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Erfahrungsbericht eines Betroffenen - Deutsche Fatigue Gesellschaft

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Bericht Patient mit aggressivem Non-Hodgkin Lymphom<br />

1. Vorgeschichte<br />

Im Dezember 2001 hatte ich (männlich, 29 Jahre alt) gerade eine längere Prüfungszeit<br />

hinter mich gebracht, als ich mir eine ordentliche Erkältung einhandelte. Zunächst dachte ich<br />

mir nichts dabei. Es fiel aber auf, dass die Erkältung für mich untypisch verlief: ich fühlte<br />

mich schlapp und fiebrig, hustete leicht, hatte aber keinen Schnupfen und auch keine<br />

Halsschmerzen- meine sonst häufigen Wehwehchen.<br />

Ich verschickte in dieser Zeit 15 Bewerbungen für meinen ersten festen Job und wurde auch<br />

zu allen Vorstellungsgesprächen eingeladen. Allerdings schaffte ich es lediglich, drei der<br />

Einladungen auch wahrzunehmen. Ich fühlte mich so schwach, dass mich mein 77-jähriger<br />

Vater zu den Gesprächen chauffieren musste. Eine der angebotenen Stellen sagte ich<br />

schließlich zu und beschäftigte mich auch gern mit dem Notwendigen: Wohnungssuche,<br />

Möbelkauf etc..<br />

Besser ging es mir allerdings nicht. Ungefähr drei Wochen nach Beginn der "Erkältung", die<br />

sich als ungewohnt hartnäckig entpuppt hatte, bemerkte ich <strong>eines</strong> morgens am ganzen<br />

Körper blaue Flecken - freilich ohne mich zuvor irgendwie verletzt zu haben. Ich ging zu<br />

meinem Hausarzt, der eine Thrombozytopenie diagnostizierte und mich an die "Blut-<br />

Spezialisten", wie er sagte, der Uniklinik Gießen überwies. Dort bestätigte man die Diagnose.<br />

Ich fragte den Arzt, ob dies eine Leukämie sein könne. Dies sei mit ziemlicher Sicherheit<br />

auszuschließen, meinte er und empfahl, nach den Freiertagen - es war kurz vor<br />

Weihnachten- eine weitere Blutuntersuchung vorzunehmen. Dies geschah dann auch.<br />

Inzwischen hatten sich die Blutwerte allerdings normalisiert. Daher erfolgte auch keine<br />

weitere Diagnostik.<br />

Der Reizhusten war aber immer noch nicht verschwunden. Außerdem bemerkte ich eine<br />

leichten Schmerz im Brustbereich und ein ständiges Jucken an den Beinen. Als ich dann<br />

Anfang 2002 meine Stelle angetreten und in meine neue Wohnung gezogen war, bemerkte<br />

ich nächtliches Schwitzen und häufiges, unregelmäßiges Herzklopfen. Einmal war dies so<br />

stark, dass ich morgens kaum aufstehen konnte. Auch jetzt dachte ich mir noch nichts dabei-<br />

Stress hatte ich in der letzten Zeit ja genug gehabt. Mein Hausarzt sagte allerdings, das<br />

vorsichtshalber geschriebene EKG gefalle ihm gar nicht und er würde mich sofort ins<br />

Krankenhaus schicken, wenn ich 20 Jahre älter wäre. Dafür, so sagte ich deutlich, hatte ich<br />

nun wirklich keine Zeit! So langsam dämmerte mir allerdings, dass hier irgend etwas nicht<br />

stimmte.<br />

Da mein Bruder als kl<strong>eines</strong> Kind Asthma gehabt hatte, vermutete ich bei mir etwas Ähnliches<br />

- dies könnte ja den Husten erklären. Ich vereinbarte einen Untersuchungstermin in einer<br />

Lungenklinik. Am Nachmittag vor diesem Termin kaufte ich mir einen neuen Pyjama - obwohl<br />

ich eigentlich gar keinen brauchte - und am Abend ging ich in die städtische Bibliothek, die<br />

nur ein paar Meter von meiner Wohnung entfernt lag. Bei den Neuzugängen fand ich ein<br />

Buch über Chemotherapie. Ich weiß nicht mehr, was mich bewog, dieses Buch zu lesen.<br />

Jedenfalls setzte ich mich in eine Ecke der Bücherei und las das Buch durch - von vorne bis<br />

hinten. Ich ahnte nicht, dass mir beides - der neue Pyjama und mein neugewonnenes<br />

Wissen über Behandlung von Tumorerkrankungen - schon am nächsten Tag sehr nützlich<br />

sein würde.<br />

In der Klinik am nächsten Tag geriet ich zu meiner Freude an einen echten Spezialisten, der<br />

meinen Verdacht auf Asthma aber nicht bestätigen konnte. Vielmehr ließ er vorsichtshalber<br />

eine Röntgenaufnahme der Lunge anfertigen. Als er die Aufnahme in der Hand hielt, machte<br />

er eine ernste Miene und sagte, das Bild sei nicht in Ordnung und er vermute Morbus<br />

Hodgkin. "Morbus was"? fragte ich ratlos. Ich hatte noch nie etwas davon gehört. Er erklärte<br />

1


mir, dies sei ein "Lymphom", eine Tumorerkrankung des Lymphsystems. Allerdings sei dies<br />

nur seine Vermutung - er müsse dies näher untersuchen. Kurz: er nahm mich sofort stationär<br />

auf!<br />

Interessanterweise schockierte mich dies nicht im geringsten. Irgendwie hatte ich es geahnt.<br />

Meine Eltern waren allerdings nicht gerade begeistert, dass ich schon nach zwei Wochen<br />

"krankfeiern" wollte. "Du und Krebs? Das kann doch nicht sein! Was soll denn dein Chef<br />

dazu sagen!?" Das wusste ich auch nicht. Trotzdem erschien ich - mitsamt dem neuen<br />

Schlafanzug - am nächsten Tag in der Klinik, nachdem ich mich auf der Arbeit "für ein paar<br />

Tage" abgemeldet hatte.<br />

Aus diesen "paar Tagen" wurden anderthalb Jahre.<br />

In der Klinik erbrachten die CT-Aufnahmen zwar deutlich sichtbare Lymphknoten, weitere<br />

Untersuchungen blieben aber unklar. Daher erklärte man mir, es müsse eine Biopsie<br />

genommen werden. Da dies aber in der Lunge gar nicht so einfach sei, wolle man die<br />

Zellprobe nicht selbst entnehmen. Man organisierte mir einen Termin in der Lungenklinik<br />

Hemer, die diese Eingriffe öfter machten. Also fuhr ich nach Hemer.<br />

Bei der Untersuchung durch den Stationsarzt stellte sich dort allerdings heraus, dass eine<br />

Zellentnahme aus der Lunge gar nicht mehr erforderlich war. Inzwischen hatte sich nämlich<br />

auch Lymphknoten am Hals gebildet. Daher wurde dort die Biopsie entnommen. Am<br />

nächsten Tag hielt ich die Diagnose in Händen: Morbus Hodgkin vom nodulär<br />

sklerosierenden Typ - was denn immer das war. Die Diagnose hatte der Hauspathologe<br />

gestellt.<br />

Ich fuhr erst einmal zu meinen Eltern, wo eine gedrückte Stimmung herrschte, was ich aber<br />

gar nicht verstehen konnte. Na, dann machen wir eben eine Chemotherapie, sagte ich.<br />

Komischerweise hatte ich kaum Angst davor - ich war ja auch schon ein wenig informiert. Im<br />

Krieg verbreitet schließlich ein bekannter Gegner weniger Schrecken als ein Phantom.<br />

Irgendwie befand ich mich in einem Krieg und wollte diesen Gegner, Herrn Hodgkin, mit<br />

allen Mitteln der Kunst bekämpfen. Notfalls mit Chemie und Atomtechnik!<br />

Zufällig wusste ich, dass der Ehemann einer ehemaligen Kollegin Onkologe war. Zwar war<br />

der gerade dabei, seine Zelte abzubrechen, weil er eine neue Stelle bekomme hatte.<br />

Dennoch nahm er mich als einen seiner letzten Patienten an. Er erklärte mir, der Spezialist<br />

für M. Hodgkin sei ein Professor Diehl in Köln. Dies war mir bekannt, denn ich hatte<br />

entsprechend im Internet recherchiert. Er organisierte mir dort kurzfristig einen Termin,<br />

entnahm aber vorher noch eine Probe aus dem Becken (Knochenmark; negativ) und ordnete<br />

weitere CT- Untersuchungen an, die noch ausstanden. Abdominell waren darauf ebenfalls<br />

Lymphknoten an mehreren Stellen zu finden.<br />

In der onkologischen Ambulanz in Köln erfuhr ich vom Ambulanzarzt Dr. C., dass meine<br />

Symptome (Reizhusten, Müdigkeit, Schwitzen und Juckreiz) typisch für M. Hodgkin seien.<br />

Da ich diese Symptomatik aufwies, wurde meine Erkrankung als "Hodgkin Lymphom im<br />

Stadium IVb" eingestuft - was eine Chemotherapie vom Typ BEACOPP erforderlich mache.<br />

Dazu wolle man mich auch gern stationär aufnehmen.<br />

Ehrlich gesagt fand ich den grässlichen Betonklotz, der sich Uniklinik-Bettenhaus nannte und<br />

damals noch nicht renoviert war, ungefähr so einladend wie eine Bahnhofstoilette aus dem<br />

letzten Krieg. Andererseits spürte ich, dass hier Profis am Werke waren. Von Anfang an<br />

hatte ich den Eindruck hier an der richtigen Adresse zu sein.<br />

Also sagte ich zu, erbat mir aber eine Woche Pause, weil ich erst ein paar Tage Ferien<br />

machen wollte um den Kopf frei zu bekommen. Da Hodgkin nicht dramatisch schnell<br />

wachse, sei dies akzeptabel, meinte Dr. C., danach solle aber zügig mit der Therapie<br />

begonnen werden. Es war inzwischen März geworden und ich fuhr in meine Lieblingsstadt<br />

Lübeck. Allerdings hätte ich mir die Reise sparen können, denn mir ging es jeden Tag<br />

schlechter; ich verfiel regelrecht. Ich kam kaum noch aus dem Bett, konnte nur 100 Meter<br />

2


gehen, war dann völlig durchgeschwitzt und verbrachte die meiste Zeit auf dem Sofa. Meine<br />

Eltern holten mich bald wieder ab - zur Rückfahrt wäre ich allein nicht mehr in der Lage<br />

gewesen.<br />

2. Erfahrungen während der Therapie<br />

Zurück in Köln folgten weitere Untersuchungen, die aber keine wesentlichen Erkenntnisse<br />

brachten (abgesehen von "Bulky Disease" in der Lunge). Die Ärzte wollten bald mit der<br />

Therapie beginnen und fragten, ob ich noch Informationsbedarf hätte. Da sie mich sehr gut<br />

aufgeklärt hatten und ich auch Wünsche äußern durfte - ich erbat reichlich Antiemetika, da<br />

der Magen schon immer meine schwache Seite gewesen ist - fiel es mir schwer, frei heraus<br />

zu sagen, dass die Diagnose meiner Meinung nach falsch sei!<br />

"Wie bitte? Warum den das?! Falsche Diagnosen sind selten", meinte der Stationsarzt und<br />

wollte wissen, warum ich solche Zweifel hätte. Das wusste es auch nicht, dennoch war ich<br />

mir sicher: die Sache läuft falsch! Der Stationsarzt forderte eine Referenzpathologie an. Wie<br />

wichtig dies ist, was mir zum damaligen Zeitpunkt aber noch nicht klar.<br />

Als dann mit der Therapie begonnen werden sollte, bekam ich plötzlich einen Ruhepuls von<br />

220 Schlägen in der Minute. Auch schlug meine Pumpe so unregelmäßig, dass ich kurzzeitig<br />

wegdämmerte. Auf der Intensivstation stellte man mit Hilfe <strong>eines</strong> Herzechos einen malignen<br />

Perikaderguss, Vorhofflimmern und einen Zustand kurz vor dem Herzinfarkt fest. Den<br />

ganzen Tag musste ich auf eine Punktion warten, weil der OA mit Herzkathetern beschäftigt<br />

war. Dies gab mir die Gelegenheit, mit meinem Discman alle 5 Klavierkonzerte von<br />

Beethoven zu hören. Dabei kalkulierte ich durchaus mit ein, dass dies möglicherweise das<br />

letzte Mal war. Daher ließ ich auch meinen Bruder kommen. Direkt Angst hatte ich aber<br />

nicht. Als gläubiger Christ wusste ich mich in Gottes Händen geborgen.<br />

Die Punktion war erfolgreich, auch wenn ich dabei fast in Ohnmacht gefallen wäre. Der OA<br />

zeigte mir die Flüssigkeit, die er abgesaugt hatte und meinte lapidar: "Das gehört da nicht<br />

hin". Insgesamt hatte die Pumpe gerade zum richtigen Zeitpunkt rebelliert. Darauf<br />

unbehandelt die erste Chemo wäre wohl übel ausgegangen.<br />

Ich bekam einige Medikamente zur Stabilisierung und nach einigen Tagen begann der erste<br />

Chemo-Cocktail. Die Nebenwirkungen sind bekannt, daher möchte ich auch nicht weiter<br />

darauf eingehen. Nur soviel: ich musste mich in der Nacht mehrfach übergeben und die<br />

arme Nachtschwester war völlig ratlos, weil man "medikamentös dagegen jetzt nichts mehr<br />

machen" könne. Nun, zum Glück ging es am nächsten Morgen wieder besser. Im übrigen<br />

schrieb der Stationsarzt in den Entlassungsbericht nach dem ersten Zyklus: "der Patient<br />

vertrug die Therapie sehr gut bis auf leichte Übelkeit".<br />

Dem hätte ich gerne mal etwas erzählt von wegen "leichte Übelkeit"!<br />

Mir war aber bald klar, dass der gute Mann gar nicht wissen konnte, wie man sich unter einer<br />

reichlich dosierten Polychemotherapie fühlt. Die ungewöhnlichen Therapiefolgen fand ich viel<br />

interessanter: man bekommt ein unglaubliches Geruchsempfinden: Mein Zimmerkamerad<br />

und ich konnten die Schwestern bei geschlossenen Augen am Geruch erkennen! Fast wie<br />

ein Hund! Außerdem hatte ich ganz komische Gedanken im Kopf. Ich wollte unbedingt in den<br />

Schwarzwald ziehen und dort als Landwirt leben. Warum dies, weiß ich bis heute nicht- ich<br />

war noch nie dort und halte auch mein Talent zum Melken von Vieh für recht eingeschränkt...<br />

Als ich nach dem ersten Zyklus wieder zu Hause war, ca. 4 Wochen war ich in der Klinik<br />

gewesen, fielen mir nach ein paar Tagen die Haare aus, was mich aber gar nicht so sehr<br />

störte. Irgendwie cool, fand ich und praktisch dazu: kämmen oder das lästige Rasieren?<br />

Nicht nötig! Mehr nervten mich Doppelbilder auf einem Auge und nachts starke Schmerzen<br />

im ganzen Körper, die aber bald wieder weitgehend verschwanden.<br />

3


Wenig später bekam ich einen Anruf von meinem Hausarzt, der mich dringend sprechen<br />

wollte. Er sagte mir, die Kollegen aus Köln hätten gerade angerufen. Die Diagnose müsse<br />

korrigiert werden: ich hätte kein Hodgkin sondern ein hochmalignes Non-Hodgkin- Lymphom<br />

(aggressives NHL). Der Arzt in Köln war dann bei meiner Rückkehr zum zweiten Zyklus auch<br />

ein wenig kleinlaut, weil ich recht gehabt hatte mit der falschen Diagnose! Heute weiß ich,<br />

dass Lymphome eine echte Herausforderung für jeden Pathologen sind und rate daher allen<br />

Patienten, auf einer sorgfältigen Diagnostik zu bestehen!<br />

Der neue Chemo-Zyklus wurde in das damalige up-to-date-Schema R-CHOEP 21 geändert.<br />

Da ich CD-20 positiv war, konnte also auch der Antikörper Rituximab (bzw. Mabthera)<br />

eingesetzt werden.<br />

Über die weiteren Zyklen ist nicht viel zu berichten, außer dass ich interessante<br />

Zimmerkameraden hatte, beim vierten Zyklus eine Venenentzündung bekam und beim<br />

dritten Zyklus starke Angst verspürt hatte. Warum, weiß ich bis heute nicht. Der Zyklus zuvor<br />

war nicht schlimmer als sonst gewesen und auch später ist diese Angst nie wieder<br />

aufgetreten.<br />

Nach 1X BEACOPP und 6X R-CHOEP war die "Giftkeule" zunächst beendet und die<br />

Sozialarbeiterin der Klinik empfahl mir eine Anschlussheilbehandlung (AHB). Ich war davon<br />

zwar am Anfang wenig begeistert, als ich aber hörte, dass eine Reha-Klinik auf meiner<br />

Lieblingsinsel in der Nordsee lag, freute ich mich darauf. "Nach Föhr, oder gar nicht" grinste<br />

ich und die pfiffige Sozialarbeiterin boxte meinen Aufenthalt auch kurzfristig durch.<br />

Ich ließ mich von meinem Bruder, der sich extra zwei Tage frei genommen hatte, in meinem<br />

Wagen nach Föhr fahren - die weite Strecke traute ich mir nicht alleine zu, wollte aber auch<br />

gern meinen geliebten Wagen zur Verfügung haben. Mein Bruder fuhr anschließend mit dem<br />

Zug zurück.<br />

Die AHB war sehr angenehm, weil fast die ganze Zeit die Sonne schien - wohlgemerkt Ende<br />

Oktober- und ich jeden Tag an den Strand gehen konnte. Es war der sonnigste und wärmste<br />

Oktober seit Beginn der Wetteraufzeichnung gewesen! In der Klinik wurde ich sehr nett<br />

behandelt, hatte aber z.T. Schmerzen und kam nur mühsam wieder in Fahrt. Außerdem<br />

merkte ich, dass mich alles irgendwie anstrengte - selbst ein paar hundert Meter zu Fuß.<br />

Außerdem fand ich manchmal meinen Wagen kaum wieder (!) weil ich vergessen hatte, wo<br />

ich ihn abgestellt hatte. Auch sonst waren deutliche Konzentrationsstörungen zu bemerken.<br />

Ich ahnte nicht, dass der eigentliche Frust jetzt erst beginnen sollte, wo ich doch den Gegner<br />

schon längst besiegt zu haben glaubte.<br />

Wieder zurück- inzwischen waren die Haare wieder langsam gewachsen und ich sah nicht<br />

mehr wie ein Alien aus- wurde ein erstes nach- Therapie- Staging gemacht. Leider waren in<br />

der Lunge bzw. dem Mediastinum noch Zellansammlungen zu sehen (ursprüngliche "Bulky<br />

Disease"). Ob aktiv oder nicht konnte man nicht sagen. Daher empfahl man eine Radiatio<br />

(Strahlentherapie). Ich hatte kein sehr gutes Gefühl dabei, weil ich mich gesund fühlte. Daher<br />

zog ich es vor, eine Zweitmeinung einzuholen. Mein Bruder chauffierte mich nach<br />

Heidelberg. Die Ärzte dort waren aber der gleichen Meinung: unbedingt zusätzliche "involved<br />

field" -Strahlentherapie. Zwar war ich auch jetzt noch nicht überzeugt, kapitulierte aber und<br />

bekam also bis Dezember, nach den üblichen Vorbereitungen, eine Strahlentherapie des<br />

Mediastinums mit 36 Gy. Heute würde ich in diesem Fall unbedingt eine PET anfertigen<br />

lassen. Dies war damals aber noch nicht so etabliert. Möglicherweise hätte ich mir die<br />

Strahlerei sparen können.<br />

Einer der Strahlentherapeuten scheint mir übrigens ein ziemlicher Pragmatiker gewesen zu<br />

sein. Als ich ihn fragte, ob durch die Therapie die Lunge geschädigt würde, sagte er: "Ja,<br />

aber was wollen Sie denn, Sie haben doch noch einen zweiten Lungenflügel"! Als ich fragte,<br />

ob dadurch nicht das Herz geschädigt würde, meinte er lapidar: "doch, schon, aber dann<br />

nehmen wir Ihnen eben später das Herz raus! Sie sind ja erst dreißig, das ist doch kein<br />

4


Problem". Aha! Jetzt wusste ich es! Nun gut, ein Crashkurs in Empathie oder Kommunikation<br />

hätte ich ihm gern zum Geburtstag geschenkt!<br />

Abgesehen von gelegentlichen Schmerzen - vor allem im Bereich der Speiseröhre, ich<br />

konnte kaum schlucken- vertrug ich die Strahlentherapie recht gut, auch wenn ich sie als<br />

anstrengend empfand ("Strahlenkater"). Kurz vor Weihnachten war auch diese Therapie<br />

beendet.<br />

3. Überlegungen nach der Therapie<br />

Danach war ich zunächst unsicher, wie es weitergehen sollte. Mir war klar, dass ich zunächst<br />

nicht arbeiten konnte. Ich fühlte mich einfach nicht fit genug dazu und wollte eine Niederlage<br />

vermeiden. Allzu oft hatte ich erlebt, dass Zimmerkameraden, die ihre Therapie beendet<br />

hatten, als ich meine ersten Zyklen erhielt, schon wieder zurückkehren mussten (Rezidiv!),<br />

als meine Therapie sich dem Ende neigte. Wenn ich sie fragte, was sie denn in er<br />

Zwischenzeit getan hätten, hörte ich oft: im Büro gepowert von oben bis unten; ein Haus<br />

gebaut (!) oder ähnliches. Einer der Kameraden bestellte sogar Teile für seinen Kamin per<br />

Handy vom Krankenbett aus. Diesen Kamin hat er wohl nie benutzen können, weil er gar<br />

nicht mehr dazu kam! Eine Kur oder eine Erholungsphase nach der Therapie? "Ich doch<br />

nicht, das ist für alte Leute"!, so war die Einstellung einiger "Helden". Ein anderer konnte es<br />

gar nicht erwarten, seine Doktorarbeit beenden zu können. Er hat nach der Klinikzeit sofort<br />

wieder mit der Arbeit daran begonnen, sie aber nie fertigbekommen, weil er bald ein Rezidiv<br />

erlitt und inzwischen verstorben ist. Auch ich hätte gern meine Dissertation fertiggestellt. Mir<br />

war aber klar, dass ich erst einmal gesund werden musste. Gesund heißt nicht, dass keine<br />

Krebszellen mehr sichtbar sind, wie offenbar viele Leute meinen. Und geheilt ist noch einmal<br />

etwas ganz anderes.<br />

Zwar kann ich es nicht beweisen bzw. statistisch belegen. Ich habe aber die Erfahrung<br />

gemacht, dass man die Patienten, die ein Rezidiv erleiden werden, trotzdem von vornherein<br />

ausmachen kann, und zwar an deren Verhalten. Damit meine ich nicht, dass sie nicht die<br />

nötige innere Kraft hätten. Oft genug höre ich den Unsinn, man könne selbst den Krebs<br />

"besiegen"! Was für "Gute Ratschläge" prasselten nicht alle auf mich ein! Von einer<br />

Körnerdiät über Homöopathie bis zu Meditation reichten die gutgemeinten Vorschläge. Ich<br />

wandte keine davon an und bin auch sehr froh darüber.<br />

Ein Bekannter, ungefähr in meinem Alter, hatte zu dieser Zeit ebenfalls ein Lymphom<br />

(Hodgkin, noch dazu im Stadium Ia!) und versuchte es nach dem ersten Rezidiv mit einer<br />

Vitamindiät. Welche Selbstdisziplin er und seine Frau dabei anwandten, die "richtige"<br />

Ernährung monatelang durchzuziehen, ist schon fast bewundernswert und seiner sehr<br />

lesenswerten Autobiographie zu entnehmen. Leider hatte die ganze Geschichte einen<br />

Nachteil: sie funktionierte nicht und er ist jetzt schon seit drei Jahren tot. Diese Beispiele<br />

könnte ich fortsetzen; auf Patientenkongressen, die ich besuchte, lernte ich viele Leute<br />

kennen, die völlig falsch therapiert wurden. Und das bemerkte ich als Laie!<br />

Weiterhin bekommt man z.B. beim Lesen der Bücher von Lance Armstrong den Eindruck,<br />

durch Sport könne man den Krebs besiegen. Dabei sollte man sich mal ein Lehrbuch der<br />

Onkologie zur Hand nehmen und nachlesen, dass Hodenkrebs (wie bei Armstrong) die<br />

besten Heilungschancen aller Tumorerkrankungen überhaupt hat - auch wenn man kein<br />

Spitzensportler ist und Komplikationen hinzukommen.<br />

Im übrigen haben auch die Massenmedien ihren Anteil an der Verunsicherung der Leute,<br />

allen voran der "Spiegel", der mit seiner Meldung, Chemotherapie verlängere das Leben<br />

nicht, viel Unheil angerichtet hat- auch wenn dieser Artikel durchaus differenziert<br />

geschrieben war und Lymphome ausdrücklich davon ausschloss. Nur verstehen dies die<br />

Leute nicht. Wie oft habe ich Kollegen oder anderen Bekannten beibringen müssen dass es<br />

5


"den" Krebs nicht gibt. Hier versagen selbst intelligente Menschen völlig und verbreiten einen<br />

Unsinn, dass mein Adrenalinspiegel ins Uferlose ansteigt, wenn ich es mir anhören muss!<br />

Sinnvolles Verhalten ist also angesagt. Aber wie verhält man sich, wenn man es mit einem<br />

unsichtbaren Gegner zu tun hat, von dem man gar nicht weiß, ob er vernichtet ist oder nicht?<br />

Zunächst muss man nämlich davon ausgehen, dass die Therapie zuwar angeschlagen hat,<br />

man aber noch nicht wirklich geheilt ist. Dies wissen die Ärzte auch nicht - sie können nur<br />

sehen, dass auf dem CT keine Zellen mehr sichtbar sind oder sich die Blutwerte stabilisiert<br />

haben. Heute stehen natürlich genauere mikrobiologische Methoden zur Verfügung, mit<br />

denen das Risiko <strong>eines</strong> Patienten besser abgeschätzt werden kann.<br />

Ich beschäftigte mich also zunächst mit der Frage nach der Wahrscheinlichkeit <strong>eines</strong><br />

Rezidivs - diese war als recht hoch anzusehen, noch wichtiger war mir aber der mögliche<br />

Rezidivzeitpunkt. Verschiedene Experten, die ich per e-mail danach fragte, kamen zu genau<br />

demselben Ergebnis: das Rezidivrisiko sei bei meiner Variante im ersten Jahr am höchsten,<br />

schon geringer im zweiten Jahr und danach vernachlässigbar. Damit war klar, dass ich im<br />

ersten Jahr aufpassen musste.<br />

Ich versuchte also, körperlich gesund zu leben und mich weder zu überanstrengen noch<br />

total zu schonen. Ich glaube nämlich nicht, dass ein wenig Stress oder Arbeit ein Rezidiv<br />

beschleunigt - jedenfalls sprechen entsprechende Untersuchungen dagegen. Manche Leute<br />

können absolut nichts mit sich selbst anfangen und dann ist es wirklich besser, wenn sie<br />

bald ins Büro zurückkehren. Trotzdem kann ich von meiner eigenen Erfahrung nur dazu<br />

raten, dem Körper zumindest eine Ruhepause zu gönnen, in dieser Zeit wieder körperlich<br />

aufzutanken und nicht verantwortungslos zu sein, d.h. so zu tun, als wenn überhaupt nichts<br />

vorgefallen wäre.<br />

Im Sommer machte ich erneut eine Kur- in derselben Klinik- und war froh, dass ich die<br />

Jahrhunderthitze 2003 an der Nordsee verbringen durfte. Anschließend begann ich wieder<br />

zu arbeiten, zunächst nur ein paar Stunden in der Woche, dann ungefähr halbe Arbeitszeit,<br />

die in den folgenden Jahren schrittweise aufgestockt wurde. Diese Vorgehensweise habe ich<br />

nie bereut. Ich habe bis heute kein Rezidiv erlitten. Ob dies an meiner "Strategie" lag, weiß<br />

ich nicht. Ich weiß aber, dass ich mir bittere Vorwürfe gemacht hätte, wenn ich durch<br />

Leichtsinn oder Ignoranz eine erneute Erkrankung geradezu provoziert hätte.<br />

4. <strong>Fatigue</strong>, Spätfolgen u. Co.<br />

Damit wäre die Geschichte eigentlich zu Ende und hätte sogar ein Happy End. Einschränken<br />

muss ich diese Euphorie aber doch. Eigentlich ist dies der Grund, warum ich diesen Beitrag<br />

überhaupt geschrieben habe. Leider werden nämlich genau an dem Punkt, an dem es<br />

eigentlich am wichtigsten ist, die Patienten von der Schulmedizin völlig im Stich gelassen:<br />

nach der erfolgreichen Therapie. Das Motto lautet: "Patient gesund und tschüss! Einmal im<br />

Vierteljahr zur Nachsorge, dann halbjährlich". Basta.<br />

So war für mich der Frust umso größer, als ich, jetzt alleingelassen, feststellen musste, dass<br />

ich einfach nicht mehr derselbe war wie zuvor. Ich war etwas sarkastischer geworden, wie<br />

meine Freunde feststellten. Viele Dinge und Problemchen regten mich andererseits gar nicht<br />

mehr auf, sie waren Kinkerlitzchen in meinen Augen. Aber das meine ich nicht.<br />

Vielmehr hatte ich bis dato alles recht gut in den Griff bekommen: Studium, Arbeit und dann<br />

auch die anstrengende Therapie! Jetzt aber fiel mir alles schwer. Ich konnte mich kaum<br />

konzentrieren. Manchmal fand ich, wie schon erwähnt, mein Auto nicht wieder. Ich löste das<br />

Problem, indem ich immer an derselben Stelle parkte. Ich war so müde, dass ich manchmal<br />

bis mittags schlief (Wochenende) oder zumindest abends um 9 Uhr ins Bett gehen musste,<br />

damit ich morgens überhaupt aufstehen konnte. Ich entwickelte depressive Phasen, die z.T.<br />

recht heftig waren. Insgesamt fühlte ich mich schlapp und wertlos. Geistige Arbeit fiel mir<br />

6


esonders schwer. Ich habe bis heute ganze 3 Seiten meiner Doktorarbeit geschrieben!<br />

Früher schaffte ich soviel in zwei Stunden, oder, bei schwierigen Dingen, an einem Tag.<br />

Ich konnte keine Dinge mehr gleichzeitig tun, wie ich frustriert feststellte: früher hatte ich die<br />

Zeitung gelesen, Musik gehört und telefoniert - gleichzeitig wohlgemerkt, aber jetzt war dies<br />

völlig unmöglich. Ich musste mich zu allem zwingen und raunzte andere Menschen, z.B.<br />

meine Eltern, lautstark an, wenn sie mich beim Lesen unterbrachen um mir z.B. den<br />

neuesten Klatsch zu erzählen. Oft stellte ich später fest, dass ich von dem, was sie mir<br />

erzählten, gar nichts mitbekommen hatte. So stürzte ich von einem Frust zum nächsten.<br />

Die Ärzte, die ich darauf ansprach, interessierte dies nicht besonders. Dies sei normal,<br />

sagten sie. Danke, aber das nützte mir nichts! Therapieempfehlung? Fehlanzeige. "Leben<br />

Sie einfach" war oft der Rat.<br />

Weitere Fragen, z.B. ob der Antikörper Rituximab das Überleben der NHL-Patienten steigert<br />

oder nur den Rezidivzeitpunkt verzögert, stellte ich verschiedenen Koryphäen, bekam aber<br />

unklare Antworten. "Interessante Frage", war der Tenor, aber ansonsten: nichts Genaues<br />

weiß man nicht. Jedem der mich kennt, ist sofort klar, dass dies für mich eine frustrierende<br />

Situation war und ich mich nicht damit zufrieden geben würde.<br />

Abgesehen vom Stichwort "<strong>Fatigue</strong>", das ich fand, mir aber nichts darunter vorstellen<br />

konnte, weil es weder genau erklärt wurde noch eine Therapieempfehlung beinhaltete, gab<br />

es auch keine brauchbaren Hinweise in der Fachliteratur. Offenbar interessierte dies die<br />

Ärzte nicht.<br />

Außerdem ärgerte mich, dass in der Literatur zu Spätfolgen nach Chemo- bzw.<br />

Strahlentherapie fast gar nichts zulesen war, abgesehen von erhöhten Risiken für<br />

Zweittumoren, kardiologischen oder pulmonalen Erkrankungen.<br />

Dies wurde aber weder statistisch untermauert noch nach Ausgangserkrankungen<br />

differenziert. Auch nicht in den neuesten Publikationen, die viel zu allgemein gehalten und<br />

damit unbrauchbar sind. Konsequenzen für die persönliche Lebensgestaltung kann ich nicht<br />

erkennen.<br />

Lediglich ehemaligen Hodgkin Patienten wird eine lebenslange Nachsorge empfohlen, da sie<br />

ein großes Risiko für Zweittumoren hätten und auch sonst eine 10-fach höhere Mortalität<br />

aufwiesen. Meine Frage, ob dies denn auch auf NHL-Patienten zutreffe, wurde entweder mit<br />

einem Achselzucken quittiert oder mit der Tatsache, dass Non-Hodgkin Patienten nicht<br />

einmal erwähnt wurden; das wohl renomierteste, zweibändige amerikanische Lehrbuch der<br />

inneren Medizin (Harrisons) schreibt allein, ex-NHL- Patienten hätten eine "sehr gute<br />

Lebensqualität", freilich ohne irgendeinen empirischen Beweis!<br />

Also - entweder war ich ein Simulant, oder der Autor obiger Zeilen hat keine Ahnung, wovon<br />

er redet. Ich vermutete, möge man es mir verzeihen, das zweite. Denn ich musste<br />

feststellen, dass alle NHL Patienten, die ich kannte, ähnliche Probleme hatten. Viele sind<br />

beruflich stark eingeschränkt, mindestens ebenso viele berentet. Damit meine ich keine<br />

Patienten, die ohnehin im Rentenalter sind. Ich kenne keinen einzigen NHL- Patienten, der<br />

nicht unter massiven Einschränkungen zu leiden hätte. Die "sehr gute" Lebensqualität ist<br />

nach meiner Erfahrung mehr Wunschvorstellung der Ärzte denn Realität. Mit Undankbarkeit<br />

hat diese Erkenntnis nichts zu tun. Natürlich bin ich mir bewusst, dass es mir relativ gut geht<br />

und die Sache auch ganz anders hätte ausgehen können.<br />

Was also tun? Abwarten und Teetrinken und hoffen, dass es besser wird? Nicht mit mir!<br />

So kam auf eine Idee. Ich hatte mich im Vorfeld meiner Doktorarbeit u.a. mit hyperaktiven<br />

Kindern beschäftigt, war also auch über die Wirkungen der meisten Psychopharmaka gut<br />

informiert. Bekannt ist schon seit 1936, dass ADHS-Kinder gut auf Methylphenidat (Ritalin)<br />

ansprechen, obwohl dieses Mittel eigentlich paradox wirkt: es ist ein Psychostimulans, das<br />

aber bei hyperaktiven Menschen - und nur dort !- beruhigend wirkt, weil es deren<br />

7


Konzentrationsschwäche neurobiologisch "ausgleicht". Dies hält aber nur solange an, wie<br />

das Medikament wirkt. Experten nennen dies daher auch "Schalter" oder "Klick" - Effekt.<br />

Ich kam nun auf den folgenden Gedanken: man könnte dieses Zeug doch bei ex-<br />

Krebspatienten mit Müdigkeit (<strong>Fatigue</strong>) in der normalen, d.h. stimulierenden Wirkung<br />

einsetzen. Dies müsste doch funktionieren! Schließlich ist das Medikament auch für<br />

chronische Somnolenz (plötzliche Schläfrigkeit, sog. Narkolepsie) zugelassen. Mein<br />

Hausarzt fand die Idee interessant und gab mir auch ein entsprechendes Rezept (BtM!). Weil<br />

ich aber kaum Hinweise in der Literatur über die Wirkung von Methylphenidat bei "normalen"<br />

Patienten fand, war mir das Risiko zu groß und ich probierte die Sache nur kurzzeitig aus.<br />

Außerdem hatte ich, ehrlich gesagt, Angst vor Nebenwirkungen (Magen!) und es<br />

widerstrebte mir, einfach selbst mit psychoaktiven Mitteln zu experimentieren. Bislang hatte<br />

ich keine Erfahrungen mit Drogen und das sollte auch so bleiben. Methylphenidat ist zwar<br />

nicht direkt mit Drogen vergleichbar und auch Abhängigkeiten sind bislang nicht bekannt<br />

geworden- diese Erkenntnis beschränkte sich aber auf die eigentliche Zielgruppe (ADHS-<br />

Menschen). Erfahrungen mit anderen Patienten gab es praktisch nicht. Also unterließ ich<br />

weitere Selbstversuche.<br />

Leider wurde mein Allgemeinzustand auch in den folgenden Jahren nicht besser. Vielmehr<br />

kamen weitere Probleme hinzu. Interessanterweise ging es mir unmittelbar nach der<br />

Therapie noch am besten, in den folgenden Jahren war aber kein Fortschritt, sondern eher<br />

ein Rückschritt zu verzeichnen. In den Jahren nach 2005 hatte ich zwar privat viel Schönes<br />

erlebt. Ich hatte meine Frau kennen gelernt und sie 2006 geheiratet; sie bringt sehr viel<br />

Verständnis für mich auf und unser Lebensrhythmus orientiert sich nicht zuletzt an meinem<br />

Befinden. Ich litt aber unter häufiger Übelkeit und heftigem, krampfartigen Durchfall. Dies<br />

verschwand auch nach gut einem halben Jahr nicht. Während der ganzen Therapiezeit ist<br />

mir nie so elend gewesen. Antiemetika halfen nur wenig.<br />

Außerdem wurde ich extrem bewegungsempfindlich - mir wurde im Auto sogar dann übel,<br />

wenn ich selbst am Steuer saß. Am meisten frustrierte mich, dass ich wegen m<strong>eines</strong><br />

Schwindels nicht mehr lesen konnte, mir wurde schon nach ein paar Zeilen extrem übel.<br />

Filme gucken oder gar ins Kino gehen, war völlig ausgeschlossen. Ein Bekannter,<br />

Neurologieprofessor s<strong>eines</strong> Zeichens, checkte mich durch, fand aber nichts. Auch ein<br />

Schädel-MRT war ebenso unauffällig wie HNO-Befunde.<br />

Internistische Befunde? Unklar, der eine Arzt sagte Nahrungsmittelallergie, der andere<br />

Morbus Crohn, der nächste "Reizdarmsyndrom", mit dem ich leben müsse. Ich hielt eine<br />

Milch- und Ei-freie Diät ein, wodurch sich mein Zustand auch besserte, aber nicht der<br />

Ausgangszustand erreicht wurde. Ich war noch mehr frustriert, und konnte mir auch gar nicht<br />

vorstellen, dass jetzt, 5 Jahre nach der Therapie, noch Müdigkeit und weitere Spätfolgen<br />

nicht nur sichtbar waren, sondern z.T. neu einsetzten oder sich gar verschlimmerten. Auch<br />

die letzte onkologische Nachsorge erbrachte keine neuen Erkenntnisse.<br />

5. Hoffnungsschimmer<br />

Durch Zufall (Internet) wurde ich auf die DFG (<strong>Deutsche</strong> <strong>Fatigue</strong> <strong>Gesellschaft</strong>) aufmerksam<br />

und organisierte dort einen Termin. Herr Dr. Rüffer erklärte mir, dass es k<strong>eines</strong>wegs<br />

ungewöhnlich sei, wenn man nach mehreren Jahren immer noch unter den Therapiefolgen<br />

zu leiden hätte. Vielmehr komme dies sehr häufig vor und auch ein später Einsatz der<br />

Beschwerden sei nichts Ungewöhnliches. Herr Rüffer erklärte mir, dass die Behandlung des<br />

<strong>Fatigue</strong> Syndroms, das er bei mir sofort vermutete, dreistufig sei:<br />

1. sportliche Betätigung<br />

2. psychologische Unterstützung<br />

3. Medikamente<br />

8


Zwar konnte ich mich zu Punkt zwei bislang nicht durchringen (ich glaube auch nicht, dass<br />

meine Kasse dies bezahlen würde), mit Punkt 3 war aber genau das Medikament gemeint,<br />

das ich selbst schon einmal in Erwägung gezogen hatte: Methylphenidat. Natürlich war ich<br />

glücklich, dieses jetzt nehmen zu können, ohne ein unverantwortliches Risiko einzugehen.<br />

Zwar sei, wie Herr Rüffer erklärte, die entsprechende Studie noch nicht abgeschlossen, die<br />

Ergebnisse seien aber eindeutig: die Patienten verspürten eine deutliche Verbesserung. Da<br />

Methylphenidat inzwischen auch in retard-Form vorliege, seien gute und anwenderfreundliche<br />

Ergebnisse möglich.<br />

Obwohl Schwindel eigentlich zu den UAW gehört (Nebenwirkungen von Methylphenidat).<br />

gehört, besserte sich mein Zustand erstmals wieder: zeitweise war der quälende Schwindel<br />

völlig verschwunden! Seit der Einnahme von medikinet 10mg retard bin ich auch weit<br />

weniger schlapp und müde - ohne dass dies den Nachtschlaf nennenswert beeinträchtigen<br />

würde! Abgesehen von leichtem Magendrücken am ersten Tag und leichter Nervosität kann<br />

ich keine weiteren Nebenwirkungen erkennen. Ich kann jetzt viele Dinge wieder tun, z.B. im<br />

Internet surfen oder lange lesen.<br />

Zwar hat das Medikament bislang noch keine Auswirkungen auf die sonstigen Beschwerden<br />

(Magen/Darm), aber dies hatte ich auch nicht erwartet, da es sich hier wohl um einen<br />

anderen Kriegsschauplatz handelt.<br />

So geht es mir insgesamt wesentlich besser und ich bin der DFG bzw. Herrn Rüffer sehr<br />

dankbar für den Hinweis. Da ich regelmäßig das Medikament absetze (Wochenende oder<br />

Ferien), befürchte ich keine Suchtentwicklung und verspüre auch nicht im geringsten den<br />

Drang, mehr davon zu nehmen. Ich möchte daher alle Patienten ermuntern, dieses<br />

Medikament einmal auszuprobieren - sofern nicht andere medizinische Gründe dagegen<br />

sprechen. Vielleicht wird das Medikament irgendwann einmal offiziell für die Indikation<br />

"<strong>Fatigue</strong> Syndrom" zugelassen (bislang fällt es noch unter "Behandlungsversuch").<br />

Ich wünsche mir natürlich auch, dass die Probleme geheilter Krebspatienten in absehbarer<br />

Zeit in der Medizin mehr Aufmerksamkeit erlangen werden und vielen anderen<br />

Leidensgenossen durch neue medizinische Erkenntnisse geholfen werden kann. Dazu sollte<br />

nicht zuletzt dieser Beitrag dienen und ich hoffe, ein wenig "Sprachrohr" für andere<br />

<strong>Betroffenen</strong> gewesen zu sein.<br />

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