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Ferien-HA Brexit

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<strong>Brexit</strong>: Wenn Politik am Stammtisch entschieden wird<br />

Mit Parolen, Drohungen und Lügen haben Populisten die Entscheidung über den <strong>Brexit</strong> beeinflusst. Bei<br />

einem so komplexen Thema hätte es kein Referendum geben dürfen.<br />

Von Tanja Dückers 24. Juni 2016 Zeitonline<br />

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Die Briten haben knapp, aber eindeutig entschieden. Der <strong>Brexit</strong> kommt. Es stellt sich nun nicht nur die<br />

Frage, wie sich in Zukunft die Beziehung des britischen Königsreichs zur EU gestaltet, sondern auch die<br />

Frage nach dem sinnvollen Einsatz politischer Instrumente wie einem Volksentscheid oder<br />

Referendum. Welche Mittel der Demokratie ergeben, abhängig von der zu fällenden Entscheidung,<br />

Sinn? Und welche Entscheidungen sollten doch lieber den gewählten Volksvertretern überlassen<br />

werden?<br />

Dazu vorab: In Deutschland werden die Begriffe Volksentscheid und Referendum oft synonym<br />

gebraucht, obwohl sie für verschiedene Vorgänge stehen. Bei einem Volksentscheid ist ein Anliegen<br />

aus dem Volk heraus via Bürgerinitiative oder Volksbegehren an die Öffentlichkeit gelangt, bei einem<br />

Referendum wird über eine vom Parlament oder der Regierung erarbeitete Vorlage entschieden. In<br />

Großbritannien wurde ein Referendum abgehalten.<br />

Die Abstimmung über den <strong>Brexit</strong> zeigt deutlich, dass die Entscheidung des Volkes stark von den<br />

Positionen der Abgeordneten abwich. Im britischen Unterhaus stimmten nur 30 Prozent der<br />

Abgeordneten für den <strong>Brexit</strong>, in der Bevölkerung waren es 51,9 Prozent. Diese Differenz ist<br />

bemerkenswert. Sie zeugt davon, dass eine rationalere Herangehensweise, die über ein lautes<br />

einfaches emotionsgeschwängertes "Britain first!" hinausgeht, zu deutlich anderen Ergebnissen führt.<br />

Komplexere Themen sind schwerer zu vermitteln, sie lassen sich nicht auf Parolenform und im<br />

Imperativ erklären. Je komplexer ein Thema ist, desto eher haben Populisten einen Vorteil bei<br />

Volksentscheiden und Referenden. Derjenige, der sich abmühen muss zu erklären, warum etwa die EU<br />

gegründet wurde und warum dieser Gründung ein zutiefst pazifistisches Motiv zugrunde liegt: Nie<br />

wieder Krieg in Europa durch möglichst enge wirtschaftliche, politische und kulturelle Verflechtungen,<br />

die einen Krieg quasi unmöglich machen, derjenige hat mehr zu tun und braucht mehr Worte. Viel<br />

mehr Worte als einer, der einfach nur sagt, "Britain first!" oder behauptet, "Brüssel verschwendet<br />

unsere Gelder!".<br />

Erklärungen, warum der Nationalstaat nicht die ultima ratio der staatspolitischen Räson sein muss und<br />

ideengeschichtlich im 19. Jahrhundert mit den bekannten Folgen verankert ist, haben es schwer im<br />

Vergleich mit Parolen wie "Stop refugees". Die Rechtspopulisten in Großbritannien haben mit genau<br />

solchen Parolen für den <strong>Brexit</strong> geworben. Und sicher haben viele der <strong>Brexit</strong>-Befürworter schlicht<br />

erlogene Aussagen wie "77 Millionen Türken auf dem Weg nach Großbritannien!" geglaubt. Mit<br />

Parolen, Drohungen und Angsterzeugung lassen sich Volksentscheide und Referenden klar<br />

beeinflussen. Mit Politik hat das nicht viel zu tun.<br />

Das Bild der EU als elitäres Gebilde<br />

In Deutschland wäre die Todesstrafe übrigens bis heute nie abgeschafft worden, hätte man dem Volk<br />

diese Entscheidung überlassen.<br />

Gegen den häufigen Einsatz von Volksentscheiden und Referenden spricht auch, dass ihre Ergebnisse<br />

stark von Stimmungen, Moden und aktuellen Ereignissen geprägt sind. Gerade die Wechselwähler, auf<br />

die es ankommt, entscheiden innerhalb der letzten 48 Stunden vor der Wahl. Diese Ergebnisse sind<br />

dann aber, in Form von Gesetzen oder Verträgen, oft für Jahrzehnte bindend.<br />

Ein Problem in Großbritannien war ferner, dass komplexere Erklärungen, da sie schwerer zu verstehen<br />

sind, sofort das Bild der EU als elitäres Gebilde und das Klischee vom "EU-Bürokraten" verfestigen.<br />

Dagegen formiert sich, auch in Großbritannien, eine gesellschaftliche Schicht, die jedoch keinesfalls<br />

von "mehr nationaler Rückbesinnung" profitieren würde.


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In allen europäischen Ländern wurde in den vergangenen Jahrzehnten die Kluft zwischen Arm und<br />

Reich vertieft. Nicht die Politik der EU war hierfür ausschlaggebend, sondern nationale Entscheidungen<br />

über die Einkommensverteilungen, die Rentenhöhe, Kürzungen von Sozialsystemen und anderem. In<br />

Großbritannien steht Margaret Thatcher für diesen Kurs.<br />

Der Wiener Schriftsteller und Publizist Robert Menasse schreibt in seinem Essay Der Europäische<br />

Landbote, für den er in Brüssel ein Jahr lang recherchiert hat: "Die Nationalstaaten betreiben durch<br />

Privatisierungen, Sozialabbau und Rückzug von wesentlichen Staatsaufgaben einen systematischen<br />

Staatsabbau, aber dort, wo die Nationalstaaten vernünftigerweise zurückgebaut werden sollten, in der<br />

Europäische Gemeinschaft, dort spielen sie den starken Staat." Die beliebte Formel "Weniger Staat"<br />

müsste eigentlich "Mehr Europa" bedeuten, resümiert Menasse.<br />

Volksentscheide per se schlecht?<br />

Sind in Anbetracht dieser Argumente Referenden und Volksentscheide per se schlecht? Nein, denn<br />

statt der politisch bindenden Befragung kann man auch das Instrument des nicht politisch bindenden<br />

Volksentscheids oder Referendums einsetzen: Es hat in den vergangenen Jahren einige Entscheide<br />

dieser Art in Europa gegeben, die nicht wirkungslos geblieben sind. Das Volk bekam eine deutlich<br />

hörbare Stimme – und Politiker einen Richtungsweis und einen Denkzettel.<br />

Die Griechen haben beispielsweise im Juli 2015 inmitten der Schuldenkrise den Sparvorgaben der<br />

internationalen Gläubiger im Juli 2015 eine klare Absage erteilt. Selbst Regierungschef Alexis Tsipras<br />

hatte für ein negatives Votum bei dem Referendum geworben. Die Folge: Ein Krisengipfel in Brüssel<br />

konnte den Austritt Griechenlands aus der Eurozone in letzter Minute verhindern. Dabei wurden auch,<br />

zumindest mehr als zuvor geplant, griechische Interessen berücksichtigt.<br />

Manchmal kann Volkes Stimme auch dazu beitragen, dass Politiker sich mehr um die Vermittlung ihrer<br />

Ideen bemühen: So stimmten die Iren dem Vertrag von Nizza, der den Weg für die EU-Erweiterung<br />

(und dem Vertrag von Lissabon) ebnen sollte, zunächst nicht zu. Anderthalb Jahre später sprachen sie<br />

sich doch für die Annahme aus. Die Angst vor den "Horden" aus Mittel- und Osteuropa hatte mit der<br />

Zeit etwas nachgelassen. Die Beispiele zeigen: Nur weil Volksentscheide politisch nicht bindend sind,<br />

sind sie noch lange nicht unwirksam.<br />

Volksentscheide sind daneben sinnvoll, wenn es um regionale Themen geht, die den Bürger<br />

unmittelbar betreffen, beispielweise die zukünftige Nutzung des Flughafen Tempelhofs in Berlin. Sie<br />

werden oft von den Bürgern selbst mittels Bürgerinitiative oder Volksbegehren zur Diskussion gebracht<br />

und ihre Folgen sind ohne vertiefte politologische Studien einschätzbar. Bürgerentscheide, die in<br />

Deutschland Entscheidungen in Kommunen und Landkreisen betreffen, sind oft als politisches<br />

Instrument sinnvoller als Volksentscheide oder Referenden. Aber Politik im großen Maßstab kann und<br />

darf nicht am Stammtisch entschieden werden.<br />

Aufgaben:<br />

(1) Klären Sie unbekannte oder zweifelhafte Begriffe.<br />

(2) Erläutern Sie am Beispiel des <strong>Brexit</strong>s Argumente für und gegen Volksentscheide/ Referenden<br />

(tabellarisch).<br />

(3) Hierarchisieren Sie diese Argumente.

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