile<br />
durchpflügen. Das Nihilistische soll verzaubern und das Platte sich<br />
erheben zu Bergen voll der Phantasie. Schlechter Geschmack und gute<br />
Satire mögen sich ein Stell-Dich-Ein geben und den Leser – so er noch des<br />
Lesens abseits des Wischens mächtig ist – zu geistigen Onanien<br />
animieren. Dergestalt entrückt möge das Denken sich auf krumme<br />
Touren begeben, Einbrüche begehen in die Tresore der Kindheit, die<br />
Pretiosen unserer Leichtigkeit des Seins stehlen und damit durchbrennen<br />
und sie versaufen bis wir nicht mehr können. Dann seufzen wir auf und<br />
lassen uns nieder auf den trägen Schwingen unseres Ichs, nur um noch<br />
eine Runde auf unserem ganz persönlichen Karussell unserer Eitelkeit zu<br />
drehen.<br />
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Hä ???<br />
<strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World kürt an dieser Stelle die schrägsten Bestimmungen<br />
in österreichischen Gesetzen – heute: die Gewerbeordnung und der<br />
Handlungsreisende<br />
Der Handlungsreisende erlangte durch den Roman „Tod eines<br />
Handlungsreisenden“ von Arthur Miller Weltruhm. Die Geschichte rund um<br />
Willy Loman als Inkarnation und Ikone des geplatzten amerikanischen Traums<br />
wurde 1949 uraufgeführt und hat aufgrund seiner thematischen Brisanz über<br />
Jahrzehnte an Aktualität nicht verloren. Im Zentrum des Dramas steht der<br />
wirtschaftlich gescheiterte Handlungsreisende Willy Loman, der sich dieses<br />
Scheitern jedoch nicht einzugestehen vermag und sich zunehmend in eine<br />
Scheinwelt aus vermeintlichem Ruhm flüchtet. Besessen von dem, was er unter<br />
dem „amerikanischen Traum“ versteht, wird ihm das Ausmaß seines<br />
Scheiterns erst in der Konfrontation mit seinem Sohn Biff bewusst. Letztlich<br />
begeht Willy Loman Selbstmord indem er einen Autounfall herbeiführt, um die<br />
Auszahlung der Lebensversicherung für seine Familie zu bewirken. Millers<br />
sozialkritisches Drama, in welchem er akribisch den amerikanischen Traum<br />
demontiert und in seine Versatzstücke seziert, wurde mehrfach verfilmt und<br />
mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.<br />
Der Handlungsreisende besucht jedoch nicht nur die Vorzimmer der<br />
amerikanischen Ostküste, sondern er ist erstaunlicherweise auch hierzulande<br />
anzutreffen: Die österreichische Gewerbeordnung – dieser unerschöpfliche<br />
Quell allen bürokratischen Unternehmerleids – konnte nicht umhin, auch den<br />
Handlungsreisenden gesetzesliterarisch zu verewigen. Und damit der gelernte<br />
Österreicher nie vergisst, dass er ebenda sein unternehmerisches Dasein<br />
fristet, regelt die Gewerbeordnung auch gleich die korrekte Legitimation des<br />
Handlungsreisenden. Lassen Sie sich die Original-Gesetzesstellen auf der Zunge<br />
zergehen und am Auge tanzen:<br />
Aufsuchen von Privatpersonen<br />
Werbeveranstaltungen<br />
§ 57. (1) Das Aufsuchen von Privatpersonen zum Zwecke des Sammelns von<br />
Bestellungen auf Waren ist hinsichtlich des Vertriebes von<br />
Nahrungsergänzungsmitteln, Giften, Arzneimitteln, Heilbehelfen, Waffen und<br />
Munition, pyrotechnischen Artikeln, Grabsteinen und Grabdenkmälern und<br />
deren Zubehör sowie Kränzen und sonstigem Gräberschmuck verboten.<br />
Weiters verboten ist das Aufsuchen von Privatpersonen, wenn hiebei in<br />
irgendeiner Form der Eindruck erweckt wird, dass das für die bestellten Waren<br />
geforderte Entgelt zumindest zum Teil gemeinnützigen, mildtätigen oder<br />
kirchlichen Zwecken zugute kommt.<br />
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(3) Hinsichtlich anderer Waren ist das Aufsuchen von Privatpersonen zum<br />
Zwecke des Sammelns von Bestellungen den Gewerbetreibenden, die zum<br />
Verkauf oder zur Vermittlung dieser Waren berechtigt sind, und ihren<br />
Bevollmächtigten (Handlungsreisenden) gestattet. Die Gewerbetreibenden<br />
und die Bevollmächtigten müssen amtliche Legitimationen (§ 62) mit sich<br />
führen und diese auf Verlangen der behördlichen Organe vorweisen.<br />
Wir nehmen es also ernst und wissen jetzt: Wir dürfen dem p.t. Kunden weder<br />
eine Kalaschnikow noch eine Überdosis Valium andrehen. Da fragt man sich<br />
aber dann doch nur: Wenn wir den Kunden eh nicht mit Meuchelzutat<br />
ausstatten dürfen – warum steht dann da ein Verbot für den Werbevertrieb von<br />
Grabsteinen? Hat die Gewerbeordnung einen Anfall von Pietät oder handelt es<br />
sich gar – ein Schelm wer solches denkt – um Reste des guten alten<br />
Gewerbeschutzes vor unliebsamer Konkurrenz? Der Tod zeigt sich jedenfalls<br />
wieder einmal in typisch österreichischer Manier: er genießt jene Protektion,<br />
die den Lebenden nur selten zu Teil wird!<br />
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Die große Depression<br />
Verstimmungen passieren nicht nur dem Klavier –<br />
auch <strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World ist nicht vor depressivem Katzenjammer gefeit<br />
Allerortens macht sie sich bemerkbar: Die große Depression hat unser Land<br />
erfasst. Auf leisen Sohlen schleicht sie um die Häuser und in die Gehirne, einer<br />
schmarotzenden Mistel gleich treiben ihre Ausläufer in unser Gehirn. Niemand<br />
nimmt sie wahr, bis sie das Wirtstier mit ihren unbändigen und unersättlichen<br />
Gelüsten getötet hat. Viele Wirte könnte sie wählen, die Depression. Die<br />
Wirtschaft zum Beispiel, das mächtige Wirtstier. Sie verfällt gerne und<br />
ekstatisch in regelmäßige Zuckungen und Fieberschübe, angetrieben in der<br />
Angst vor der nächsten großen Depression, die ihr, der Segensreichen, der<br />
Allgeliebten, der Hoffnung und dem Traum den Schein der unbändigen<br />
Gewinnsucht vom Leibe nagt. Ein Skelett, das übrig bleibt, ausgehungert von<br />
der Angst vor dem Feind, dem Spielverderber, der Seuche der<br />
Hoffnungslosigkeit zum Fraße vorgeworfen. Und dann, dann springt die große<br />
Depression weiter, verlässt das eine Wirtstier und befällt das nächste mit<br />
seinem riesigen Seelenappetit. Die Medien, bei denen nistet sich die große<br />
Depression besonders gerne ein, sie sind eine willkommene Abwechslung am<br />
Speiseplan des gefräßigen Untieres. Fette Zeitungslettern bescheren der großen<br />
Depression eine wiederkehrende Mahlzeit, nähren sie, lassen sie gedeihen und<br />
stark werden. Die Zeitungszaren, sie glauben sie beherrschen den Parasiten<br />
und könnten ihn benutzen zu ihrem Vorteil. Die große Depression glauben sie<br />
zähmen zu können und im Zirkus ihrer Eitelkeiten von Podest zu Podest hüpfen<br />
lassen, gleich ihren Neurosen, die sie durch die Reifen ihrer Überhöhung<br />
treiben. Doch die große Depression mag ihnen unscheinbar und beherrschbar<br />
erscheinen, doch da irren sie, die Zaren. Hat doch die große Depression schon<br />
andere Herrscher zu Grabe getragen. Und so geschieht es, dass auch die Medien<br />
ihr Opfer werden.<br />
Auch die Naturwissenschaften wissen um die Eigenheiten der Depression. Als<br />
Antipode zur Kompression entdichtet sie die Materie, belässt ihr die Schönheit<br />
und das Geheimnisvolle der Tiefe, während die Götzen des Gipfelsturmes stets<br />
nur die Höhen des Universums preisen. Den Schatten als Wirtstier vereinnahmt<br />
die große Depression besonders gerne, im Verborgenen wächst sie und gedeiht<br />
umso heller das Licht die andere Seite bestrahlt und ihr akklamiert. Im<br />
Schatten beginnt sie zu wuchern, doch rasend schnell vereinnahmt sie das<br />
Wirtstier, das sich nicht zu wehren vermag gegen die unsichtbaren Klammern,<br />
die die große Depression um sein Opfer spannt. Unbemerkt regiert die große<br />
Depression, in alles mischt sie sich und mischt sie sich ein und kaum ist sich´s<br />
die Menschheit gewahr, wird keine Entscheidung mehr getroffen ohne die<br />
große Depression. Doch wird sie nicht nur gefürchtet, so mancher mutiert<br />
heutzutage zum huldvollen Verehrer der großen Depression und so genießt<br />
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diese hohes Ansehen bei jenen, die die Angst und die Unsicherheit, mit denen<br />
die große Depression einhergeht, nicht fürchten. Und so schleicht sie weiter auf<br />
leisen Sohlen, die große Depression und sucht das Licht, von dem sie erhofft,<br />
verbrannt zu werden.<br />
Anleitung zur großen Depression:<br />
Es gibt statistisch gesehen besonders exponierte Berufsgr<strong>up</strong>pen, die von der<br />
großen Depression fast seuchenartig befallen werden. So besteht für<br />
Wirtschaftskriminelle ein besonders hohes Risiko, von der großen<br />
Depression als Wirtstier ausgewählt zu werden. Al Capone, Charles Ponzi<br />
und all ihre würdigen Nachfahren im Geschäft um Risiko und Chuzpe,<br />
schmutzige Tricks und weißgewaschenes Geld wissen um die reinigende<br />
Wirkung der großen Depression. Einmal davon befallen, bewahrt sie Gauner<br />
und Falotten reflexartig vor allen Arten justiziarischen Ungemachs. Die<br />
große Depression wird also quasi als Impfstoff gegen die Bakterien und<br />
Viren der modernen Strafverfolgung empfohlen. Sie breitet ihre Schwingen<br />
behütend über die White Collar Criminals aus und versammelt die, die im<br />
Schatten ihr Dasein fristen, einer Entenmutter gleich unter ihre Fittiche. Und<br />
jeder weiß: krumm macht Seele dumm … und wenn Seele dumm, dann noch<br />
mehr krumm… Also – make money and get depressed!<br />
Alle Bilder dieser <strong>Ausgabe</strong> und viele weitere Kunstwerke<br />
können Sie unter<br />
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und<br />
www.art-altenberger.at<br />
ansehen und erwerben !<br />
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Aus dem Bücherfundus<br />
<strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World recycelt gerne – am liebsten alte Bücher. Diese<br />
werden aus ihrer Verwendung als Intellektuellendekoration im<br />
Bücherregal befreit und ihrer ursprünglichen Berufung als Lesematerial<br />
wieder zugeführt:<br />
<strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World entmottet das Buchregal und liest Bücher, die die letzten 20<br />
Jahre höchstens als Manifestation des bourgeoisen Bildungsbürgertums der<br />
Besitzer dieser Werke gedient haben, mit 20-jährigem Reife- und<br />
erfahrungsgrad nochmals… Ein spannendes Selbstexperiment, das jedem nur<br />
zu empfehlen ist. Heute steht Folgendes auf der Empfehlungskarte für<br />
Blitzg´scheite und solche, die es werden wollen (und auch für jene, die bei der<br />
nächsten Party einfach nur angeben wollen!):<br />
1. Gerhard Luf, Grundfragen der Rechtsphilosophie und Rechtsethik<br />
(Manz Verlag):<br />
Manchmal empfiehlt es sich, es sich unbequem zu machen, die geistigen<br />
Hauspatschen auszuziehen und in schöne, aber unbequeme Hirntreter zu<br />
schlüpfen. Die Zeiten schreien nach Fragen, denen bloß keine Antworten zu<br />
geben sind, denn Antworten geben uns die Medien sowieso ständig ungefragt<br />
und unreflektiert auf nie gestellte Fragen. Ein Buch – oder besser Skriptum – ,<br />
welches dazu animieren kann, Fragen zu formulieren (und zwar echte und<br />
nicht scheinbare), ist das immer noch und immer wieder und für immer<br />
aktuelle Kompendium von Gerhard Luf zum Thema „Rechtsphilosophie“. Klingt<br />
sperrig. Ist es auch. Aber leicht ist eh alles und Hirnwixen ist in Zeiten<br />
allgegenwärtiger Vaginas und Penisse eh viel erotischer. Würde ich mir meine<br />
Zeit besser einteilen und weniger mit Alkohol und Jazz zubringen, würde ich<br />
ein Buch über Gustav Radbruch und seine Formel schreiben wollen – allein weil<br />
es so mystisch klingt.. Obwohl – nüchtern kann man den großen ewigen Fragen<br />
unserer Gesellschaft wahrscheinlich eh nicht gegenübertreten und deshalb<br />
empfiehlt es sich, bei einem guten Glas Roten wieder einmal über das<br />
nachzudenken, was man als gelernter Jurist, der spätestens ab dem zweiten<br />
Semester eingetrichtert bekommen hat, dass nur Gesellschaftsrecht die Wiege<br />
zu Ruhm und Reichtum werden wird, nur selten zu hören bekommt: eben<br />
Rechtsphilosophisches und Rechtsethisches. BÄHHH! werden die bemüht<br />
Nicht-Linken denken – wer braucht Rechtsphilosophie – wir haben doch seit<br />
Kelsen den heiligen Gral des Stufenbaus der Rechtsordnung und seit der EU<br />
wissen wir auch, dass die Stufen in lichte Höhen pseudosakraler<br />
Rechtsstaatlichkeit führen. Doch wer hat nicht das Gefühl, dass wir in<br />
unruhigen Zeiten leben (außer mir -> siehe Jazz und Alkohol, Musik ist nämlich<br />
angewandte Mathematik und die bleibt bekanntlich veränderungsresistent )<br />
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und deshalb tut es gut, das Gefühl einmal einer denkerischen<br />
Orientierungsphase zu unterziehen. Und das gelingt ganz fabelhaft, wenn man<br />
sich mit den historischen Entwicklungen der Rechtsstaatlichkeit beschäftigt.<br />
Tut zwar nicht der Seele gut, aber dem Geist. Lässt Dinge wieder ins richtige<br />
Licht rücken, Theorien schleichen durch die Ganglien, hinterlassen ihre Spuren<br />
im Großhirn und schw<strong>up</strong>ps – plötzlich beginnen wir, uns wieder echt mit<br />
Rechtswissenschaft und nicht mit Rechtsverdrehung zu beschäftigen. Und wir<br />
fühlen wieder, wie es mal war, als wir begonnen haben, uns mit dem Denken<br />
auseinanderzusetzen, wie stolz wir waren, als wir über Hobbes, Rousseau,<br />
Locke und Rawls mitreden konnten. Mann, was waren wir gebildet!!!! Und<br />
dann kam die Realität über uns und im gleichen Ausmaß wie wir begonnen<br />
haben, Geld zu verdienen, haben wir uns keine Gedanken mehr gemacht,<br />
warum und ob wir es verdienen. Deshalb mein Lesetipp: Skriptum (Manz<br />
Verlag) kaufen, Flasche Rotwein öffnen, einfach zu lesen beginnen! Das Werk<br />
von Gerhard Luf ist ein Klassiker, verständlich geschrieben, kurz und<br />
schmerzlos, aber komplett und übersichtlich. Angenehmer Nebeneffekt: wir<br />
fühlen uns sogleich wieder wie 20!<br />
Und um auch noch mal auf Radbruch zu sprechen zu kommen:<br />
Gustav Radbruch (1878 bis 1949) war Professor für Strafrecht und<br />
Rechtsphilosophie, Politiker, Reichsjustizminister (1921 bis 1923). Die<br />
zentrale Frage der nach ihm benannten Radbruch´ schen Formel ist, ob die<br />
Geltung von Rechtsnormen allein von ihrer gesetzmäßigen Erzeugung oder<br />
auch von ihrer Übereinstimmung mit grundlegenden Forderungen der<br />
Gerechtigkeit abhängen. Folgt man dieser Ansicht, dann handelt es sich bei<br />
Gesetzen, die grundlegenden Forderungen der Gerechtigkeit widersprächen,<br />
nicht um geltendes Recht, sondern um „gesetzliches Unrecht“, dem man per se<br />
den Rechtcharakter absprechen muss und dem man daher keinen Gehorsam<br />
schuldig ist. Praktische Anwendung fand die Radbruch´sche Formel nicht nur<br />
bei der Frage, wie mit gesetzlich kodifiziertem NS-Unrechts-Recht umzugehen<br />
war, sondern neuerlichen Brisanz erlangte Radbruch auch bei den Prozessen<br />
rund um Schießbefehle an der ostdeutschen Grenzmauer.<br />
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2. Joseph Roth, Die Legende vom heiligen Trinker:<br />
„… Und sie wussten nicht mehr, was miteinander anzufangen, nachdem sie<br />
leichtfertigerweise das wesentliche Erlebnis vergeudet hatten, das Mann und<br />
Frau gegeben ist…“<br />
Poetischer kann man einen langweiligen One-Night-Stand nicht beschreiben.<br />
Joseph Roth versteht es trefflich, die Stimmung einer Situation in einen<br />
einzelnen Satz zu verpacken, manchmal benötigt er gar nur den Bruchteil eines<br />
solchen, Skizzen von Worten erzählen ganze Geschichten, Roth benötigt keine<br />
ausladenden Schilderungen, er trifft mit spitzer Feder und gezähmten Sätzen<br />
das Wesentliche.. Der große österreichisch-galizische Dichter genießt vor allem<br />
aufgrund seiner Werke „Radetzkymarsch“ und „Kapuzinergruft“ einen Ruf als<br />
Chronist des Untergangs der alten Donaumonarchie. Ihn darauf zu reduzieren,<br />
würde jedoch bedeuten, die Vielfalt in seinem Schaffen zu verpassen. „Hiob“,<br />
„Die Geschichte von der 1002. Nacht“, „Der stumme Prophet“ – <strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong><br />
World hat in Nostalgie geschwelgt und sich erinnert, dass Joseph Roth anno<br />
dazumal auf der Matura-Leseliste gestanden hat (als man den armen Kleinen<br />
noch Leselisten zumuten durfte…, also in einem Land vor unserer Zeit). Heute –<br />
einige Jährchen später – weiß sie wieder, warum! Unsere Empfehlung daher:<br />
unbedingt wieder einmal lesen und zwar dalli und zack, zack!<br />
Dumm, dümmer, tut weh…<br />
Heute: Frag das ganze Land !<br />
Immer wenn man denkt (so man das noch beherrscht), dass die untere<br />
Nivellierungsgrenze in den Medien erreicht ist, kommt es anders als man denkt<br />
(wenn man es dann wirklich noch kann): Wer in Österreich so wie <strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong><br />
World regelmäßig im Auto unterwegs ist, kommt mangels flächendeckender<br />
Lokalsender-Reichweite automatisch an den Punkt, ab und an aus<br />
verkehrsfunktechnischen Gründen Ö3 einzuschalten. Und wer gen der 40 ist<br />
und Samstags zwischen 16 und 19 Uhr zuhört, dem schmerzen spätestens nach<br />
10 Minuten die Gehirnzellen. Das Highlight des Sendeabends: „Frag das ganze<br />
Land“. Laut Eigenwerbung von Ö3 eine „Community Show“ (????), bei der auf<br />
die drängenden, intellektuell hochstehenden Fragen der Ö3 Hörer „der beste<br />
und klügste Ratgeber EVER: Ganz Österreich!“ gefragt wird. „Und das ein oder<br />
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andere Dilemma wird sicherlich zum Fremdschämen sein – sowas lieben wir ja<br />
besonders!“. Mit Bedauern erinnert man sich dann an die Anfänge von Ö3<br />
zurück, als Menschen mit Meinung und Format wie Andre Heller, Ernst<br />
Grissemann, Dieter Dorner, Günter Brödl und Rudi Klausnitzer das Programm<br />
gestalteten. Revolutionär war das damals und modern. Jene, die hier tätig<br />
waren, hatten nicht nur schmeichelfaserweiche Stimmbänder, sondern auch<br />
was zu sagen. Also inhaltlich, meine ich. Der Schnulzenmief wurde mit Rock<br />
und Pop aus dem Äther gewischt, die letzten Reste des obrigkeitshörigen<br />
verstaubten Nachkriegsösterreichs rausgerockt und Ö3 wurde das Medium<br />
einer neuen Generation. Und wieder einer neuen Generation, nach den<br />
revolutionären 68ern kamen die wilden, grellen 80er. Dann noch mal eine<br />
kleine Wende und die subtileren zurückgenommenen 90er hielten Einzug in<br />
mein Autoradio (da war mir beim Zuhören dann doch schon manchmal recht<br />
fad) und dann – dann kamen die 2000er und irgendwann kam tatsächlich „Frag<br />
das ganze Land“. – damit einer der absoluten Tiefpunkte des – nicht schlechten -<br />
Geschmacks, dies würde voraussetzen, dass überha<strong>up</strong>t einer da wäre – sondern<br />
des Gar-Nicht-Geschmacks, des Gar-Nimmer-Denkens (vielleicht, frag ich mich<br />
manchmal, hab ich was verpasst in den 90ern und eine der vielen blödsinnigen<br />
Monster-Block-Buster sind in echt passiert und in Wirklichkeit sind rund um<br />
mich eigentlich keine menschlichen Wesen mehr anzutreffen, sondern es<br />
handelt sich durchgehend nur mehr um Roboter, denen man vergessen hat,<br />
ihre künstliche Intelligenz einzubauen?).<br />
Neben den wirklich wichtigen Fragen wie „Meine Nachbarn sind irrsinnig laut<br />
beim Sex!“ (na no na net - stumm werden´s bumsen !) oder: „Mein Freund ist<br />
nicht lustig und checkt’s nicht!“ (vielleicht hilft´s, wenn keiner lacht?), über<br />
die Österreich sich Samstag abends den Kopf zerbrechen muss, könnte man<br />
jedoch auch mal folgende Fragen in die unendlichen Weiten des Äther werfen:<br />
Bin ich schon ohne Gehirn zur Welt gekommen und ist meine St<strong>up</strong>idität<br />
angeboren oder treten die Lehren des Behaviorismus ihren Wahrheitsbeweis an<br />
und ich bin einfach nur ein Opfer der letzten Pisa-Studie?<br />
Und kann mein „Smart-Phone-Wisch-Finger“ durch dieselben therapeutischen<br />
Maßnahmen geheilt werden wie der „Tennis-Arm“ der 80er Jahre oder der<br />
„Wix-Daumen“ aller Epochen? Hilft saufen gegen fortschreitende Verblödung<br />
oder doch nur Kiffen? Wie füttere ich Quaxi, meine liebevoll gehätschelte letzte<br />
noch lebende Gehirnzelle richtig? Smoothies, Life Balance Food, vegane<br />
Molekularernährung oder doch einfach ein Schnitzerl? Kann man Quaxi<br />
klonen? Erinnert sich noch jemand an Dolly das Klonschaf? (Das Schaf Dolly<br />
war ein walisisches Bergschaf und das erste 1996 aus einer ausdifferenzierten
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somatischen Zelle geklonte Säugetier.)<br />
Dolly wurde übrigens aus einer Euterzelle<br />
<strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong> World kürt die<br />
geklont. Was jetzt auch Parallelen zu den<br />
originellsten Antworten auf<br />
nunmehr auffällig gewordenen Geistesdie<br />
banalsten Fragen…<br />
Blondinen aller Nationalitäten,<br />
Geschlechter und Zusendungen gerne an: sozialen Schichten<br />
aufwirft: Vielleicht office@pink<strong>up</strong><strong>your</strong><strong>world</strong>.at wurden die IQ-blonden<br />
Ö3 Hörer/innen aus Woody Allens<br />
überdimensionalem Busen (wir erinnern<br />
uns an „was Sie schon immer über Sex wissen wollten“) geklont und können<br />
deshalb gar nicht anders? Fragen über Fragen, die wir dem ganzen Land gerne<br />
stellen.<br />
Art Altenberger:<br />
Große Gefühle in<br />
Entenhausen…<br />
Die Bilderwelten des Gerhard Altenberger sind vielfältig. Mal monochrom rot<br />
und schwarz, mal bunt und psychodelisch, immer kontrovers und<br />
polarisierend. Er bearbeitet in<br />
seinen Werken Themen, von denen<br />
man dachte, es würde ihnen nichts<br />
mehr hinzuzufügen sein und genau<br />
dann eröffnet sich ein Aspekt, der<br />
dem Betrachter Stoff gibt für<br />
neuerliche Reflexion. So kann man<br />
unter www.art-altenberger.at sich<br />
treiben lassen in der Todsünde der<br />
Wollust, die Komplexität des<br />
„Kapital-Verbrechens“ beschauen<br />
und sich wundern darüber, dass die<br />
menschliche Seele nicht immer so<br />
einzigartig ist wie wir in unserem<br />
Individualisten-Getto gerne glauben wollen. Nunmehr hat der große Carl<br />
Barks-Gläubige Altenberger sich an Großes gewagt: Donald und Daisy, Mickey<br />
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und Pluto bevölkern seine neuesten<br />
Werke. Es sind Bilder voll<br />
hintergründigem Humor, wenn Daisy<br />
und Donald in „Große Gefühle I bis III“<br />
ebendiese so richtig rauslassen und<br />
wenn wir diese Szenen einer Enten-Ehe<br />
betrachten, müssen wir uns<br />
unweigerlich fragen, wieviel Donald<br />
und Daisy in uns selbst steckt. In<br />
„Action Hero“ gerät das soziale Gefüge<br />
der Enten schon mal so richtig außer<br />
Rand und Band, wenn Donald<br />
ausnahmsweise mal zum Helden<br />
mutiert und die Panzerknacker alt aussehen lässt. Der ewige Loser als Held, die<br />
Umkehrung der Stereotype, die<br />
Änderung des so vertrauten<br />
Blickwinkels – wie sehr würde uns<br />
das auch im Alltag helfen, uns selbst<br />
mit anderen Augen zu betrachten.<br />
Lassen wir uns von den Bewohnern<br />
aus Entenhausen inspirieren.<br />
IMPRESSUM „PINK UP YOUR WORLD“:<br />
Medieninhaber und Herausgeber:<br />
Mag. Christina Hartig,<br />
2201 Gerasdorf, Stammersdorferstr. 333<br />
Kontakt: office@pink<strong>up</strong><strong>your</strong><strong>world</strong>.at<br />
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Rattenfänger von<br />
Hameln<br />
Rattenfänger von Hameln<br />
Ausgewandert nach Wien<br />
Kaiserstadt im Delirium<br />
Der Teifl ersäuft sich im Gin<br />
Wien Du Herrscherin am Donaustrom<br />
Einst Königin der Macht<br />
Die Hyänen tanzen um das goldene Kalb<br />
der Teifl singt und lacht<br />
Rattenfänger von Hameln<br />
macht heit Station in Wien<br />
Kaiserstadt im Delirium<br />
Beethoven kotzt gold´ne Sinfonien<br />
Schickt uns Eure<br />
Vertonung des<br />
Rattenfängers von<br />
Hameln! Rap ? Jazz?<br />
Walzer? Wir<br />
veröffentlichen Eure<br />
besten Tunes zum<br />
Text!<br />
Wien Du Nutte im Walzertakt<br />
heute Königin der Nacht<br />
der Teifl prellt die Zech im Babylon<br />
Mephisto is neger und flach<br />
Rattenfänger von Hameln<br />
Pfeift auf die Gfraster aus Wien<br />
Kaiserstadt im Delirium<br />
Hohes C und jeder will fliehen<br />
der Teifl schürt die Angst vorm Muezzin<br />
und derweil richten das Land die Mensdorffs hin<br />
Heimat großer Strippenzieher Drogendealer<br />
Waffenschieber<br />
Mutierst zur Königin der Schlacht<br />
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Wortbrüche I:<br />
Appolonia Alberich sucht das Glück<br />
Es war der 31. Dezember, als<br />
Apollonia Alberich einen<br />
Neujahrsvorsatz fasste: Sie<br />
beschloss, im nächsten Jahr<br />
unsichtbar zu werden.<br />
14<br />
Sie hatte über das scheinbar<br />
unlösbare Problem lange und<br />
gründlich nachgedacht. Aber<br />
wie es Männer gab, die nicht<br />
nur Herzen brachen, sondern<br />
diese auch in andere Körper<br />
transplantierten, musste es<br />
auch eine Lösung für dieses viel<br />
banalere Problem geben. Was<br />
war schließlich ein gebrochenes<br />
Herz gegen das Verlangen,<br />
nicht mehr Teil der weltlichen<br />
Existenz zu sein.<br />
Apollonias Herz war ebenfalls gebrochen worden – dies war jedoch auch nicht<br />
wirklich schwierig, hatte es doch in all den Jahren mehrere Bruchstellen<br />
erfahren, die es nur eine Frage der Zeit werden ließen, wann das malträtierte<br />
Herz seinen Dienst quittieren würde.<br />
Nicht dass Apollonia im klassischen Sinne unglücklich gewesen wäre – wie<br />
auch, hätte sie, um die Abwesenheit von Glück zu spüren doch irgendwann die<br />
Anwesenheit eines einzigen Glücksatoms atmen müssen. Doch Apollonia<br />
Alberich bemitleidete sich nicht, im Gegenteil – war sie doch dazu erzogen,<br />
demütig und dankbar zu sein. Dankbar dafür, als Frau die Gnade der späten<br />
Geburt im wohlhabenden Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts erfahren zu<br />
haben. Demütig den Leistungen der Feministinnen der viel zitierten sexuellen<br />
Revolution gegenüber, die keine Gelegenheit ausließen, Frauen wie Apollonia<br />
auf ihr Glück und ihre hart erkämpften Freiheiten hinzuweisen, die ihr, der
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Jungen, anstrengungslos in den Schoß gefallen waren. Und die nicht müde<br />
wurden, die gepriesenen Früchte der Freiheit bei den Töchtern einzufordern.<br />
Apollonia hinterfragte all diese Dinge nicht, sie ließ es einfach dabei bewenden,<br />
zu sein. Und sie dachte lange, dass das simple Sein ausreichen würde, auch zu<br />
existieren. Doch die Jahre vergingen und das Sein wich noch immer keiner<br />
ernst zu nehmenden Existenz. Und irgendwann hinterließ die<br />
Glücksabwesenheit ein diffuses Gefühl der Leere bei Apollonia. Doch auch diese<br />
Leere konnte sie gar nicht wirklich spüren, wie fühlt sich denn die Leere<br />
überha<strong>up</strong>t an? Gemeinhin definiert sich Leere als Gegenteil von, ja wovon?<br />
Fülle ? Vollheit ? Völlerei ? Vollkommenheit ? Doch wie fühlte sich<br />
Vollkommenheit an? Apollonia grübelte auch über dieses Problem intensiv<br />
nach, wie es ihre Art war: gründlich, hingebungsvoll, konzentriert. So wie sie es<br />
gelernt hatte. So wie es von ihr erwartet wurde.<br />
Vollkommenheit konnte Apollonia aber auch nicht erfühlen und ganz und gar<br />
abwegig erschien ihr der Gedanke, Vollkommenheit mit sich in Zusammenhang<br />
zu bringen. Kein Spinnfaden von Vollkommenheit wollte sich aus ihren<br />
Gedanken in ihr Herz weben.<br />
Apollonia verzagte jedoch nicht und versuchte das drängende Problem des<br />
Glückserfühlens auf ihre Art zu lösen: Sie beschloss, ihre Gefühlsversatzstücke<br />
einer Negativauslese zu unterziehen. Vielleicht blieb das Glück ja übrig, wenn<br />
sie all die anderen Gefühle aussperrte aus ihrem Herzen. Sozusagen ein<br />
Gefühlsvakuum herstellte und das letzte Molekül, der letzte Schein, das letzte<br />
Blitzen, das der Leere trotzte, würde das Glück sein, konnte nur das Glück sein.<br />
Ein Negativbeweis des Glücks sozusagen.<br />
Gesagt getan. Apollonia trieb alle ihre Gefühle in ihr Herz, ließ die Gefühle<br />
Bocksprünge vollführen, ließ sie ihr Herz beweiden bevor sie sie eines nach dem<br />
anderen talwärts trieb in die Niederungen ihrer Seele, sie aussperrte aus ihrem<br />
Herzen. Alle Gefühle mussten sich fortan begnügen, eine abstrakte Größe in<br />
Apollonias Gefühlsuniversum zu sein. Erst wenn das Glück da gewesen wäre,<br />
wenn es sich Apollonia offenbart hätte und sei es nur für den Hauch einer<br />
Zeitenfeder, erst dann wäre Apollonia wieder bereit für die Beziehung zu ihren<br />
anderen Gefühlen. Bis dahin wollte sie keine anderen Gefühle zulassen außer<br />
dem Glück. Sie wollte gleichsam monogam mit ihrem Glück leben, sich ihm<br />
einzig hingeben, sich einlassen auf das Glück wie auf einen einzigen, wie auf den<br />
einen, den unbedingten Liebhaber. Sie ersehnte die Berührung und Intimität<br />
des Glücks, die Verheißung des Unbekannten.<br />
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Apollonia wartete. Sie war geduldig, sie wusste, das Glück ließ sich nicht<br />
erzwingen, man musste es sich verdienen. Und da alle anderen Gefühle ja<br />
keinen Platz hatten in Apollonias Herzen, da sie ja Platz gemacht hatte für das<br />
Glück, konnte sie weder Neid auf das Glück der anderen spüren, noch Ungeduld<br />
oder Hader, schon gar nicht Zorn oder Missmut darüber, dass sich das Glück<br />
gar so viel Zeit ließ mit dem Herzensbesuch.<br />
Doch je länger Apollonia wartete, desto weniger vermisste sie das Glück. Sie<br />
hatte sich daran gewöhnt, dass ihr Herz leer war und sie fing an, diesen<br />
Zustand für vollkommen zu halten. Denn wer brauchte schon das Glück, wenn<br />
er kein Unglück fühlte und auch keinen Zorn und keinen Neid und keinen<br />
Hader. In einer Seele und einem Herzen ohne diese Aggregatzustände der<br />
Unvollkommenheit wie sollte da der Verlust oder die Leere spürbar sein?<br />
Und irgendwann kam Apollonia zu dem Entschluss, dass aufgrund der<br />
Abwesenheit ihrer Gefühle auch ihr Dasein der Leere weichen könnte und<br />
wurde unsichtbar.<br />
Und in dem Moment als sich ihr Dasein materialisierte und einer abstrakten<br />
Existenz wich, geschah das Unvermutete: Apollonia wurde vom Glück umfasst,<br />
es bemächtigte sich ihrer selbst mit einer Heftigkeit, die keines der anderen<br />
Gefühle je bei Apollonia auslösen hatte können. Wie ein schwarzes Loch sog<br />
Apollonias Nicht-Sein das Glück an und zum ersten Mal seit ihrer Geburt war<br />
Apollonias Seele wirklich existent.<br />
E N D E<br />
Satire im Märchenwald:<br />
Die 7 Zwerge in der Wirtschaftskrise<br />
Die 7 Zwerge und die Wirtschaftskrise<br />
Teil I<br />
Vielleicht hat sich der eine oder andere geneigte Leser auch schon einmal die<br />
Frage gestellt, wie es eigentlich dazu kam, dass die 7 Zwerge so fern ab jeder<br />
Zivilisation einsam und abgeschottet im Wald lebten. Wie hielten es 7 kräftige,<br />
durchaus ansehnliche Mützenträger aus, ohne irgendeine Form der modernen<br />
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Kommunikation, ohne neuestem I Phone 50 Quadrat X3 mit integriertem<br />
Zipflmützenbewegungssensor und abhörsicherem in die Mütze integriertem<br />
Blue Tooth tetra Hochsicherheits-Verschlüsselungskryptographen im Wald zu<br />
leben ? Abgeschnitten von den modernen Segnungen des modernen<br />
Burglebens, nur umgeben von – Stille?<br />
Ein Leben ohne Fernsehgerät mit High-Definition-Auflösung, die es den<br />
Zusehern ermöglicht, bei der Life-Übertragung der wöchentlichen<br />
Hexenverbrennungen jede Warze der vorab in einem budgetschonenden<br />
Schnellgerichtsverfahren gecasteten „Hexe der Woche“ glühen zu sehen.<br />
Diese neue Form der Urteilsfindung erfreute sich zunehmender Beliebtheit im<br />
Märchenland, zumal sich auch im Märchenland endlich Kostenbewusstsein und<br />
Budgetverantwortungsgefühl durchgesetzt und zur Abschaffung der völlig<br />
antiquierten Prozessform mit Ankläger, Richter, Verteidigung und<br />
kostenintensiven Vorerhebungen geführt hatten. Die neue Form der<br />
Wahrheitsfindung war effizient, kostengünstig, medientauglich und völlig<br />
transparent und begegnete damit auf effektive Weise der Kritik, die sich –<br />
geschürt durch den brillanten und stimmgewaltigen Führer der Opposition,<br />
dem<br />
nationalbetonten<br />
Froschkönig, im<br />
Märchenland<br />
breit gemacht<br />
hatte.<br />
Froschkönig<br />
gelang es äußerst<br />
geschickt, die das<br />
Märchenland<br />
derzeit<br />
erschütternden<br />
Korr<strong>up</strong>tions- und<br />
Bankenskandale<br />
für seinen<br />
Stimmenfang vor<br />
der nächsten<br />
Wahl der Stände<br />
und Fabeln im Märchenland zu nutzen und so blieb der hilflos agierenden<br />
Regierungspartei “Lega rotes Einhorn“ nichts weiter übrig, als schnellstens mit<br />
gut durchdachten und weitsinnigen Reformen das Märchenland wieder aus<br />
dem Sumpf der Korr<strong>up</strong>tion und Misswirtschaft zu ziehen, um der wachsenden<br />
Beliebtheit des Froschkönig in Anbetracht der nahenden Wahlen Paroli zu<br />
bieten.<br />
Der amtierende Ministerpräsident und Parteivorsitzende der „Lega Rotes<br />
Einhorn“, Hans im Glück, im Zivilberuf ursprünglich Inhaber einer gut<br />
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18<br />
gehenden Kette von Sado Maso Clubs, die er für die Zeit seiner Tätigkeit im<br />
Regierungsteam dem Bösen Wolf als Treuhänder übertragen hatte – schließlich<br />
durfte laut Verfassung im Märchenland kein Regierungsmitglied aktiv einer<br />
weiteren Beschäftigung nachgehen, um Interessenskonflikte hintanzuhalten –<br />
zeigte jedenfalls sofort jene Regierungsverantwortung, die ihm sein<br />
Öffentlichkeits– und PR- Psychologe Rumpelstilzchen als Sofortmaßnahme zur<br />
Absicherung des 52% Wählerstimmenanteils vorschlug: Er verabschiedete ein<br />
„Regierungspaket zur Steigerung der Effizienz der Justiz“.<br />
Kernstück der Reformen war die Besinnung auf jene Werte, die das<br />
Märchenland ursprünglich vor nicht einmal dreitausend Jahren zur<br />
Kulturnation Nummer eins aufsteigen haben lassen und die durch eine Phase<br />
der Zuwendung zu jenen neumodischen aufklärerischen, aufrührerischen<br />
Werten, die der linke Alt-68er Flügel der „Lega Rotes Einhorn“ in Zeiten<br />
ungetrübten Märchenland-Wirtschaftswachstums propagierte, in<br />
Vergessenheit geraten waren. Schlagworte wie „Freiheit“, „soziale<br />
Gerechtigkeit“, „Chancengleichheit“ oder gar „Gleichheit“ waren Ausdruck<br />
eines dekadenten Bedürfnisses der Gesellschaft nach sogenannten „fairen“<br />
Bedingungen gewesen, welches die führenden dogmenverliebten<br />
Parteiprogramm-Verfasser der „Lega rotes Einhorn“ selbstverständlich<br />
verstanden und teilten, schließlich waren sie ja keine Anhänger der radikalen<br />
Radau-Partei rund um den Froschkönig, jedoch waren diese Werte aus ihrer<br />
Sicht ein unvertretbarer Luxus in einer Zeit, die geprägt war durch<br />
Schlagworte wie „Finanzkrise“, „Budgetdefizit“, „Bankenrettung“ oder<br />
„Schuldenabbau“. Die Freiheit war eben in der Realität kein Resultat einer<br />
Gleichung zwischen Budgetdefizit und Schuldenkrise und gleich waren die<br />
Bewohner des Märchenlandes doch sowieso, kein Märchenland-Nachwuchs<br />
musste schließlich auf sein I Phone 50.4 der Generation x plus verzichten…<br />
Und so wurde das Partei-Programm der „Lega rotes Einhorn“ von<br />
Rumpelstilzchen und seinem Team kompetent und medientauglich überarbeitet<br />
und an die modernen Zeiten der Globalisierung und die daraus resultierenden<br />
Bedürfnisse der ebenso modernen Märchenlandbewohner angepasst.<br />
Rumpelstilzchen und sein Psychologen Team machten vor allem die<br />
neumodische Erfindung der Meinungsfreiheit für die Probleme im<br />
Märchenwald verantwortlich und setzten auf bewährte<br />
Modernisierungsmaßnahmen: Eine Zensurbehörde unter der Führung des<br />
militärisch und nachrichtentechnisch versierten Räubers Hotzenplotz wurde<br />
eingerichtet, deren zentrale Aufgabe der Schutz der Märchenwaldbevölkerung<br />
vor der Verbreitung neoliberaler Freiheits-, Gleichheits- und sonstiger<br />
gefährlicher Aufklärungspropaganda sein sollte. Schließlich waren die neuen<br />
Medien nicht dazu da, sich selbst eine Meinung zu bilden, welche zart besaitete<br />
und labile Märchenwaldbewohner wie beispielsweise das den Lehren der<br />
Aufklärung nicht abgeneigte Bambi oder die neoliberale Splittergr<strong>up</strong>pe der 7<br />
Geißlein dazu bewegen könnte, vom rechten Weg der Lehre vom reinen Konsum<br />
abzuweichen.
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Nein, soweit sollte es nicht kommen, diesem Medienmissbrauch musste der<br />
Riegel vorgeschoben werden. Rumpelstilzchen machte also die „Lehre vom<br />
reinen Konsum“ zum neuen Parteidogma und erntete von der Parteispitze<br />
abwärts durchaus heftige Zustimmung: der Wirtschaftsflügel der Partei rund<br />
um den Großindustriellen König Drosselbart begrüßte die Maßnahme in<br />
Hinblick auf die Konsum-Früherziehung des Märchenwaldnachwuchses, die ja<br />
schließlich später durch geschärftes Markenbewusstsein die<br />
Märchenwaldinlandsnachfrage ankurbeln würde.<br />
König Drosselbart war felsenfest von der Akzeptanz der Maßnahme überzeugt<br />
und kalkulierte auch bereits in seinem eigenen Unternehmen – er hatte sich auf<br />
die Produktion von Zauberstäben aus tropischem Zaubernussholz spezialisiert<br />
– mit den künftigen Marktanteilszuwächsen, die durch die geplante „Made in<br />
Märchenland“ Kampagne lukriert würden. (Zusammengebaut wurden die aus<br />
den überseeischen Märchenwaldkolonien importierten Zauberstabteile von<br />
heimischen Wichteln, weswegen König Drosselbart einen diesbezüglichen<br />
Prozess, welchen ihm ein missgünstiger Mitbewerber, der so dumm war, für<br />
seine Zauberstäbe Holz aus heimischer Abrakadabra-Eiche zu verwenden,<br />
anhängte, bereits in letzter Instanz gewonnen hatte. Seitdem ging König<br />
Drosselbart mittels Unterlassungsklage gegen alle Mitbewerber vor, die ihm das<br />
Gütesiegel “Made in Märchenland“ mangels einheimischer Rohstoffverwendung<br />
in Abrede stellen wollten.)<br />
In Hinblick auf zukünftige Marktanteile überlegte König Drosselbart sogar, sein<br />
nunmehr an Hoffnung auf fette Gewinne reiches und damit in der Anlegergunst<br />
hoch im Kurs stehendes Unternehmen an die Märchenwaldbörse zu bringen<br />
und das nicht nur am heimischen Markt, sondern auch an der „Global Fairy<br />
Tale Stock Exchange“, der Börse für den internationalen Märchenland-<br />
Hochfrequenz-Handel.<br />
Zustimmung zu den Maßnahmen, die Rumpelstilzchen im reformierten<br />
Parteiprogramm der „Lega Rotes Einhorn“ festhielt, kam jedoch auch vom<br />
Gewerkschaftsflügel: Die Gewerkschaftsvertreter der arbeitenden Feen, Elfen<br />
und Wichteln im Märchenland fanden eine Regulierung und Eindämmung der<br />
mit dem Freiheits- und Gleichheitsvirus überhand nehmenden Flexibilisierung<br />
ihrer Mitglieder begrüßenswert. Das Kleingedruckte im Programm konnten die<br />
Spitzen der Märchenlandgewerkschaft leider nicht lesen, da die diesbezügliche<br />
Informationsveranstaltung, zu der Rumpelstilzchen im Namen der „Lega Rotes<br />
Einhorn“ geladen hatte, im Etablissement des Parteivorsitzenden Hans im<br />
Glück stattfand und die schummrige Beleuchtung angestrengtes Lesen nicht<br />
zuließ.<br />
Aber auch die im Club arbeitenden belack- und –lederten Elfen versicherten in<br />
entzückenden östlichem Akzent – die ganze Elfenschar arbeitete mit<br />
Touristenvisum im Märchenland, was die anwesenden Gewerkschafter<br />
durchaus begrüßten, schließlich sollte der Tourismus im Märchenland in<br />
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Zukunft hoch qualifizierte Arbeitsplätze schaffen, und da konnte man im<br />
Entertainmentbereich ja gleich den Anfang machen – dass sie grundsätzlich nie<br />
das Kleingedruckte lesen würden und so bestärkt übersprangen die<br />
Gewerkschaftsvertreter zeitraubendes Lesen zugunsten viel effektiverer<br />
direkter physischer Mitgliederbetreuung … Dem missionarischen Arbeitseifer<br />
der gewerkschaftlichen Parteigranden war es daher zu verdanken, dass die im<br />
Kleingedruckten angekündigte laufende Peilung und Abhörung der<br />
Smartphones der Märchenwaldbevölkerung unbemerkt das<br />
Märchenlandparlament passieren konnte.<br />
Um die Durchsetzung der neuen Maßnahmen zu gewährleisten, wurde<br />
zeitgleich eine Reform des Strafrechtswesens zügig umgesetzt. Leiterin der<br />
Evaluierungskommission war Rapunzel, die sich aufgrund der auch im<br />
Märchenland Einzug haltenden Gender-Bedenken bei Besetzung öffentlicher<br />
Ämter gegen das tapfere Schneiderlein durchgesetzt hatte. Die fachliche<br />
Qualifikation Rapunzel´s war allgemein anerkannt, jedoch gestaltete sich<br />
bereits das Kick-Off-Meeting mit der Sektionsabteilung 388 B, welche die<br />
Reform legistisch umsetzen sollte, tendenziell schwierig, da Rapunzel aufgrund<br />
des jahrelangen Aufenthaltes im Turm gewisse Kommunikationsdefizite<br />
aufwies, die auch der vom zuständigen Frauenförderungsministerium<br />
beigestelle Gender-Coach nicht weg beraten konnte. Man behalf sich letztlich<br />
damit, dass Rapunzel ihre Angststörungen damit bekämpfte, dass sie einfach<br />
vor Sitzungen die berauschende und rezeptfrei erhältliche Wurzel des<br />
gemeinen blauen Hahnenfussblattes kaute. Die in lediglich 98% der<br />
Anwendungen auftretenden Abhängigkeitssymptome nahm Rapunzel gerne in<br />
Kauf, um ihrer weiblichen Vorbildwirkung für Frauen in Führungspositionen<br />
gerecht zu werden.<br />
Verstöße gegen die neuen Konsumgesetze wurden unter Strafe gestellt,<br />
schließlich ging es um nationale Interessen, da war die Todesstrafe durchaus<br />
das gelindeste Mittel im Kampf gegen reaktionäre, das Wirtschaftswachstum<br />
und damit die ganze Infrastruktur des Märchenlandes gefährdende Elemente.<br />
Kern der Novelle war die kostengünstige Zusammenlegung von Richter,<br />
Staatsanwalt und Verteidiger, man sparte also ein Drittel an Personalkosten.<br />
Weiters wurde das über Jahrhunderte bewährte Beweismittel des<br />
„Gottesbeweises“ wieder eingeführt, wodurch teure und langwierige Gutachten<br />
durch unabhängige Sachverständige eingespart werden konnten. Prozesse<br />
konnten nunmehr in ein bis zwei Tagen nach Anklageerhebung kostengünstig,<br />
budgetschonend und effizient abgewickelt werden, durch die Ausweitung der<br />
Todesstrafe wurden außerdem die eklatanten Platzprobleme im Strafvollzug<br />
einer Lösung zugeführt.<br />
Die einzige, die damit nicht ganz zufrieden war, war die böse Hexe von Hänsel<br />
und Gretel, da sie als Leiterin der Strafvollzugsbehörde nunmehr<br />
wegrationalisiert wurde und in einem Jobcenter am Rande des Märchenwaldes
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auf „Krematoriums-Beraterin“ umgeschult wurde, was jedoch zu ernst zu<br />
nehmenden psychischen Störungen bei der Bösen Hexe führte, da sie ihre<br />
sadistischen Neigungen nur bei Auslebung an lebenden Delinquenten befriedigt<br />
sah, für die Umschulung auf „Krematoriums-Beraterin“ fehlte es ihr an<br />
nekrophiler Neigung und ihr Ansuchen auf eine Umschulung auf „Henker“<br />
wurde abgelehnt, da die Vollstreckung der Todesurteile life auf „Chanel Fairy 2“<br />
ausgestrahlt wurde und die Böse Hexe nach Ansicht der Produzenten des<br />
Formats nicht das nötige faltenfreie fernsehtaugliche Äußere aufwies.<br />
Die Einsparungsmaßnahmen im öffentlichen Sektor der<br />
Märchenlandverwaltung waren jedoch nur eine Maßnahme, um den aus dem<br />
Ruder gelaufenen Staatshaushalt wieder ins Lot zu bringen und der<br />
Bevölkerung in Zeiten der Krise das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu<br />
signalisieren.<br />
Einnahmenseitig kam der Vorsitzende des Märchenlandbudgetausschusses,<br />
der Hahn Toto, vor seiner Karriere als Fiskalpolitiker ursprünglich Mitglied der<br />
Boygro<strong>up</strong> „Bremer Stadtmusikanten“, weswegen er Jahr für Jahr noch immer<br />
zum „Lieblings-Schwieger-Hahn des Jahres“ gevotet wurde (ausschlaggebend<br />
für dieses Voting war nach repräsentativen Meinungsumfragen der<br />
Märchenlandbevölkerungsgr<strong>up</strong>pe der Überachthundertjährigen sein<br />
schillerndes, langes Federkleid, das ein wenig Glamourfaktor in die<br />
Märchenlandpolitik brachte), auf die Idee, die begünstigten Steuerprivilegien<br />
auf die Kapitalerträge der diversen Märchenlandkönigssippen zu kürzen bzw.<br />
gänzlich zu streichen. Nach seinen Berechnungen hätte dies einen<br />
Budgetbeitrag in Höhe von 3% des Märchenland-BIPs gebracht, was in weiterer<br />
Folge zur Senkung der Staatsverschuldung auf die von der Union der vereinten<br />
Sagen- und Fabelnationen, der das Märchenland angehörte, auf die maximal<br />
zulässigen 0,9876% geführt hätte.<br />
Allein die Ankündigung der Steuererhöhung führte zu tumultartigen<br />
Ausschreitungen, die Könige forderten die Absetzung des ihrer Meinung nach<br />
„inkompetenten Fön-Gockels“, die Prinzessinnen skandierten in Anbetracht der<br />
weiters von Toto angekündigten Luxussteuer auf Samt und Seide in seltener<br />
Eintracht stimmgewaltig „Ohne Samt und ohne Seide schmücken mit Hahnen-<br />
Federn wir das Kleide !“. Angesichts der massiven Proteste und nicht erpicht<br />
auf ein Schicksal als Produzent von Zierrat und Putz für Fächer und Hüte,<br />
wählte Toto den geordneten Rückzug und gab am Tag nach den<br />
Ausschreitungen bekannt, dass man seine Ideen lediglich missverstanden hatte<br />
und er in Wirklichkeit keine Steuer auf „Samt und Seide“ geplant hatte, sondern<br />
auf „Amt und Weide“, also lediglich eine Erhöhung der Abgaben auf Einkünfte<br />
der Beamtenwichtel und der Bauerntrolle, der größten Gr<strong>up</strong>pe der<br />
erwerbstätigen Märchenlandbewohner, um 5% Solidaritätszuschlag, welcher<br />
zweckgebunden der Förderung von Spekulationsgenossenschaften zur<br />
Verfügung gestellt würde. Diese Spekulationsgenossenschaften wiederum<br />
würden irgendwann durch hohe Gewinne ihrerseits vermehrt Steuern in den<br />
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22<br />
Budgettopf des Märchenlandes spülen und damit wäre eine sozialadäquate und<br />
steuergerechte Lösung zur Budgetsanierung gefunden. Um die Bevölkerung von<br />
weiteren parlamentarischen Anfragen abzuhalten und um den Zeitplan der<br />
Umsetzung der von allen Fraktionen begrüßten, das soziale Gleichgewicht<br />
erhaltenden Kompromisslösung zu gewährleisten, wurde unter einem die<br />
Förderung des Ausbaus des gigamegaschnellen Breitbandnetzes bis in die<br />
letzen Waldstücke des Märchenlandes beschlossen, sodass die<br />
Märchenlandbevölkerung vollauf damit beschäftigt war, die neuesten TV-<br />
Formate von Fairy-Chanel 1 und Fairy-Chanel 2 zu diskutieren und die<br />
ausgeklügelten Steuermodelle des Märchenlandbudgetausschusses unbemerkt<br />
das Parlament passierten.<br />
Die sieben Zwerge, anteilig Inhaber der bei der männlichen Bevölkerung des<br />
Märchenwaldes äußerst beliebten Hochglanzpostille „Zipfelnews“ – einer<br />
pornografisch angehauchten Zeitschrift für intellektuelle Querdenker -<br />
verfolgten die Entwicklungen im Märchenwald mit großer Skepsis. Besonders<br />
als die Anhänger des Froschkönig begannen, ihre Ausschreitungen nicht mehr<br />
nur gegen die ausländischen Minderheiten – im Märchenwald gab es eine nicht<br />
unerhebliche Gr<strong>up</strong>pe von Arbeits-Heinzelmännchen, welche aus ökonomischen<br />
Gründen vor etwa zweitausend Jahren aus dem an den Märchenwald<br />
angrenzenden Trollenland eingewandert waren – richteten, sondern auch<br />
einheimische Andersdenkende angriffen, beschlossen die sieben Zwerge, sich<br />
politisch zu engagieren und starteten die Aktion „Kiss no Frog !“, was die<br />
Anhängerschaft des Froschkönig naturgemäß noch mehr gegen sie aufbrachte<br />
als es die Herausgeberschaft der „Zipfelnews“ an sich schon tat.<br />
Die sieben Zwerge begannen, die „Zipfelnews“ nicht nur zum textilfreien,<br />
sondern auch zum intellektuellen Freiraum zu gestalten und so erhob sich beim<br />
Anblick der illustren Pin-Ups – Bambi wurde beispielsweise gleich dreimal zum<br />
Pin-Up des Monats gekürt – nicht nur so manche erschlaffte Mütze, sondern<br />
gaben die zwischen den ästhetisch gestalteten Fotostrecken eingestreuten<br />
Reportagen zu aktuellen Themen des Märchenwaldes die kritischen Stimmen<br />
des Märchenwaldes wieder.<br />
Insbesondere die Verteidigung der freien Meinungsäußerung lag den sieben<br />
Zwergen sehr am Herzen und so kam es, dass sie eine Rede an das Volk des<br />
rechtskräftig wegen Volksverhetzung verurteilten und sich der Verhaftung<br />
durch geschickte Manöver entziehenden gestiefelten Katers abdruckten. In den<br />
Augen der sieben Zwerge war der gestiefelte Kater nämlich kein gemeiner<br />
Krimineller wie es von offizieller Seite hieß, sondern ein Verteidiger der Rechte<br />
der Armen und Unterdrückten im Märchenland. Insbesondere verehrten sie<br />
den gestiefelten Kater für seine tollkühnen Berichte über die Aufdeckung des<br />
Preiskartells zwischen Gewerkschaftsvertretern der Lega Rotes Einhorn und<br />
der Führungsriege der öffentlichen Märchenland-Kutschenflotte, bei denen zu<br />
Tage kam, dass sich die Gewerkschafter der Lega Rotes Einhorn mit<br />
Gratisbesuchen in diversen Elfenbars bestechen haben lassen um im Gegenzug
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keine Einwände gegen die zweihundertprozentige Preissteigerung im<br />
öffentlichen Kutschennahverkehr zu erheben.<br />
Auch im Artikel, welchen der gestiefelte Kater in den „Zipfelnews“<br />
veröffentlichte, wurden die Praktiken verschiedener Politiker angeprangert, so<br />
deckte der gestiefelte Kater auf, dass es eine Vereinbarung zwischen der<br />
Regierungspartei Lega Rotes Einhorn und dem Froschkönig gab, wonach dieser<br />
nach den nächsten Märchenland-Wahlen eine neuerliche Alleinregierung der<br />
Lega Rotes Einhorn unterstützte, wenn er im Gegenzug alle Smartphone Codes<br />
der Märchenland-User erhielt, welche er wiederum in monatlichen Auktionen<br />
allen Einkaufszentrumsinhabern im Märchenland anbot, die ihrerseits Kapital<br />
durch die genauen Einkaufs- und Bewegungsdaten der Märchenlandbewohner<br />
schlagen konnten, indem sie ihr Warenangebot punktgenau an die Zielgr<strong>up</strong>pe<br />
anpassen konnten und damit Ladenhüter wie Aufklärungsliteratur im<br />
Buchhandel betriebswirtschaftlich effizient gleich gar nicht anboten oder so<br />
volkswirtschaftlich unsinnige Strömungen wie echte Nahrungsmittel statt<br />
turbogeklontem Designfood gleich gar nicht auf den Markt brachten.<br />
Leider wurde den sieben Zwergen ihr Engagement für die Meinungsfreiheit<br />
nicht gedankt, sondern sie sahen sich nach Veröffentlichung dieses Artikels mit<br />
einer durch den Froschkönig geschickt gesteuerten medialen Hetzkampagne<br />
konfrontiert, die letztlich dafür sorgte, dass sie die Mützen gestrichen voll vom<br />
Märchenland und seinen Protagonisten hatten und den Weg ins Exil wählten.<br />
So kam es, dass die sieben Zwerge in den an das Märchenland angrenzenden,<br />
dünn besiedelten Trollenwald emigrierten, wo sie durch Zufall auf eine<br />
Drachenerzmine stießen, deren Ertrag es ihnen erlaubte, auch aus dem<br />
benachbarten Ausland politisch aktiv zu sein, doch das ist eine andere<br />
Geschichte …<br />
ENDE Teil I<br />
Aktuelles aus dem Gerichtssaal:<br />
Prozess ERDE gegen GOTT<br />
Die Geschichte von der Mensch-Werdung GOTTES<br />
Protokoll 1. Tagsatzung am 11.11.2011.<br />
Klagende Partei: Erde. Alter: unbestimmbar, Geschlecht: weiblich, männlich,<br />
sächlich… sphärisch, überirdisch, alles oder doch gar nichts davon..<br />
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Beklagte Partei : GOTT, Wohnsitz irgendwo zwischen Himmel und Hölle, Alter<br />
unbekannt, Geschlecht strittig<br />
Rechtliches Interesse:<br />
der Fortbestand der Welt<br />
In eventu: Unterlassung der Besitzstörung durch das<br />
inkriminierte Verhalten der beklagten Partei sowie Wiederherstellung des<br />
Urzustandes der klagenden Partei<br />
Die Parteien betreten den Gerichtssaal, einen in monotonem Beige gehaltenen,<br />
rechteckigen Raum mit nur einem Fenster, durch das bedenklich wenige<br />
Lichtstrahlen fallen. Der Smog hat auch das Gerichtsgebäude mit seinem<br />
philosophischen Grau, das leicht für ehrwürdig und morbid statt schlichtweg<br />
grau und ungesund gehalten wird, in seine alles verschlingenden Arme<br />
genommen. Im Saal mit der Nummer 4172 fällt der erhöhte Richtersitz ins<br />
Auge, rechts und links davon die Tische, die der klagenden Partei und der<br />
beklagten Partei samt ihren Rechtsvertretern vorbehalten sind.<br />
Auf dem Richtertisch steht lust- und schmucklos ein schlichtes Holzkreuz, das<br />
die vor ihr sich in ihren Ausführungen verlierenden Parteien dazu verleiten<br />
soll, ihren Schwüren auch den notwendigen und dem hohen Gericht<br />
angemessenen Respekt zollenden Ernst angedeihen zu lassen. Vor Gott und der<br />
Welt. Was im gegenständlichen Prozess noch zu einigen verfahrensrechtlichen<br />
Komplikationen führen wird. Doch dazu<br />
später.<br />
Der große <strong>Pink</strong> <strong>up</strong> <strong>your</strong><br />
Im Mittleren des Raumes World<br />
befindet sich ein<br />
ebenfalls schlichter<br />
Fortsetzungsroman !<br />
Holzstuhl,<br />
abgegriffene Lehnen lassen erahnen, wie<br />
viel Kraft die Zeugen das Bezeugen ihrer<br />
Beobachtungen und Beschuldigungen und<br />
Wahrheiten und Lügen und Schwarzmalereien und Weißzeichnereien gekostet<br />
hat, wie sie sich in das weiche biegsame Holz verkrallt haben, immer auf der<br />
Hut vor der nächsten Frage, dem nächsten Angriff des vermeintlichen Gegners,<br />
die nächste Finte parierend. Der schlichte Stuhl erzählt, wie sie sich in<br />
Sicherheit wähnten, die Gegner der Wahrheit und des Rechtes und wie sie in<br />
ihrem grenzenlosen Hochmut verloren haben. Wie sie sich überlegen gefühlt<br />
haben vor den scheinbar harmlosen und sie einlullenden Fragen der<br />
Gegenseite, wie sie sich hingaben an diese trügerische Sicherheit und zuletzt<br />
über eben diese stolperten, gefangen im Netz ihrer eigenen Wahrheit. Oder<br />
Lüge. Oder einfach im Netz ihres Hochmutes, der sie gnadenlos und unter der<br />
Häme der Gegenseite zu Fall brachte.<br />
Ein Stuhl also. Einfach, schlicht und doch voller Geschichten erzählend von<br />
Sieg und Niederlage.<br />
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Schweigen. -> Lesen. –> Denken. –> Reden.<br />
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Wie überha<strong>up</strong>t der ganze Saal in seinem Grau und Beige und seiner<br />
unaufdringlichen Schlichtheit mit durchdrungen ist von den Geschichten, die<br />
sich hier in epischem Für und Wider vor einem Gericht wiedergefunden haben.<br />
Vor einem Richter. Vor Gott.<br />
Doch diesmal ist es anders. Diesmal betritt GOTT die Bühne des Gerichtes, steht<br />
ER (oder SIE? oder ES?) im Mittelpunkt des Geschehens, nicht nur als zu<br />
beschwörende Formel, sondern in seiner ganzen materialisierten Existenz. Ist<br />
ER/SIE/ES nicht das seit jeher gefürchtete Instrument der Einschüchterung,<br />
entpersonalisiert, missbraucht im Dienste der Wahrheitsfindung, nein, diesmal<br />
tritt Gott ein und hat einen Platz. Den zur linken des Richtertisches, ohne<br />
Kompromisse, ohne Diskussionen, ohne Litaneien, ohne Offenbarung, ohne<br />
Predigt, ohne Apokalypse und ohne Ausrede. Ohne Ornat und ohne Tiara. Ohne<br />
Kutte und ohne Schleier, ohne Anfang und mit einem Ende, das GOTT<br />
ausnahmsweise nicht in der Hand hat.<br />
Denn diesmal ist der RICHTER am Wort, an jenem Wort, das GOTT ihm gab. Und<br />
den Menschen. Das ER/SIE/ES ihnen gab, wie das Licht, das Leben, die Liebe,<br />
den Hass und eben die Wahrheit.<br />
Es wird sich zeigen, ob diese Wahrheit auch für die beklagte Partei GOTT zu<br />
Geltung gelangen wird.<br />
Der ob der prominenten Partei eingeschüchterte Gerichtsdiener öffnet die Türe<br />
zum Gerichtssaal und ruft die Parteien auf:<br />
„Verhandelt wird Erde gegen GOTT, Aktenzeichen 587/11 y, Aufruf zur ersten<br />
Tagsatzung!“<br />
GOTT erhebt sich von einem der am Gang montierten Klappsessel, packt<br />
seine/ihre Akten zusammen und visiert selbstbewusst den Eingang zum<br />
Gerichtssaal an. Stolz und von seiner/ihrer Rechtsansicht überzeugt. So<br />
betreten sie alle den Gerichtssaal – erhaben, optimistisch, voll Begierde, ihren<br />
Standpunkt endlich vor berufenem Mund, vor des gerechten Richters Ohr<br />
darlegen zu können. Zumindest die Hälfte der in den Saal strömenden Seelen<br />
verlässt ihn enttäuscht und desillusioniert von der zuvor so brennend<br />
ersehnten Wahrheitsfindung, zermahlen in Formalismen und zum Schweigen<br />
gebracht von den Götzen der Bürokratie, wieder.<br />
GOTT nimmt Platz, ordnet seine/ihre Akten auf dem ihm zugewiesenem Tisch<br />
und lässt den Blick über die Sesselreihen des Gerichtssaales schweifen, nur<br />
jene, die IHN/SIE/ES nicht bloß vom Hörensagen kennen, hätten den leichten<br />
Hochmut erkannt, mit dem GOTT die rechte Augenbraue hochzog. Jene, die<br />
ER/SIE/ES auch dann nach oben zog, wenn ein armer Sünder Einlass begehrte<br />
in die ewigen paradiesischen Jagdgründe.<br />
An GOTTES Seite nimmt Dr. Johannes Albatros Platz, einer dieser sogenannten<br />
„Staranwälte“, von denen sich der Normaljurist am Ende jedes erschöpfenden<br />
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Schweigen. -> Lesen. –> Denken. –> Reden.<br />
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juridischen Tagwerkes fragt, wie er es schafft, jeden Tag lächelnd und gut<br />
gelaunt die Seitenblicke-Kolumnen zu füllen und gleichzeitig die Unmengen an<br />
Klagsschriften, Repliken und sonstigen Schriftsätze, die so ein<br />
durchschnittliches Juristendasein mit sich bringt, rechtzeitig und in zumindest<br />
annehmbarer und nicht gleich zu einem „Heber in der Einlaufstelle“ führender<br />
Qualität zu bewerkstelligen.<br />
Dr. Albatros jedenfalls schafft es scheinbar mühelos, juristisches Fachwissen<br />
mit leichtfüßigem, belackschuhtem Frank-Sinatra-Auftreten in Einklang zu<br />
bringen, keine Seitenblicke-Revue, in der nicht der wie mit Bohnerwachs<br />
polierte Glatzenansatz aus der Menge glänzt, kein medial angeheiztes<br />
kontroversielles Thema, zu dem Dr. Albatros nicht medien- und<br />
selbstvermarktungswirksam seine kleine untersetzte Figur in die Kameralinse<br />
schiebt und mit sonorer Stimme, die der Fama nach so manches<br />
Vorstadtfräulein zur Aufgabe ihrer - mit Eifer für das ersehnte Erscheinen des<br />
„Richtigen“ verteidigten - Züchtigkeit bewegen konnte (nicht gesichert ist, ob<br />
die Unzucht auch noch bei Tageslicht aufgrund des dadurch zu Tage tretenden<br />
Bildes des Dr. Albatros weiter währte), seinen Standpunkt der interessierten<br />
Öffentlichkeit offenbart. Ganz in der Tradition der abendländischen Johannes<br />
dieser Welt. Immer eine Offenbarung auf den Lippen.<br />
Dr. Albatros – in feinem Harrys Tweed gekleidet, stellt seine<br />
Krokolederaktentasche neben den Tisch, legt seine Akten vor sich hin und<br />
weist sich als Vertreter von GOTT aus:<br />
„Dr. Johannes Albatros für GOTT, Vollmacht erteilt.“<br />
Der Richter schreibt die Daten des Dr. Albatros in sein Protokoll.<br />
Was passieren würde, wenn einmal ein Gericht tatsächlich die anwaltliche<br />
Legitimation des Dr. Albatros prüfen würde und dieser seinen Kammerausweis<br />
vorlegen müsste, darüber haben sich Legionen von Albatros-geschädigten<br />
Konzipienten in ihren dunkelsten nächtlichen Überstunden Gedanken gemacht.<br />
Denn was würde die noble Wiener Gesellschaft wohl dazu meinen, wenn sie aus<br />
erster Hand life und amtlich erfahren müsste, dass der Altersunterschied<br />
zwischen dem belackschuhten Dr. Albatros und seinen nächtlichen weiblichen<br />
Begleiterinnen nicht die kolportierten 25 Jahre, sondern eher 40 Jahre plus<br />
betrug. Genau jene 15 Jahre, die einen Altersunterschied zwischen Trägern des<br />
Y-Chromosoms und ihren nächtlichen gut proportionierten Schattenwesen vom<br />
gesellschaftlich tolerierten triple AAA Status „Toller Hecht“ zum Ramsch-<br />
Status „Geiler alter Lustmolch“ herabstufen. Da waren die Wiener<br />
Sittenwächter unbarmherzig – 25 Jahre, das war ein entschuldbarer<br />
Vaterkomplex der mit süßem polnischen Akzent die Herzenswärme des Dr.<br />
Albatros lobpreisenden Studentin der Rechts- Betriebs- oder Sonst-Was-<br />
Wissenschaften. Bei läppischen 25 Jahren Altersunterschied konnte man von<br />
einer ernst zu nehmenden Anziehung aufgrund der reifen abgeklärten und<br />
dennoch virilen Ausstrahlung eines Dr. Albatros ausgehen, wohingegen 40
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Jahre Altersunterscheid den Verdacht der käuflichen Liebe für sich hatten,<br />
hinter vorgehaltener Hand konnte man bei 40 Jahren sogar die Worte<br />
„Kinderschänder“ oder „Leichenschänderin“ vernehmen, je nach Standpunkt<br />
der Betrachtung.<br />
Ständiger Begleiter des Dr. Albatros ist sein rabenschwarzer Königspudel Putzi.<br />
Putzi´s Taufname ist eigentlich Aron von Arragon, seines Zeichens ein<br />
reinrassiger Königspudel mit erstklassigen Papieren und mehreren Champions<br />
als Vorfahren. Da Putzi jedoch von der zweiten Frau Dr. Albatros (es gab auch<br />
noch eine dritte und vierte Frau Dr. Albatros) im Austausch gegen die eheliche<br />
Döblinger Villa und das mit Schwarzgeld gefüllte Liechtenstein´sche<br />
Wertpapierdepot bei seinem Herrchen einfach zurückgelassen wurde, nannte<br />
Dr. Albatros das ihm nunmehr alleine anvertraute Tier nach dem Kosenamen<br />
seiner verflossenen Gattin, eben „Putzi“.<br />
Der Richter beginnt, die persönlichen Daten der anwesenden Parteien<br />
aufzunehmen:<br />
„GOTT, voller Namen bitte, derzeitiger Wohnsitz, Familienstand, Kinder.“<br />
GOTT steht vom ihm zugewiesenen Sitzplatz zur Rechten des Dr. Albatros auf<br />
und glättet seinen weißen seidig glänzenden Anzug.<br />
„Name: GOTT. Nur GOTT. Ledig.“<br />
„Irgendwelche Aliasnamen, unter denen Sie bekannt sind ?“<br />
„Nun ja, man nennt mich auch den Allmächtigen. Oder den Einzigen GOTT.<br />
Manche sagen auch Herr im Himmel. Andere kennen mich unter dem Titel<br />
Schöpfer des Himmels und der Erde“<br />
„Kein Nachname, dafür ganz schön viele Aliasnamen, muss ich feststellen.“<br />
„Manche sagen auch „Vater Unser“ zu mir.“<br />
„Vater unser ? Also Kinder. Wie viele ? Sorgepflichten ? Wenn ja in welcher<br />
Höhe ?“<br />
„Einen Sohn, jedoch verstorben. Sorgepflichten habe ich aber trotzdem viele,<br />
alle verlorenen Seelen, die sich mir anvertrauen, hoffen auf meinen Beistand.“<br />
„Kann man das bitte konkreter und in Zahlen ausdrücken?“<br />
Dr. Albatros, der bis dato unruhig auf seinem Sessel hin und her rutschend dem<br />
Dialog zwischen dem Richter und dem Beklagten verfolgt hat, kann nicht mehr<br />
an sich halten und springt mit einer Behändigkeit, die man aufgrund seiner in<br />
Harrys Tweed gehüllten Leibesfülle nicht vermuten würde, auf.<br />
„Herr Rat, lassen Sie mich das kurz ausführen… Das ist in diesem speziellen<br />
Fall nämlich nicht so einfach“<br />
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„Das merke ich, Herr Rechtsanwalt. Also führen´ s halt aus, aber wenn´s geht<br />
kurz und prägnant“<br />
„Der Beklagte hatte wie er bereits dargelegt hat, einen Sohn, der jedoch<br />
verstorben ist. Nunmehr ist er zwar für das Seelenheil vieler Menschen<br />
verantwortlich, doch nicht im juristischen und pekuniären Sinne<br />
unterhaltspflichtig. Das kann Ihnen der Vatikan bzw. in concreto die<br />
Vatikanbank als Vermögensverwalter des Beklagten gerne bestätigen “<br />
„Also keine geldwerten Unterhaltspflichten?“<br />
„Richtig, Herr Rat.“ Dr. Albatros beginnt die morgendliche Auswahl des Harrys<br />
Tweed Sakkos zu verfluchen, der Schweiß steht ihm im Nacken und das Hemd,<br />
da sich unter dem inkriminierten Sakko in gestärktem Weiß konvex um des Dr.<br />
Albatros Mitte wölbt, beginnt, sein Weiß zugunsten hässlicher graunasser<br />
Flecken aufzugeben, die einzig davon zeugen, dass des Dr. Albatros glatte<br />
Selbstbeherrschung langsam brüchig wird.<br />
„Gut. Dann weiter. Wohnsitz ?“ Der Richter schiebt mit der rechten Hand die<br />
herunterrutschende Brille wieder auf die Nase, auch ihm fangen winzige<br />
Schweißperlen auf der Stirne zu stehen an, jedoch nicht aufgrund falscher<br />
Sakkowahl, sondern schlicht, weil der schwarze Talar die durch das Fenster<br />
schielende Sonne unter dem schweren Stoff bündelt und das ehrgebietende<br />
Kleidungsstück zu einer wandelnden Sauna macht.<br />
GOTT räuspert sich und antwortet: „Himmel.“<br />
Der Richter blickt von seinem Akt auf und setzt an, Details zu erfragen, hält<br />
jedoch in letzter Sekunde inne und besinnt sich anders: „Himmel. Aber können<br />
wir uns der Einfachheit halber auf einen Wohnsitz im inländischen Teil des<br />
Himmels einigen. Andernfalls verkompliziert sich das Verfahren nämlich<br />
aufgrund der Notwendigkeit eines Zustellungsbevollmächtigten im Ausland.“<br />
Dr. Albatros springt wiederum auf und antwortet noch bevor sein Mandant<br />
weiter zur Frage des Wohnsitzes Stellung nehmen kann: „Selbstverständlich,<br />
Herr Rat! Das ist ja in unser aller Interesse!“<br />
„Ihr Interesse interessiert hier nicht, sondern lediglich das des Gerichts und<br />
der Parteien.“ kann sich der Richter nicht verkneifen in scharfem Tonfall<br />
loszuwerden.<br />
Der Pudel Putzi blickt kurz irritiert von seinem Schlafplatz neben der<br />
Krokolederaktentasche auf. Der sorgfältig ondulierte Haarschopf des eleganten<br />
Tieres ragte windschief nach links, Zeichen von Putzi´s wohlverdientem<br />
Gerichtsschlaf, um den ihn wohl in diesem Saal mehrere beneideten. An Putzi´s<br />
schwarzgelockte Mähne ließ Dr. Albatros nur den besten Hundecoiffeur,<br />
gleichsam als Ersatzhandlung angesichts der gähnenden Leere, die sich auf Dr.<br />
Albatros´ eigenem Ha<strong>up</strong>te im Laufe der Jahre ihren Platz erobert hatte wie bei
Schweigen. -> Lesen. –> Denken. –> Reden.<br />
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einem alten Rasen, auf dem die Graswurzeln keinen Halt mehr finden um sich<br />
zu saftigen grünen Büscheln zusammenzugesellen. An Putzi´s makelloser<br />
Frisur lag dessen Herrchen´s Ego jedenfalls eine Menge, er focht einen<br />
Stellvertreterkrieg mit Putzi´s Locken, und so fuhr Dr. Albatros angesichts des<br />
Pudelha<strong>up</strong>thaardebakels automatisch mit seinen kleinen fleischigen Fingern<br />
durch Putzi´s derangierte Lockenkrone und brachte den Pudel und damit sich<br />
selbst wieder in die gewünschte makellose Form.<br />
Nunmehr meldet sich erstmals der Anwalt der klagenden Partei, Dr.<br />
Hieronymus Faust zu Wort: „Die klagende Partei würde den inländischen<br />
Wohnsitz der beklagten Partei<br />
und damit in weiterer Folge<br />
die<br />
inländische<br />
Gerichtszuständigkeit gerne<br />
außer Streit stellen, wenn die<br />
beklagte Partei einverstanden<br />
ist.“<br />
Fortsetzung folgt !<br />
Für alle Literaturkiebitze, die nicht warten wollen -><br />
E-Mail an office@pink<strong>up</strong><strong>your</strong><strong>world</strong>.at und loslesen!<br />
Der Richter wendet sich fragend an Dr. Albatros, welcher beflissen zustimmt,<br />
ist diese kleine formale -für den juristisch unbefleckten Betrachter<br />
unbedeutende Feststellung - doch in Wahrheit von nicht zu unterschätzender<br />
Wichtigkeit: Keine inländische Gerichtszuständigkeit, kein im Inland geführter<br />
Prozess, kein Bedarf an einem im Inland zugelassenen Anwalt, kein Mandat,<br />
kein Honoraranspruch.<br />
Dr. Albatros sieht die erste Hürde im Kampf um Ehre und Geldsegen genommen<br />
und lehnt sich in seinem hölzernen Gerichtsstuhl so entspannt zurück als die<br />
abweisende Holzlehne es erlaubt. Putzi lässt das von ergebener Bewunderung<br />
an seinen Herrn müde Pudelha<strong>up</strong>t wieder auf die Krokoledertasche fallen und<br />
lässt ein deutlich vernehmbares Grunzen hören, die Augen bereits fest<br />
geschlossen, bereit, im wohlverdienten Schlaf vom domestizierten, getrimmten<br />
Pudelhund mit eleganten Umgangsformen zum sportlichen, drahtigen<br />
Jagdhund zu mutieren, der frei und unfrisiert dem Ruf der Wildnis folgt. Es<br />
scheint als ob sogar des schwarzen Pudels Träume stellvertretend für die seines<br />
Herrn geträumt würden.<br />
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Nordturm:<br />
Fortsetzungsgeschichte in literarischen Bildern<br />
Das Sterben hatte er sich<br />
definitiv<br />
anders<br />
vorgestellt. Banaler war es<br />
in seinen Vorstellungen,<br />
weniger pathetisch als der<br />
Tod, den er in wenigen<br />
Augenblicken ereilen<br />
würde. Und obgleich ihm<br />
im Leben die Banalität der<br />
verhasste Feind war,<br />
machte ihm die Absenz der<br />
Banalität im Augenblick<br />
des Sterbens am meisten<br />
zu schaffen. War doch sein<br />
Leben, nicht jedoch sein<br />
Sterben darauf ausgerichtet gewesen, das Banale, das Triviale zu überwinden<br />
und aufzusteigen in den Parnass von Ruhm, Anerkennung und Unsterblichkeit.<br />
Der Weg in die Geschichtsbücher, das war es, was ihn angetrieben hatte, diese<br />
Unrast, die die Auerwählten erst zu solchen werden ließ. Den Eintrag in die<br />
Geschichtsbücher hatte er geliebt, gelebt, zelebriert. Auf dieses letzte Kapitel<br />
hätte er jedoch gerne verzichtet. Er war nicht gläubig, doch nun begann er<br />
mangels einer anderen Vorstellung davon, was man im letzten Moment, der<br />
einem auf der Erde als Sterblicher verblieb, tun sollte, zu beten. Schon als Kind<br />
hatte er immer dann, wenn die Alternativen eng wurden und das elterliche<br />
Donnerwetter samt Strafvollzug in greifbare Nähe rückte, zu beten begonnen.<br />
Es war wohl das Menschliche, das auch ihn, den Helden, den Unantastbaren,<br />
den Entrückten in den Augenblicken der Unsicherheit zum Vater Unser greifen<br />
ließ.<br />
Der Nordturm des Stephansdoms war ein Sinnbild der Menschen der Stadt:<br />
Hochfahrend, aufstrebend, eitel und flamboyant drängten sie seit Generationen<br />
in die Höhe, nur um in ängstlicher Erwartung der göttlichen Bestrafung für die<br />
begangene Todsünde der Gefallsucht und Eitelkeit Abbitte zu leisten und<br />
letztlich zu scheitern. Doch auch dieses endgültige Scheitern wollte ihnen nie so<br />
recht gelingen, denn das Abbitten war eine ernstzunehmende Kulturtechnik,<br />
wer Abbitte leistete, war zur Sühne verurteilt, und wiewohl die Sünde das<br />
Wienerherz in Beschlag nahm, fand die Sühne kaum Einzug in die Wiener Seele.<br />
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Und so hatte der Nordturm genauso wie das berühmte goldene Wiener Herz<br />
nicht sein volles Potential erreicht, sondern es nur fast bis zur Vollendung<br />
geschafft. Die zinnerne K<strong>up</strong>pel, Welsche Haube genannte, war Sinnbild der<br />
Wirren der Reformation, denen sich auch der stolze Stephansdom nicht<br />
entziehen hatte können und die dafür verantwortlich waren, dass das<br />
mittelalterliche Prestigeprojekt in den Zeiten der Religionswirren mangels<br />
ausreichender finanzieller Geldquellen nicht vollendet wurde. Waren doch die<br />
großen Dombauten nur aufgrund der großen Verbreitung des mittelalterlichen<br />
Ablasshandels erst möglich geworden. Die kirchliche Korr<strong>up</strong>tion hatte das<br />
mittelalterliche Wien jedoch nie in ernsthafte Bedrängnis gebracht, sondern<br />
sich vielmehr über die Jahrhunderte auch im weltlichen System der Stadt zu<br />
einem gern gesehenen Gast gemacht. Vielleicht war dies der Grund, warum er<br />
den Dom gewählt hatte.<br />
Statt einer ebenso imposanten und gottesfürchtigen Höhe wie sie der Südturm<br />
als Wahrzeichen Wiens aufwies, brachte es der Nordturm auf gerade einmal die<br />
Hälfte der Höhe und war von einer derben zwiebelförmigen K<strong>up</strong>pel gekrönt,<br />
eben der Welschen Haube, deren poetischer Name nicht darüber hinweg zu<br />
täuschen vermochte, dass die Unvollendung nicht das gewollte, sondern<br />
vielmehr das gerade noch vertretbare Ergebnis war, das die historischen<br />
Bauherrn der Renaissance dem geschundenen Turm angedeihen hatten lassen.<br />
Und so stand der ungewollt kleine Nordturm Sankt Stephans für Vieles, das die<br />
Stadt und deren Bewohner mit dem Kastraten ihres geliebten Doms einte: Die<br />
Kunst, das Versagen zu verklären, die Nonchalance, mit der das Unfertige<br />
gefeiert wurde, die Liebe zum Verkrüppelten, die Gewöhnung an das<br />
Ungeplante, die Resilienz gegen die Rückbesinnung.<br />
Der mittelalterliche Nordturm repräsentierte das Stein gewordene Wiener Herz<br />
in der Gesamtheit seiner physischen Brutalität.<br />
Der Wind pfiff durch seine viel zu dünne Jacke, die dunklen Haare, die ihm im<br />
Laufe seiner Karriere so viel Spott eingetragen hatten, jedoch aus seiner Sicht<br />
auch eine unbezahlbare Publicity darstellten, flatterten um sein Gesicht, er<br />
merkte es nicht einmal. Er war am Ende, das wusste er. Und zum tausendsten<br />
Mal stellte er sich die Frage, ob er einen Fehler gemacht hatte und wenn ja,<br />
welcher dies gewesen war. Er stellte sich diese Frage jedoch nicht in einem<br />
moralischen Kontext, dazu war er zu gewöhnt an den Zustand der Amoral. Das<br />
Moralische war ihm gänzlich fremd, er konnte sich nicht fragen, ob er ein<br />
besserer Mensch hätte sein können und ob alles dann anders gekommen wäre.<br />
Er konnte sich diese Frage nicht stellen, da er Moral nicht kannte. Noch nie<br />
kennengelernt hatte. Er hatte Moral nicht gelernt, weswegen er auch nie<br />
darüber nachdachte. Die Menschen hielten ihn für arrogant, für abgehoben,<br />
krankhaft ehrgeizig, für amoralisch. Sie verurteilten sein Handeln in<br />
Kategorien, die für ihn keine Geltung haben konnten. Nicht, weil er sich<br />
wirklich für so viel besser gehalten hätte oder weil er wirklich überheblich<br />
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gewesen wäre. Das war er nicht. Er war nicht amoralisch, er besaß schlicht gar<br />
keine Moral. Doch durch die Absenz von Moral wurde er nicht automatisch<br />
amoralisch. Denn wo sollte der Gegenpol einer menschlichen Eigenschaft einem<br />
Menschen inne wohnen können, wo die Eigenschaft selbst nie in ihm gewohnt<br />
hatte?<br />
Er zitterte. Er hatte keine Angst vor dem Sterben an sich, vielmehr hatte er<br />
Angst vor der Endgültigkeit. Was, wenn er nicht alle Alternativen in Betracht<br />
gezogen hatte? Was wenn der Tod doch nicht die beste Lösung wäre, sondern es<br />
noch eine andere Lösung geben würde? War er es seinen Kindern nicht<br />
schuldig, alles probiert zu haben? Hatte er wirklich alle Szenarien<br />
durchgespielt? War er zu müde, um noch klar zu denken? Er wusste plötzlich<br />
keine Antworten mehr, und wo er gerade noch sicher war, die richtige<br />
Entscheidung getroffen zu haben, war er sich plötzlich nicht mehr so sicher. Er<br />
nahm einen tiefen Schluck aus der Whiskeyflasche, die er mitgenommen hatte.<br />
Das scharfe Aroma schärft einmal mehr seine Sinne, vertrieb den Nebel im<br />
Gehirn, verschaffte Klarheit und Distanz. Es gab nur diese eine Lösung. Würde<br />
er nicht handeln, würden es andere tun. Und dann würde er Schuld auf sich<br />
laden.<br />
Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben spürte er die Bürde der Moral. Sie ließ<br />
ihn in der Sekunde zu einem verzweifelten Mann werden.<br />
Er nahm einen Schluck aus der Flasche, trat zum Rand der Brüstung, schwang<br />
sich über das Geländer, zögerte kurz, griff in seine Manteltasche, spürte das<br />
Papier, das er darin mit sich trug, zerknüllte es, ließ seine Hände das kalte<br />
Metall verlassen und stürzte sich in die Tiefe.<br />
Während er flog schienen sich die Gesetze der Unendlichkeit neu zu formieren.<br />
Er bewunderte im freien Fall die Schönheit des Doms, die Wasserspeier tanzten<br />
ihm entgegen, ein buntes Rudel sagenhafter Gestalten umschwirrte ihn,<br />
schnappte nach ihm, spielte mit ihm. Er streckte die Hand aus, wollte eines der<br />
Untiere berühren, doch kaum war er einem der sagenhaften Geister nahe,<br />
entzogen sie sich ihm. Rosetten und mystische aus Stein gehauene Gesichter<br />
zogen an ihm vorbei, es kam ihm vor, er flog in die Unendlichkeit und nicht in<br />
den Tod.<br />
Sein Körper schlug am Boden vor dem Adlertor auf. Statt eines Adlers waren es<br />
lediglich die Raben, die den Toten am Boden begrüßten.<br />
Fortsetzung folgt …<br />
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