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Leseprobe-Portello-Drift

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Ralf <strong>Portello</strong> · <strong>Drift</strong>


RALF PORTELLO<br />

DRIFT<br />

Gedichte<br />

N o r d P a r k


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Die Besonderen Hefte im<br />

N o r d P a r k V e r l a g<br />

Alfred Miersch<br />

Klingelholl 53 42281 Wuppertal<br />

Gesetzt in der Palatino<br />

© Texte & Bilder: Ralf <strong>Portello</strong>, 2016<br />

Autorenphotos: © Tatyana Nitz, 2016<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN: 978-3-943940-09-1<br />

www.nordpark-verlag.de<br />

Die Besonderen Hefte werden eigenhändig in der Werkstatt<br />

des NordPark Verlages gesetzt, nach Bedarf in kleinen Auflagen<br />

gedruckt, dann handgefalzt und handgeheftet und in den<br />

Schutzumschlag aus dem Passat-Vorsatzpapier des Hamburger<br />

Papierherstellers Geese eingeschlagen.<br />

Für Sammler:<br />

Dieses Heft wurde gedruckt im August 2016<br />

Gedruckt auf dem Geese Werkdruckpapier Alster<br />

chlor- und säurefrei und alterungsbeständig<br />

entsprechend ANSI 3948 und ISO 9706.<br />

www.geese-papier.de<br />

FSC zertifiziert<br />

SGS – COC –004030<br />

www.fsc.org


10 Fauxpas<br />

11 Jahresurlaub am Schreibtisch<br />

12 Image<br />

13 Zwei Fuß über Flur<br />

14 tunnelhöhlung<br />

15 Klage<br />

16 I e Kleinanzeige – Morgenmaschine<br />

17 II e Kleinanzeige – Abendmaschine<br />

18 Beschreibung einer Aufrichtung<br />

19 So lebt R. Das tut R.<br />

20 Ein Tellerwäscher…<br />

21 Perspektivlose Menschen in Substandardwohnungen<br />

22 Wenn Stadtbahnhöfe träumen<br />

23 Der Tag an dem ich nicht vom Balkon sprang<br />

25 Häuser durch Körper gefädelt<br />

26 III e Kleinanzeige – Dolce & Gabbana<br />

27 Proteus<br />

28 Trichter und Aug’<br />

29 Schweigen<br />

30 Vollkommenste Vollkommenheit<br />

31 La Cognizione del Dolore<br />

32 Stichwort Fensterglas<br />

34 O Private Eye<br />

35 sie ging…<br />

36 Kgr. Kindheit (I) – Kepa<br />

37 Kgr. Kindheit (II) – Iglu<br />

38 Reigen<br />

40 Cocooning<br />

41 Fundsache N o 1– 6000+<br />

42 Routinen<br />

43 Fundsache N o 2 − TO·RT·444<br />

45 Kampfpause


46 Nie im Leben<br />

47 Tiny Electronic One-o-six<br />

48 Aka<br />

49 Klümpchen · Schmerz· Süße<br />

51 Rezidiv (I)<br />

53 Rezidiv (II)<br />

54 Depressive turn – Die Ankunft einer großen Leere<br />

55 IV e Kleinanzeige – Flow<br />

57 armakamann<br />

59 Coping<br />

60 Neologism Babes – Perlen 1 - 17<br />

61 Sonntag, tödlicher Sonntag<br />

62 Auf dem Teller der Zunge – Ein Frage- und Antwortspiel<br />

63 V e Kleinanzeige – Leidenfrost<br />

64 Regen<br />

65 Große Erwartung<br />

66 Jajajajajajajajaja<br />

68 In einer Manteltasche<br />

69 Giacometti überquert die Rue d’Alésia<br />

72 Aus Luft<br />

73 Obligo<br />

74 Les Termes<br />

75 Wir fallen<br />

76 Vordersätze ohne praktische Schlüsse<br />

78 Schlüsseldienst<br />

79 Extraterrestrisch<br />

80 Dramenfragment<br />

82 <strong>Drift</strong>


Für Mika Weigele


Fauxpas<br />

O der steten Züge ausbalancierte Gleisung. Entglitten<br />

ist mir das Datum meiner Bekehrung,<br />

meiner Fürbitten Saumes Farbe, Destination;<br />

es gleiten die Stunden, Stationen, die Namen.<br />

Immer nur sei, Züge, die Gleisung. Ent -<br />

weder lebe in einem Traum ich, doch nein,<br />

ich spüre die Gleisung wie die eigene Hand,<br />

das Rudern der Zunge im Mund. Oder? Oder,<br />

Gütige, es geschieht. Hier. Trance, Zug und<br />

Gleisung. Entschlüpft eitlem Wahn? Niemals?<br />

O pyrrhonischer Zug, o blutige Entgleisung.<br />

10


Jahresurlaub am Schreibtisch<br />

Hinterm Vorhang seit Tagen<br />

dieselbe unfertige Erscheinung:<br />

Schnürmieder, Ballettschuhe,<br />

Geweihröschen an der Stirn.<br />

Rezitiert sich und der Wand<br />

Verse fremder und eigener Hand.<br />

Und balanciert vier fixe Ideen:<br />

Nie mehr zurück an den anderen Schreibtisch.<br />

Schaufeln ansetzen im Revier der Kammer.<br />

Zwei oder drei Perlen, die alles aufwiegen.<br />

Pirouette beim Fangschuss.<br />

11


Image<br />

Steht im Stadtbahnabteil, die Fremde,<br />

Blick gesenkt in etwas, das für ihn nicht ist.<br />

Getaucht aus dem Meer der Eindrücke<br />

zappelt ihr Image in seinem Augenkescher.<br />

Zurück in des Buches Cachette<br />

der nun drögen Lektüre<br />

er sich nicht länger widmen mag,<br />

stattdessen lieber für den Rest der Strecke<br />

an dem Image leckt.<br />

Ob der Blick eine seltene Stunde zitiert,<br />

Wirrsale häuslicher Tristien durchirrt<br />

oder derart bloß Befangenheit kaschiert?<br />

Die Fremde erneut anblicken,<br />

hieße das nicht, das Image verraten?<br />

Und so trägt er das Image<br />

wie ein kostbares Insekt<br />

in sein abgestorbenes Büro.<br />

12


Zwei Fuß über Flur<br />

Stoffwolken überm armen Boden –<br />

Kleider säumen Reiser,<br />

segnen Erde, regnen Füße,<br />

wecken einen Rhythmus,<br />

fruchtbar, erreichbar,<br />

kaum zwei Fuß über Flur.<br />

Traum eines Bürostuhlreiters.<br />

Wo? – Standard-Operating-Wüste.<br />

Wann? – Stunde der toten Augen.<br />

Und aus nächster Ferne klingt eine Melodie –,<br />

eine Melodie wie die Silvestre Revueltas’:<br />

Es lebe das Leben, das Leben,<br />

das Lebleb.<br />

Schreckte auf der Reiter, rieb die Augen.<br />

Sprach eine Stimme wie die Ernst Herbecks:<br />

So (schön) schwer ist das es auch.<br />

Flüsterte die Kommentarstimme:<br />

Es wird Zeit, dass es Zeit wird.<br />

13


tunnelhöhlung<br />

Ein Sonntag im August:<br />

Tisch, Glas, Flasche, Olivetti und ich –<br />

und plötzlich Hilbigs tunnelhöhlung<br />

unterm schwarzen acker.<br />

Die sich tief in das Ensemble gräbt,<br />

bis Tisch, Glas, Flasche, Olivetti und ich<br />

gänzlich unterminiert sind.<br />

Mir graut vor dem kommenden Morgen,<br />

dem Büro und seinen Schnürungen.<br />

Und das Leben ist wieder Schlagwerk,<br />

und es schlägt mich zusammen<br />

in eben jener tunnelhöhlung.<br />

14


Klage<br />

Ich mache Licht an.<br />

Mundhöhle hält dagegen.<br />

Wieder nur Flunkies Weg,<br />

wieder nur Fliegendinge.<br />

Oder jenes neunzig Meter kluge Hochamt,<br />

meine priesterliche Synopsis.<br />

Zwischendurch eine Suppe,<br />

zwischendurch gemeines Pulsader- und Stricktheater.<br />

Gelegentlich Glissando – doch immer wieder:<br />

Aktentasche, Schnürsenkel, Schrumpftunnel.<br />

Immer wieder kleine Schnitte,<br />

immer wieder lose Knoten.<br />

Und ab und zu eine Tür.<br />

Doch hinter der Tür ist vor der Tür.<br />

Und immer wieder Totmannschaltung,<br />

immer wieder Mundschwärze,<br />

immer das Grau lügnerischen Grüns.<br />

Jeden Tag drücke ich Tag-Ein –<br />

jeden Tag erhalte ich Tag-Aus.<br />

HErr, warum kann ich Deinen Tagen und Türen nicht trauen?<br />

HErr, warum hast Du Schwärze in meinen Mund gelegt?<br />

HErr, warum ist Dein Grün so grau?<br />

Aktentasche, Schnürsenkel, Schrumpftunnel.<br />

Ich mache Licht an…<br />

15


I e Kleinanzeige<br />

Morgenmaschine<br />

Sechs Uhr vorüber.<br />

Der Scanner stottert.<br />

Zeit der Blick- und Griffroutinen.<br />

Ich tanke Kaffee und Kerosin.<br />

Die Morgenmaschine steht zum Einstieg bereit.<br />

Hegemonie von Headset und Laptoptasche.<br />

Auf dem Rollfeld reißt ein Novize<br />

eine Lücke in den Zug der Pendler.<br />

Die Stewardess macht das Kreuz.<br />

Im Etui ihrer Stimme<br />

glänzt eine künstliche Perle.<br />

16


II e Kleinanzeige<br />

Abendmaschine<br />

Die Stewardess bewegt sich wirklich auf allen Vieren<br />

durch den Gang der Abendmaschine.<br />

Sie sucht nach alten Zeitungen<br />

und bedankt sich jedes Mal,<br />

wenn sie fündig geworden ist.<br />

Ihr Blick ist ganz Hingabe.<br />

Ich ahne, dass ich mich anschließe,<br />

sobald sie an meiner Reihe vorbeikriecht.<br />

Da erhebt sie sich kurz vor dem Ziel<br />

und stolziert mit kolossalem Papierknüll<br />

kerzengerade Richtung Cockpit.<br />

Mit einer gekonnten Bewegung der Linken<br />

zieht sie blitzschnell den Vorhang auf<br />

und hinter sich sofort wieder zu.<br />

17


Beschreibung einer Aufrichtung<br />

Für eine arme Hand, die nach dem Erwachen<br />

aus ihrem Versteck sich vortastet nach etwas Halt,<br />

gibt es zu fortgeschrittener Stunde nur noch Lappen.<br />

Und weil die Zeit weit fortgeschritten war,<br />

tropft der Lappen, den man ihr reicht, und stinkt.<br />

Die Hand beginnt sogleich gewissenhaft, nach ihrer Art,<br />

das mit ihr verbündete Gesicht zu waschen.<br />

Alles, was Leben erhält, tropft und ist bitter.<br />

Die Hand entfaltet ihr Licht, spannt es auf,<br />

bringt Klarheit in das dankbare Gesicht.<br />

Unbestimmte Missempfindungen steht auf einem Zettel.<br />

Der Zettel ist adressiert an die Hand.<br />

Die Hand weint, denn das ist freilich ein erträgliches Los.<br />

Die Hand stützt das mit ihr verbündete Gesicht.<br />

Umstandslos packt ein Greifer die Hand.<br />

Die Hand lässt sich packen und an ihr Pult führen.<br />

Noch ist alles taub in ihr, aber sie hat es geschafft.<br />

18


So lebt R. Das tut R.<br />

So lebt R. anfangs.<br />

Blöcken wie diesen dient R. als Armierung.<br />

Die Arbeit ist zu schwer für R.<br />

Später verdingt sich R. als Deckenträger<br />

in einem Skelettbau der Peripherie.<br />

R. verdient nicht mehr als den Hungerlohn.<br />

Aus diesem Kellerfenster tastet sich sein Höhlenblick.<br />

Eine Jagdmeute fällt über R. her.<br />

Bestürzt zieht sich R. in seine Kaverne zurück.<br />

Als nach der Maueröffnung Maurer die Häuser verputzen,<br />

hat R. frischen Speis von den Wänden gebissen.<br />

Putzverbiss in einigen Höfen zeugt bis heute davon.<br />

Reifer geworden bezieht R. einen Lichtschacht,<br />

errichtet aus Müll eine Schmerzhafte Kapelle neueren Stils.<br />

Als R. fertig ist, findet R. nicht mehr raus aus seinem Hl. Loch.<br />

Am Todestag von Sylvia P. schält R. sich die Haut vom Leib,<br />

verstopft mit den Fetzen Türen und Fenster.<br />

Dann dreht R. den Gashahn auf.<br />

Im Krähenjahr lebt R. in einem der Zwerchhäuser.<br />

R. überlässt das Gesicht einem wunderlichen Tier als Nest.<br />

In einem Verschlag hockt R. lichtscheu wie eine Assel.<br />

Im Herbst gibt R. mit klarer Stimme den Kohlenträgern<br />

die Weisung, ihn unter dem Brikettbruch zu verschütten.<br />

Im Hungerwinter durchwühlt R. Mülltonnen nach Essbarem.<br />

R. findet nur schreckliche Wunder.<br />

In ihrem Schlüsselloch steckt ein neugieriges Auge.<br />

R. hat es hineingestopft.<br />

Unter dem Linoleum ihrer Schlafkammer lebt R.<br />

mit Käfern gekerbt in einer Kleinwelt.<br />

Von dort klopft R. sich nachts in ihre Träume.<br />

Morgen kauft sie ein Teppichmesser und schneidet R. frei.<br />

19


Ein Tellerwäscher gewisslich wässert. Teller, Schäumender.<br />

Wessen? Erzählteller und, ja, Schaumreich, friedbar. Teller.<br />

Tellerwerder. Mhm. Somit Investur durch Telltellquellen. Hört.<br />

Tellologos. 1 schäumender Stein, 2 Spülspielsteine. Schwer.<br />

Ein Tellerwerfer wässert Messer, o Wäsche, gläsern, Zungen.<br />

Schriftteller, du stirniger, nimmermüder Queller, und gut, ja,<br />

mein Spüler, mein begabter Schaumspieler. Mindestlohn. Aus.<br />

_______________________<br />

Für August Klett (Blatt 20: Wurmlöcher)<br />

20


Perspektivlose Menschen in Substandardwohnungen<br />

Sie wachsen mit ihren Stühlen zusammen,<br />

in kaum schubfachgroßen Kammern,<br />

mit Celan, Przyboś, Plath oder Rasp,<br />

an Resopaltischen, so angezählt wie sie,<br />

diese perspektivlosen Menschen,<br />

die in Substandardwohnungen leben.<br />

In ihrer allereigensten Enge formen sie erste Sätze,<br />

unbeholfene Gebilde, deren Perioden ganz steif daliegen.<br />

Perspektivlose Menschen in schubfachgroßen Kammern<br />

denken nur noch an Wundschrift und an Wortfenster.<br />

Wie Przyboś fordert, sind ihre Sätze ein Attentat gegen die Welt.<br />

Und täglich lernen sie länger in ihren Wunden zu schwimmen.<br />

Perspektivlose Menschen in Substandardwohnungen<br />

stepping from this skin / Of old bandages, boredoms, old faces.<br />

Und natürlich öffnen sie immer seltener die Tür.<br />

Wenn sie aufstehen, bleibt auf dem Stuhl eine Haut zurück.<br />

21


Wenn Stadtbahnhöfe Träumen<br />

Weberwiese: Webschiffchenleicht über Grund schwebende<br />

Schweberwiese. °<br />

Turmstrasse: Blitz, Donner und Sintflut gebietende Sturmstraße.<br />

Rohrdamm: Von Gott und der Welt abgeschnittener Ohrdamm. °°<br />

Pankstrasse: In feudalen Gebrechen schwelgende Krankstraße.<br />

Mohrenstraße: Moos-, pilz- und farnüberwucherte Sporenstraße.<br />

Karlshorst: Liebt Petershagen. Aus Eifersucht tötet Karl<br />

Hagen und Horst.<br />

Leinestraße: Mit Onkeln gesegnete niedliche Kleinestraße.<br />

Biesdorf: Spatzen lebendig röstendes Fiesdorf.<br />

Nordbahnhof: Ist Mord-, Mord-, Mordbahnhof. °°°<br />

Westhafen: In perennierender Quarantäne liegender Pesthafen.<br />

Tegel: Geistiger Kaliban und Staatsphilosoph Hegel.<br />

Heerstrasse: Albert-Speer-, Leer-, Despair-… Meerstraße? °°°°<br />

_______________________<br />

° Schweberwiese, my dear tourist,<br />

a subway station in Berlin-Stieglitzhain ist.<br />

°° Wo mit Vincents Schnürpaket,<br />

Rachel auf dem Bahnsteig steht.<br />

°°° Parricide. Matricide. Sororicide. Infanticide. Suicide. –<br />

German Gründlichkeit.<br />

°°°° William und Ingeborg,<br />

fürder sei es eure Sorg:<br />

Es liegt B e r l i n am Meer.<br />

Wisst, Heldt fiel’s einst nicht schwer.<br />

22


Der Tag an dem ich nicht vom Balkon sprang<br />

Mailand-<strong>Portello</strong>. Nichts bewegt sich. Nichts ist zu tun.<br />

Ich stehe in meinem weißen Seidenkostüm auf dem Balkon<br />

eines der großen Häuser. Im Hintergrund, gut zu erkennen,<br />

Monte Stella, ein Trümmerberg.<br />

Und spränge ich jetzt vom Balkon,<br />

stürzte mein 50-Kilo-Kokon<br />

zunächst in die Kronen der Bäume,<br />

bevor auf der Straße er notwendig zerbrechen müsste.<br />

Das falsche Sprungtuch aus Laub<br />

wird flankiert von Betongliedern einer Hochstraße,<br />

einem kleinen Platz mit Silberpappeln<br />

und sieben Etagen der Art Gemeines Mietshaus:<br />

Felder aus Glattputz, lachsrot und taubengrau,<br />

dazu einige Flecken Terrazzo, plus Balkone<br />

mit den obligaten atonischen Markisen.<br />

An Balkonbewehrungen dämmern Geranien – totrot.<br />

Vor den Fenstern, staubbedeckt, Lamellenjalousien.<br />

Im fünften Stock hantiert auf einer Leiter<br />

ein Skinhead in einem Muscle-Shirt,<br />

saugt mit einem Ministaubsauger<br />

Staub von den Lamellen einer Jalousie.<br />

Seine Hände stecken in neongelben Plastikhandschuhen.<br />

Neben ihm, auf einem Tisch, ein blauer Eimer.<br />

Im Hintergrund die kleine orange Straßenbahn und<br />

die gelbe Esselunga-Leuchtschrift des Supermarktes.<br />

Passanten mit gelben Esselunga-Tüten<br />

gehen in Zeitlupe die Straße hinunter.<br />

Exakt 14 Uhr 32 beginnt der Skinhead<br />

mit einem rosa Schwammtuch die Fenster zu putzen.<br />

23


Ich nehme ihm das Schwammtuch aus der Hand<br />

und beginne mit dem großen Aufwasch:<br />

Ich wische die Krume von den Trümmern des Trümmerbergs,<br />

wische das Lunga von der Leuchtschrift und den Tüten,<br />

wische die Plastikhandschuhe vom Neongelb,<br />

wische das Schwammtuch vom Rosa,<br />

wische den Eimer vom Blau,<br />

wische das Muscle-Shirt vom Skinhead,<br />

wische den Tod und die Geranien vom Rot,<br />

wische die Fassaden von den Häusern,<br />

wische die Lamellen und die Jalousien vom Staub,<br />

wische die Wipfel von den Bäumen,<br />

wische mich und den Balkon vom Haus.<br />

24


Häuser durch Körper gefädelt<br />

Nicht der Körper fädelt die Straße durch die Häuser (mm),<br />

nicht die Häuser den Körper durch die Straße (mm) –<br />

die Straße fädelt die Häuser durch den Körper (mhm).<br />

Durch den sich bewegenden, nicht den ruhenden Körper. °<br />

Und dem Körper errichtet sie Häuser, die Straße (die Circe).<br />

Sie lässt die Häuser vor dem Körper heranreifen (mhm),<br />

bis sie traufhoch sind, und fädelt sie – Paradoxie! (mhm) –<br />

durch das sich bewegende menschliche Nadelöhr (mhm).<br />

Als seien sie Garn, fädelt die abgeklärte Straße (die Circe)<br />

ganz beiläufig durch den winzigen Körper die größten Häuser. °°<br />

Und die Straße legt die Häuser im Rücken des Körpers ab (mhm),<br />

zieht sie weg, schrumpft sie, bis sie unbedeutend sind wie Splitt.<br />

___________________________<br />

° Den Körper, der sich wie Milch, den Körper, der sich wie eine Stange verhält.<br />

Den kammergegerbten, den Taschenkörper, den Körper aus Porzellan und aus Brei.<br />

Den Amselfleischkörper, den schimmligen Körper, den eingedickten, zynischen,<br />

den geschmeidigen Körper, den durch Stuhl- und Bittgang geformten Körper usf.<br />

°° Apartmenthäuser, kühl, dämmrig, portierlogenbesatzt. Pockige, nekrophile<br />

Gründerzeitvillen. Klapprige Sozialbauten, in den Fluren der Geruch von Chlor<br />

und Chop Suey. Bürotürme, autistisch, klackend usf.<br />

25


III e Kleinanzeige<br />

Dolce & Gabbana<br />

Der Himmel –<br />

Hauptsitz der Abteilung Grau.<br />

Doch seine Augen –<br />

Stammsitz der Abteilung Blau.<br />

Und seine Blicke –<br />

Flaneure unter Mascara-Schirmen.<br />

Ziemlich jähes Innehalten.<br />

Haltestellenwerbung.<br />

Triumph D&G-Paar.<br />

Ausbruch der Pracht.<br />

Dergestalt seine ersten Reaktionen.<br />

Allein, es registriert sein Seelenhäutchen<br />

simultan Anzeichen des Widerwillens.<br />

Sein Deutungsversuch:<br />

D&G-Augen: Flipperkugeln, stahlhart.<br />

D&G-Körper: Kryotechnik.<br />

D&G-Mimik: Verachtung, die Anbetung auslösen will.<br />

26


Proteus<br />

Mit prophetischer Gabe und enormer Wandlungsfähigkeit<br />

begabter Sohn des Okeanos und der Tethys. Bittet ein<br />

Sterblicher um Auskunft über sein Geschick, sucht er<br />

durch stete Verwandlung sich der Aufgabe zu entziehen.<br />

Nur dem prophezeit er, dem es gelingt, den proteischen<br />

Bildgenerator abzuschalten.<br />

Als ich Proteus erblicke<br />

und ihm meine Frage stelle,<br />

verwandelt sich die Mauer,<br />

an der er sich an jenem Morgen postiert hat,<br />

sukzessive in:<br />

Herzen (Schlag regelmäßig und hart) –<br />

Kumuluswolken (trunkene Schwäne) –<br />

italienische Pappeln (Fackeln in langen Reihen) –<br />

Handteller (deren Lebenslinien wie Taue in die Straße hängen) –<br />

Buchstaben (ich entziffere die Wörter Kleid bzw. Leid) –<br />

Sidesteps (Schmeling, Louis, Ali, Foreman, Fanghänel) –<br />

Vulven (behaart, rasiert, gurrend, feixend, singend) –<br />

Blister (Valium ® , Ritalin ® , Valoron ® , Pramipexol ® usf.) –<br />

Sterndolden (platzend, blühend, welkend: Zeitraffer) –<br />

Kalenderblätter (auf einem die Eintragung Ekelöf Todestag) –<br />

mauern (gemauert, eingerissen, neu gemauert usf.) –<br />

Delphine (lachend) –<br />

Ohrmuscheln (dampfend) –<br />

Grashalme (zitternd) –<br />

Träumer (murmelnd) –<br />

Haine (sich wiegend) –<br />

Aufstände (Tiananmen, Kossuth-, Alexander-, Tahrirplatz) –<br />

Geldscheine (tausend Nullen) –<br />

Tücher (winkend).<br />

Und dann?<br />

Stoppt der O-Bus.<br />

Ist der Wandelbare verschwunden.<br />

27

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