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hungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken - brücken ...

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Detlef BRANDES, Dušan KOVÁ�, Ji�í PEŠEK (Hgg.): Wendepunkte in den Bezie<strong>hungen</strong><br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Deutschen</strong>, <strong>Tschechen</strong> <strong>und</strong> <strong>Slowaken</strong> 1848-1889 (Veröffentlic<strong>hungen</strong><br />

der Deutsch-Tschechischen <strong>und</strong> Deutsch-Slowakischen Historikerkommission,<br />

14). Essen (Klartext) 2007, 336 Seiten.<br />

Wendepunkte implizieren Fragen nach den Alternativen einer teleologisch gedachten<br />

<strong>und</strong> konzipierten Geschichte, sie zeigen im Idealfall Perspektiven auf<br />

<strong>und</strong> problematisieren Traditionen. Solche Wendepunkte in den Bezie<strong>hungen</strong><br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Deutschen</strong>, <strong>Tschechen</strong> <strong>und</strong> <strong>Slowaken</strong> möchte der vorliegende Band,<br />

herausgegeben im Auftrag der deutsch-tschechischen <strong>und</strong> deutsch-slowakischen<br />

Historikerkommission, präsentieren. Dabei soll, so die Herausgeber,<br />

der Geschichts� uss „nicht auf einige Merkmale der politischen Geschichte“<br />

(7) reduziert werden, sondern es geht auch um die Diskussion der Bedingungen,<br />

durch welche Entwicklungen der skizzierten Wendepunkte anders hätten<br />

verlaufen können. Neben einer allgemeinen Re� exion von Wendepunkten der<br />

deutsch-tschechischen 1 <strong>und</strong> der deutsch-slowakischen 2 Geschichte <strong>und</strong> einer<br />

abschließenden Analyse zu Rolle von Wendepunkten in der Geschichtswissenschaft<br />

3 werden 14 Wendepunkte <strong>zwischen</strong> 1848 <strong>und</strong> 1989 herausgestellt, bei<br />

denen – hier zeigt sich natürlich der engere geographisch-historische Kontakt<br />

– die deutsch-tschechischen dominieren. Lediglich ein spezi� sch deutsch-slowakischer<br />

Wendepunkt wird mit dem slowakischen Nationalaufstand 1944<br />

erfasst. 4<br />

Als ein zentraler Bruch in den deutsch-tschechischen Bezie<strong>hungen</strong> markiert<br />

Ji�í Pešek das Jahr 1867 mit der Einführung des Dualismus in Österreich. Die<br />

<strong>Tschechen</strong>, wie auch andere Slawen, mussten mit ansehen, „wie die politischen<br />

Nationen der Monarchie in solche erster <strong>und</strong> zweiter Klasse aufgeteilt wurden“<br />

(12), womit einer desintegrativen Politik der Weg bereitet war, die in der Folge<br />

(F<strong>und</strong>amentalartikel 1871; Badeni-Krise 1897) 5 mehrfach bestätigt wurde.<br />

Ungeachtet pragmatischer Kooperationen in vielen Bereichen vor 1914 blieben<br />

die zentralen Kon� iktfelder doch ungelöst, eine Föderalisierung Cisleithaniens<br />

entlang der Sprachgrenzen, die allerdings zu einer völligen Zersplitterung<br />

des Staates geführt hätte, wurde ängstlich vermieden, der 1. Weltkrieg schien<br />

1 Pešek, Ji�í: Wendepunkte in der modernen Geschichte der deutsch-tschechischen Bezie<strong>hungen</strong>,<br />

9-27.<br />

2 Ková�, Dušan: Wendepunkte in den deutsch-slowakischen Bezie<strong>hungen</strong> aus zeitgenössischer<br />

<strong>und</strong> heutiger Sicht, 29-36.<br />

3 Cornelißen, Christoph: Wendepunkte in der Geschichtswissenschaft. Zur Historiographie der<br />

deutsch-tschechisch-slowakischen Bezie<strong>hungen</strong> seit 1848, 307-328.<br />

4 Kamenec, Ivan: 1944: Deutschland <strong>und</strong> der Slowakische Nationalaufstand, 213-221.<br />

5 Hierzu auch K�en, Jan: 1867-1871: Deutschland, die <strong>Deutschen</strong> <strong>und</strong> der österreichische Ausgleich,<br />

85-110; Mommsen, Hans: 1897: Die Badeni-Krise als Wendepunkt in den deutschtschechischen<br />

Bezie<strong>hungen</strong>, 111-117.


516<br />

Neue Literatur<br />

dagegen eine f<strong>und</strong>amentale Lösung der Kon� ikte im Innern zu versprechen.<br />

Als frühester Wendepunkt wird die Revolution 1848/49 vorgestellt, ein Wendepunkt<br />

nicht nur in politischer, sondern auch in kultureller Hinsicht, lässt sich<br />

doch ein Ablösungsprozess von einem primär deutschsprachigen Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationswesen im Kontext der vormärzlichen Gelehrtenrepublik<br />

zu einer nationalkulturellen „Verprovinzbildungsbürgerlichung“ konstatieren,<br />

die in der Konsequenz auch zu einer Desintegration der <strong>Deutschen</strong> in<br />

der Habsburgermonarchie führt, bestanden diese doch 1848 aus einer „sehr<br />

lockeren <strong>und</strong> kaum miteinander verb<strong>und</strong>enen Gemengelage von böhmischen<br />

‚<strong>Deutschen</strong>‘, ‚Wiener Demokratie‘ <strong>und</strong> mittelständischen Formierungen.“ 6<br />

Zentrale Wendepunkte <strong>zwischen</strong> <strong>Deutschen</strong>, <strong>Tschechen</strong> <strong>und</strong> <strong>Slowaken</strong> bilden<br />

aber vor allem Ereignisse des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts: die Au� ösung der Habsburgermonarchie<br />

<strong>und</strong> die Gründung der Tschechoslowakei, die nationalsozialistische<br />

Machtergreifung nebst Münchener Abkommen, Besetzung der „Resttschechei“<br />

<strong>und</strong> Gründung des Protektorates sowie Vertreibung <strong>und</strong> Zwangsaussiedlung.<br />

Die neue, durch den Nationalsozialismus provozierte eliminatorische<br />

Dimension der deutsch-tschechischen Nationalitätenkon� ikte, gegen<br />

die die nationalen Kon� ikte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts fast schon harmlos wirken,<br />

führte dann zu einem absoluten Tiefpunkt in den Bezie<strong>hungen</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Deutschen</strong>,<br />

<strong>Tschechen</strong> <strong>und</strong> <strong>Slowaken</strong>. 7<br />

Doch ungeachtet der damit erfolgten Desintegration der ‚Kon� iktgemeinschaft‘<br />

kommt es auch in der Folge zu Wendepunkten mit zwar stärkerer innertschechischer<br />

bzw. -slowakischer Relevanz, wenngleich ein Ein� uss auf<br />

die Bezie<strong>hungen</strong> – mal mittelbarer, mal unmittelbarer – zu Deutschland bestehen<br />

bleibt: Der ‚Siegreiche Februar‘ 1948, der ‚Prager Frühling‘ <strong>und</strong> die<br />

aktive Einmischung der SED bzw. seine Wirkung als zentrales Sozialisationserlebnis<br />

auch so manches DDR-Dissidenten, die leider etwas sehr knapp<br />

abgehandelte ‚Samtene Revolution‘, ergänzt um ein Kapitel zur Ostpolitik<br />

Willy Brands. 8 Alle diese Wendepunkte sind zweifellos Indikatoren einer mal<br />

besseren, mal schlechteren Nachbarschaftsbeziehung, die zudem Impulse für<br />

ein Nachdenken über den jeweiligen Nachbarn jenseits ab- <strong>und</strong> ausgrenzender<br />

6 Hye, Hans Peter: 1848/49: Die Wende in der Habsburgermonarchie, 37-84, 73.<br />

7 Lemberg, Hans: 1918: Die Staatsgründung der Tschechoslowakei <strong>und</strong> die <strong>Deutschen</strong>, 119-<br />

135; Ku�era, Jaroslav: 1933: Der Ein� uss der nationalsozialistischen Machtergreifung, 137-<br />

150; Bystrický, Valerián: 1938: Das Münchener Abkommen, 151-183; Zimmermann, Volker:<br />

1939: die nationalsozialistische ‚Neuordnung‘, 185-198; Lipták,�ubomír: März 1939: Ein<br />

Schritt in Richtung Krieg, 199-212; Brandes, Detlef: 1945: Die Vertreibung <strong>und</strong> Zwangsaussiedlung<br />

der <strong>Deutschen</strong> aus der Tschechoslowakei, 223-248.<br />

8 Ho�ovský, Vladimír/Zimmermann, Volker: 1948: Der ‚Siegreiche Februar‘ <strong>und</strong> die deutschtschechoslowakischen<br />

Bezie<strong>hungen</strong>, 249-262; Pauer, Jan: 1968: Der ‚Prager Frühling‘ <strong>und</strong><br />

die <strong>Deutschen</strong>, 263-285; Ivani�ková, Edita: 1973: Die Ostpolitik der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> die<br />

Tschechoslowakei, 287-298; T�ma, Old�ich: 1989: Der Zusammenbruch zweier kommunistischer<br />

Regime, 299-306.


Neue Literatur 517<br />

nationalkultureller Traditionen liefern können. Bleibt zu hoffen, dass das von<br />

den Herausgebern anvisierte breitere Publikum dieses Angebot auch annimmt.<br />

Steffen Höhne<br />

Tomáš KNOZ (Hg.): <strong>Tschechen</strong> <strong>und</strong> Österreicher. Gemeinsame Geschichte, gemeinsame<br />

Zukunft. Wien, Brno (Kirchliches Institut Janineum/Matice moravská)<br />

2006, 344 Seiten.<br />

„Erst langfristige offenene Kontakte auf allen Ebenen <strong>und</strong> in verschiedenen<br />

gesellschaftlichen Sektoren werden uns helfen“, so Petr Fiala in seinem Beitrag,<br />

„diese archetypischen Bilder zu überwinden <strong>und</strong> werden zu einer besseren<br />

gegenseitigen Kenntnis führen, die Voraussetzung für die weitere Entwicklung<br />

unserer Bezie<strong>hungen</strong> ist.“ (337)<br />

Diesem Wunsch kommt dem vor Janineum <strong>und</strong> der Matice moravská 2006<br />

gemeinsam herausgegeben Sammelband <strong>Tschechen</strong> <strong>und</strong> Österreicher so weit<br />

als möglich entgegen. Eingeführt durch Geleitworte des Erzbischofs von Wien,<br />

Christoph Kardinal Schönborn <strong>und</strong> des Erzbischofs von Prag, Miloslav Kardinal<br />

Vlk, untersuchen drei<strong>und</strong>reißig Autoren das Verhältnis von <strong>Tschechen</strong><br />

<strong>und</strong> Österreichern. Die vom Herausgeber intendierte Formenvielfalt – übersichtliche<br />

Synthese des gewählten Themas, detaillierte Analyse eines Teilproblems,<br />

allgemeine Überlegungen, persönliche Erinnerungen – verhindert, dass<br />

die Aufmerksamkeit des Lesers ermüdet. Hinzu kommt, dass allen Beiträgen<br />

Zugänglichkeit <strong>und</strong> Lesbarkeit gemeinsam sein soll, „verb<strong>und</strong>en mit den quali�<br />

zierten Einblicken in das ausgewählte Thema <strong>und</strong> dem guten Willen, es als<br />

einen Dienst pro bono publico zu behandeln“ (10).<br />

Nun sei zunächst die Frage gestellt, warum vielen Beiträgen kein Anmerkungsapparat<br />

beigegeben wurde? Dies betrifft weniger persönliche Erinnerungen wie<br />

den drei im Kapitel Einander kennenlernen erfassten Beiträgen, wohl aber<br />

die fünf Aufsätze im Kapitel Gemeinsame Geschichte, durchweg Analysen<br />

namhafter Historiker. Ähnlich sieht es im Kapitel Leben in Gemeinschaft aus,<br />

dessen vier detaillierte Analysen durch einen Anmerkungsapparat gewonnen<br />

hätten. Ein weiterer Punkt, der zu Fragen Anlass gibt, ist die uneinheitliche<br />

Behandlung von Ortsnamen, die nicht in beiden Formen (deutsch/tschechisch<br />

bzw. deutsch/polnisch) angegeben werden. 1 Hinzu kommen Inkonsequenzen<br />

1 Siehe z.B. den Beitrag Ein mitteleuropäisches Märchen. Prag <strong>und</strong> Wien 1848-1920 von Ji�í<br />

Pešek, 97-103, aber auch Einheit <strong>und</strong> Nachbarschaft. Österreich <strong>und</strong> Mähren als gemeinsamer<br />

Kulturraum von Tomáš Knoz, 77-87. Stellvertretend wollen wir den Umgang mit<br />

Ortsnamen in Wirtschaftliches Zusammenleben. Mähren <strong>und</strong> östereichische Länder im Licht<br />

der sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Kontakte der Bevölkerung in der frühen Neuzeit von Bronislav<br />

Chocholá�, 55-61, betrachten. So wird z.B. auf Seite 57 Olmütz/Olomouc in beiden<br />

Formen verwendet, doch eine Zeile weiter erscheint Wroc�aw ohne sein deutsches Pendant<br />

<strong>und</strong> in der hier getreu wiedergegebenen Form sind mühelos gleich zwei Fehler auszu-


518<br />

Neue Literatur<br />

bei Eigennamen. So begegnet dem Leser der Name des für die böhmisch/<br />

mährisch-österreichischen Bezie<strong>hungen</strong> wichtigen P�emysliden-Königs mal<br />

als P�emysl Ottokar II., 2 mal als P�emysl Otakar II. 3 Ähnlich erscheint der<br />

Name der Schlacht am 8. November 1620 mal als Schlacht auf dem Weißen<br />

Berge (56), mal als Schlacht am Weißen Berg (90). Einfach ärgerlich ist<br />

jedoch, wenn beim Namen eines der Förderer Jihomoravská plynárenská ein<br />

AG statt dem korrekten <strong>und</strong> zum Namen dazugehörigen a.s. auftaucht (10).<br />

Vorbildlich ist dagegen die Einführung des Lesers in die Thematik insbesondere<br />

in den drei jeweils aus fünf Beiträgen gebildeten Kapiteln Gemeinsame<br />

Geschichte, Kulturverwandtschaften <strong>und</strong> Leben in Gemeinschaft. Man � ndet<br />

eine kürzere übersichtliche Synthese, der in den folgenden Beiträgen detaillierte<br />

Analysen zur Seite gestellt sind. Ähnlich ist dies auch im Kapitel Einander<br />

kennenlernen. Der Beitrag von Alfred Payrleitner 4 führt in den Themenkreis<br />

Erinnerungskultur ein. Der Autor zeigt knapp auf, was <strong>und</strong> wer dafür besonders<br />

wichtig ist: die Familie <strong>und</strong> die peer-groups. Dort <strong>und</strong> im Fre<strong>und</strong>es- <strong>und</strong><br />

Berufskreis erfolgt „die Meinungsbildung, das Erinnern, Merken, Einordnen<br />

<strong>und</strong> Weitergeben von Erfahrungen“ (297). Schule <strong>und</strong> Medien seien nicht so<br />

prägend. Weiter hänge die Meinungsbildung von Faktoren ab wie Herkunft<br />

<strong>und</strong> Einkommen, gesellschaftlichem Status, Bildungsgrad, nationale Zugehörigkeit<br />

sowie Konfession. Weil kein Wissen auf Dauer Bestand hat, weil<br />

alles Gelernte der ständigen Gefahr ausgesetzt ist, vergessen zu werden, gibt es<br />

„die Geschichtswissenschaft mit ihrem jeweils gültigen Kanon. Dabei handelt<br />

es sich, abgesehen von einigen Gr<strong>und</strong>daten, aber nicht um eine starre Größe,<br />

sondern um ein ständiges Ergänzen <strong>und</strong> Fließen des Geschichtsbewusstseins“<br />

(298). Am Beispiel des Dritten Reichs wird gezeigt, wie aktuell die Gefahr<br />

des Vergessens ist. 5 So ist die Aufarbeitung der Vertreibung im deutsch/österreichisch<br />

– tschechisch/slowakischen Kontext schwierig, weil sie schubweise<br />

<strong>und</strong> mit erheblicher Zeitverschiebung erfolgt. Damit ist nicht nur die Zeit <strong>zwischen</strong><br />

1948 bis 1989 gemeint, in der die „kommunistische Geschichtsbetrachtung“<br />

(300) ein unvoreingenommes Herangehen verhinderte. Auch nach 1989<br />

machen, wieder eine Zeile weiter fehlt zu Krakau die polnische Form ebenso ergeht es<br />

Brünn in der selben Zeile.<br />

2 Pauk, Marcin Rafa�: Nobiles Bohemie – ministeriales Austrie. Kontakte der böhmischne <strong>und</strong><br />

österreichischen Eliten in der Regierungszeit König P�emysl Ottokar II, 43-53.<br />

3 Knoz, Tomáš: Einheit <strong>und</strong> Nachbarschaft. Österreich <strong>und</strong> Mähren als gemeinsamer Kulturraum,<br />

77-87, 79. Dies betrifft auch die Namen der Slawenapostel in den Formen Konstantinos<br />

<strong>und</strong> Methodäus bzw. Konstantin <strong>und</strong> Method (79).<br />

4 Tabula rasa. Erinnerung <strong>zwischen</strong> Vergessen, Verdrängen, Alptraum <strong>und</strong> Normalität, 295-<br />

301.<br />

5 Die Präsenz in Schule <strong>und</strong> Medien, die Wiederholung von Erinnerungsritualen stellen keinesfalls<br />

sicher, dass verstanden wird, worum es geht. Vielmehr kann es dazu führen, dass man<br />

gelangweilt weghört. Wie sonst ist zu erklären, dass in einem Quizspiel „ein junger Mann<br />

beim Stichwort Hitler auf eine Brotsorte tippte“ (297f.)


Neue Literatur 519<br />

tritt in der tschechischen <strong>und</strong> slowakischen Gesellschaft – wie bei so manchem<br />

<strong>Deutschen</strong> <strong>und</strong> Österreicher – das Phänomen auf, Zeitperioden zu überspringen.<br />

Payrleitner vergisst nicht, dass es auch Beispiele eines verantwortungsvollen<br />

Umgangs mit der Geschichte gibt, wie die Brünner Jugendgruppe (MIP), die<br />

sich mit der Vertreibung der <strong>Deutschen</strong> aus Brünn auseinandersetzen. Ebenso<br />

begrüßt Payrleitner die Arbeit von Tomáš Stan�k über die ‚Verfolgung 1945‘, 6<br />

weil mit dieser Untersuchung von tschechischer Seite der Gefahr des Vergessens<br />

im akademischen Diskurs begegnet wird. Gegen das Vergessen zu arbeiten,<br />

haben sich alle Verfasser verbündet, am engagiertesten sind dabei gewiss<br />

Autoren persönlicher Erinnerungen. Sie beschäftigen sich hier mit verschiedenen<br />

Zeitabschnitten – 30er Jahre, 2. Weltkrieg, Zeit nach dem 2. Weltkrieg,<br />

Samtene Revolution <strong>und</strong> 90er Jahre –, die Themen weisen gleichfalls eine<br />

große Bandbreite auf – Zwangsarbeit, Hilfe für Flüchtlinge, Erfahrungen als<br />

Angehöriger einer geduldeten Minderheit, Ergebnisse beru� ichen Bemühens,<br />

signi� kante Begegnungen mit Prominenten. So bemüht sich Vlasta Vales in<br />

ihrem Beitrag darum, dass das Phänomen Wiener <strong>Tschechen</strong> nicht als eine<br />

Sache der Vergangenheit abgetan wird. 7 Sonst „werden auch die Klischees der<br />

Vergangenheit weiter tradiert, auch wenn das Bild der heutigen tschechischen<br />

Volksgruppe ein anderes ist“ (239). Obwohl die Zeitabschnitte mit denen sich<br />

die Beiträge von Ji�í Kocián 8 <strong>und</strong> Jana Starek 9 auseinandersetzen, gegenwärtig<br />

nicht im Brennpunkt des Diskurses über die tschechisch/tschechoslowakisch<br />

– österreichischen Bezie<strong>hungen</strong> stehen, ist es umso verdienstvoller. dass diese<br />

Lücken geschlossen werden <strong>und</strong> erste wissenschaftliche Untersuc<strong>hungen</strong> entstehen.<br />

So werden weitere Auswertungen entsprechender Quellen erforderlich<br />

sein, um das tschechische/tschechoslowakische Exil in die Bezie<strong>hungen</strong> beider<br />

Länder im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert einordnen zu können. Das geschichtliche Wissen<br />

um die Bezie<strong>hungen</strong> der <strong>Tschechen</strong> <strong>und</strong> Österreicher ergänzen <strong>und</strong> erweitern<br />

zwei Beiträge von Historikern. Ji�í Pešek zwingt uns Abschied zu nehmen von<br />

dem in Böhmen noch nicht verschw<strong>und</strong>enem Bild des „janusköp� gen“ Kaisers<br />

Franz Joseph I. im Zusammenhang mit dem Ausbau der Städte Wien <strong>und</strong><br />

Prag im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. 10 So soll dieser sich Wien gegenüber als liebevoller<br />

6 Stan�k, Tomáš: Perzekuce 1945. Perzekuce tzv. státn� nespolehlivého obyvatelstva v �eských<br />

zemích (mimo tábory a v�znice) v kv�tnu – srpnu 1945. Praha 1996. 2002 erschien die erweiterte<br />

<strong>und</strong> überarbeitete deutschsprachige Version der 1. tschechischen Au� age; Stan�k,<br />

Tomáš: Verfolgung 1945. Die Stellung der <strong>Deutschen</strong> in Böhmen, Mähren <strong>und</strong> Schlesien (außerhalb<br />

der Lager <strong>und</strong> Gefängnisse). Wien u.a. 2002.<br />

7 „In meinem Herzen bin ich immer noch eine Tschechin...“ Das Leben der <strong>Tschechen</strong> in Wien,<br />

223-239.<br />

8 Die Nachkriegsjahre. Die Sichtweise Österreichs in der Zeit der politischen Prozesse in der<br />

Tschechoslowakei, 185-193.<br />

9 Nach dem Prager Frühling. Tschechoslowakisches Exil in Österreich 1968-1989, 195-208.<br />

10 Ein mitteleuropäisches Märchen. Wien <strong>und</strong> Prag 1848-1920, 97-103.


520<br />

Neue Literatur<br />

<strong>und</strong> großzügiger Vater verhalten haben, gegenüber Prag aber stiefväterlich.<br />

Wien wurde in der 2. Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts mit der Ringstraße beschenkt<br />

<strong>und</strong> zu einer Metropole ausgebaut, wobei es sich bei der Ringstraße nicht um<br />

ein Geschenk handelte, sondern um eine potentielle militärische Ausgangsbasis<br />

bei zukünftigen Unruhen der Wiener Bürger, bei der die Gemeinde Wien zudem<br />

gar nicht zu Rate gezogen wurde. Ähnlich verhält es sich beim Ausbau Wiens<br />

zur Metropole bzw. dem „Nichtwachsen“ Prags zu einer solchen. Auch hier<br />

wird keine Abneigung des Kaisers gegenüber Prag sichtbar. Ein demographischer<br />

Anstieg Prags wird u.a. durch die Eigeninteressen der von einer Erweiterung<br />

Prags betroffenen Städte verhindert. In dem Beitrag von Miloslav Svoboda<br />

<strong>und</strong> Kamila Svobodová werden die Verhältnisse auf den Liechtensteinischen<br />

Besitzungen in Niederösterreich <strong>und</strong> Südmähren dargestellt. 11 So gestattet die<br />

Auswertung des Urbars aus dem Jahre 1414 einen Blick auf „das Leben an der<br />

mährisch-österreichischen Grenze kurz vor dem Ausbruch der Hussitenkriege“<br />

(255): War es für die Untertanen auf den Liechtensteinischen Besitztümern<br />

wichtig, dass es sich um Besitzungen in verschiedenen Ländern mit verschiedenen<br />

Staatsobrigkeiten (vor 1526) handelte? Die Autoren kommen zu dem Ergebnis,,<br />

dass „die Landesgrenze [...] von der Bevölkerung praktisch nicht wahrgenommen<br />

wurde“ (260), dass eine „Gliederung in mährische <strong>und</strong> niederösterreichische<br />

Besitzungen [...] im Urbar auf keine Weise vorgenommen wird“ (255f.).<br />

Die Untersuchung von Andrea Komlosy zeigt, wie sich die Situation in den<br />

Regionen nach 1989 verändert hat, ob die offene Grenze eine Veränderung der<br />

Wertigkeit der Regionen im eigenen Staat bedingt, welche Entwicklung das<br />

Verhältnis beider Regionen zueinander seither genommen hat. 12 Der Eiserne<br />

Vorhang unterband für Jahrzehnte den unmittelbaren Kontakt der Regionen.<br />

Beide Regionen fanden sich in einer Randlage innerhalb ihrer Staaten <strong>und</strong> innerhalb<br />

der beiden Blöcke. Im Waldviertel werden durch den Eisernen Vorhang<br />

Entwicklungen bestätigt, die bereits im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vorgenommen wurden.<br />

Südböhmen erfährt im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert tief greifende Änderungen z.B. nach<br />

1918 eine Ausrichtung nach Prag statt Wien, nach 1945 Vertreibung <strong>und</strong> Neuansiedlung<br />

der Bevölkerung, nach 1948 Randlage. Nach 1989 kommt es zu<br />

Kontakten, „erste Begegnungen waren eingebettet in ein Set von Fremd- <strong>und</strong><br />

Selbststereotypen <strong>und</strong> bestimmt von den aktuellen Kräfteverhältnissen auf bilateraler<br />

<strong>und</strong> multilateraler Ebene“ (264). Die Entwicklung der Kontakte <strong>und</strong><br />

eines Miteinander der Regionen einschließlich einer integrierten Regionalentwicklung<br />

erfährt eine Änderung durch den Schengener Vertrag 1997, der die<br />

Außengrenzen Österreichs nicht nur gegenüber der Tschechischen Republik<br />

zum „Bollwerk“ verwandelte. „Initiativen, die um Abbau von Vorurteilen <strong>und</strong><br />

11 Das Leben an der Grenze. Die Liechtensteinischen Herrschaften vom Anfang des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

im Spiegel ihres Urbars, 253-260.<br />

12 Waldviertel – Südböhmen. Fünfzehn Jahre „offene“ Grenze, 261-271.


Neue Literatur 521<br />

bilaterale Annäherung bemüht waren, erlebten eine Identitätskrise“ (267), trotzdem<br />

reißt der intensive Kontakt nicht ab. Die Grenze ist zwar nicht verschw<strong>und</strong>en,<br />

doch statt der Trennung der österreichischen <strong>und</strong> tschechischen Seite durch<br />

den Eisernen Vorhang regt sie vielmehr durch die Unterschiede in verschiedenen<br />

Bereichen, z.B. Lohnniveau, Sozialsysteme, an.<br />

Petr Fiala vergleicht die Tschechische Republik <strong>und</strong> Österreich. 13 Neben der bereits<br />

im Titel erwähnten Gemeinsamkeit eines fehlenden Meeres gibt es eine<br />

ganze Reihe weiterer Gemeinsamkeiten, nicht nur geogra� sche <strong>und</strong> geopolitische,<br />

die aus den beiden Staaten durch ihre ähnlich gelagerten ökonomischpolitischen<br />

Interessen keineswegs Verbündete, sondern Konkurrenten machen.<br />

Diese Interessen werden in der Zukunft weiter für Kon� iktpotential sorgen, so<br />

wie „analogische Momente in der Struktur <strong>und</strong> den Funktionen des politischen<br />

Lebens, die von den Unterschieden in der politischen Kultur begleitet werden,<br />

auch weiterhin eine mögliche Quelle von Missverständnissen <strong>zwischen</strong> den beiden<br />

nationalen Gesellschaften darstellen werden.“ Im Interesse beider Gesellschaften<br />

liegt es dafür zu sorgen, dass man sich gegenseitig vertraut <strong>und</strong> auf gute<br />

Bezie<strong>hungen</strong> bauen kann.<br />

„Erst langfristige offene Kontakte auf allen Ebenen […] werden zu einer besseren<br />

gegenseitigen Kenntnis führen…“ (337), worum es den in diesem Band versammelten<br />

Autoren geht. Ihre Beiträge tragen gewiss zur gegenseitigen Kenntnis<br />

bei, ohne darauf zu verzichten, Kon� iktpotenziale zu benennen, jedoch nicht<br />

um Gräben zu ziehen bzw. zu vertiefen, sondern zur Diskussion aufrufen, wie<br />

es Miloslav Kardinal Vlk in seinem Geleitwort tut <strong>und</strong> wie es den Zielen des<br />

Janineum entspricht.<br />

Renata Sirota-Frohnauer<br />

Marek LOUŽEK (Hg.): �esko-n�mecká deklarace. Deset let poté. Sborník text�<br />

[Die deutsch.tschechische Erklärung. Zehn Jahre danach, Textsammlung]<br />

(Ekonomika, právo, politika �. 57). Praha (CEP) 2007.<br />

Es ist lobenswert, dass das Prager Zentrum für Ökonomie <strong>und</strong> Politik (CEP)<br />

des zehnten Jahrestages der Unterzeichnung der Deutsch-tschechische Erklärung<br />

über die gegenseitige Entwicklung <strong>und</strong> ihre zukünftige Gestaltung gedachte<br />

<strong>und</strong> aus diesem Anlass eine Konferenz veranstaltet hat, die sich damit<br />

befasste, wie sich der gegenseitige Dialog in den vergangenen zehn Jahren<br />

entwickelte <strong>und</strong> welche Probleme es bei ihrer Verhandlung sowie dem Rati-<br />

� zierungsprozess in beiden Parlamenten gab. Wie beim CEP üblich wurden<br />

alle Beiträge der vom tschechischen Präsidenten Václav Klaus moderierten<br />

Konferenz in einem Sammelband zusammengefasst, der Mitte 2007 erschien<br />

13 Zwei Länder ohne Meer. Tschechisch-österreichische Bezie<strong>hungen</strong> im vereinten Europa,<br />

327f.


522<br />

Neue Literatur<br />

<strong>und</strong> der, was die Zahl der Autoren sowie das Meinungsspektrum betrifft, über<br />

das Symposium hinausgeht.<br />

Zur Erinnerung: Die Deutsch-tschechische Erklärung wurde am 21. Januar<br />

1997 in Prag unterzeichnet. Sie umfasst eine Einleitung <strong>und</strong> acht Punkte. In<br />

der Einleitung verweisen Deutschland <strong>und</strong> Tschechien vor allem auf die lange<br />

Geschichte eines fruchtbaren <strong>und</strong> friedlichen Zusammenlebens beider Nationen,<br />

in deren Verlauf ein reiches kulturelles Erbe geschaffen wurde. Gleichzeitig<br />

verständigten sie sich darauf, dass zugefügtes Unrecht nicht ungeschehen<br />

gemacht, sondern allenfalls gemildert werden kann, <strong>und</strong> dass dabei kein neues<br />

Unrecht entstehen darf. Im ersten Punkt erklären beide, dass sie gemeinsame<br />

demokratische Werte teilen <strong>und</strong> Menschenrechte <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>freiheiten achten.<br />

Sie sind sich zugleich bewusst, dass der gemeinsame Weg in die Zukunft ein<br />

klares Wort zur Vergangenheit erfordert. Im Punkt II. bekennt sich Deutschland<br />

zur Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Im Punkt III. bedauert die<br />

tschechische Seite die Enteignung <strong>und</strong> Ausbürgerung der Sudetendeutschen<br />

sowie Leid <strong>und</strong> Unrecht, die ihnen zugefügt wurden. Im Punkt IV. äußern beide<br />

Seiten die Überzeugung, dass das begangene Unrecht der Vergangenheit<br />

angehört, auch wenn beide Seiten ihrer Rechtsordnung verp� ichtet bleiben.<br />

Mit Punkt V. bekräftigen beide ihre Unterstützung der deutschen Minderheit<br />

in Tschechien sowie der Personen tschechischer Abstammung in der B<strong>und</strong>esrepublik.<br />

Im Punkt VI. erklärten beide Seiten, dass der Beitritt der Tschechischen<br />

Republik zur Europäischen Union zu einer weiteren Annäherung beider<br />

Länder führen werde. In Punkt VII werden die Gründung des Deutsch-tschechischen<br />

Zukunftsfonds, in Punkt VIII. die Gründung des Deutsch-tschechischen<br />

Jugendforums beschlossen.<br />

Die bereits 57. Publikation des CEP stellte Marek Loužek zusammen. Für die<br />

Leser sind insbesondere die Artikel unmittelbarer Zeitzeugen auf der tschechischen<br />

Seite von Bedeutung, vor allem des ehemaligen Ministerpräsidenten<br />

<strong>und</strong> jetzigen Präsidenten Václav Klaus, von zwei Mitgliedern des tschechischen<br />

Verhandlungsteams, Alexander Vondra <strong>und</strong> Rudolf Jindrák, dem jetzigen<br />

Vizepremier der Regierung für europäische Angelegenheiten <strong>und</strong> dem<br />

Botschafter der Tschechisches Republik in Berlin, aber auch zum Beispiel von<br />

Ji�í Weigl, dem früheren Leiter des Regierungsamtes <strong>und</strong> jetzigen Leiters der<br />

Präsidialkanzlei. Daneben enthält der Sammelband Beiträge von 13 Autoren,<br />

Historikern, Politikwissenschaftlern <strong>und</strong> Juristen. Der Band dokumentiert die<br />

tschechische Position gegenüber der Erklärung. Vertreten ist jedoch auch der<br />

Blickwinkel der B<strong>und</strong>esrepublik, denn publiziert wurde eine Rede des Botschafters<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik in Tschechien, Helmut Elfenkämper.<br />

In einem Vorwort erinnert Václav Klaus, dass das Ziel beider Seiten war, „zukünftigen<br />

politischen Missbrauch zu verhindern“ (7), worum „immer wieder<br />

manche bemüht sind“ (7). Sowohl dem tschechischen Ministerpräsidenten


Neue Literatur 523<br />

wie auch seinem deutschen Gegenüber, Kanzler Helmut Kohl, war bei den<br />

Verhandlungen klar, dass die kon� iktgeladene Vergangenheit keine rein legislative<br />

Lösung haben kann. Auch wenn dies im publizierten Vorwort des<br />

Präsidenten nicht erscheint, sei daran erinnert, dass Klaus sich bei der Moderation<br />

der Veranstaltung in dem Sinne geäußert hat, dass mit der Erklärung<br />

allein deutsche Forderungen, insbesondere nach Eigentumsrückgabe seitens<br />

der Sudetendeutschen nicht aufhören werden. Das zeigte sich schon am Tag<br />

der Unterzeichnung. Die tschechische Öffentlichkeit <strong>und</strong> Politik wurde durch<br />

die Aussage von B<strong>und</strong>eskanzlers Kohl beunruhigt, der auf die Frage eines<br />

Journalisten der Sudetendeutschen Zeitung bemerkte, dass Eigentumsfragen<br />

selbstverständlich offen bleiben (84). Dem Politikwissenschaftler Vladimíra<br />

Handl zufolge war diese Äußerung zwar eher an Politiker der CSU sowie Repräsentanten<br />

der Vertriebenen adressiert, doch erschwerte sie die Chancen auf<br />

eine Mehrheit bei der Abstimmung im Abgeordnetenhaus. Handl macht darauf<br />

aufmerksam, dass bei der parlamentarischen Debatte über die Erklärung<br />

im tschechischen Abgeordnetenhaus nicht die Kritik der einzelnen Punkte der<br />

Erklärung überwogen, sondern vielmehr antideutsche Rhetorik <strong>und</strong> nationalistische<br />

Litaneien der extremen Linken <strong>und</strong> Rechten. Doch schließlich stimmte<br />

die Mehrheit von 131 Stimmen in Tschechien für die Erklärung.<br />

Interessant ist auch der kurze Beitrag von Alexandr Vondra. Der jetzige Vizepremier<br />

konzediert, dass sich die tschechische Seite im Kontext eines Anwachsens<br />

beidseitiger Hysterie sowie eines Mangels an Sachlichkeit der Position<br />

Deutschlands nicht mehr sicher sein konnte. Denn die tschechischen NS-Opfer<br />

blieben als einzige in Europa ohne Entschädigung, die Debatte über Wiedergutmachung<br />

hatte noch nicht einmal begonnen. Helmut Kohl bot zwar der<br />

tschechischen Seite Anfang der neunziger Jahre eine Entschädigung für die<br />

durch den Nationalsozialismus Geschädigten an, zog jedoch dieses Angebot<br />

im Frühling 1993 zurück. Als vermeintlicher Gr<strong>und</strong> wurde eine Indiskretion<br />

Präsident Havels genannt, der den Plan zu früh der Presse mitgeteilt habe.<br />

Wahrscheinlicher scheint jedoch die Erklärung, dass Kohl mit seinem Plan auf<br />

Kritik in der eigenen Partei <strong>und</strong> vor allem in der CSU stieß. Denn die CSU tritt<br />

bekanntlich als Interessenwahrerin der Sudetendeutschen auf. Die Partei versuchte,<br />

ein Junktim <strong>zwischen</strong> der Entschädigung der tschechischen NS-Opfer<br />

<strong>und</strong> der Opfer der Vertreibung durchzusetzen, was jedoch für die tschechische<br />

Seite, wie Vondra betont, nicht akzeptabel war genau so wie der Wunsch der<br />

B<strong>und</strong>esregierung, sich mit den Repräsentanten der Sudetendeutschen an einen<br />

Tisch zu setzen, nicht realisierbar war. Vondra zufolge hätte die tschechische<br />

Seite damit die Position eines Schuldigen eingenommen, der „die Schulden zu<br />

zahlen hat“ (11). Der Stand der Bezie<strong>hungen</strong> in der ersten Hälfte der neunziger<br />

Jahre rief nach Vondra in der tschechischen Öffentlichkeit Bedrohungsgefühle<br />

hervor <strong>und</strong> brachte den extremistischen Kräften, den Kommunisten <strong>und</strong> Repu-


524<br />

Neue Literatur<br />

blikanern, politische Vorteile. Hinzu kam eine gewisse Entfremdung auf der<br />

Ebene der politischen Bezie<strong>hungen</strong>. Zwischen 1993 <strong>und</strong> 1996 besuchte Václav<br />

Klaus insgesamt achtzehnmal die B<strong>und</strong>esrepublik, B<strong>und</strong>eskanzler Kohl<br />

traf er jedoch of� ziell nur einmal am 23. Mai 1993. Kohl reiste in diesem<br />

Zeitraum gar nicht nach Prag. Zudem bestand die Gefahr, dass offene Fragen<br />

der Vergangenheit Tschechiens Weg in die NATO <strong>und</strong> die Europäische Union<br />

verkomplizieren könnten. Im Sommer 1994 übte deshalb die amerikanische<br />

Diplomatie Druck auf beide Seiten hinsichtlich einer Klärung gegenseitiger<br />

Kon� ikte aus. Vondra als Mitglied des tschechischen Verhandlungsteams hält<br />

es für wichtig <strong>und</strong> richtig, dass alle Verhandlungen „auf der <strong>zwischen</strong>staatlichen<br />

Eben <strong>zwischen</strong> Prag <strong>und</strong> Berlin verliefen <strong>und</strong> nicht <strong>zwischen</strong> Prag <strong>und</strong><br />

München oder sogar in einem scheinbaren Dreieck, in dem die tschechische<br />

Seite nur die zweite Geige spielen würde“ (12).<br />

Bemerkenswert in den einzelnen Beiträgen ist die Einstellung gegenüber solchen<br />

Punkten der Erklärung, die nicht eindeutig interpretierbar sind. Während<br />

es für Vizepremier Vondra sowie für den tschechischen Soziologen Václav<br />

Houžvi�ka keinen Nachteil darstellt, wenn unterschiedliche Haltungen der<br />

Partner nebeneinander stehen, die keinen eindeutigen Konsens zulassen (45),<br />

hält der Rechtsexperte Václav Pavlí�ek solche Teile des Textes, die nicht von<br />

beiden Seiten in gleicher Weise verstanden werden, für unglücklich bzw. für<br />

einen Fehler der tschechischen Diplomatie (130). Vondra zufolge ist die Erkenntnis<br />

wichtig, die man bei jeder deutsch-tschechischen Diskussion berücksichtigen<br />

soll, dass „wir für die Bewältigung der Vergangenheit nicht eindeutig<br />

eine gemeinsame Sprache � nden können. Wir haben aber geschafft, eine<br />

Art <strong>und</strong> Weise zu � nden, wie wir mit diesem Problem umgehen sollen“ (12).<br />

Der deutsche Botschafter in der Tschechischen Republik, Helmut Elfenkämper,<br />

sieht als eines der wichtigsten Ergebnisse der Deutsch-tschechischen Erklärung<br />

die vorbehaltlose Unterstützung beim tschechischen NATO- <strong>und</strong> EU-<br />

Beitritt, womit Deutschland die Proklamation aus dem Fre<strong>und</strong>schaftsvertrag<br />

von 1992 verwirklichte. Für die deutsch-tschechischen Bezie<strong>hungen</strong> ist damit<br />

eine zunehmende Annäherung beider Länder auf allen Ebenen zu konstatieren,<br />

ein Prozess, der nach Elfenkämper einen Höhepunkt in der Konzeption<br />

eines gemeinsamen deutsch-tschechischen Geschichtsbuchs haben sollte,<br />

wobei das vor kurzem erschienene deutsch-französische Geschichtsbuch als<br />

Beispiel dient.<br />

Neben Kommentaren zur gemeinsamen Erklärung erhalten die Leser Informationen<br />

zu weiteren kon� iktären historischen Ereignissen der deutschtschechischen<br />

Bezie<strong>hungen</strong>, so zu den so genannten Beneš-Dekreten oder zur<br />

Gültigkeit des Potsdamer Abkommens, die im Rahmen der Verhandlungen<br />

über die Erklärung eine Rolle spielten. Über die Dekrete, ihre Entwicklung<br />

sowie Verankerung im internationalen Recht schreibt der Jurist Jan Kuklík,


Neue Literatur 525<br />

mit dem Potsdamer Abkommen befasst sich Miroslav Kunštát. Ferner verfassten<br />

Eva <strong>und</strong> Hans Henning Hahn Beiträge. Eva Hahn stellt Ähnlichkeiten <strong>und</strong><br />

Unterschiede der deutsch-tschechischen <strong>und</strong> deutsch-polnischen Vergangenheitsdiskurse<br />

dar. Hans Henning Hahn beschreibt, wie das Thema Flucht <strong>und</strong><br />

Vertreibung in der b<strong>und</strong>esdeutschen Öffentlichkeit bewältigt wird.<br />

Bei dem rezensierten Band handelt es sich um das überhaupt erste Buch, das<br />

sich mit den Ursachen <strong>und</strong> Folgen der Deutsch-tschechischen Erklärung beschäftigt.<br />

Die zehn Jahre seit der Unterzeichnung haben bestätigt, was auch<br />

die in der Publikation präsentierten Ergebnisse von Meinungsumfragen von<br />

Václav Houžvi�ka belegen, dass die Kon� iktthemen aus der Vergangenheit<br />

allmählich zurücktreten <strong>und</strong> dass ein Trend zur Kooperation überwiegt. Auf<br />

der anderen Seite zeigt sich aber auch, dass weniger als zwei Drittel der tschechischen<br />

Öffentlichkeit etwas von der Existenz der Erklärung wissen.<br />

Lukáš Novotný<br />

Stefan ZWICKER: „Nationale Märtyrer“: Albert Leo Schlageter <strong>und</strong> Julius<br />

Fu�ík. Heldenkult, Propaganda <strong>und</strong> Erinnerungskultur. Paderborn, München,<br />

Wien, Zürich (Schöningh) 2006, 369 Seiten <strong>und</strong> 32 Abb.<br />

Ziel der vorliegenden Dissertation ist eine Analyse der Instrumentalisierung<br />

zweier ‚Helden‘ bzw. deren Leben <strong>und</strong> vor allem Sterben. Es geht somit weniger<br />

um die jeweilige Biographie als vielmehr um den Kult, der um Albert Leo Schlageter<br />

<strong>und</strong> Julius Fu�ík entfacht worden ist, um die Rolle, die beide in der jeweiligen<br />

Propaganda gespielt haben <strong>und</strong> um deren erinnerungskulturelle Dimension.<br />

Der im Rahmen der Rheinlandbesetzung von der französischen Besatzungsmacht<br />

1923 verhaftete <strong>und</strong> hingerichtete Schlageter wurde zum Instrument innenpolitischer<br />

Propaganda gegen die Republik, so wie der in Berlin-Plötzensee<br />

1943 hingerichtete Kommunist Fu�ík zum Kronzeugen der KP� schon vor der<br />

Machtübernahme avancierte <strong>und</strong> auch später in den Kampagnen gegen „innere<br />

Feinde“ sich erfolgreich einsetzen ließ. Beide Helden, so die Überlieferung,<br />

haben sich offenbar für ihre politisch-ideologische Überzeugung geopfert <strong>und</strong><br />

konnten deshalb als Repräsentanten einer Ideologie in Anspruch genommen<br />

werden. Schlageter avancierte in der Propaganda der Nazis zum ersten Soldaten<br />

des Dritten Reiches, Fu�íks „Lidé, bd�te!“ (Menschen, seid wachsam!) aus der<br />

Reportáž, psaná na oprátce (Reportage unter dem Strang geschrieben), die „Inhalt,<br />

Form <strong>und</strong> Entstehungsumstände in für Propagandazwecke geradezu idealer<br />

Weise“ (305) kombinierte, diente der KP-Kulturpolitik als zentraler Appell im<br />

Rahmen der stalinistischen Gleichschaltung <strong>und</strong> Überwachung.<br />

Eine hohe Durchmischung von Fakten <strong>und</strong> Legenden kennzeichnen dabei den<br />

Umgang <strong>und</strong> die Aneignung von Schlageter wie Fu�ík, die u.a. Vladimír Macu-


526<br />

Neue Literatur<br />

ra am Beispiel Fu�íks veranlassten, diesen Kult im Kontext weiterer Elemente<br />

der kommunistischen Propaganda zu untersuchen. Die Wirkungsmächtigkeit<br />

Fu�íks zeigt sich nicht zuletzt an den – in der Regel verdrängten – „Jugendsünden“<br />

führender Dissidenten, die offenbar der Faszination des Ideologems<br />

Fu�ík erlagen. Milan K<strong>und</strong>era verherrlicht ihn in seinem Poem Poslední máj<br />

(Der letzte Mai), Pavel Kohout, damals ein führender Vertreter der parteitreuen<br />

jungen Literaten, pries den Helden der kommunistischen Hagiographie. Fu�ík<br />

avancierte zum Werbeträger, zu einer der für die Außendarstellung der kommunistischen<br />

�SR wichtigsten Figuren (208). Kritische Stimmen kamen zunächst<br />

lediglich aus dem Exil, so von Egon Hostovský oder Ferdinand Peroutka, später<br />

allerdings auch von Intellektuellen, die auf Distanz zum Regime gingen. Milan<br />

K<strong>und</strong>era beschreibt in seinem Roman Žert (Der Scherz) die Wirkungsweise<br />

stalinistischer Disziplinierung, bei der Fu�íks kanonisierte Reportage eine<br />

zentrale Bedeutung besaß. Am Beispiel Fu�ík, aber auch Schlageters lässt sich<br />

darüber hinaus zeigen, wie bei der Schaffung von Märtyrern religiöse Elemente<br />

<strong>und</strong> Überlieferungen eingesetzt wurden (244). Dabei stehen Phänomene wie<br />

Heldenverehrung an zentraler Stelle in Kontexten einer kollektiven Erinnerung.<br />

Helden bieten Orientierung <strong>und</strong> sind somit Teil einer kontinuierlichen Bildung<br />

<strong>und</strong> Bestätigung von sozialer Identität. Schlageter <strong>und</strong> Fu�ík waren als Erinnerungsorte<br />

Teil der im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Kulturphänomene,<br />

beide dienten der Legitimation aktueller politischer bzw. sozialer Programme<br />

<strong>und</strong> Diskurse.<br />

Es gelingt Stefan Zwicker, die Mechanismen der Stilisierung der „politischideologischen“<br />

Helden schlüssig nachzuweisen: der Held bildet eine Konstante<br />

in der Menschheitsgeschichte, das Muster des christlichen Märtyrers erweist<br />

sich als stilprägend, die Stilisierung des Helden orientiert sich an den Charakteristika<br />

der Unschuld <strong>und</strong> Schönheit, der Verräter besitzt in der Dramaturgie des<br />

Helden eine zentrale Funktion, der seine Standhaftigkeit im Angesicht des Todes<br />

<strong>und</strong> sein Bekenntnis zur heiligen Sache beweist, die schließlich die Voraussetzung<br />

für den einsetzenden Toten- <strong>und</strong> Reliquienkult bilden. Analog zu dieser<br />

durchaus schlüssigen Typologie der Heldengenese erhielten Schlageter <strong>und</strong><br />

Fu�ík ihre historische Bedeutung erst durch die Umstände ihres Todes, durch<br />

den sie zu nationalen Symbol� guren avancieren konnten, die sich propagandistisch<br />

instrumentalisieren ließen. Beide erhielten eine immense Popularität,<br />

wobei diese nicht ausschließlich „Ergebnis einer zentral gesteuerten Propaganda<br />

war, sondern auch schlicht das vorhandene Bedürfnis nach Helden� guren<br />

abdeckte.“ (284) Eine Rezeptionsbereitschaft war also allemal vorhanden, weshalb<br />

Schlageter <strong>und</strong> Fu�ík als Typen nationaler Opferhelden, auch für politischideologisch<br />

heterogene Gruppen als Identi� kations� guren dienen konnten.<br />

Steffen Höhne


Neue Literatur 527<br />

Alice STAŠKOVÁ (Hg.): Friedrich Schiller <strong>und</strong> Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte.<br />

Heidelberg (C. Winter) 2007, 297 Seiten.<br />

Ein Sammelband zu Friedrich Schiller als Europäer bedarf keiner weiteren<br />

Begründung, hat man es doch ungeachtet der Stilisierung zum deutschen Nationaldichter<br />

mit einer europaweiten Rezeption <strong>und</strong> Wirkung dieses Dichters<br />

der Freiheit zu tun, der nicht nur Geschichte <strong>und</strong> Politik in seinen Dramen<br />

thematisiert, sondern auch Analysen der Moderne vorgelegt hat, die bis heute<br />

nichts an Aktualität eingebüßt haben. Der vorliegende Herausgeberband versammelt<br />

zunächst Studien zum politischen Denken im Umfeld der Französischen<br />

Revolution, in der sich eine spezi� sch Schillersche Dialektik der Freiheit<br />

herausbildet. 1<br />

Einen Schwerpunkt des Sammelbandes bildet dann die regionale Perspektive<br />

mit Schiller in Böhmen, die hier gemäß der inhaltlichen Fokussierung der<br />

<strong>brücken</strong> ausführlicher vorgestellt werden soll. In einer topographisch angelegten<br />

materialreichen Studie nähert sich Kurt Krolop der Schiller-Feier in Prag<br />

1859 mit ihrer nachhaltigen Wirkung sowohl bei den tschechischen als auch<br />

den deutschen Gebildeten in Böhmen. 2 Diese Feier, die zwar noch im Zeichen<br />

eines übernationalen Patriotismus stand, ließ die sich in der Folge durchsetzenden<br />

Prozesse kultureller Separation <strong>und</strong> Sezession bereits durchscheinen.<br />

In einer f<strong>und</strong>ierten Studie analysiert die Herausgeberin Alice Stašková das<br />

Schiller-Verständnis bei František Palacký <strong>und</strong> Jan Pato�ka. 3 Palackýs agonale<br />

Konzeption von Geschichte kann überzeugend auf Schiller zurückgeführt werden<br />

so wie auch die Idee einer ästhetischen Erziehung der Nation, Palacký geht<br />

allerdings in seiner Ästhetik über Schiller hinaus: „Man kann also behaupten,<br />

daß Palacký dort Schiller zu Ende gedacht hat, wo Schiller selbst eigentlich an-<br />

� ng, nämlich bei der De� nition der ‚Schönheit als Freiheit der Erscheinung‘,<br />

<strong>und</strong> daß er zu recht diese Bestimmung bei Schiller vermisste, weil sie damals<br />

noch nicht veröffentlicht war.“ (223f.) 4<br />

Der Rolle der Germanistik im Blick auf Schiller widmet sich Lenka Vodrážková-<br />

Pokorná, wobei Schiller offenbar, sieht man einmal von der wissenschaftlichen<br />

Beschäftigung mit der Wallenstein-Figur ab, nicht im Zentrum der germanistischen<br />

Forschung in Prag steht. 5<br />

1 Hierzu die Beiträge von Norbert Oellers: Bürger von Frankreich – Schiller <strong>und</strong> die Französische<br />

Revolution, 13-35; Walter Hinderer: Der schöne Traum der Freiheit – Zu Schillers politischen<br />

Vorstellungen, 37-58; Borchmeyer, Dieter: Friedrich Schiller oder die Chance der Freiheit im<br />

„Notzwang der Begebenheiten“, 59-82; Sobotka, Milan: Schiller <strong>und</strong> die Griechen, 83-97.<br />

2 Krolop, Kurt: Die Schiller-Feier in Prag 1859, 193-206.<br />

3 Stašková, Alice: Geschichte <strong>und</strong> polemos: Schiller, Palacký, Pato�ka, 207-234.<br />

4 Vgl. zu dieser Thematik auch den Beitrag von Büssgen, Antje: Der „Sporn“ des Handelns<br />

– Zur Funktion des Ästhetischen in Schillers <strong>und</strong> Nietzsches Geschichtsdenken, 141-174.<br />

5 Vodrážková-Pokorná, Lenka: Friedrich Schiller <strong>und</strong> die ersten Prager Germanisten nach 1882,<br />

235-263.


528<br />

Neue Literatur<br />

Der vierte Beitrag zu Schiller <strong>und</strong> Böhmen stammt von Ji�í Munzar 6 <strong>und</strong> widmet<br />

sich den Übersetzungen ins Tschechische. Munzar zeichnet dabei die Rezeptionsprozesse<br />

seitens tschechischer Autoren nach, wobei im späten 18. <strong>und</strong><br />

frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vor allem das Pathos der Freiheitsliebe <strong>und</strong> die Selbstbekennung<br />

des Menschen auch in Böhmen Widerhall fanden. In der Folge konstatiert<br />

Munzar allerdings eine Abwertung von Schiller, die ihren Höhepunkt<br />

in der Moderne der 1890er erreicht. Vergleichbare Verschiebungen lassen sich<br />

bei den Übersetzungen erkennen, anfänglich ging es primär um eine Kultivierung<br />

der tschechischen Sprache per Übersetzung klassischer Texte, zumal die<br />

Gebildeten ohnehin Deutsch verstanden <strong>und</strong> Schiller wie auch andere Texte<br />

der deutschen Klassiker gleich im Original lasen.<br />

Ebenfalls in den böhmischen Kontext lässt sich der Beitrag von Alexander<br />

Košenina einordnen, der anhand der kriminalpsychologischen Fallgeschichte<br />

Verbindungen <strong>zwischen</strong> Weimarer Klassik <strong>und</strong> böhmischen Autoren ausleuchtet.<br />

7<br />

Der vorliegende Band versammelt somit eine Reihe äußerst anregender Studien,<br />

8 in denen der böhmische respektive europäische Kontext Schillers ein um<br />

das andere Mal überzeugend herausgearbeitet werden kann.<br />

Steffen Höhne<br />

Günter HARTUNG: Juden <strong>und</strong> deutsche Literatur. Zwölf Untersuc<strong>hungen</strong> seit<br />

1979, mit einer neu hinzugefügten „Jüdische Themen bei Kafka“. Leipzig<br />

(Universitätsverlag) 2006, 494 Seiten.<br />

Das vorliegende Buch stellt den 4. Band der Gesammelten Aufsätze <strong>und</strong> Vorträge<br />

des Hallenser Germanisten Günter Hartung dar. Es bringt genremäßig<br />

verschiedene Beiträge (Festvortrag, erweiterte Rezension, Dichter-Porträt<br />

usw.) zum Titelthema vom späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert bis etwa zur Mitte des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Im Festvortrag Moses Mendelssohn (1979) zeichnet der Verfasser ein historisch<br />

wie menschlich überzeugendes Porträt des ersten namhaften deutschjüdischen<br />

Intellektuellen vor dem Hintergr<strong>und</strong> der jüdischen Emanzipation,<br />

die sich in einem komplizierten, vom Verfasser mit minuziöser Sachkenntnis<br />

6 Munzar, Ji�í: Zu den Übersetzungen der Werke Schillers ins Tschechische, insbesondere zu<br />

Ludvík K<strong>und</strong>eras Übertragung von Don Carlos, 265-273.<br />

7 Košenina, Alexander: Schiller <strong>und</strong> die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte<br />

bei Goethe, Meißner, Moritz <strong>und</strong> Spieß, 119-139.<br />

8 Erwähnt seien ferner Fiala-Fürst, Ingeborg: Schiller: Die Sendung Moses, 99-117; Schenk,<br />

Klaus: Vom Unbewußten des Dichtens. Kreativitätsdiskurse nach Schiller, 175-192; Glanc,<br />

Tomáš: Der russische Nationaldichter Schiller – Problematisierung der kulturellen Wechselseitigkeit<br />

<strong>und</strong> des Konzepts der Nationalliteratur, 275-283.


Neue Literatur 529<br />

nachgezeichneten Spannungsfeld von aufklärerischen wie gegenaufklärerischen<br />

Tendenzen der Zeit, gegen christliche wie jüdische Orthodoxie, durchsetzen<br />

musste. – Die daran thematisch anschließende kritische Rezension von<br />

Heinz Knoblochs Mendelssohn-Buch (1981; samt abgedruckten polemischen<br />

Leserzuschriften, 36ff.) bemängelt die Absenz eines f<strong>und</strong>ierten Hintergr<strong>und</strong>es<br />

„der europäischen <strong>und</strong> deutschen, speziell der Berliner Aufklärung“ (30) <strong>und</strong><br />

plädiert für einen echt historischen � nicht seicht aktualisierenden � Umgang<br />

mit dem jüdischen Thema.<br />

Dieses Anliegen des Verfassers (oder aber sein zentraler literarhistorischer<br />

Gr<strong>und</strong>satz) kommt beispielhaft in seinen Studien über Goethes (1994; im<br />

Goethe-Handbuch 1998) bzw. Wilhelm Müllers (1994) Verhältnis zum Judentum<br />

zum Tragen: In beiden wird das Thema nicht nur an dem behandelten Autor,<br />

sondern komparativ im Zusammenhang mit den einschlägigen Ansichten<br />

maßgeblicher zeitgenössischer Literaten sowie der ganzen Gesellschaft erörtert;<br />

dieser ‚Zeitgeist‘ wird freilich nicht etwa als mildernder Umstand für individuelle<br />

Irrtümer geltend gemacht, sondern vielmehr als nicht zu leugnende<br />

historische Kondition jedes individuellen Bewusstseins berücksichtigt – eine<br />

Perspektive, die den Literarhistoriker zu behutsamen, differenzierten Wertungen<br />

befähigt <strong>und</strong> ihn vor der Gefahr schützt, bei jeder Gelegenheit leichtfertig<br />

� ahistorisch � ,Antijudaismus‘-Vorwürfe (112) zu erheben. In den Notizen<br />

zur Judendarstellung in der deutschen Literatur (1989; Besprechung dreier<br />

Sammelbände zum Thema) wird, v.a. an Büchners Woyzeck, gezeigt, daß<br />

Versuche, frühere Darstellungen jüdischer Eigenart oder Sprache durch das<br />

Prisma des späteren Holocaust zu deuten, zu Fehlschlüssen über den angeblichen<br />

„Antisemitismus“ (141) der Autoren führen können. Dieses Problem<br />

wird auch in der sonst dramentechnisch orientierten Studie Die Technik der<br />

,Woyzeck‘-Fragmente (1988) gestreift.<br />

In Heinrich Heine <strong>und</strong> die Bibel (1993) wird die lebenslange Gratwanderung<br />

Heines <strong>zwischen</strong> Kulturen, Völkern <strong>und</strong> Religionen materialreich <strong>und</strong> präzise,<br />

ohne Vereinfac<strong>hungen</strong> zusammengefasst. Der Aufsatz Eine literarische Kritik<br />

des frühen Zionismus (1981) setzt sich mit Karl Kraus’ satirischer Schrift<br />

Eine Krone für Zion (1898) auseinander, geht allerdings weit über den Anlass<br />

hinaus <strong>und</strong> liefert nebenbei eine kurzgefasste Geschichte der damaligen Judenverfolgung<br />

sowie der zionistischen Reaktion darauf. Der Verfasser deutet<br />

zwar an, daß die Kraussche Auffassung der Judenfrage in einigen Punkten reduktionistisch<br />

war, doch im Schlussabsatz (200) p� ichtet er Kraus’ Meinung,<br />

der Zionismus sei gegen den Antisemitismus wirkungslos, im Prinzip bei.<br />

Den proportional größten Raum nehmen zwei Studien über Franz Kafka<br />

ein (Die Stadt Prag in Kafkas Dichtung, 1989; Jüdische Themen bei Kafka,<br />

2004/05), wobei die letztere offensichtlich, nicht nur dem Umfang nach (223-<br />

422), als das Kernstück des Bandes gedacht war. In den einleitenden „Über-


530<br />

Neue Literatur<br />

legungen zur Methode“ bekennt sich der Verfasser zu drei seiner Vorgänger<br />

auf dem Gebiet der Kafka-Forschung: Pavel Trost, Kurt Krolop <strong>und</strong> Walter<br />

Benjamin, deren Zugangsweisen er kurz resümiert. In seiner Darstellung der<br />

jüdischen Problematik will er „streng historisch“ (259) vorgehen – was einerseits<br />

seine zwar nicht ausdrücklich erörterte, doch spürbare Distanz gegenüber<br />

theologischen, psychoanalytischen, existentialistischen u.ä. Deutungen<br />

k<strong>und</strong>gibt, andererseits die in allen anderen Studien praktizierte Absicht, den<br />

erwähnten ‚Aktualisierungen‘ entgegenzuarbeiten, erhärtet: Der Verfasser<br />

„will [...] nicht, daß heutiger Zustand <strong>und</strong> heutige Sichtweise unre� ektiert in<br />

die Geschichte hineinprojiziert werden, so als hätte sie sich notwendig <strong>und</strong> unvermeidbar<br />

darauf [auf den Holocaust, J.S.] zubewegt <strong>und</strong> als wäre ihr Gang<br />

damals voraussehbar gewesen“ (259). Im zweiten Teil der Studie wird wieder<br />

eine kleine Geschichte des Judentums in Böhmen vor <strong>und</strong> in Kafkas Zeit gegeben<br />

<strong>und</strong> die (bekannte) komplizierte Entwicklung von Kafkas Verhältnis<br />

zum Judentum sorgfältig nachgezeichnet <strong>und</strong> reichlich mit Zitaten belegt. Im<br />

Vergleich mit anderen Darstellungen wird hier Kafkas Vertrautheit mit den<br />

jüdischen Schriften (Kabbala usw.) als eher ober� ächlich eingeschätzt (311f.);<br />

in diesen Passagen wäre allerdings wenigstens ein Hinweis auf gegenteilige<br />

Ansichten (Karl Erich Grözinger, Ritchie Robertson u.a.) wünschenswert. Im<br />

dritten Teil folgen Interpretationen von solchen Texten Kafkas, die „erkennbar<br />

jüdische Themen behandeln“ (324). Hier sind keine umwälzenden Neuheiten<br />

zu erwarten, doch es gelingt dem Verfasser in mehreren Fällen neue, bedenkens-<br />

oder diskussionswerte Akzente zu setzen. Überraschend ist z.B., dass<br />

Ein Bericht für eine Akademie aus den ‚jüdischen‘ Texten ausgeschieden ist;<br />

� auch wenn man ihn nicht als eine „zionistische Satire“ (250) im Sinne Brods<br />

liest, ist die Assimilationsproblematik darin kaum nur auf die Assimilation<br />

an das Durchschnittsbürgertum zu beschränken. Das ist ein allgemeines (<strong>und</strong><br />

altes) Problem im Umgang mit Kafkas Texten: Infolge ihrer Vieldeutigkeit<br />

verweigern sie sich der Zuordnung zu einem einzigen werkexternen System.<br />

In Beim Bau der chinesischen Mauer (332ff.) mag sich die für Kafka überaus<br />

wichtige (auf 334ff. sehr gut ausgearbeitete) Problematik des jüdischen<br />

„Volkes“ niedergeschlagen haben, doch es ist problematisch, die im Text stets<br />

betonte anonyme, leerlaufende Machtstruktur des Reiches („... daß wir im<br />

Gr<strong>und</strong>e gar keinen Kaiser haben“) völlig außer Acht zu lassen. Ähnlich im<br />

Falle der Jose� ne (409ff.): Die ‚jüdischen‘ Bezüge liegen auf der Hand; doch<br />

darf man sich darüber hinwegsetzen, dass hier (wie im Hungerkünstler u.a.)<br />

auch das (moderne) Künstlertum an sich („dieses Nichts an Stimme, dieses<br />

Nichts an Leistung behauptet sich <strong>und</strong> schafft sich den Weg zu uns“), ohne<br />

jeglichen nationalen, sozialen oder ethnischen Bezug, in Frage gestellt wird?<br />

– Zu Einzelheiten: Wenig überzeugend (weil zu eindeutig) sind Konkretionen<br />

vom Typ: das „Buch“ in der Chinesischen Mauer = Herzls Der Judenstaat


Neue Literatur 531<br />

(343); glaubwürdiger (<strong>und</strong> m. W. neu) erscheint die Deutung des „sechsten<br />

Mannes“ im Fragment Gemeinschaft (im „Konvolut 1920“) als „die jüdische<br />

Minderheit“ (386) in der �SR.<br />

Im Aufsatz Der Lyriker Alfred Wolfenstein (1992) wird ein komplexes Porträt<br />

des Autors als Mensch, Dichter <strong>und</strong> Jude gezeichnet; das Hauptaugenmerk<br />

richtet sich v.a. auf seine bewegten Schicksale im Exil (1933-38 in der �SR,<br />

dann in Frankreich) sowie auf seine Ansichten über das Judentum.<br />

Die letzten zwei Aufsätze sind hauptsächlich Walter Benjamin gewidmet. In<br />

„...berührt den Gr<strong>und</strong> des deutschen Volkstums so gut wie des jüdischen“.<br />

Über Juden <strong>und</strong> „Des Knaben W<strong>und</strong>erhorn“ (1991) geht der Verfasser von<br />

Benjamins Kafka-Essay von 1934 aus, konkret von dem dort zitierten Lied<br />

„Das bucklicht Männlein“, das im weiteren in seiner W<strong>und</strong>erhorn-Fassung<br />

(Brentano) analysiert, mit anderen Fassungen verglichen <strong>und</strong> genealogisch mit<br />

der (Ur?)-Fassung in der Haggada-Überlieferung in Verbindung gesetzt wird.<br />

Der letzte Aufsatz, Jakob Taubes <strong>und</strong> Walter Benjamin (2001), geht davon aus,<br />

daß der Schweizer (internationale) Theologe <strong>und</strong> Philosoph einerseits „Benjaminschen<br />

Positionen oft erstaunlich nahe kam“ (462), andererseits Benjamins<br />

Werk nur selektiv rezipierte <strong>und</strong> in mancher Hinsicht zu eigenwillig interpretierte;<br />

dies letztere wird u.a. an Taubes’ einseitig „religionsgeschichtlicher“<br />

(470) Lesart von Benjamins Messias-Fragment (GS II/1, 203f) ausgeführt.<br />

Der vorliegende Sammelband bietet sämtlich wertvolle, auf Detailkenntnis<br />

wie allseitiger Erudition fußende Beiträge zum Titelthema. Besonders hoch<br />

zu schätzen sind viele Querverbindungen, die der Verfasser <strong>zwischen</strong> anscheinend<br />

entfernten Tatsachen <strong>und</strong> Problemen herzustellen weiß.<br />

Ji�í Stromšík<br />

Hartmut BINDER: Kafkas ‚Verwandlung‘. Entstehung, Deutung, Wirkung.<br />

Frankfurt am Main – Basel (Stroemfeld) 2004, 589 Seiten.<br />

Der enge Zusammenhang <strong>zwischen</strong> Leben, Werk <strong>und</strong> künstlerischem Schaffen<br />

Kafkas läßt die Nachforsc<strong>hungen</strong> darüber nicht abreißen. Zu den Forschern,<br />

die die literaturwissenschaftliche Debatte über Kafka um detaillierte biographische<br />

Hintergründe <strong>und</strong> überprüfbare Fakten bereichert haben, zählt vor allem<br />

Hartmut Binder. Als Herausgeber des zweibändigen Kafka-Handbuches<br />

<strong>und</strong> zahlreicher anderer Veröffentlic<strong>hungen</strong> über Kafka suchte Binder seine<br />

Methodik nachhaltig zu etablieren. Auch der unlängst beim Stroemfeld Verlag<br />

erschienene Band mit dem Titel Kafkas ‚Verwandlung‘ bleibt dieser biographischen<br />

Lesart verp� ichtet. Auf annähernd 600 Seiten werden Aspekte der Entstehung,<br />

der Druckgeschichte, Probleme der Gestaltung <strong>und</strong> ihrer Deutung sowie<br />

das Spektrum der Wirkung von Kafkas Erzählung aufgearbeitet. Kulturell-


532<br />

Neue Literatur<br />

biographische Details überschneiden sich mit Rekonstruktionen der Werk- <strong>und</strong><br />

Veröffentlichungsgeschichte. Vor allem aber die Spannbreite von Interpretationsversuchen<br />

zur Verwandlung wird einer kritischen Lektüre unterzogen. Unter dem<br />

Titel Methodik weist Binder darauf hin, „daß das Ansehen der philologischen Methode,<br />

gerade im Bereich der Kafka-Forschung durch das dilettantische Vorgehen<br />

zahlreicher Interpreten Schaden gelitten“ (438) habe. Eine Kritik von Deutungen,<br />

die in den Wucherungen der Kafka-Forschung sicherlich heilsam <strong>und</strong> angebracht<br />

ist, folgt einer Bewegung des Abbaus, die auch Kafkas Texten eingeschrieben ist.<br />

Hätte Binder dekonstruktivistische Zugänge nicht freiweg verworfen, wäre man<br />

versucht, dahinter ein vergleichbares Moment zu vermuten. Binders Revision der<br />

philologisch-biographischen Methodik mit ihren eigenen Mitteln trägt Anzeichen<br />

einer Spätepoche der Kafka-Forschung. Die Anhäufung von Fakten jedoch droht<br />

diese Abbaubewegung zu verdecken.<br />

Was Binders Arbeit über Kafkas Verwandlung auszeichnet, ist ihre Abkehr von<br />

Vereinfac<strong>hungen</strong> der Werkgenese. Indem Binder auf die im Stroemfeld erschienene<br />

Faksimile-Ausgabe zurückgreift, kann er im Textraum der Schreibweise<br />

die Deutungspotenz offenhalten. Anders als in der herkömmlichen, zumeist an<br />

den Klassikern orientierten werkgenetischen Forschung wird die Erzählung Kafkas<br />

materialiter lesbar gemacht im Raum ihrer Schrift. An zahlreichen Stellen<br />

kann die Einblendung von Manuskriptseiten daher graphische Spuren verfolgen,<br />

die im werkgenetischen Apparat auf eine Abfolge von Varianten festgelegt werden<br />

müßten. Das Projekt der im Stroemfeld Verlag von Roland Reuß <strong>und</strong> Peter<br />

Staengele betreuten <strong>und</strong> auch von Hartmut Binder unterstützten Faksimile-Ausgabe<br />

der Werke Kafkas bildet so das Kernstück des Buches. Wie sich auch an den<br />

faksimilierten Texten anderer Autoren (z.B. Hölderlin oder Celan) zeigte, öffnet<br />

der Schriftraum eine Textqualität, die weder werkgenetisch noch biographisch<br />

stillgestellt werden kann. Weniger die methodische Eingrenzung von Binders Versuch,<br />

sondern vielmehr seine Öffnung auf den graphischen Raum einer Schreibweise<br />

hin, bildet so das innovative Potential des umfangreichen Buches. Leider<br />

lässt der Band im Register neben Angaben zu Abbildungen, Werken <strong>und</strong> Personen<br />

ein Verzeichnis der in den Fußnoten zitierten Forschungsliteratur vermissen.<br />

Klaus Schenk<br />

Renata CORNEJO/Ekkehard W. HARING (Hgg.): Wende – Bruch – Kontinuum.<br />

Die moderne österreichische Literatur <strong>und</strong> ihre Paradigmen des Wandels.<br />

Wien (Praesens) 2006, 504 Seiten + 1 Abb.<br />

Mit einer fulminanten Polemik widmet sich Sigrid Löf� er ökonomisch motivierten,<br />

d.h. „gemachten“ literarischen Trends, die einerseits ungesteuert<br />

verlaufen, andererseits von den Buchmarktstrategen bewusst inszeniert wer-


Neue Literatur 533<br />

den. Dabei erscheint ein Trend-Management durchaus notwendig angesichts<br />

einer Überproduktionskrise von 80.000 jährlichen Neuerscheinungen auf<br />

dem deutschsprachigen Buchmarkt, verb<strong>und</strong>en mit Marktbeschleunigung,<br />

Verdrängungswettbewerben sowie sich verkürzender Lebensdauer von Neuerscheinungen,<br />

die bei bestenfalls drei bis vier Monaten liegt. Denn danach<br />

beginnt schon die Verramschung im modernen Antiquariat. Begleitet werden<br />

diese Entwicklungen von Tendenzen der Homogenisierung <strong>und</strong> Konformisierung<br />

der Verlagsprogramme, eine Uniformität der Vielfalt 1 als Ergebnis<br />

von Konzentrationsprozessen im Verlagswesen. Dies wiederum führt zu einer<br />

vermehrten Produktion von Mainstream-Büchern, die in der Sprache der<br />

Marketing-Strategen als Content � gurieren, während aus den Schriftstellern<br />

konsequenterweise Content-Provider werden, mit denen sich dann beispielsweise<br />

eine „Generation Berlin“ konstruieren lässt (256). Löf� er verbindet ihre<br />

Kritik am Markt mit der Kritik an der jungen deutschsprachigen Literatur, die<br />

in der Phase der Adoleszenz verharre <strong>und</strong> sich weigere, erwachsen zu werden,<br />

die lediglich Milieugeschichten aus dem Soziotop Berufsjugendlicher zu<br />

liefern wisse. Damit einhergehend wird die Entkanonisierung der repräsentativen<br />

DDR-Autoren beklagt (265), allerdings müsste dies doch differenziert<br />

werden, zumindest erscheint es problematisch, Literatur- <strong>und</strong> Parteipolitiker<br />

wie Hermann Kant neben seriöse Autorinnen wie Christa Wolf zu stellen.<br />

Thema des vorliegenden Konferenzbandes, hervorgegangen aus einer Konferenz<br />

in Ústí nad Labem, ist aber weniger der Literaturmarkt, als vielmehr der<br />

ambivalente Charakter von Wende-Ereignissen, -Zeiten, -Moden, -Prozessen<br />

<strong>und</strong> deren Re� exion in der Literatur, leitmotivisch von Wendelin Schmidt-<br />

Dengler mit dem Topos der Schubumkehr eingeführt, zugleich Titel eines Romans<br />

von Robert Menasse. 2<br />

In vier Sektionen nähern die Beiträger sich Wendephänomenen. Zunächst geht<br />

es um politische Zeitenwenden. Zden�k Mare�ek besticht mit einer klugen<br />

Analyse zu Karl Hans Strobl, Robert Hohlbaum <strong>und</strong> Viktor Dyk aus der Zeit<br />

des Grenzlandkampfes <strong>und</strong> den in dieser Zeit konstruierten Stereotypen <strong>und</strong><br />

Einstellungen, die teilweise bis heute fortwirken. 3 Alice Stašková überprüft<br />

Phänomene des Bruchs, der Wende <strong>und</strong> der Kontinuitätsre� exion am Beispiel<br />

von Hermann Brochs Schlafwandler. 4 Jaroslav Kova� befasst sich mit der<br />

1 Löf� er, Sigrid: Buchmarkt <strong>und</strong> literarische Moden im deutschsprachigen Raum. Wie in der<br />

heutigen Literatur Wandel erzeugt wird, 251-269, 253.<br />

2 Schmidt-Dengler, Wendelin: „Schubumkehr?“, 17-23.<br />

3 Mare�ek, Zden�k: �ehona, Christian, Hermann. Die Folgen des Umsturzes 1918 <strong>und</strong> des<br />

Zerfalls der Monarchie als Thema einiger tschechischer <strong>und</strong> österreichischer Romane der<br />

zwanziger Jahre, 37-53.<br />

4 Stašková, Alice: Die Wende im Epilog der Schlafwandler-Trilogie von Hermann Broch, 55-<br />

69.


534<br />

Neue Literatur<br />

Rezeption von Hans Leberts Wolfshaut, 5 Dana Pfeiferová nähert sich Libuše<br />

Moníková im österreichischen Kontext, womit auf den Roman Treibeis als einer<br />

kulturkritischen Überprüfung Mitteleuropas verwiesen wird. 6 Eingebettet<br />

wird diese Analyse in die Vorgänge um Moníkovás Stadtschreiberzeit 1988 in<br />

Graz <strong>und</strong> der dort formulierten nationalradikalen Kritik an der Autorin.<br />

Wende <strong>und</strong> biographisches Schreiben ist Thema der zweiten Sektion, einführend<br />

<strong>und</strong> exemplarisch von Joachim W. Storck am Beispiel Rilke herausgearbeitet,<br />

der den Ausbruch der deutschen Revolution im November 1918 als<br />

ersehnte gesellschaftliche Wende empfand, auf deren Ausbleiben er mit dem<br />

Rückzug ins Exil reagierte. 7 Einen eher biographisch-faktographischen Abriss<br />

zu Max Brods Reaktionen auf Wendeerfahrungen liefert Ji�í Munzar. 8<br />

Die dritte Sektion (Ein-Bruch Krieg: Ende oder Anfang) thematisiert die Erfahrung<br />

<strong>und</strong> Auseinandersetzung mit dem 1. Weltkrieg bzw. mit dem Jahr<br />

1918 <strong>und</strong> dem Untergang Kakaniens. Ausgehend von Egon Friedells Theorem<br />

vom Ende der Neuzeit, verursacht durch den 1. Weltkrieg, ergeben sich für die<br />

Kulturgeschichtsschreibung der Zeit sowohl ästhetische als auch historische<br />

Ansprüche, mit denen sich die Nähe von Literatur <strong>und</strong> Geschichte begründen<br />

lässt. Am Beispiel von Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit, von Hans Sassmanns<br />

Umdeutung des friedellschen Geschichtskonzeptes <strong>und</strong> der Kulturgeschichte<br />

von Friedrich Heer, der sich der Vergangenheit per Portrait nähert,<br />

entwickelt Milan Hor�á�ek eine vergleichende Analyse dreier populärer Kulturgeschichten.<br />

9 Zentrale Frage ist die nach Kontinuität <strong>und</strong> Diskontinuität<br />

bzw. Notwendigkeit <strong>und</strong> Zufälligkeit des historischen Vorgangs: bei Friedell<br />

das Konzept der Sieger, bei Sassmann die Kontinuität des österreichischen<br />

‚barocken Typus‘, bei Heer die Deutung von 1914 aus den Verfallstendenzen<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Hier wird eine gute Analyse vorgelegt, bei der man<br />

lediglich ein abschließendes Fazit vermisst. In dem Beitrag des Mitherausgebers<br />

Ekkehard Haring erfolgt eine kritische Überprüfung der von Johannes<br />

Urzidil u.a. überlieferten These einer gr<strong>und</strong>sätzlichen pazi� stischen Einstellung<br />

der Prager deutschen Autoren schon zu Beginn des 1. Weltkrieges, als die<br />

‚Kriegsliteratur‘ längst Konjunktur hatte. Natürlich gab es Autoren wie Franz<br />

Kafka, die sich von vornherein jeglicher Kriegsverherrlichung verweigerten,<br />

doch andere stellten sich durchaus in den zeitgeistigen Dienst des Vaterlandes.<br />

Allerdings folgte in der Regel ein schneller Wechsel von Akzeptanz zur Skep-<br />

5 Ková�, Jaroslav: Hans Leberts Roman Die Wolfshaut nach 45 Jahren, 83-94.<br />

6 Pfeiferová, Dana: „Österreich nehmen wir auch“: Libuše Moníkovás Treibeis im Lichte der<br />

literarischen ‚Annexion Europas an Böhmen‘, 95-120.<br />

7 Storck, Joachim W.: Rilkes Wendung <strong>und</strong> die Anfänge des literarischen Expressionismus um<br />

1910, 167-181, 178. Siehe hierzu vor allem Rilkes Briefwechsel mit einer jungen Frau.<br />

8 Munzar, Ji�í: Zur Entwicklung Max Brod: Brüche oder ein Kontinuum?, 183-193.<br />

9 Hor�á�ek, Milan: Das Jahr 1914 aus der Sicht der Kulturgeschichte. Egon Friedell, Hans<br />

Sassmann <strong>und</strong> Friedrich Heer über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 273-291.


Neue Literatur 535<br />

sis wie bei Max Brod, Franz Werfel oder Franz Janowitz nachgewiesen werden<br />

kann. 10 Die letzte Sektion befasst sich mit Diskontinuitäten im Diskurs, wobei<br />

es – so bei Karin Wozonig – um die Frage nach der Darstellbarkeit von Geschichte<br />

bzw. deren Wenden aus einer chaostheoretischen Perspektive geht. 11<br />

Insgesamt erhält man mit dem vorliegenden Tagungsband ein breit gefächertes<br />

Spektrum, in welchem sich das Rahmenthema in seiner ganzen Vielfalt<br />

entwickeln kann. Es ist schön zu sehen, dass auch in den neu gegründeten<br />

Germanistischen Instituten der Tschechischen Republik zunehmend wichtige<br />

Akzente in der Forschung gesetzt werden.<br />

Steffen Höhne<br />

Ludvík KUNDERA: el do Ra Da (da). Gedichte, Erzählungen, Erinnerungen,<br />

Bilder. Herausgegeben <strong>und</strong> aus dem Tschechischen übertragen von Eduard<br />

Schreiber. Mit einem Essay von Radonitzer (= Bibliothek der Böhmischen<br />

Länder, 6). Wuppertal (Arco) 2007, 416 Seiten.<br />

Ludvík K<strong>und</strong>era ist in Deutschland als Übersetzer bekannt; 28 deutsche Autoren<br />

übertrug er ins Tschechische, darunter Gryphius, Goethe, Schiller <strong>und</strong> Heine,<br />

Rilke, Brecht, Benn <strong>und</strong> Huchel. Und als Fre<strong>und</strong> deutscher Poeten kennt<br />

man ihn: mit Huchel, Arendt, Fühmann <strong>und</strong> Kunze war <strong>und</strong> ist er befre<strong>und</strong>et.<br />

Er ist die zentrale Gestalt im poetischen Grenzverkehr <strong>zwischen</strong> Deutschland<br />

<strong>und</strong> Tschechien der letzten Jahrzehnte, <strong>und</strong> dieses Zentrum liegt ein wenig<br />

abseits: in Kunštat in der Nähe von Brünn/Brno. Doch Provinz bedeutet nicht<br />

provinziell.<br />

Nicht nur die Zeitläufte haben Ludvík K<strong>und</strong>era durch Mitteleuropa getrieben,<br />

die poetische Szene in Prag <strong>und</strong> in Brünn, der er angehörte <strong>und</strong> angehört, war<br />

immer verb<strong>und</strong>en mit den europäischen Entwicklungen, denen in Frankreich<br />

– Surrealismus, denen in Deutschland – Dadaismus, denen in Italien – Futurismus.<br />

Ich nenne diese drei, weil von diesen dreien am ehesten Zugang zu<br />

� nden ist zu dem, was in Böhmen <strong>und</strong> Mähren der Poetismus nach dem Ende<br />

des Ersten Weltkrieges schuf; eine Richtung, die auch den jungen Ludvík<br />

K<strong>und</strong>era beein� usste. Ludvík K<strong>und</strong>era, Vetter des französischen Romanciers<br />

Milan K<strong>und</strong>era, schuf ein umfangreiches literarisches Werk, das nicht nur in<br />

Deutschland unbekannt blieb, sondern auch in Tschechien, denn erst nach<br />

1990 konnte es in einem Verlag erscheinen. Dass wir K<strong>und</strong>era nun als Poeten<br />

nicht nur in kleinen bibliophilen Ausgaben, sondern in einem Sammelband,<br />

der einen Überblick über sein Gesamtwerk gibt, in Deutschland kennen lernen<br />

10 Haring, Ekkehard W.: Epiphanien des Kriegsgottes. Die Prager deutsche Dichtung <strong>und</strong> der 1.<br />

Weltkrieg, 309-331.<br />

11 Wozonig, Karin S.: Bifurkation. Zustandsänderungen aus der Sicht der chaostheoretischen<br />

Literaturwissenschaft, 385-397.


536<br />

Neue Literatur<br />

können, verdanken wir Eduard Schreiber. Er ist – erinnert sei an dieses schöne<br />

Gedicht Brechts von der Entstehung des Buches Taoteking – er ist der Zöllner,<br />

der es ihm abverlangt. Und deshalb sei er zunächst bedankt.<br />

Eduard Schreiber, Filmemacher (etwa 40 Dokumentar� lme) <strong>und</strong> Übersetzer aus<br />

dem Tschechischen seit Jahren, hat bereits zusammen mit K<strong>und</strong>era zwei Bände<br />

Poesie in der Tschechischen Bibliothek der Robert Bosch Stiftung herausgegeben:<br />

den Band ‚Süß ist es zu leben‘. Tschechische Dichtung von den Anfängen<br />

bis 1920 <strong>und</strong> den Band ‚Adieu Musen‘. Anthologie des Poetismus. Es sind zwei<br />

Werke, die Schreiber in vielen Sitzungen in Kunštat mit Ludvik K<strong>und</strong>era zusammenstellte<br />

<strong>und</strong> die zugleich das Gemeinschaftswerk von mehreren deutschen<br />

Übersetzern sind, die sich zu diesen gr<strong>und</strong>legenden Anthologien zusammenfanden.<br />

Der Poetismus-Band bietet sicherlich einen Schlüssel, um Ludvík K<strong>und</strong>eras Poesie<br />

zu verstehen. Der Zugang wird dem deutschen Leser, der durch Expressionismus,<br />

neue Sachlichkeit, Naturlyrik, politische Lyrik geprägt sein mag, sonst<br />

erschwert. Die <strong>Tschechen</strong> haben einen anderen Ton: einen freieren, lustigeren,<br />

auch melancholischen, aber immer artistischen, ja mitunter clownesken. Nicht<br />

ohne Gr<strong>und</strong> sahen die tschechischen Künstler immer mehr nach Paris als nach<br />

Berlin. Karel Teige forderte vom Poetismus als der „Kunst zu leben <strong>und</strong> zu genießen“,<br />

sie solle „letztlich so selbstverständlich, entzückend <strong>und</strong> zugänglich sein<br />

wie Sport, Liebe, Wein <strong>und</strong> alle Delikatessen“.<br />

Diese Heiterkeit der Kunst <strong>und</strong> des Lebens wurde den <strong>Tschechen</strong> durch die<br />

deutschen <strong>und</strong> österreichischen Nationalsozialisten ausgetrieben, die sudetendeutschen<br />

nicht zu vergessen. Ludvík K<strong>und</strong>eras Vater, ein hoher tschechischer<br />

Of� zier, überlebte die Schande der deutschen Besatzung nicht. Er starb drei Tage,<br />

bevor sein Sohn zur Zwangsarbeit nach Berlin-Spandau transportiert wurde. Darüber<br />

schrieb Ludvík K<strong>und</strong>era einen seiner bewegendsten Texte Berlin, der keine<br />

Reportage, kein Bericht ist, sondern eine verdichteter Text aus Traum <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />

gemischt <strong>und</strong> der zeigt, dass all das, was da geschehen ist, in der landläu-<br />

� gen Umgangssprache nicht zu fassen ist. Hier ist die an anderen Gegenständen<br />

geschulte poetische Sprache die Voraussetzung für die Gestaltung dessen, was<br />

damals mit diesem Menschen – <strong>und</strong> mit vielen anderen – geschah.<br />

Der Band beginnt nach einem Prolog, der auch tschechisch abgedruckt ist wie einige<br />

Gedichte auch, mit diesem Text Berlin. Fünf weitere Prosa- Texte schließen<br />

an, lyrische Prosa könnte man sagen, die immer verschiedene Ebenen ineinander<br />

schiebt, von zufälligen <strong>und</strong> gewollten Konstellationen bestimmt. Es folgt dann<br />

der umfangreichste Teil des Bandes Dichtung, eine Auswahl der Lyrik K<strong>und</strong>eras<br />

in chronologischer Reihenfolge, beginnend mit frühen Texten von 1938 bis 1945<br />

<strong>und</strong> endend mit späten von 1995 bis 2005. Der dritte <strong>und</strong> letzte Teil bringt wieder<br />

Prosa, wiederum lyrische Prosa, denn auch diese Erinnerungen sind poetisch<br />

verdichtete Texte, Erinnerungen an die Fre<strong>und</strong>e Arendt, Fühmann, Huchel,


Neue Literatur 537<br />

Skácel, an die Eltern <strong>und</strong> den seinerzeit berühmten Onkel, den Musiker Ludvík<br />

K<strong>und</strong>era, Vater des Romanciers. Und an den František Halas, durch den er nach<br />

Kunštat kam.<br />

Hier erhält der deutsche Leser Einblick in den poetischen Kosmos, dessen Mitte<br />

in Kunštat liegt. Eine vielfältige Welt, mit Ironie <strong>und</strong> Melancholie ausgebreitet,<br />

denn die Zeit nach 1948 war wiederum eine schwierige, in der die Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />

K<strong>und</strong>era selbst immer Probleme hatten mit der Härte des parteiamtlich verordneten<br />

Realismus. So ist denn auch diese Zeit wiederum, wie Radonitzer in seinem<br />

klugen Nachwort schreibt, von drei Literaturen bestimmt: der of� ziellen,<br />

der heimlichen <strong>und</strong> der exilierten, ein tschechisches Schicksal, das dreimal sich<br />

wiederholte: 1938, 1948, 1968.<br />

Was aber hat es mit dem Titel auf sich „el do Ra Da(da)“? Dada erkennt man<br />

mühelos, das ist eine Reverenz an Dada; Jean Arp traf K<strong>und</strong>era 1947 in Paris,<br />

Tristan Tzara las er immer wieder, ein wegweisender Autor für ihn. Und Eldorado<br />

ist natürlich auch zu erkennen. Es bleibt noch Ra. So nannte sich die Gruppe,<br />

„Gruppe Ra“, eine lose Verbindung von Malern <strong>und</strong> Schriftstellern, die sich nach<br />

dem Krieg für kurze Zeit zusammenfand; Vorbild mag die Gruppe des Poetismus<br />

<strong>und</strong> des Surrealismus gewesen sein, aber auch jene „Gruppe 42“, die 1942<br />

Schriftsteller <strong>und</strong> Maler bildeten, in der � nstersten Zeit ein Zeichen der Selbstbehauptung:<br />

Ji�í Kolá�, Jan Kotík, František Gross gehörten ihr an. Dieses Zusammenspiel<br />

von Bildender Kunst <strong>und</strong> Literatur ist wiederum bezeichnend für die<br />

tschechische Entwicklung. Auch K<strong>und</strong>era schafft Gra� ken <strong>und</strong> Collagen, auch er<br />

ist Maler <strong>und</strong> Poet dazu. Dem Band sind einige Bilder beigegeben.<br />

Die Gedichte hätten eine genauere Untersuchung verdient. Ich kann hier nur darauf<br />

hinweisen, auf die Verschränkung von äußerer <strong>und</strong> innerer Wirklichkeit, die<br />

sich in ihnen vollzieht – wie in der Prosa auch – <strong>und</strong> die auch ein Ineinander<br />

<strong>und</strong> Nebeneinander von Bildern <strong>und</strong> Gedanken ergibt. Da sind etwa Die Fälle,<br />

natürlich die tschechischen, die mehr sind als die deutschen: Nominativ, Genitiv,<br />

Dativ, Akkusativ, Vokativ, Lokativ, Instrumental. Doch die Gegenstände der Gedichte<br />

sind höchst unterschiedlich, es wird nicht ein Gegenstand durchdekliniert.<br />

Und die Gedichte über den Garten <strong>und</strong> die Hütte oben am Hang in Kunštat, in der<br />

die Familie den Sommer zubringt, ergreifen: die Obsternte, das fröhlichen Treffen<br />

mit Fre<strong>und</strong>en auch in � nsteren Zeiten, der Rotwein <strong>und</strong> der Tee, der Abschied<br />

von den Fre<strong>und</strong>en, der Herbst <strong>und</strong> der Schnee. Dies gelebte Leben auch nach<br />

1970, als das Publikationsverbot für zwanzig Jahre begann, ist hier festgehalten.<br />

Es ist die Zeit, in der K<strong>und</strong>era kleine Büchlein vertrieb, Originale, mit Gedichten<br />

<strong>und</strong> Gra� ken, mit eigenen <strong>und</strong> von Fre<strong>und</strong>en, in kleiner Au� age unter guten Bekannten<br />

verteilt, eine poetische Flaschenpost. Hier haben wir sie jetzt gebündelt<br />

in einem schönen Band.<br />

Hans Dieter Zimmermann


538<br />

Neue Literatur<br />

Petr BORKOVEC: Aus dem Binnenland. Drei Arten zu übersetzen. Aus dem<br />

Tschechischen von Tereza Utezeny <strong>und</strong> Anne Hultsch. Mit einer Einleitung<br />

von Ji�í Holý sowie einem Nachwort <strong>und</strong> einer Bibliographie von Anne<br />

Hultsch (= Literatur in Mitteleuropa. Dresdner Poetikdozentur. Hrsg. von<br />

Walter Schmitz <strong>und</strong> Ludger Udolph). Dresden (Thelem) 2006, 128 Seiten.<br />

Der Titel dieses hübschen Bändchens mit drei Vorlesungen von Petr Borkovec<br />

verweist zunächst ganz unmetaphorisch auf die Herkunft des Dichters:<br />

Borkovec stammt aus Mittelböhmen – auch einem Binnenland, „fern vom<br />

Meeresufer oder von Grenzen“, wie er schreibt. Seine drei Essays haben ein<br />

Thema gemeinsam <strong>und</strong> zeigen jeweils eine eigentümliche Doppelbödigkeit.<br />

Alle drei kreisen um die Herkunft: im ersten Essay geht es mit den drei Großmüttern<br />

des Autors um seine leiblichen Ahnen, im zweiten mit Iosif Brodski<br />

um die geistigen Vorfahren, im dritten um die Nachkommen – es werden Kinder<br />

erwähnt <strong>und</strong> ein eigenes Gedicht wird interpretiert. Die Doppelbödigkeit<br />

wiederum entspricht dem Untertitel der Vorträge: es sind drei Arten des Übersetzens.<br />

Zunächst werden die Toten im erinnernden Abschreiten ihrer Orte ins<br />

Leben hinübergeholt, dann wird aus dem Russischen ins Tschechische übertragen,<br />

schließlich ein Erlebtes ins Geschriebene transponiert <strong>und</strong> das eigens<br />

geschriebene Gedicht in ein Gelesenes verwandelt sowie die Frage nach der<br />

Möglichkeit eines Abstands gestellt. Der Autor betont zwar einleitend sein<br />

Unbehagen an Eigenkommentaren, mithin seine Schwierigkeiten, einen Abstand<br />

vom eigenen Schaffen – sei es Dichtung oder Übersetzung – zu gewinnen,<br />

der das Reden über die eigene Poetik erst ermöglichte. Im Reden über<br />

Anderes <strong>und</strong> Andere teilt sich seine Poetik aber trotzdem mit. Und das weiß<br />

er natürlich; ein Spiel mit falschen Fährten – oder aber einfach mit mehreren<br />

Lesarten – kündigt er ja ebenfalls an.<br />

Er nennt sich selbst einen Nachgeborenen <strong>und</strong> bekennt sich zum Epigonalen.<br />

Jedoch spätestens im zweiten Essay, über eine von Brodskis Römischen<br />

Elegien, erfahren wir nicht nur von der Welt Brodskis <strong>und</strong> von der Poesie<br />

überhaupt, wie man es im Rahmen einer Poetikdozentur erwartet. Es tritt hier<br />

auch das Spezi� sche von Borkovec’ eigenem Schaffen hervor (wie dem oft so<br />

ist, wenn Dichter über ihre Kollegen schreiben). Zunächst fallen die häu� gen<br />

Bemerkungen zur Form auf, denen man in einer solchen Konkretheit (Metrum,<br />

Silbenzahl, genaue Bestimmung des Genres) in Essays von Lyrikern<br />

heute selten begegnet. Hinzu gesellt sich ein offenk<strong>und</strong>iges Interesse an literaturwissenschaftlichen<br />

Kommentaren <strong>und</strong> Re� exionen, mit denen der Autor<br />

auch gut vertraut ist. Für seine eigene Poetik ist charakteristisch, wie der erste<br />

Essay <strong>und</strong> die zitierten Gedichte bezeugen, ein besonderer „Sinn für den<br />

Raum“, den Borkovec bei Brodski (bzw. bei den Akmeisten) hervorhebt. Und<br />

schließlich zeichnet sich der Blick von Borkovec – denn seine Lektüren wie


Neue Literatur 539<br />

seine Gedichte sind zuerst Betrachtungen – durch eine besondere Spannung<br />

aus. Es ist die Spannung <strong>zwischen</strong> der Tendenz des Betrachters, das Schöne<br />

als das in sich Ruhende zu suchen oder zu schaffen, <strong>und</strong> andererseits seiner<br />

geradezu lauernden Bereitschaft, jedwedem Impuls zu folgen, der diese Ruhe<br />

zu zerstören vermag.<br />

Dabei teilt sich das Eigentümliche von Borkovec’ Dichtung auch an der Prosa<br />

seiner Essays mit. Denn sie vermitteln eine Intensität, die aus der genannten<br />

Spannung hervorgeht <strong>und</strong> die zugleich seinem Stil eingeschrieben ist, <strong>und</strong><br />

zwar in Form von Re� exivität. Es geht allerdings um keine „Gedankenlyrik“<br />

oder um philosophierende Traktate; Gnomisches <strong>und</strong> abstrakte Begrif� ichkeit<br />

liegen Borkovec denkbar fern. Allgegenwärtig ist die Re� exion bei ihm nicht<br />

nur als Nachdenken, sondern mehr noch als Brechung <strong>und</strong> als Spiegelung. So<br />

werden die Sprachen der verehrten Dichter in seiner eigenen re� ektiert <strong>und</strong><br />

so re� ektiert der eigene Blick sich selbst am unbeweglichen Auge des Vogels<br />

draußen hinter der Fensterscheibe, die wiederum das Innere des Raumes<br />

widerspiegelt ... Hinzu kommen in der Prosa von Borkovec die Bruchstellen<br />

<strong>zwischen</strong> Atmung <strong>und</strong> Satz; nicht umsonst erwähnt er, im Bezug allerdings<br />

auf ein eigenes Gedicht, eine „unübersehbare Fehde <strong>zwischen</strong> der Syntax <strong>und</strong><br />

dem Vers“ (74).<br />

Nach Ji�í Gruša wird mit Borkovec in der von Walter Schmitz <strong>und</strong> Ludger<br />

Udolph herausgegebenen Editionsreihe „Literatur in Mitteleuropa. Dresdner<br />

Poetikdozentur“ des Thelem-Verlags ein weiterer, in<strong>zwischen</strong> ebenfalls international<br />

bekannter tschechischer Lyriker <strong>und</strong> Übersetzer vorgestellt. Diesmal<br />

allerdings ein Autor der jüngeren Generation: Borkovec ist Jahrgang 1970.<br />

Eine Einleitung von Ji�í Holý sowie ein Nachwort von Anne Hultsch umreißen<br />

jeweils unterschiedliche Kontexte seiner Poetik. Den Band, der nun auch einen<br />

Beitrag zur literarischen Bohemistik darstellt, komplettiert Hultschs vollständige<br />

Bibliographie der Texte von <strong>und</strong> über Borkovec.<br />

Die beiden Texte von Bohemisten, die Borkovec’ Binnenland umschließen,<br />

sind gut aufeinander abgestimmt. Während Holý das Schaffen von Borkovec<br />

in den engeren Kontext seiner literarischen Generation <strong>und</strong> der tschechischen<br />

Kultur der 90er Jahre verortet, trifft Anne Hultsch das, was Borkovec in diesem<br />

Kontext eben einzigartig macht. Dabei lernen wir in ihrem Nachwort nicht<br />

nur den Dichter kennen. Theoretisch bewandert, charakterisiert sie Borkovec’<br />

Schaffen vor einem dreifachen Hintergr<strong>und</strong>, der sich auch angesichts seiner<br />

Übersetzungen aus dem Russischen <strong>und</strong> Altgriechischen anbietet. Von seiner<br />

spezi� schen, „nicht parasitären, sondern symbiotischen“ (90) Intertextualität<br />

ausgehend, skizziert sie Borkovec’ intellektuelle Biographie <strong>und</strong> die Kulturtheorie<br />

der russischen Akmeisten, schließlich gliedert sie die Art <strong>und</strong> Weise,<br />

wie Borkovec die Geschichte(n) durch Orte (re-)konstituiert, in die Tradition<br />

der Mnemonik seit Simonides ein. Die Gelehrsamkeit von Petr Borkovec


540<br />

Neue Literatur<br />

drängt sich nicht von selbst auf. Mit der ebenfalls unaufdringlichen <strong>und</strong> genauen,<br />

dabei sogar kurzweiligen Studie von Anne Hultsch wird seinem Schaffen<br />

(endlich) ein Kommentar gerecht.<br />

Eine Mischung von Bescheidenheit <strong>und</strong> Selbstbewusstsein, oder, wie es Anne<br />

Hultsch formuliert, aus „Stolz <strong>und</strong> Demut“ (90), charakterisiert die Haltung<br />

des Autors. Damit ein Gedicht, diese Ehrerbietung an die Sprache, ‚gelingt‘<br />

– diesen Ausdruck würde Borkovec wahrscheinlich nicht scheuen –, sei, so<br />

der Autor, auch „Studium <strong>und</strong> Geschick“ (41) notwendig. Dass wohl noch etwas<br />

anderes hinzu kommen muss, damit es überhaupt Dichtung wird, darüber<br />

wird in diesem Buch klug geschwiegen. Denn es ist, – <strong>und</strong> dafür ist Borkovec’<br />

Dichtung ein Beispiel –, einfach da.<br />

Alice Stašková<br />

Alexander WÖLL: Jakub Deml. Leben <strong>und</strong> Werk (1678-1961). Eine Studie zur<br />

mitteleuropäischen Literatur. Köln u.a. (2006) Böhlau.<br />

Der Slavist Alexander Wöll legt mit seiner nun in gedruckter Form vorliegenden<br />

Regensburger Habilitationsschrift eine längst überfällige Arbeit vor, die<br />

nicht nur einen von der Literaturgeschichte vergessenen Dichter ins Licht der<br />

allgemeinen Aufmerksamkeit zurückführt, sondern auch einen verborgenen<br />

Teil einer Literaturgeschichte, die man lange nicht als eine „mitteleuropäische“<br />

zu bezeichnen gewagt hätte.<br />

Im Mittelpunkt steht das ebenso widersprüchliche wie originelle Werk des<br />

Dichters Jakub Deml (1878-1961), der in der sozialistischen Tschechoslowakei<br />

aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt war. Deml, im mährischen<br />

Tasov geboren <strong>und</strong> zeitlebens mit dieser mehrsprachig prägenden Heimat eng<br />

verb<strong>und</strong>en, wurde früh durch den symbolistischen Dichter Otokar B�ezina in<br />

seiner Entscheidung bestärkt, die Laufbahn des katholischen Priesters einzuschlagen.<br />

Schon während seiner Ausbildung in Brünn kam er in Kontakt mit<br />

Dichtern der sogenannten katholischen Moderne, wirkte an Übersetzungsprojekten<br />

<strong>und</strong> religiösen Publikationen mit <strong>und</strong> bereicherte die literarische Landschaft<br />

bald durch eigene in Zeitschriften veröffentlichte Gedichte, bis er 1904<br />

mit seinem ersten Buch nicht der Literatur, sondern der bildenden Kunst seine<br />

volle Aufmerksamkeit widmete. Das Werk des bedeutenden, aus der sezessionistischen<br />

Strömung hervorgegangenen Graphikers <strong>und</strong> Bildhauers František<br />

Bílek bot ihm Anlass zur dichterischen Re� exion.<br />

Dem Erstling sollten nicht weniger als 140 weitere Werke folgen. Die Bedeutung<br />

dieser bis heute nicht vollständig edierten Schriften, die auch Prosa<br />

<strong>und</strong> Lyrik in deutscher Sprache umfassen, lässt sich zunächst an der Nachwirkung<br />

ermessen. Deml, der sich mit Vorgesetzten <strong>und</strong> – unter wechselnden


Neue Literatur 541<br />

politischen Vorzeichen – mit den Mächtigen des Staates anlegte, eigenwillige<br />

gesellschaftliche Visionen vertrat, zeitweilig der Kollaboration mit den<br />

deutschen Okkupanten geziehen wurde, von der Literaturkritik gelobt <strong>und</strong><br />

geschmäht, von der Kirche zum Schweigen verurteilt wurde, ist von seinen<br />

Lesern zu einer Kult� gur erhoben worden. Gerade Literaten <strong>und</strong> Künstler, die<br />

unter der verordneten sozialistisch-realistischen Ästhetik ihre Eigenständigkeit<br />

zu behaupten versuchten, haben Demls Werk so sehr geschätzt, dass es in der<br />

produktiven Untergr<strong>und</strong>rezeption besonders der 1950/60er Jahre eine „zweite“<br />

Literaturgeschichte initiierte: Vít�zslav Nezval etwa beschützte Deml vor<br />

Repressalien, Bohumil Hrabal, Ji�í Kolá�, Zden�k Rotrekl <strong>und</strong> Ladislav Novák<br />

ließen sich beeindrucken von der Originalität des literarischen Stils <strong>und</strong><br />

der kompromisslosen Haltung, mit der er für das freie Wort einstand. Diese<br />

besondere Bedeutung in der Wirkungsgeschichte ist es, die nach dem eigentlich<br />

ästhetischen Rang des disparaten, in seinen Anfängen durchaus populären,<br />

später geradezu schroff brüskierenden Werkes <strong>und</strong> – damit fast zwangsläu� g<br />

verb<strong>und</strong>en – nach dem Zusammenhang oder Zwiespalt <strong>zwischen</strong> Leben <strong>und</strong><br />

Werk fragen lässt.<br />

Alexander Wöll hat sich dieser Aufgabe mit der im Böhlau Verlag herausgegebenen<br />

Monographie gestellt. Angesichts der erst wieder in den 1990er<br />

Jahren einsetzenden literaturwissenschaftlichen Würdigung ist bei dem neuerlichen<br />

öffentlichen Interesse an Deml, das sich nicht zuletzt auch in � lmischen<br />

Adaptionen zeigt, jeder Beitrag zur sachlichen Bestandsaufnahme hochwillkommen.<br />

Deshalb wird man von einer Arbeit über Deml zunächst erwarten,<br />

dass sie zur Einordnung in den literarhistorischen Kontext durch Klärung des<br />

ästhetischen Wertes <strong>und</strong> Formulierung der Poetik des Künstlers beiträgt. Dabei<br />

darf nach den Ein� üssen oder Abgrenzungen von Strömungen wie der katholischen<br />

Moderne, dem Symbolismus B�ezinas, dem Expressionismus Weiners<br />

oder der exemplarisch durch Rilke <strong>und</strong> Kafka vertretenen deutschen Literatur<br />

gefragt werden. Bizarre Phantastik <strong>und</strong> Traumthematik machen ihn abseits von<br />

allen ‚Kunst-Ismen’ zu einem Vorläufer des Surrealismus. Wesentlich erscheinen<br />

darüber hinaus nicht nur die thematisch-ikonographischen, sondern auch<br />

die methodisch-formalen Ein� üsse aus Malerei, Bildhauerei, Buchmalerei <strong>und</strong><br />

Graphik.<br />

Indem Wöll schon mit dem zunächst positivistisch anmutenden Titel die beiden<br />

Pole „Leben <strong>und</strong> Werk“ gegenüberstellt, impliziert er die Frage nach der<br />

zusammenhängenden Leitidee. Deml selbst hat sie formuliert, indem er vorgab,<br />

sein Leben lang nur an einem einzigen Buch zu schreiben. Damit hat er<br />

aber – einer christlich f<strong>und</strong>ierten Buchmetaphorik durchaus eingedenk – nicht<br />

ohne Selbststilisierung auch das Leben zum Werk gemacht.<br />

Dieser inhaltlichen Zweiteilung entsprechend, zerfällt der in fünf Teile gegliederte<br />

Aufbau des Buches in einen historisch-biographischen <strong>und</strong> einen


542<br />

Neue Literatur<br />

interpretativen Hauptkomplex. Auf eine Einleitung, die den „Kosmos Jakub<br />

Demls“ <strong>und</strong> damit das literatur- <strong>und</strong> kulturhistorische Phänomen als Ausdruck<br />

der Spätmoderne charakterisiert, die einerseits sinnlichen, andererseits immateriell-mystischen<br />

Komponenten umreißt <strong>und</strong> die Textkategorie des impliziten<br />

Autors vorstellt, folgt ein umfangreiches Kapitel, das den biographischen Stationen<br />

gewidmet ist. Aus Selbstzeugnissen, Briefen <strong>und</strong> Tagebüchern rekonstruiert<br />

Wöll die Herkunft Demls, seine frühe Orientierung an der deutschen Sprache,<br />

den Kontakt zu B�ezina <strong>und</strong> den zunehmenden Widerspruch, der sich aus den<br />

schriftstellerischen Ambitionen <strong>und</strong> dem stark reglementierten Priesteramt ergab<br />

<strong>und</strong> der schließlich schon 1909 zur Zwangspensionierung führte. Eine unstete<br />

Lebensphase mit mehreren Ortswechseln, darunter längere Aufenthalte im<br />

„sündigen Prag“, schloss sich an. Wöll schildert, wie sich Deml im literarischen<br />

Leben der Zeit bewegte. Kontakte zu Künstlern wie Josef Váchal oder Kritikern<br />

wie F. X. Salda, aber auch die Bekanntschaften zu seinen „Musen“, die Weggefährtinnen,<br />

Mäzeninnen <strong>und</strong> platonisch Geliebte waren, werden in ihrer Bedeutung<br />

nachgezeichnet.<br />

Daneben ergaben sich aus der katholischen Geisteshaltung <strong>und</strong> dem gesellschaftlichen<br />

Engagement – etwa in der Sokol-Bewegung – innere Widerstände, die<br />

dazu führten, dass sich Deml zu Polemiken gegen Repräsentanten der nunmehr<br />

selbständigen Tschechoslowakei <strong>und</strong> sogar zu antisemitischen Äußerungen hinreißen<br />

ließ. In dieser zusätzlich von Krankheit <strong>und</strong> Geldnot geprägten Krisenzeit<br />

entstand 1934 das Skandalbuch Zapomenuté sv�to [Das vergessene Licht].<br />

War er schon während der deutschen Okkupation mit einem Publikationsverbot<br />

belegt, so hatte er auch nach dem Krieg keine Möglichkeiten zur Veröffentlichung.<br />

Dem Ein� uss der Kirche zwar entronnen, musste er sich im Stalinismus<br />

des Vorwurfs der Kollaboration <strong>und</strong> – als katholischer Dichter – des Hochverrats<br />

erwehren <strong>und</strong> wurde schließlich, obwohl er weiterhin – wie ein „Don Camillo<br />

oder Don Quichote“ – querulantisch auftrat, von mächtigen Fürsprechern gerettet.<br />

Eine von dem damaligen Kultusminister Kopecký angebotene Pension lehnte<br />

er ab. Verarmt <strong>und</strong> vereinsamt beendet Deml seinen literarischen Lebensweg mit<br />

dem Gedichtzyklus Ledové kv�ty [Eisblumen] in Tasov.<br />

Wöll nähert sich dem vielgestaltigen literarischen Werk, das verschiedenste<br />

Textgattungen umfasst, in dem anderen Hauptteil des Buches, indem er zunächst<br />

einen gut gegliederten Abriss der Forschungsliteratur gibt, um dann die Werkgruppen<br />

<strong>und</strong> die acht verschiedenen Versuche ihrer Herausgabe in historischer<br />

Folge kurz darzustellen. Daran schließt sich ein umfassendes Kapitel mit Textinterpretationen<br />

an, das in fünf – offenbar thematisch bestimmte – Unterkapitel<br />

gegliedert ist.<br />

Abger<strong>und</strong>et wird diese durch immense Materialfülle bestechende Arbeit durch<br />

eine ausführliche Werkbibliographie, ein Literaturverzeichnis, nützliche kom-


Neue Literatur 543<br />

mentierte Personen- <strong>und</strong> Begriffsindices, einen tabellarischen Lebenslauf Demls,<br />

Personen- <strong>und</strong> Sachregister sowie eine englische Zusammenfassung.<br />

Die Studie erhält ihren Wert besonders dadurch, dass sie erstmals systematisch<br />

<strong>und</strong> gründlich Dokumente aus Prager <strong>und</strong> Olmützer Archiven sichtet <strong>und</strong> in die<br />

literaturwissenschaftliche Analyse einbezieht, ohne dabei die faktographische<br />

Aufarbeitung der „heiklen“ Passagen – wie etwa der antisemitischen Ausfälle<br />

– auszusparen. Wichtig erscheint hierbei, dass weder verschwiegen noch einseitig<br />

bewertet, sondern in erster Linie sachlich referiert wird. Interessant ist unter dem<br />

„Heimat“-Aspekt der Hinweis auf die von Bohuslav Fuchs geplante Villa des<br />

Dichters. Zeigt dies doch, dass der neue internationale Stil des ornamentlosen<br />

Bauens, für den der Brünner Architekt Adolf Loos den Gr<strong>und</strong>stein gelegt hatte,<br />

doch noch emotionale oder regionale Konnotationen transportieren konnte.<br />

Was man im historischen Teil als ausgesprochen wohltuend erlebt, gereicht allerdings<br />

den Textinterpretationen zu einem gewissen Nachteil. Der unklare methodische<br />

Ansatz in der Werksystematik (143) lässt die Analysen in der an thematischen<br />

Gruppen orientierten semantischen Interpretation verharren. Dabei wäre<br />

gerade bei Begriffen wie „ornamentaler Prosa“ (241) oder „Collage“ (246) doch<br />

die genauere Klärung der jeweiligen formalen Disposition zu erwarten gewesen.<br />

Erklärbar ist dies eigentlich nur durch einen den Umfang sprengenden Aufwand,<br />

da Wöll solche nicht zuletzt auf eigenem Sprachgefühl beruhenden stilistischen<br />

Kennzeichnen dem deutschen Leser in Anmerkungen selbst nahezubringen versteht<br />

(123, A. 181).<br />

Gewiss, die häu� g evozierte typologische Parallele zu den Werken des Russen<br />

Vasilij Rozanov ist – besonders, wenn das Verkanntsein zum tertium comparationis<br />

wird (118, 143, 161) – für einen Slavisten sicherlich naheliegend <strong>und</strong> für einen<br />

Nicht-Slavisten überraschend reizvoll. Doch wird man in der Frage des direkten<br />

Ein� usses eher dem ebenfalls genannten Jakob Böhme, der physisch-erotischen<br />

Lichtmystik einer Mechthild von Magdeburg (71, 114) oder der suggestiv-orgiastischen<br />

Kraft einer Heiligen Theresa von Avila den Vorzug geben – berühmte<br />

Bildvorlagen einbezogen.<br />

Die Erzählung „AM“ beschreibt ein interessantes <strong>und</strong> – wie Wöll zu recht anmerkt<br />

– ungewöhnliches Marienmonogramm als Traumerscheinung. In dem Rekognitionszeichen<br />

klingen Buchstabenallegorese <strong>und</strong> Buchstabenmystik an, darüber<br />

hinaus aber auch pasigraphische Ideen (mit dem interessanten Querverweis zu<br />

Velimir Chlebnikov). Der zitierten Anfangsmetaphorik des Johannesevangeliums<br />

folgend, ließe sich zu der zweifellos schlüssigen schrift- <strong>und</strong> lautsymbolischen<br />

Deutung freilich noch ein Hinweis auf die auch im slavischen Raum reiche Tradition<br />

der visuellen Poesie hinzufügen, der Buchstabenlabyrinthe auf den Namen<br />

Marias, auf Permutationen <strong>und</strong> die gerade in der geistlichen Barockdichtung beliebten<br />

magisch-meditativen Buchstabenrätsel, - ein Gebiet, das in der Forschung<br />

gut dokumentiert ist.


544<br />

Neue Literatur<br />

Ein wertvoller Beitrag zur Erhellung des Schreibprozesses bei Deml ist die Darstellung<br />

der verschiedenen Bearbeitungsstadien des Textes „Znamení ve snu“<br />

[Zeichen im Traum] (253-271), womit ebenfalls exemplarisch das Gebiet der<br />

Schauergeschichten im Oeuvre des Dichters vertreten ist. Daran anschließend<br />

wird der naheliegenden psychologischen Frage nachgegangen, ob <strong>und</strong> inwieweit<br />

manche Figuren oder das Schreiben generell Ausdruck einer möglichen Sublimation<br />

unterdrückter sexueller Bedürfnisse aufgr<strong>und</strong> des Zölibats sind. Aufschlussreich<br />

ist in diesem Zusammenhang die kontrastierende Gegenüberstellung<br />

mit dem Werk Ji�í Karáseks ze Lvovic <strong>und</strong> die Abgrenzung von der décadence.<br />

Breiten Raum nimmt die Behandlung von Prosagedichten u.a. aus der wohl populärsten<br />

Sammlung mit dem Titel Moji p�átelé [Meine Fre<strong>und</strong>e] ein. Bei der<br />

Interpretation dieser scheinbar abgeschlossenen Miniaturen wird in aller Breite<br />

aufgezeigt, wie weit <strong>und</strong> komplex das Ge� echt der Referenzen ist. Dies betrifft<br />

nicht nur die bis auf Homer zurückzuführenden farbsymbolischen Potenzen, sondern<br />

auch einen Detailreichtum, den Wöll folgerichtig mit einem Aus� ug in die<br />

Botanik untermauert (329). Bei der vergnüglichen politischen <strong>und</strong> religiösen Blumensymbolik<br />

ließe sich auch die reiche Forschungsliteratur zur Farbsymbolik<br />

<strong>und</strong> Blumenikonographie in säkularer <strong>und</strong> religiöser Verwendung einbeziehen,<br />

zumal Deml solche Referenzen an die Bildkunst immer wieder liefert (330).<br />

Obwohl Vergleiche mit der bildenden Kunst gezogen werden, bleibt die Andeutung<br />

intermedialer Bezüge auf die motivische Ebene <strong>und</strong> die Interpretation<br />

sprachlicher Rezeptionszeugnisse beschränkt. Somit bieten sich in dem Kapitel<br />

zur ornamentalen Prosa noch weitere Anschlussmöglichkeiten: etwa durch die<br />

Analyse methodischer Äquivalenzen mit dem � ächigen Stil der alles überbordenden<br />

grotesken Buchgraphik Josef Váchals oder mit der oxymoronisch graphischen<br />

Ober� ächenbehandlung der Plastiken Bíleks – denn auch bei Deml wird<br />

ein Bestreben zur kalligraphischen Gestaltung seiner Werke schon anhand der<br />

abgebildeten Autographen erkennbar (306, 335).<br />

Die ansprechende Gestaltung <strong>und</strong> hervorragende Erschließung dieses gewichtigen<br />

Werkes hätte freilich – besonders im Anhang – durch ein stellenweise etwas<br />

sorgfältigeres Lektorat noch gewonnen.<br />

Insgesamt lässt sich sagen, dass Wöll detailreich <strong>und</strong> kurzweilig den „Kosmos<br />

Deml“ entfaltet <strong>und</strong> damit Anschlussmöglichkeiten zahlreicher weiterer „Universen“<br />

eröffnet. Besondere Bedeutung erhält das Buch nicht nur dadurch, dass<br />

es zur Konstituierung einer mitteleuropäischen Literaturgeschichte beiträgt, sondern<br />

auch dadurch, dass es die Sprachgrenzen überschreitenden historischen Ver-<br />

� echtungen mit einem aufwendigen Übersetzungsapparat gerade für den deutschen<br />

Leser rezipierbar macht. Es wäre zu wünschen, dass dieser Pioniertat bald<br />

auch die Edition des Demlschen Gesamtwerkes folgt.<br />

Astrid Winter


Neue Literatur 545<br />

Helga MITTERBAUER, András F. BALOGH (Hgg.): Zentraleuropa. Ein hybrider<br />

Kommunikationsraum. Wien (Praesens) 2006, 311 Seiten + 5 Abb.<br />

Johannes FEICHTINGER, Elisabeth GROSSEGGER, Gertraud MARINELLI-KÖNIG,<br />

Peter STACHEL, Heidemarie UHL (Hgg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa.<br />

Transdisziplinäre Annäherungen. Festschrift für Moritz Csáky zum 70. Geb.<br />

(= Gedächtnis, Erinnerung, Identität, 7). Innsbruck, Wien, Bozen (StudienVerlag)<br />

2006, 470 Seiten.<br />

Der zentraleuropäische Raum weist auf unterschiedliche kulturelle, politische,<br />

soziale Manifestationen, deren vielfältige Überlappungen <strong>und</strong> Überschneidungen<br />

mit dem Konzept der Hybridität erfasst werden können. Aus einer gewissermaßen<br />

habsburgischen Perspektive erkennt György Konrád auf dem Zenith<br />

des Kalten Krieges die größte Energie der Monarchie in deren „Gemischtsein.<br />

Elf Völker kamen irgendwie miteinander aus. Sie schufen einen Gemeinsamen<br />

Mitteleuropäischen Markt. An den alten Kaiser hatten wir uns schon gewöhnt,<br />

wir hatten keine allzugroße Angst vor ihm.“ 1 Diese Renaissance Habsburgs<br />

oder Kakaniens seit den 1980ern verstärkt sich – zwangsläu� g – mit dem Ende<br />

des Systems von Jalta. Unterbrochene Traditionen werden seit 1989 wieder<br />

aufgenommen, getrennte Regionen rücken zusammen. Es erscheint logisch,<br />

dass auch die Wissenschaft, verstärkt zudem durch die Europäische Integration,<br />

sich Phänomenen wie Mitteleuropa, Ostmitteleuropa oder – so die Diktion<br />

der Gruppe um Moritz Csáky – Zentraleuropa in seinen unterschiedlichen kulturellen<br />

Ausprägungen zuwendet.<br />

In den Blickpunkt geraten dabei sowohl die inneren Differenzen als auch die<br />

Komplexität einzelner Kulturen innerhalb der Habsburger Monarchie <strong>und</strong> deren<br />

externe Vernetzungen. Habsburg war durchaus ein Europa im Kleinen, eben<br />

ein Zentraleuropa. Ausgehend von dem Konzept der Hybridität betrachten die<br />

einzelnen Beiträge des Sammelbandes von Mitterbauer <strong>und</strong> Balogh kulturelle,<br />

von nationalen Kanonisierungen losgelöste Interdependenzen. Aktuelle Theorien<br />

des Hybriden wie Derridas Überwindung zweipoliger Alteritätsvorstellungen<br />

mit Hilfe der différance oder das Konzept der Métissage als ein „Prozess<br />

der kulturellen Vermengung, bei der die Multiplizierung der Kontakte, des Austauschs,<br />

der Vermischung favorisiert werden,“ 2 lassen sich ebenso heranziehen<br />

wie Goethes Konzept der Weltliteratur oder wie der Ansatz von Hannerz, der<br />

Weltkultur als eine zunehmende wechselseitige Verb<strong>und</strong>enheit verschiedener<br />

lokaler Kulturen in einem Territorium beschreibt <strong>und</strong> der demzufolge für eine<br />

1 Konrád, György (1985): Mein Traum von Europa. – In: Kursbuch 81, 175-193, 185.<br />

2 Mitterbauer, Helga: Konzepte der Hybridität. Ein Forschungsparadigma für den zentraleuropäischen<br />

Kommunikationsraum, 17-30, 19.


546<br />

Neue Literatur<br />

transkulturelle Literaturwissenschaft plädiert. 3 Angesichts der vielfältigen<br />

kulturellen Wechselbezie<strong>hungen</strong> in <strong>und</strong> <strong>zwischen</strong> den Metropolen in der<br />

Habsburger Monarchie gewinnt ein Zugang, der den Blick auf das Hybride<br />

von Kultur wirft, eine besondere Stringenz. Denn es geraten kulturelle, zum<br />

Teil wenig bekannte Austauschprozesse in den Blick, auch wenn eine Reihe<br />

von Beiträgen – häu� g bloße Fallstudien – die rein deskriptive Ebene nicht<br />

überschreitet. 4 Deutlich weiter greift der Beitrag von Franz Fillafer, der sich<br />

den unterschiedlichen Aneignungslogiken <strong>und</strong> Beanspruchungsstrategien der<br />

josephinischen Aufklärung nähert <strong>und</strong> die Prozesse der Delegitimierung dieser<br />

Reformbewegung im Verlaufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herausarbeitet, an deren<br />

Ende eine Stigmatisierung <strong>und</strong> zunehmende Marginalisierung des josephinischen<br />

Traumas steht. Allerdings stellt dies keinen exklusiv österreichischen<br />

Gedächtnisfaktor dar, da, so die überzeugend herausgearbeitete These, sämtliche<br />

Nachfolgestaaten an der Erinnerung an die josephinische Aufklärung <strong>und</strong><br />

das josephinische Trauma partizipieren. Bei diesem Marginalisierungsprozess<br />

handelt es sich um eine „Ausblendung einer distinkten österreichischen Aufklärung<br />

aus der Gedächtnisgeschichte der Monarchie.“ 5<br />

Einen anderen Zugang zum Konzept des Hybriden wählt Stefan Simonek.<br />

Ausgangspunkt der topographischen Re� exion ist die räumliche wie zeitliche<br />

Komprimierung der urbanen Sphäre durch Massenmedien, Verkehrstechnik<br />

etc., in der sich eine Perspektive pluralistischer Möglichkeiten eröffnet, „an<br />

dem durch das urbane Milieu bereitgestellten Reservoir an Zeichen von verschiedener<br />

Seite <strong>und</strong> unter differenten funktionalen Vorzeichen teilhaben zu<br />

können.“ 6 Ausgehend von den Theorieansätzen Moritz Csákys lässt sich nach<br />

Simonek ein vielfach zu beobachtender Pluralismus konstatieren, der „einerseits<br />

die Möglichkeit für Wechselwirkungen <strong>und</strong> Begegnungen, für kontinuierliche<br />

Prozesse von Ethnogenesen oder von kulturellen Diffusionen <strong>und</strong> Akkulturationen“<br />

bot, der aber andererseits in diese dichte Pluralität eine „ständige<br />

Präsenz des Differenten <strong>und</strong> folglich von Gegensätzlichkeiten“ einschloss.<br />

3 Siehe hierzu auch den Beitrag Mitterbauer: Zentraleuropäische Polyphonie – oder: Überlegungen<br />

zu einer transkulturellen Literaturwissenschaft, 325-333 in der im Anschluss vorgestellten<br />

Festschrift Schauplatz Kultur – Zentraleuropa.<br />

4 Siehe hier beispielsweise die stark faktographische Abhandlung von Maria Rosza, Deutschsprachige<br />

Presse des Vormärz in Wien, Pressburg <strong>und</strong> Pest-Bude, 87-94; Zita Veit über K.u.K.<br />

Kulturen <strong>und</strong> Konstruktionen. Übersetzte ungarische Bühnenwerke in Wien nach dem Ausgleich,<br />

131-142; oder Milka Car über Stjepan Miletic. Ein Intendant im Spannungsfeld <strong>zwischen</strong><br />

Tradition <strong>und</strong> Moderne, 157-172.<br />

5 Fillafer, Franz: Das Josephinische Trauma <strong>und</strong> die österreichische Aufklärung. Eine Problemskizze,<br />

63-85, 75. Siehe auch den Beitrag Fillafer: Das Josephinische Trauma <strong>und</strong> die Sprache<br />

der österreichischen Aufklärung, 249-258 in der hier ebenfalls vorgestellten Festschrift<br />

Schauplatz Kultur – Zentraleuropa.<br />

6 Simonek, Stefan: Urbane Lektüren in extremis: Der Stadttext Wiens um 1900 aus metasprachlicher,<br />

marginaler <strong>und</strong> karnevalisierter Perspektive, 143-155, 143.


Neue Literatur 547<br />

Insofern konnte es zu einer Ver� echtung <strong>und</strong> Hybridisierung unterschiedlicher<br />

einander berührenden Codes kommen, die umgekehrt im Zeichen von<br />

Segregation „auch zur Beharrung auf der Autonomie der Codes gerade angesichts<br />

ihres Naheverhältnisses zueinander“ führten.“ (143f.) Versteht man den<br />

urbanen Raum als Text, dann ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten der<br />

Lesbarkeit von Stadt, von denen Simonek drei herausgreift: eine metasprachliche,<br />

eine marginale <strong>und</strong> eine karnevalisierte Lektürepraktik. Per Vergleich<br />

von jeweils einem Vertreter der deutschsprachigen Wiener Moderne mit einem<br />

Vertreter der slawischen Moderne werden die einzelnen Aneignungsprozesse<br />

analysiert. Die metasprachliche Lektürepraktik (am Beispiel Hofmannsthal<br />

<strong>und</strong> Machar) fokussiert die Stadt als Ganzes aus einer Perspektive von außen.<br />

Die marginale Perspektive mit Artur Schnitzler <strong>und</strong> Ivan Cankar thematisiert<br />

die Grenze der Stadt, ein Ort, an dem Identitäten brüchig werden. Für eine<br />

karnevalistische Perspektive (nach Bachtin) stehen schließlich Felix Salten<br />

<strong>und</strong> Tadeusz Rittner. Alle drei Paare dienen als Beispiel, wie in jeweils unterschiedlicher<br />

Art <strong>und</strong> Weise die im Zeichenreservoir der Großstadt bereitgestellten<br />

Codes miteinander verknüpft werden. Ein nachvollziehbarer Zugang,<br />

auch wenn die Frage der Repräsentativität natürlich offen bleibt. Im Kontext<br />

der kulturellen Vielschichtigkeit Habsburgs steht auch die Frage nach einer<br />

österreichischen Literatur. Szilvia Ritz umreißt die Diskussion um das Spezi-<br />

� sche der österreichischen Literatur anhand exponierter Positionen, ohne allerdings<br />

einen vollständigen Überblick geben zu können, weshalb der Beitrag<br />

nicht über Bekanntes hinausgeht. 7<br />

Ausgangspunkt der Festschrift für Moritz Csáky sind zentrale, vom Jubilar in<br />

entscheidender Weise angestoßene Themen des kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldes,<br />

die insbesondere im Umfeld des Grazer SFB „Moderne. Wien<br />

<strong>und</strong> Zentraleuropa um 1900“ entstanden sind. 8 Kultur, Gedächtnis <strong>und</strong> Identität<br />

fungieren als Leitbegriffe einer transdisziplinären kulturwissenschaftlichen<br />

Neuorientierung in den Geistes- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften, die auf das<br />

Konzept eines umfassenden, kommunikationstheoretischen Kulturbegriffs im<br />

Sinne von Kultur als Orientierungssystem verweisen, in dem kontinuierlich<br />

Identitätsbildungen statt� nden. Damit verb<strong>und</strong>en sind Leitfragen nach den<br />

diskursiven Konstruktionen <strong>und</strong> kulturellen Repräsentationen, welche das<br />

Wissen über Vergangenheit (also das kollektive Gedächtnis) determinieren<br />

sowie Fragen nach der Wirksamkeit gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibungen<br />

(der gesellschaftlichen Verhandlung von Identität <strong>und</strong> Differenz) bzw.<br />

7 Ritz, Szilvia: Österreichische Literatur – <strong>zwischen</strong> Gleichsprachigkeit <strong>und</strong> Vielsprachigkeit,<br />

31-45.<br />

8 Konrad, Helmut: Die Anfänge des Spezialforschungsbereichs „Moderne. Wien <strong>und</strong> Zentraleuropa<br />

um 1900“ an der Universität Graz, 437-442; Wunberg, Gotthard: Gibt es eine Wiener<br />

Variante der Kulturwissenschaften, 443-446.


548<br />

Neue Literatur<br />

Zuschreibungen vom Eigenen <strong>und</strong> Anderen. Kennzeichnend für Europa ist,<br />

so Aleida Assmann, die Ambivalenz der Erinnerungen <strong>und</strong> der Weg von einer<br />

trennenden zu einer geteilten Erinnerung. 9 Die Weiterentwicklung des Gedächtniskonzeptes<br />

von Maurice Halbwachs (Rekonstruktion von Geschichte)<br />

durch Jan Assmann (Bindung an den Identitätsbegriff) ermöglicht eine Freilegung<br />

des gesellschaftspolitischen Potentials kollektiver Erinnerung. Als wirkungsmächtiges<br />

Konzept hat sich ferner Noras Theorie der Erinnerungsorte<br />

erwiesen, womit eine Funktionalisierung von Gedächtnis für die nationale<br />

Identitätsstiftung erfolgt. Gegen die diesem Ansatz immanente Gefahr einer<br />

retrospektiven Verengung auf nationale Identi� katoren wird die prinzipielle<br />

Vieldeutigkeit <strong>und</strong> Komplexität von Gedächtnisorten betont (Csáky), die Ergebnis<br />

von Aushandlungsprozessen sind, in denen um den Ort des Universalen<br />

als imaginierte ‚Wir‘-Gemeinschaft gerungen wird. „Begriffe wie Kampf um<br />

das Gedächtnis, Konkurrenz um die Deutungsmacht, Strategien <strong>und</strong> Kalküle<br />

im Feld der Geschichts- <strong>und</strong> Gedächtnispolitik“ verweisen somit auf die Dimension<br />

von Gedächtnis als Palimpsest. 10 Dabei bestehen, so Altermatt, strukturelle<br />

<strong>und</strong> diskursive Parallelen <strong>zwischen</strong> den Mechanismen nationaler <strong>und</strong><br />

religiöser Identitätsbildung, die christliche Konfession fungiere als Symbolspeicher,<br />

aus dem die Nation Legitimationsmuster entlehnt. 11 Ist für Habsburg<br />

ein Misslingen der allmählichen Transformation in einen sprachlich homogenen<br />

Staat <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Auslöschung partikularer kultureller<br />

Traditionen zu konstatieren, so erfolgt ab dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert die Er� ndung<br />

der Nation, so bei Grillparzer, in einem anti-nationalen Geiste. Neben dem<br />

bezeichnenden Fehlen von Gründungsmythen <strong>und</strong> außerordentlichen Heroen<br />

trete nach Müller-Funk die Konstruktion eines „friedlichen, aufgeklärten<br />

volkstümlichen <strong>und</strong> universalistischen Staatsgebildes“, dessen Scheitern darauf<br />

verweise, „dass Identitäten Konstruktionen sind, dass die kulturellen Gedächtnisse<br />

in <strong>und</strong> mit der Zeit wandern, dass sie wie jedwedes narrative Mittel<br />

retrospektive Nachbildungen, ja Er� ndungen sind <strong>und</strong> sich ständig verändern,<br />

zuweilen wie im Falle Österreichs, ganz dramatisch.“ 12<br />

Im Blick auf die Bedingungen in Zentraleuropa erhalten die Leitkonzepte Pluralität,<br />

Transnationalität <strong>und</strong> Postkolonialismus zentrale Bedeutung, da dieser<br />

durch eine übergreifende kulturelle Kommunikation gekennzeichnete soziokulturelle<br />

Raum durch die prinzipielle Mehrdeutigkeit von Gedächtnis <strong>und</strong><br />

Erinnerung geprägt ist. Der Kulturraum Zentraleuropa <strong>und</strong> die dahinter sich<br />

9 Assmann, Aleida: ‚Ein geteiltes europäisches Wissen von uns selbst?‘ Europa als Erinnerungslandschaft,<br />

15-24.<br />

10 Uhl, Heidemarie: Kultur, Politik, Palimpsest. Thesen zu Gedächtnis <strong>und</strong> Gesellschaft, 25-35.<br />

11 Altermatt, Urs: Religion <strong>und</strong> Gedächtnis, 37-44.<br />

12 Müller-Funk, Wolfgang: Autobahnen <strong>und</strong> gotische Runen. Anmerkungen zur Konstruktion<br />

des kulturellen Gedächnisses im modernen Nationalismus, 45-53.


Neue Literatur 549<br />

abzeichnende Idee einer transnational orientierten Geschichtsschreibung führt<br />

somit zwangsläu� g zu einer kritischen Überprüfung dominanter Leitkonzepte<br />

wie „Nation“ oder „Westen“. Ausgehend vom Konzept der Mental Maps <strong>und</strong><br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der wissenschaftsgeschichtlichen Trennung <strong>zwischen</strong><br />

osteuropäischer, ostmitteleuropäischer <strong>und</strong> deutscher Geschichte nähert sich<br />

Philipp Ther der von Moritz Csáky eingeführten Raumkategorie ‚Zentraleuropa‘,<br />

mit der die doppelte Reduktion einer deutschen Geschichte auf die preußisch-kleindeutsche<br />

bzw. auf die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung<br />

überw<strong>und</strong>en werden könne. 13 Raumkategorien wie Ostmitteleuropa oder<br />

Zentraleuropa bieten sich als Ausweg aus dem Dilemma eines methodischen<br />

Nationalismus, da hier in der Tradition der area studies die Überschreitung<br />

staatlicher <strong>und</strong> nationaler Grenzen vorausgesetzt wird, Vergleich <strong>und</strong> Analyse<br />

von Kulturtransfers sind immanent. Allerdings fungiert Ostmitteleuropa<br />

als ein strukturgeschichtlicher Begriff, während Zentraleuropa in der Konnotation<br />

von Csáky auf den kommunikativen Rahmen weist. Vorteil hierbei ist<br />

die Erweiterung der kulturgeschichtlichen Perspektive, die Berücksichtigung<br />

der Rolle der Akteure, die Integration postmoderner Konzepte wie Hybridität<br />

<strong>und</strong> Fluidität. Klärungsbedarf sieht Ther allerdings hinsichtlich der geographischen<br />

Reichweite des Forschungskonzeptes Zentraleuropa, welches Anschlussmöglichkeiten<br />

an postcolonial studies sowie an die Transfergeschichte<br />

ermöglicht. In der Perspektive von Zentraleuropa ergibt sich ein Forschungskonzept,<br />

welches einen neuen Blick auf die Geschichte historischer Regionen<br />

eröffnet. In vergleichbarer Weise beschreibt Rudolf Jaworski den Wechsel von<br />

der mit Ostmitteleuropa verknüpften kon� ikttheoretischen Perspektive (Kennzeichen:<br />

permanente Identitätssuche, exklusive Vertretungsansprüche <strong>und</strong><br />

einander ausschließende Identitätskonzepte, Konstruktionen des kollektiven<br />

Gedächtnisses entlang ethnischer Nahtstellen <strong>und</strong> damit Mehrfachkodierungen<br />

<strong>und</strong> Pluralität von Geschichtskulturen) zu einer kulturwissenschaftlichen<br />

These mit verändertem Blickwinkel <strong>und</strong>, in Anlehnung an Karl Schlögel, ein<br />

Konzept von Multikulturalität: auf „Abgrenzung <strong>und</strong> Trennung abzielende<br />

Vergangenheits- <strong>und</strong> Identitätskonstruktionen […] verlieren an Schärfe <strong>und</strong><br />

Eindeutigkeit, sie werden durchlässiger, geben Ähnlichkeiten, Korrespondenzen<br />

sowie übergreifende Wertmuster zu erkennen.“ 14 Emil Brix betrachtet die<br />

Neuaneignung von Geschichte nach 1989 als Argument für Kontinuität <strong>und</strong><br />

Lernfähigkeit von Gesellschaften, wobei es zu einer teilweise positiven Aneignung<br />

habsburgischer Traditionen kommt, kenntlich im Topos der Brücke nach<br />

Europa, wie er im Galizienmythos in Südpolen <strong>und</strong> der Westukraine kenntlich<br />

13 Ther, Philipp: Vom Gegenstand zum Forschungsansatz. Zentraleuropa als kultureller Raum,<br />

55-63.<br />

14 Jaworski, Rudolf: Ostmitteleuropa als Gegenstand der historischen Erinnerungs- <strong>und</strong> Gedächtnisforschung,<br />

65-71, 69.


550<br />

Neue Literatur<br />

wird. 15 Geschichte wird zu einem beliebigen Argumentationsmaterial für aktuelle<br />

Interessen, wobei nach Brix bestimmte ‚kakanische‘ Geschichtsbilder<br />

zurückkehren: die der Nationen dieses Raumes <strong>und</strong> die der kulturellen Gemeinsamkeiten<br />

untereinander bzw. auch mit dem westlichen Europa. Allerdings<br />

fungierte Kakanien schon vor 1989 als Mythos einer besseren, friedlicheren<br />

<strong>und</strong> kosmopolitischeren Zeit, damit einher verläuft ein Verblassen des<br />

Völkerkerker-Topos, verstärkt durch die aktuelle Perspektive pluralistischer<br />

Politikgestaltung bzw. eine nachlassende Legitimation ethnischer Begründungsmuster<br />

für politisches Handeln.<br />

Der Beitrag Kakaniens zur Erweiterung der Europäischen Union liegt in erster Linie darin, dass<br />

es eine gescheiterte politische Union multinationalen Zusammenlebens darstellte, die an Fragen<br />

scheiterte, die in der aktuellen Europäischen Integration of� ziell keine Rolle spielen, aber als potenzielle<br />

Problemstellungen wahrnehmbar sind. […] Bezüglich europäischer Integrationsmodelle<br />

<strong>und</strong> historischer Mitteleuropaprojekte bietet die Habsburgermonarchie reiches Anschauungsmaterial<br />

dafür, woran ein derartiges Projekt scheitern kann, wenn zur Ausschaltung von Gegensätzen<br />

<strong>und</strong> Kon� ikten nur rechtsstaatlich <strong>und</strong> ökonomisch argumentiert wird, ohne Gegensätze, Kon� ikte<br />

<strong>und</strong> Identitäten auch politisch <strong>und</strong> kulturell umfassend zu diskutieren. (BRIX 2006: 88f.)<br />

Im Kontext der Erinnerung an Kakanien als einem „goldenen Zeitalter der Sicherheit“<br />

(Stefan Zweig) betrachtet Peter Stachel die aktuelle Aneignung <strong>und</strong><br />

Auratisierung Kaiser Franz Josephs auf der alltagskulturellen Ebene. 16 Diese<br />

Aneignungsprozesse, die nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen<br />

habsburgischen Nachfolgeregionen <strong>und</strong> -staaten zu beobachten sind, bilden<br />

ein Indiz für den zentraleuropäischen Kultur- <strong>und</strong> Kommunikationsraum <strong>und</strong><br />

seine komplexe Gemengelage spezi� scher Erinnerungskulturen. Konstruktion<br />

<strong>und</strong> Verlust homogener Heldenkanones ist Thema bei Waltraut Haindl, die die<br />

Instrumentalisierung von Geschichte <strong>und</strong> Kunst am Beispiel von Hormayrs<br />

Oesterreichischem Plutarch analysiert.<br />

Wien um 1900 fungiert bekanntlich als ein Ort, in dem sich Leitkonzepte f<strong>und</strong>amentaler<br />

kultureller <strong>und</strong> sozialer Veränderungsprozesse, Entwicklungen<br />

von Moderne <strong>und</strong> Postmoderne abzeichnen. Johannes Feichtinger analysiert<br />

die Kulturenvielfalt in Zentraleuropa als Voraussetzung dafür, dass Wahrheiten<br />

nicht mehr als „zeit-, orts- <strong>und</strong> subjektunabhängige objektive Tatbestände“<br />

aufgefasst wurden. „Augenfällig wurde der begrenzte Horizont des<br />

erkennenden Subjekts sowie die kulturelle Geb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> Perspektivität<br />

des Wahrheits� ndungsprozesses.“ 17 Erkennbar werden diese Veränderungen<br />

in der Abwendung vom wissenschaftlichen Substanzbegriff bei Mach, Freud<br />

<strong>und</strong> Kelsen <strong>und</strong> der Aufkündigung der Legitimationsfunktion von Wissen-<br />

15 Brix, Emil: Geschichtsinterpretationen <strong>und</strong> Gedächtnispolitik. Das Bild der Habsburgermonarchie<br />

in den mitteleuropäischen Staaten seit 1989, 83-91.<br />

16 Stachel, Peter: Franz Joseph Superstar, 93-103.<br />

17 Feichtinger, Johannes: Das Neue bei Mach, Freud <strong>und</strong> Kelsen. Zur Aufkündigung der Legitimationsfunktion<br />

in den Wissenschaften in Wien <strong>und</strong> Zentraleuropa um 1900, 297-306, 298.


Neue Literatur 551<br />

schaft. Feichtinger erklärt diese wissenschaftshistorischen Phänomene mit den<br />

kulturhistorischen Bedingungen Habsburgs, in dem ein ‚entweder-oder‘ eben<br />

lange Zeit nicht als ein ideales kulturelles Identi� kationsmodell galt (299), bis<br />

sich dann die Imagination einer national-kulturellen Wesenhaftigkeit durchzusetzen<br />

begann mit dem Ziel, anderen Nationalitäten „das eigene Narrativ“<br />

aufzudrängen“ (299). Hier setzen die Wissenschaften um 1900 an, um Substanzbegriffe<br />

wie Ich, Kollektivseele, Staat zu destruieren zugunsten einer<br />

Säkularisierung der Wissenschaften. In vergleichbarer Weise betrachtet Volker<br />

Munz, der die Bezie<strong>hungen</strong> <strong>zwischen</strong> Mach, Wittgenstein <strong>und</strong> Mauthner<br />

auslotet, die Sprachpluralität als Voraussetzung für Sprachphilosophie. 18 Wittgensteins<br />

Reformulierung der referentiellen Semantik im Tractatus zugunsten<br />

einer Auffassung, nach der die Bedeutung eines Ausdrucks der Gebrauch in<br />

der Sprache sei, führt zu einer neuen Verbindung <strong>zwischen</strong> Sprache <strong>und</strong> Welt<br />

über das Sprachspiel, über das sich wiederum Parallelen <strong>zwischen</strong> Mauthner<br />

<strong>und</strong> Wittgenstein ergeben.<br />

Eine abschließende Sektion der Festschrift widmet sich Fragen der Performanz,<br />

der Repräsentation, des Theaters. Die performative Wende, mit der<br />

das Kreative sich im „künstlerischen Prozess, im Ereignis, in das Künstler,<br />

Zuschauer <strong>und</strong> Rezipienten miteinbezogen werden“ manifestiert, ist für das<br />

Theater seit den 1960ern maßstabbildend. Der Sinn performativer Aktion liegt<br />

in der Wirkung des künstlerischen Vorgangs auf die Teilnehmer. Mit dem Ende<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kommt es zu einer Verschiebung von einer Kultur als Text<br />

zu einer Kultur als Performanz (Judith Butler), wobei Vorformen bereits bei<br />

Hermann Bahr beobachtet werden können. 19 Weitere Beiträge in dieser Sektion<br />

befassen sich mit hö� schen Festen, mit Schrekers Oper Die Gezeichneten,<br />

mit dem Kampf um Smetana. 20<br />

Dank der offenk<strong>und</strong>igen Vorgabe zur Kürze gelingt es der vorliegenden Sammlung,<br />

ein vielfältiges <strong>und</strong> doch konsistentes Bild der von Moritz Csáky inspirierten<br />

kulturwissenschaftlichen Forsc<strong>hungen</strong> zu liefern, mit dem zugleich<br />

eine schnelle Orientierung in den Forsc<strong>hungen</strong> zu Zentraleuropa ermöglicht<br />

wird. Schon aus diesem Gr<strong>und</strong> hebt sich die vorliegende Festschrift vorteilhaft<br />

von vergleichbaren Projekten ab.<br />

Steffen Höhne<br />

18 Munz, Volker A.: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘“. Eine Randbemerkung zur Philosophie<br />

der Moderne, 307-315.<br />

19 Moser, Lottelis/Zand, Helena: Das Konzept des Performativen in der Kulturtheorie Hermann<br />

Bahrs, 389-396.<br />

20 Sommer-Mathis, Andrea: Hö� sches Fest als ephemere Gedächtniskunst, 397-405; Celestini,<br />

Federico: Die Performanz des Grotesken. Zu Franz Schrekers Oper Die Gezeichneten, 407-<br />

414; St�ítecký, Jaroslav: Libussa <strong>und</strong> die Brandenburger, 427-434.


552<br />

Neue Literatur<br />

Franz X. EDER (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie,<br />

Anwendungen. Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2006, 338<br />

Seiten.<br />

Diskursanalyse bildet noch keine selbstverständlich akzeptierte Methode, zumal<br />

unterschiedliche Theorieansätze vor allem in Philosophie, Sprach- <strong>und</strong><br />

Literaturwissenschaft die akademische Diskussion determinieren. Inwieweit<br />

können nun die historischen Disziplinen, also Geschichte, aber auch Literar-,<br />

Sprach- <strong>und</strong> Kunstgeschichte von den Ansätzen der Diskursanalyse pro� tieren?<br />

Der vorliegende Sammelband, entstanden im Rahmen von Planungen für ein<br />

Heft der Osteuropäischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft <strong>und</strong> geleitet<br />

von der Absicht, einen „Einblick in den Stand der Diskursdiskussion <strong>und</strong> [der]<br />

diskursanalytischen Praxis“ 1 zu liefern, präsentiert nicht nur unterschiedliche<br />

Theoriekonzepte, sondern nähert sich der Genealogie des Begriffs wie seiner<br />

Konzeptualisierung <strong>und</strong> verhandelt Anwendungen in Form von Fallstudien.<br />

Im Wesentlichen, dies sei vorab konstatiert, reiben sich nicht wenige Beiträger<br />

an Michel Foucaults Konzeption von Diskurs, welche für die historischen Disziplinen<br />

nutzbar gemacht werden soll.<br />

Ungeachtet terminologischer Klärungen, Diskurs wird mal als ein Corpus von<br />

Texten verstanden, mal als ein Regelsystem, verständigt man sich hier auf eine<br />

Reihe von leitenden Fragen, 2 die auf ein Verständnis von Diskurs als „Praktiken“<br />

verweisen, „die Aussagen zu einem bestimmten Thema systematisch organisieren<br />

<strong>und</strong> regulieren <strong>und</strong> damit die Möglichkeitsbedingungen des Denk-<br />

<strong>und</strong> Sagbaren bestimmen.“ (13)<br />

Peter Haslinger 3 setzt sich in gewohnt f<strong>und</strong>ierter Weise mit den bisher existierenden<br />

Ansätzen innerhalb der Geschichtswissenschaft auseinander, bezieht<br />

aber auch die Theorien von Jürgen Habermas <strong>und</strong> Pierre Bourdieu sowie Paul<br />

Ricœur in seine Re� exion zum Diskurs ein, um sowohl Arbeitsfelder künftiger<br />

Diskursforschung (Verhältnis Diskurs-Performanz; Beziehung Themen<br />

<strong>und</strong> Diskursarenen; Problem der Medialität bzw. der diskursiven Versäulung;<br />

1 Eder, Franz X.: Historische Diskurse <strong>und</strong> ihre Analyse – eine Einleitung, 9-23, 10.<br />

2 „Wie <strong>und</strong> mit welchen Begriffen können die zeitlichen Dimensionen von Diskursen gefasst<br />

<strong>und</strong> <strong>und</strong> untersucht werden? Wie lassen sich die Grenzen eines bestimmten Diskurses bestimmen,<br />

wie kann die Persistenz <strong>und</strong> der Wandel desselben sowie der Austausch mit anderen Diskursen<br />

gedacht <strong>und</strong> erforscht werden? Welche Funktionen nehmen Akteure als Produzenten,<br />

Distribuenten <strong>und</strong> Rezipienten von Diskursen ein? Welche Handlungsmöglichkeiten stehen<br />

dem, womöglich ‚dezentrierten‘ Subjekt im <strong>und</strong> gegenüber dem Diskurs <strong>und</strong> den durch ihn<br />

bedingten Möglichkeiten des Denk- <strong>und</strong> Sagbaren offen? Wie ist die vielfach beschworene<br />

Interaktivität von Diskursen <strong>und</strong> Akteuren zu konzipieren? Und wie werden dabei innovative<br />

Prozesse in Gang gesetzt?“ (EDER, 12)<br />

3 Haslinger, Peter: Diskurs, Sprache, Zeit, Identität. Plädoyer für eine erweiterte Diskursgeschichte,<br />

27-50.


Neue Literatur 553<br />

Diskurs als sprachübergreifendes <strong>und</strong> zeitüber<strong>brücken</strong>des Redesystem) zu<br />

skizzieren als auch eine Basis für ein durchaus praxeologisch verstandenes<br />

Modell einer erweiterten Diskursgeschichte zu entwickeln (46-48). Haslingers<br />

Beitrag liefert einen umfassenden Überblick wie Ausgangspunkt in die<br />

sich immer weiter verzweigende Diskussion um Diskursanalyse.<br />

Eher quer zu den vorliegenden Beiträgen steht der Ansatz von Reiner Keller,<br />

der die bestehende Fokussierung der Diskursanalyse auf sprachliche Phänomene<br />

durch ein handlungstheoretisch f<strong>und</strong>iertes Wissensmodell ersetzt. Ziel<br />

ist die „Übersetzung des diskurstheoretischen <strong>und</strong> diskursanalytischen Programms<br />

in die (Hermeneutische) Wissenssoziologie <strong>und</strong>, damit einhergehend,<br />

die Nutzung methodischer Werkzeuge aus der qualitativen Sozialforschung.“<br />

(Herv. i.O.) 4 Ein solcher wissenssoziologischer Ansatz versteht Diskursanalyse<br />

als ein Forschungsprogramm zur „Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse<br />

<strong>und</strong> Wissenspolitiken“ (55) <strong>und</strong> verlangt somit eine Modi� kation<br />

bisheriger Analyseansätze. Im Ergebnis gelangt Keller zu einem Modell von<br />

Diskurs als Strukturkonzept, welches normative Regeln, Signi� kationsregeln<br />

<strong>und</strong> Handlungsressourcen bereitstellt, die dem Diskurs als gegenstandskonstituierender<br />

Praxis zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />

Bei Andreas Frings <strong>und</strong> Johannes Marx erfolgt, ausgehend von der linguistischen<br />

Pragmatik (Konversationsmaximen bei Grice) <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen<br />

Theorien rationalen Handelns, ebenfalls eine handlungstheoretische<br />

F<strong>und</strong>ierung. 5 Fazit hier:<br />

Wie war die soziale Situation beschaffen, in der es für ausreichend viele Akteure rational war,<br />

die Sprachhandlung zu wählen, die in der Interaktion schließlich zur Institutionalisierung dieser<br />

Redeweise führte? Und: Wie waren die Diskurse, begriffen als soziale Regeln des Sprachhandelns,<br />

beschaffen, die es für Akteure rational erscheinen ließ, sich bei ihrem Sprechen an ihnen<br />

zu orientieren? (109)<br />

Die terminologische Unbestimmtheit von Diskurs, vor der in den einführenden<br />

Beiträgen zurecht gewarnt wird, zeigt sich leider bei einigen der Anwendungen.<br />

Bei Petra Schaper-Rinkel wird Diskurs offenk<strong>und</strong>ig als eine Ansammlung<br />

von Textsorten mit kommunikationssteuernder Wirkung verstanden. 6 So fungiert<br />

der „acquis communitaire“ als „europäische Diskursordnung“ (223), die<br />

Europäische Kommission wird zum „Machtzentrum, in dem die diskursiven<br />

Praktiken, die Europa ausmachen, verhandelt werden“, deren „Machtfülle in<br />

der Permanenz des Apparates, in ihrem kumulierten überlegenen Wissen <strong>und</strong><br />

4 Keller, Reiner: Wissen oder Sprache? Für eine wissensanalytische Pro� lierung der Diskursforschung,<br />

51-69, 52.<br />

5 Frings, Andreas/Marx, Johannes: Wenn Diskurse baden gehen. Eine handlungstheoretische<br />

F<strong>und</strong>ierung der Diskursanalyse, 91-112.<br />

6 Schaper-Rinkel, Petra: Die Macht von Diskursen. Europäisierung, Ökonomisierung <strong>und</strong> Digitalisierung<br />

der Telekommunikation, 223-237.


554<br />

Neue Literatur<br />

ihrem Initiativrecht“ (224) bestehe. Europa ist somit ausschließlich das, was in der<br />

EU-Kommission verhandelt wird?! Eine zumindest überraschende These. Demgegenüber<br />

meint Siegfried Jäger die Problematik hermeneutischer Repräsentativität<br />

mit Hilfe semantischer Vagheit umgehen zu können. 7 Bei den Kriterien zur<br />

Bestimmung rassistischer Diskurse beobachtet Jäger nicht nur einen „nationalistischen<br />

Diskurs, der nach der Berliner Wende gestärkt wurde, der Volk <strong>und</strong> Nation<br />

tendenziell gleichsetzt“ <strong>und</strong> der „zu gewissen Großmachtstrebungen im Rahmen<br />

der Europäischen Union“ (249), was immer das heißen mag, führe, sondern auch<br />

einen „religiösen Diskurs unterschiedlicher Provenienz, der möglicherweise wieder<br />

erstarkt“ (249). Sind damit gar gewisse f<strong>und</strong>amentalistische Tendenzen islamischer<br />

Couleur gemeint?<br />

Insgesamt jedoch bietet der Band eine wichtige Ergänzung bzw. Erweiterung zu<br />

den bisher in den Geschichtswissenschaften vorliegenden Diskursanalysen, zumindest<br />

ist er Ausdruck einer höchst aktuellen wie inspirativen Methoden-Diskussion,<br />

die auf nicht wenige historische Phänomene ein neues Licht zu werfen vermag.<br />

Steffen Höhne<br />

Dieter HERBERG/Michael KINNE/Doris STEFFENS: Neuer Wortschatz. Neologismen<br />

der 90er Jahre im <strong>Deutschen</strong>. Unter Mitarbeit von Elke Tellenbach <strong>und</strong><br />

Doris al-Wadi. Schriften des Instituts für deutsche Sprache. Band 11. Herausgegeben<br />

von Ludwig M. Eichinger <strong>und</strong> Peter Wiesinger. Berlin, New York (de<br />

Gruyter) 2004, 393 Seiten.<br />

Neologismen werden als neue Wortschatzeinheiten nur eine eingeschränkte<br />

Zeit wahrgenommen: Nach deren Usualisierung werden sie in den Wortschatz<br />

integriert. Ihre Quelle stellen vor allem Soziolekte dar (z. B. Jugendsprache,<br />

Berufssprachen). Tausende von Bildungen, die im Wortschatz nicht Fuß fassen<br />

<strong>und</strong> oft gleich nach ihrem Zustandekommen wieder verschwinden (Okkasionialismen),<br />

verdanken ihre kurze Existenz der syntaktischen Beschaffenheit<br />

des jeweiligen Satzes; die Grenze <strong>zwischen</strong> einem Neologismus <strong>und</strong> einem<br />

Okkasionalismus ist � ießend <strong>und</strong> der Neuheitseffekt eines Neologismus kann<br />

diskutiert werden (TEUBERT 1998). In dem einleitenden Beitrag Neologie<br />

<strong>und</strong> Wortbildung. Zum Neuheitseffekt von Wortneubildungen (11-30) schlussfolgert<br />

Irmhild Barz, dass wir es mit einer graduellen Größe zu tun haben;<br />

der Neuheitseffekt wird auf den Integrationsgrad des Kompositums in eine<br />

Wortbildungsreihe bezogen. Neologismen stellen nicht nur neue Wortbildungen<br />

dar (z. B. jemanden gaucken, nach Joachim Gauck, Direktor der Gauck-Behörde),<br />

man zählt dazu auch Neosemantismen (z. B. Adresse, Kurzwort aus<br />

7 Jäger, Siegfried: Diskursive Vergegenkunft. Rassismus <strong>und</strong> Antisemitismus als Effekte von<br />

aktuellen <strong>und</strong> historischen Diskursverschränkungen, 239-252.


Neue Literatur 555<br />

Internetadresse). Eine nicht unbedeutende Rolle spielen hier die Entlehnungsprozesse:<br />

Fast 50% der 700 in dem hier besprochenen Wörterbuch bearbeiteten<br />

Neologismen haben ihren Ursprung im Englischen.<br />

Neologismen stellen ein attraktives Thema für Lexikologen, Wortbildungsforscher<br />

<strong>und</strong> Lexikographen dar; in den einzelnen europäischen lexikographischen<br />

Traditionen werden sie unterschiedlich behandelt. Auf der Basis einer<br />

Auswahl aus Nationalbibliographien (MARTINCOVÁ 1999) tritt die Spezi� k<br />

des deutschen Sprachraumes eindeutig hervor: In der 2. Au� age dieser Bibliographie<br />

(1999) werden für das Englische insgesamt 24 Neologismenwörterbücher<br />

evidiert, für das Französische 14, für das Russische sechs, ferner<br />

drei bulgarische <strong>und</strong> drei polnische Quellen, im Falle des Tschechischen nur<br />

ein Wörterbuch, das Deutsche ist gar nicht vertreten. Dieses De� zit wurde<br />

erst vor drei Jahren zum Teil beglichen. Ein Gr<strong>und</strong> für diese Lage mag wohl<br />

darin liegen, dass die deutsche Neographie nur scheinbar vernachlässigt wurde:<br />

Die deutschen Metalexikographen weisen darauf hin, dass frühere lexikographische<br />

Generationen sich vor allem auf die Problematik des Fremdworts<br />

konzentrierten <strong>und</strong> größere Verlage in der BRD kommerzielle Risiken ernst<br />

genommen haben (WIEGAND 1991: 2185). Die Wahrnehmung neuer Entlehnungen<br />

wurde obendrein sehr lange durch eine historisierende Auffassung von<br />

Nationalsprache <strong>und</strong> eine puristische Einstellung geprägt; der kommunikativ<br />

funktionale Gesichtspunkt wurde, wie u. a. von Polenz (2005) am Beispiel<br />

der Fremdwörter gezeigt hat, lange nicht berücksichtigt. Heute werden Neologismenwörterbücher<br />

als Supplemente der Allgemeinwörterbücher wahrgenommen,<br />

weil sie das Kolorit einer bestimmten Zeitspanne detaillierter <strong>und</strong><br />

aussagekräftiger illustrieren als allgemeine lexikographische Standardwerke.<br />

Die Neologismen im <strong>Deutschen</strong> wurden also jahrelang in den Fremdwörterbüchern<br />

<strong>und</strong> auch in Allgemeinwörterbüchern verzeichnet; als solche sind sie nur<br />

noch im WDG (Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 1961-1977)<br />

konsequent markiert. Demzufolge ist ihre Erfassung meistens sehr schwierig.<br />

Eine besonders ergiebige Quelle stellen deswegen kleinere lexikographische<br />

Werke dar, die den soziolektal geb<strong>und</strong>enen Wortschatz verzeichneten (s. Auswahlbibliographie<br />

bei WIEGAND 1991, Anm. 3).<br />

Das neue Wörterbuch setzt sich zum Ziel, die 1990er Jahre zu bearbeiten.<br />

Die erste Dekade nach der Wiedervereinigung Deutschlands <strong>und</strong> zugleich die<br />

letzte Dekade des Jahrh<strong>und</strong>erts liefert ein gut überschaubares Ganzes, zumal<br />

das reichhaltige lexikalische Material in elektronischer Form erfasst ist. Von<br />

ursprünglich 6000 Lexemen wurden am Ende des Auswahlprozesses 700<br />

Einträge bearbeitet. Diese Wörterbuchartikel sind frei von subjektiven Einschätzungen<br />

<strong>und</strong> werden zugleich drei Kriterien gerecht: Sie repräsentieren a)<br />

das letzte Jahrzehnt des 20. Jh., b) den derzeitigen Usus, c) sie gehören dem<br />

Allgemeinwortschatz an.


556<br />

Neue Literatur<br />

Vor allem das zuletzt genannte Kriterium rückt das Wörterbuch in ein anderes<br />

Licht, wenn wir es mit entsprechenden anderssprachigen Publikationen vergleichen.<br />

Unbeschadet der Interaktion der Soziolekte <strong>und</strong> des Allgemeinwortschatzes<br />

meiden die Autoren den soziolektalen <strong>und</strong> regionalen Bereich, um der für<br />

lexikographische <strong>und</strong> lexikologische Projekte festgelegten Gesamtkonzeption<br />

des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim zu entsprechen. So � ndet der<br />

interessierte Leser Bereiche vertreten, die als symptomatisch für die gewählte<br />

Zeitspanne erscheinen: Elektrotechnik, Internet, Sport <strong>und</strong> Ökonomie. Weniger<br />

vertreten sind die Sphären des Bankwesens, der Freizeitgestaltung, gefolgt von<br />

der Berufs- <strong>und</strong> Bildungswelt, Mode, Verkehr, Telekommunikation. Randbereiche<br />

stellen die Wortschatzneuerungen aus dem Gebiet der Ges<strong>und</strong>heitsp� ege,<br />

Musik <strong>und</strong> der Nahrung dar.<br />

Als Basisquelle dienten ein Korpus, ferner das Internet, populär-wissenschaftliche<br />

<strong>und</strong> wissenschaftliche Texte, die für die 90er Jahre typisch sind. Diese<br />

Gr<strong>und</strong>lage erlaubte eine eingehende Überprüfung des Informationsangebots zur<br />

Flexion, zur Produktivität in der Wortbildung wie auch zur Kollokabilität <strong>und</strong><br />

Syntax im Falle eines jeden analysierten Lexems.<br />

Ein Dilemma bereiteten den Verfassern Neosemantismen (7% der Einträge):<br />

Nur schwer lässt sich entscheiden, ob es sich um einen neuen Verwendungsbereich<br />

oder bereits um die Herausbildung einer neuen Teilbedeutung handelt, so<br />

z. B. bei dem Verb jemandem etwas abziehen (rauben). Die neue Teilbedeutung<br />

ist in der Regel mit Veränderungen des Kollokationsbereichs oder der Valenz<br />

verb<strong>und</strong>en, stilistische Validität einbezogen.<br />

85% der Einträge machen die Substantive aus, fast 10% entfallen auf Verben<br />

(inlineskaten), den Rest nehmen Adjektive (prollig, gelbgesperrt), Adverbien<br />

(mega-out) <strong>und</strong> Interjektionen (ups) in Anspruch. Vertreten sind auch Neophraseologismen<br />

(Kult sein, Schluss mit lustig, bis der Doktor kommt).<br />

Die Übersichtlichkeit des Wörterbuchs mit einem relativ kleinen Inventar fällt<br />

positiv auf; sie war aber nicht die primäre Absicht der Verfasser, sondern ergab<br />

sich als Notwendigkeit aus dem ursprünglichen XML-Format, das die Einbettung<br />

in das langjährige Wortschatzprojekt Elexiko ermöglichen würde. Seit 17.<br />

Juli 2006 sind unter http://www.elexiko.de alle Einträge freigeschaltet. Die für<br />

ein Wörterbuch typische Textverdichtung � ndet nicht statt – Strukturanzeiger<br />

sind in der Metasprache durchgängig bewahrt worden. Im Falle eines Substantivs<br />

sind es: Lemma, Neologismentyp, Rechtschreibvariante, Worttrennung,<br />

Aussprache, Bedeutung (Lesart), Synonyme, Belegsätze, Wortart, Genus, Deklination<br />

mit den Genitiv- <strong>und</strong> Pluralformen, Herkunft <strong>und</strong> Angaben zum ersten<br />

verzeichneten Beleg. Eine bewegliche Komponente stellt der Kommentar<br />

dar, der den betreffenden Eintrag jeweils individuell vervollständigt. Dank dem


XML-basierten Layout sind alle Angaben überaus benutzerfre<strong>und</strong>lich organisiert<br />

<strong>und</strong> erlauben – durch geeignete Schrifttypen unterstützt – auch einen bequemen<br />

Vergleich der einzelnen Einträge miteinander.<br />

Der Vorspann umfasst ein Vorwort von Dieter Herberg <strong>und</strong> Doris Steffens, gefolgt<br />

von einer Einleitung, Hinweisen für den Benutzer <strong>und</strong> einer Abkürzungsliste.<br />

Sehr nützlich ist dann die zweiteilige Bibliographie der nach 1990 erschienenen<br />

<strong>und</strong> beim Projekt verwerteten Werke sowie die Liste der wissenschaftlichen<br />

Quellen, die nicht nur zitierte Sek<strong>und</strong>ärliteratur, sondern auch von den Projektteilnehmern<br />

publizierte Aufsätze umfasst (www.ids-mannheim.de/ll/Neologie/).<br />

Die Berücksichtigung von Wortbildungsbezie<strong>hungen</strong> sowohl in den Wörterbuchartikeln<br />

als auch in der Makrostruktur (vgl. zappen - herumzappen - wegzappen)<br />

sowie die Technik der Verweise <strong>und</strong> Umschreibungen stellen die Vorbildlichkeit<br />

der Bearbeitung unter Beweis. Die elektronische Form erlaubt die Aktualisierung,<br />

z. B. auch die Präsentation von Stichwörtern, die erst nach Erscheinen des<br />

Printwörterbuches als Neologismen der 90er Jahre ermittelt wurden. Eine neue<br />

Wörterbuchau� age ist erst nach der zweiten Dekade zu erwarten.<br />

Die Autoren haben nach jahrelanger Arbeit eine eigene De� nition des Neologismus<br />

vorgelegt, in die die Re� exion eines überaus reichen Textmaterials eingegangen<br />

ist. Die wissenschaftlich f<strong>und</strong>ierte lexikographische Arbeit, wie sie das<br />

vorgelegte Neologismenwörterbuch verkörpert, � ndet ein positives Echo auch<br />

bei der Zielgruppe der Deutschlehrenden an Universitäten im Ausland. Im Falle<br />

der Neologismen sind solche Impulse wichtig, zumal der geradezu explosionsartige<br />

Ausbau des deutschen Wortschatzes im Rahmen des philologischen Studiums<br />

nicht unkommentiert bleiben darf. Für die Autoren zweisprachiger Wörterbücher<br />

stellt das vorgelegte Werk ein unentbehrliches Hilfsmittel dar.<br />

Literatur<br />

Neue Literatur 557<br />

MARTINCOVÁ, Olga u. a. (1999): Neologie a neogra� e. Výb�r z národních<br />

bibliogra� í s Dodatkem. Ústav pro jazyk �eský. Praha: Akademie v�d �eské republiky.<br />

POLENZ, Peter von: Fremdwort <strong>und</strong> Lehnwort sprachwissenschaftlich betrachtet.<br />

www.vds-ev.de/literatur/texte/polenz.php (2.1.2007).<br />

TEUBERT, Wolfgang (Hg.) (1998): Neologie <strong>und</strong> Korpus. Tübingen: Narr.<br />

WIEGAND, Herbert Ernst (1991): Die deutsche Lexikographie der Gegenwart.<br />

– In: Franz Josef Hausmann, Oskar Reichmann, Herbert Ernst Wiegand, Ladislav<br />

Zgusta (Hgg.), Wörterbücher. Dictionaires. Dictionnaries (=Handbücher für<br />

Sprach- <strong>und</strong> Kommunikationswissenschaft 5.2.). Berlin: de Gruyter.<br />

Marie Vachková

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