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NS-Medizinverbrechen in Stuttgart

Im ehemaligen Stuttgarter Kinderkrankenhaus wurden im Dritten Reich über 50 behinderte Kinder ermordet. Karl-Horst Marquart, ehemaliger Arzt am Gesundheitsamt, hat in seinem Buch „Behandlung empfohlen“ die NS-Medizinverbrechen in Stuttgart untersucht.

Im ehemaligen Stuttgarter Kinderkrankenhaus wurden im Dritten Reich über 50 behinderte Kinder ermordet. Karl-Horst
Marquart, ehemaliger Arzt am Gesundheitsamt, hat in seinem Buch „Behandlung empfohlen“ die NS-Medizinverbrechen in Stuttgart untersucht.

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<strong>Stuttgart</strong>er Amtsblatt · Nr. 39 · 29. September 2016 Das Thema · 5<br />

Diagnose: „Behandlung empfohlen“<br />

Im ehemaligen Städtischen K<strong>in</strong>derkrankenhaus wurden im Dritten Reich über 50 beh<strong>in</strong>derte K<strong>in</strong>der ermordet<br />

E<strong>in</strong> Tatort der Morde war unter anderem die „K<strong>in</strong>derfachabteilung“<br />

am Städtischen K<strong>in</strong>derkrankenhaus. Karl-Horst<br />

Marquart, ehemaliger Arzt am Gesundheitsamt, hat <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Buch „Behandlung empfohlen“ die <strong>NS</strong>-Mediz<strong>in</strong> -<br />

verbrechen <strong>in</strong> <strong>Stuttgart</strong> untersucht. Michael Hellstern<br />

und N<strong>in</strong>a Freund sprachen mit ihm und mit dem Leiter<br />

des Gesundheitsamts, Hans-Otto Tropp.<br />

Während der Zeit des Nationalsozialismus<br />

wurde die<br />

sogenannte „Volksgeme<strong>in</strong>schaft“<br />

über alles gestellt.<br />

Wieso wurden manche K<strong>in</strong>der<br />

ausgeschlossen und ermordet<br />

oder zwangs -<br />

sterilisiert?<br />

Marquart: Die Nationalsozialisten<br />

hatten 1933 das „Gesetz<br />

zur Verhütung erbkranken<br />

Nachwuchses“ beschlossen.<br />

Alles Kranke sollte aus<br />

dem „Volkskörper“ entfernt<br />

werden. Beh<strong>in</strong>derte Menschen<br />

wurden als „unnütze<br />

Esser“ bezeichnet, die nicht<br />

„arbeitsfähig“ waren. Außerdem<br />

wollte man verh<strong>in</strong>dern,<br />

dass Beh<strong>in</strong>derte auf die Welt<br />

kommen, da man ihnen im<br />

S<strong>in</strong>ne des Sozialdarw<strong>in</strong>ismus<br />

jedes Recht auf Leben absprach.<br />

Man g<strong>in</strong>g davon aus,<br />

dass e<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong> derung stets<br />

angeboren war und immer<br />

vererbt<br />

werden<br />

würde.<br />

Die Vererbung<br />

an e<strong>in</strong>en<br />

möglichen<br />

Karl-Horst Marquart<br />

Nachwuchs sollte durch<br />

Sterilisation verh<strong>in</strong>dert werden.<br />

Zudem wurden viele<br />

Zwangsarbeiterk<strong>in</strong>der ermordet.<br />

Man wollte Arbeiter<strong>in</strong>nen<br />

und Arbeiter im<br />

Reich haben, aber dass diese<br />

später auch noch K<strong>in</strong>der<br />

bekommen, war nicht erwünscht.<br />

„Die Eltern wurden belogen.<br />

Ihnen wurde mitgeteilt, dass<br />

ihr K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>es natürlichen<br />

Todes gestorben sei.“<br />

Die dreijährige Gerda Metzger<br />

wurde 1943 im K<strong>in</strong>derkrankenhaus<br />

ermordet. Foto: Hornberger,<br />

Heimatmuseum Flacht<br />

Wie sah die Lage <strong>in</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />

aus?<br />

Marquart: Lange umstritten<br />

und verdrängt war die Tatsache,<br />

dass es im Städtischen<br />

K<strong>in</strong>derkrankenhaus von 1943<br />

bis 1945 e<strong>in</strong>e sogenannte<br />

„K<strong>in</strong>derfachabteilung“ zur<br />

Ermordung von K<strong>in</strong>dern mit<br />

e<strong>in</strong>er Missbildung oder Be -<br />

h<strong>in</strong>derung gab. Die Organisatoren<br />

dieses Verbrechens sprachen<br />

nicht von Tötung, sondern<br />

von „Behandlung“.<br />

K<strong>in</strong>der wurden oftmals gegen<br />

den Willen der Eltern <strong>in</strong><br />

Heime gebracht. Die meisten<br />

s<strong>in</strong>d nie wieder nach Hause<br />

zurückgekehrt. Welche Gründe<br />

wurden den Eltern mit -<br />

geteilt?<br />

Marquart: Die Eltern erfuhren<br />

nur, dass ihre K<strong>in</strong>der<br />

„behandelt“ und geheilt<br />

werden sollten. In den K<strong>in</strong>-<br />

derfachab-<br />

teilungen<br />

erhielten die<br />

Opfer nach<br />

wenigen Tagen<br />

e<strong>in</strong>e erhöhte<br />

und somit tödliche<br />

Dosis des<br />

Schlafmittels Lum<strong>in</strong>al. Die<br />

Eltern wurden belogen. Ihnen<br />

wurde mitgeteilt, dass ihr K<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong>es natürlichen Todes, zum<br />

Beispiel an e<strong>in</strong>er Lungenentzündung,<br />

gestorben sei.<br />

Gibt es e<strong>in</strong> Schicksal, das Sie<br />

bei der Aufarbeitung besonders<br />

betroffen hat?<br />

Marquart: Die dreijährige<br />

Gerda Metzger war leicht<br />

geistig und körperlich beh<strong>in</strong>dert<br />

und lebte <strong>in</strong> Flacht <strong>in</strong> der<br />

Nähe von Leonberg. Unter<br />

dem Vorwand e<strong>in</strong>er Untersuchung<br />

wurde sie ihrer Mutter<br />

entrissen und von e<strong>in</strong>em Arzt<br />

<strong>in</strong> das Städtische K<strong>in</strong>derkrankenhaus<br />

<strong>Stuttgart</strong> gebracht.<br />

Der verzweifelten Mutter –<br />

die dieses Geschehen viele<br />

Jahre später dem Masseur<br />

Matthias-Herbert Enneper<br />

erzählte – wurde nicht mit -<br />

geteilt, <strong>in</strong> welche Kl<strong>in</strong>ik ihr<br />

K<strong>in</strong>d gebracht wurde. Sie lief<br />

daraufh<strong>in</strong> abends los und<br />

erreichte nach e<strong>in</strong>em 35 Kilometer<br />

langen Marsch <strong>Stuttgart</strong><br />

am frühen Morgen. E<strong>in</strong> Mann<br />

Das frühere K<strong>in</strong>derkrankenhaus im Jahr 1942. Hier wird am 4. Oktober<br />

die Gedenktafel enthüllt.<br />

Foto: Stadtarchiv<br />

verwies sie an die städtische<br />

K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>ik, <strong>in</strong> der „solche“<br />

K<strong>in</strong>der behandelt würden.<br />

Dort konnte sie ihre Tochter<br />

kurz sehen. Als sie <strong>in</strong> der Kl<strong>in</strong>ik<br />

am nächsten Tag erneut<br />

nachfragte, war ihre Tochter<br />

bereits an e<strong>in</strong>er angeblich ansteckenden<br />

Krankheit verstorben<br />

und weggebracht worden.<br />

Heute er<strong>in</strong>nert vor dem<br />

Gebäude <strong>in</strong> der Türlenstraße<br />

22A e<strong>in</strong> Stolperste<strong>in</strong> an sie.<br />

Wie viele beh<strong>in</strong>derte K<strong>in</strong>der<br />

wurden <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong>s -<br />

gesamt umgebracht?<br />

Marquart: Man schätzt, dass<br />

über 5000 K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> „K<strong>in</strong>derfachabteilungen“<br />

umgebracht<br />

wurden. Betroffen waren ab<br />

1939 K<strong>in</strong>der bis zum Alter<br />

von drei, ab 1941 bis zum<br />

Alter von 16 Jahren. Die Opfer<br />

waren fast ausschließlich<br />

K<strong>in</strong>der, die nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

K<strong>in</strong>derheim oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Heil- und Pflegeanstalt untergebracht<br />

waren, sondern zu<br />

Hause von ihren Müttern<br />

versorgt wurden.<br />

Karl-Horst Marquart<br />

Der Vaih<strong>in</strong>ger war von 1987<br />

bis 2011 als Arzt im Gesundheitsamt<br />

tätig. Er ist Mit -<br />

begründer e<strong>in</strong>er Stolperste<strong>in</strong>-Initiative<br />

und Mitglied<br />

im bundesweiten Arbeitskreis<br />

zur Erforschung der<br />

nationalsozialistischen<br />

Euthanasie und Zwangs -<br />

sterilisation.<br />

„Behandlung empfohlen“.<br />

<strong>NS</strong>-<strong>Mediz<strong>in</strong>verbrechen</strong> an<br />

K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen<br />

<strong>in</strong> <strong>Stuttgart</strong> (2015), Peter-<br />

Grohmann-Verlag, <strong>Stuttgart</strong>,<br />

17,90 Euro.<br />

Gab es e<strong>in</strong>e Möglichkeit die<br />

Meldungen zu verweigern?<br />

Marquart: Mir ist lediglich e<strong>in</strong><br />

Fall bekannt, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Arzt,<br />

es war der Leiter des Gesundheitsamts<br />

Saulgau, grundsätzlich<br />

ke<strong>in</strong>e Meldungen von<br />

K<strong>in</strong>dern an den „Reichsausschuss“<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> – die „K<strong>in</strong>dereuthanasie“-Zentrale<br />

–<br />

verschickte. Er hatte dadurch<br />

aber ke<strong>in</strong>erlei Nachteile für<br />

sich zu befürchten. Natürlich<br />

war es für andere Ärzte karrierefördernd,<br />

wenn sie ihre<br />

Treue zum Regime durch die<br />

Meldungen bewiesen.<br />

Herr Tropp, was empf<strong>in</strong>den Sie<br />

bei der Vorstellung, dass das<br />

Gesundheitsamt damals an<br />

Verbrechen der sogenannten<br />

„Erb- und Rassenpflege“ be -<br />

teiligt war?<br />

Tropp: Ich f<strong>in</strong>de es unglaublich,<br />

was damals passiert ist –<br />

<strong>in</strong>sbesondere, dass Ärzt<strong>in</strong>nen<br />

und Ärzte daran beteiligt waren.<br />

Man kann daraus lernen,<br />

dass jeder Mensch oder jede<br />

Gruppe e<strong>in</strong>e grausame Seite<br />

haben kann. Ich habe mich<br />

Foto: Max Kovalenko<br />

Gedenktafel<br />

Sozialbürgermeister Werner<br />

Wölfle wird am Dienstag,<br />

4. Oktober, um 17 Uhr<br />

e<strong>in</strong>e Informations- und<br />

Gedenktafel zur „K<strong>in</strong>dereuthanasie“<br />

am Gebäude<br />

des ehemaligen Städtischen<br />

K<strong>in</strong>derkrankenhauses <strong>in</strong><br />

der Türlenstraße 22A enthüllen.<br />

Der Ärztliche Direktor<br />

am Kl<strong>in</strong>ikum <strong>Stuttgart</strong>,<br />

Stefan Bielack, und Buchautor<br />

Karl-Horst Marquart<br />

werden <strong>in</strong> Grußworten an<br />

die dunkle Zeit des Nationalsozialismus<br />

er<strong>in</strong>nern.<br />

oft gefragt, wie man dem <strong>in</strong><br />

Zukunft vorbeugen kann.<br />

Inwiefern waren die damals<br />

handelnden Ärzte und Mit -<br />

arbeiter sich ihrer Verantwortung<br />

bewusst?<br />

Tropp: Viele Verantwortliche<br />

haben wohl geglaubt, sie<br />

würden die Familie und den<br />

„Volks körper“ von e<strong>in</strong>er Last<br />

erlösen. Sie waren zu e<strong>in</strong>em<br />

großen Teil sicher Überzeugungstäter.<br />

Es wird aber auch<br />

welche gegeben haben, die<br />

unter Druck standen und<br />

Angst vor Repressalien hatten.<br />

Viele haben an die <strong>NS</strong>-<br />

Rassenideologie regelrecht geglaubt<br />

und danach gehandelt.<br />

Herr Marquart, manche Täter<br />

waren nach dem Ende des<br />

Nationalsozialismus weiterh<strong>in</strong><br />

ärztlich tätig. Wer kam vor<br />

Gericht?<br />

Marquart: Fast ke<strong>in</strong>er der<br />

Täter wurde verurteilt. Viele<br />

gaben an, dass sie von ke<strong>in</strong>er<br />

Tötung gewusst hätten, und<br />

dass K<strong>in</strong>der nur e<strong>in</strong>es natür -<br />

lichen Todes gestorben seien.<br />

Karl Lempp, der während des<br />

Dritten Reichs <strong>in</strong> <strong>Stuttgart</strong> Leiter<br />

des Städtischen Gesundheitsamts<br />

und des Städtischen<br />

K<strong>in</strong>derkrankenhauses war,<br />

blieb danach noch bis zu se<strong>in</strong>er<br />

Pensionierung im Jahr<br />

1950 <strong>in</strong> leitender Position.<br />

Herr Tropp, wie bewerten Sie<br />

die geplante Installation e<strong>in</strong>er<br />

Gedenktafel für die Opfer?<br />

Tropp: E<strong>in</strong>e Gedenktafel ist<br />

etwas Bleibendes. Sie soll<br />

unterschiedliche Menschen<br />

ansprechen, zu Diskussionen<br />

und Fragen anregen und unsere<br />

Trauer ausdrücken. Es<br />

ist allerd<strong>in</strong>gs schwierig, den<br />

schrecklichen Schicksalen<br />

gerecht zu werden.

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