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Sexualität im Wachkoma - Zentrum für Beatmung und Intensivpflege

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Alle Rechte liegen bei Christine Ahrens©.<br />

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gestattet, wenn der Hinweis auf den Autor<br />

erfolgt.<br />

Berlin, April 2009


Bildungsakademie <strong>und</strong> Wissenschaft <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

Facharbeit zur schriftlichen Prüfung<br />

Pflegeexperte <strong>für</strong> Menschen <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong><br />

Thema:<br />

<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong><br />

Ausgewählte Aspekte<br />

zur Problematik der Erfassung sexueller Bedürfnisse <strong>und</strong> Assistenz<br />

Berlin, <strong>im</strong> April 2009<br />

Autorin:<br />

Christine Ahrens<br />

WK ´08/´09 – Berlin<br />

BaWiG GmbH & CO.KG<br />

Prüfer:<br />

Marcello Ciarrettino<br />

Christian Altmann


Inhaltsangabe<br />

1. Einleitung ......................................................................................................... 4<br />

2. Begriffsklärung<br />

2. 1. <strong>Wachkoma</strong> .............................................................................................. 6<br />

2. 2. Remissionsphasen nach Gerstenbrand ................................................... 6<br />

2. 3. <strong>Sexualität</strong> ................................................................................................ 8<br />

2. 4. Covert Behavior ..................................................................................... 8<br />

2. 5. Surrogat <strong>und</strong> Surrogatperson .................................................................. 9<br />

2. 6. Sexualbegleitung / Sexualassistenz ........................................................ 9<br />

2. 7. Prostitution ............................................................................................. 9<br />

2. 8. Empowerment ...................................................................................... 10<br />

2. 9. Peer Counseling .................................................................................... 10<br />

3. <strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong><br />

3. 1. <strong>Sexualität</strong> in niedrigen Remissionsphasen (1-4) .................................. 11<br />

3. 2. <strong>Sexualität</strong> in höheren Remissionsphasen (5-7) .................................... 12<br />

3. 3. Medikamente ........................................................................................ 13<br />

3.3.1. Antihypertonika ......................................................................... 13<br />

3.3.2. Antidepressiva ........................................................................... 13<br />

3.3.3. Antispasmodika ......................................................................... 14<br />

3.3.4. Sedativa <strong>und</strong> Tranquilizer .......................................................... 14<br />

3.3.5. Psychoaktive Wirkstoffe <strong>und</strong> Opioide ....................................... 14<br />

3. 4. Rollenwechsel des Partners / Veränderung der Partnerschaft .............. 15<br />

3. 5. Angehörigen <strong>und</strong> Mitarbeitern das Thema nahebringen ...................... 16<br />

3 .6. Das Recht auf ein selbstbest<strong>im</strong>mtes Sexualleben ................................. 18<br />

4. Sexualassistenz<br />

4. 1. Passive Sexualassistenz ........................................................................ 21<br />

4. 2. Aktive Sexualassistenz ......................................................................... 21<br />

4. 3. Sexualassistenz vs. Prostitution ............................................................ 22<br />

4. 4. Ablauf einer Sexualbegleitung am Beispiel von Nina de Vries ........... 23<br />

4. 5. Kosten ................................................................................................... 24<br />

4. 6. Streitpunkte der Sexualbegleitung ........................................................ 24<br />

2


5. Rechtliche Aspekte<br />

5. 1. Allgemeingültige Rechtsgr<strong>und</strong>lagen .................................................... 26<br />

5. 2. Sexualassistenz oder sexualisierte Gewalt / Missbrauch ..................... 27<br />

5. 3. Bedeutung der He<strong>im</strong>ordnung <strong>für</strong> die Ausübung von Sexualassistenz ....... 28<br />

5. 4. Missbrauch Schutzbefohlener .............................................................. 29<br />

5. 5. Beschäftigtenschutzgesetz .................................................................... 30<br />

6. Zusammenfassung ......................................................................................... 33<br />

7. Literaturliste .................................................................................................. 35<br />

8. Internetquellen ............................................................................................... 36<br />

9. Eigenständigkeitserklärung .......................................................................... 37<br />

3


1. Einleitung<br />

„<strong>Sexualität</strong> ist,<br />

wenn man ein Tier liebkost,<br />

oder eine Puppe wiegt.<br />

Ist leidenschaftliches Verlangen,<br />

aber auch das ratlose Betrachten eines Menschen,<br />

den man gern hat.<br />

Ist ein verstecktes Lächeln,<br />

oder ein roter Kopf,<br />

wenn man sich ertappt glaubt.<br />

Ist das Abpflücken einer Blume,<br />

das Einatmen von salziger Seeluft –<br />

<strong>Sexualität</strong> ist Musik<br />

oder auch nur ein hübscher flüchtiger Gedanke.“ 1<br />

Wie das Gedicht beschreibt, kann <strong>Sexualität</strong> sehr vieles bedeuten <strong>und</strong> in allen<br />

möglichen Situationen wahrgenommen werden. Es soll eine Anregung sein, die eigenen<br />

Gedanken auf eine kurze Reise zu schicken <strong>und</strong> der Frage des eigenen Verständnisses<br />

zum Thema <strong>Sexualität</strong> nachzugehen.<br />

Gerade in der heutigen Zeit wird man von vielen Seiten (Medien / eigene Umwelt) mit<br />

diesem Thema konfrontiert. Der Stellenwert der <strong>Sexualität</strong> hat damit einhergehend stark<br />

zugenommen <strong>und</strong> einen hohen Grad der Präsenz erreicht. Für einen Großteil der<br />

Menschen ist <strong>Sexualität</strong> daher nicht mehr aus dem öffentlichen Leben <strong>im</strong> Alltag<br />

wegzudenken. Anders formuliert könnte man davon sprechen, dass <strong>Sexualität</strong> an<br />

Normalität zugenommen hat, sodass ungeniert darüber gesprochen wird <strong>und</strong><br />

Erfahrungswerte ungehemmt ausgetauscht werden. Was vor 50 Jahren noch als<br />

persönlichste Int<strong>im</strong>sphäre galt <strong>und</strong> worüber nicht gesprochen wurde, wird heute offen<br />

diskutiert. Jedem Menschen wird eine <strong>Sexualität</strong> zugestanden die er nach ureigensten<br />

Wünschen ausleben darf.<br />

1 http://www.alphanova.at/media/Tagungsunterlagen.pdf ; S. 33 (13.12.08).<br />

4


Die vorliegende Hausarbeit will der Frage nach der „<strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong>“<br />

nachgehen <strong>und</strong> genauer untersuchen, inwieweit einem Menschen <strong>im</strong> Zustand <strong>und</strong><br />

Prozess des <strong>Wachkoma</strong>s eine eigene <strong>Sexualität</strong> zugestanden wird, wie er seinen Körper<br />

wahrn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> seine <strong>Sexualität</strong> – nach Möglichkeit – ausleben kann.<br />

Dabei soll ein besonderes Augenmerk darauf liegen, ob <strong>und</strong> wie es dem Patienten<br />

gelingt seine Meinung zu äußern, gerade in Hinblick auf die verschiedenen<br />

Remissionsphasen. Es sollen Möglichkeiten aufzeigt werden, wie eine gewünschte<br />

<strong>Sexualität</strong> gelebt werden kann - unter Einhaltung rechtlicher Gr<strong>und</strong>lagen.<br />

In den folgenden Ausführungen, wird oftmals das Wort Patient oder Betroffener<br />

benutzt, welches <strong>im</strong>mer den <strong>Wachkoma</strong>patienten meint.<br />

Die Verlaufsformen der Remissionsphasen nach Gerstenbrand zugr<strong>und</strong>elegend, wird in<br />

dieser Hausarbeit vorrangig von jenen <strong>Wachkoma</strong>patienten gesprochen, die sich in<br />

Verlaufsform zwei oder drei befinden. Patienten in Verlaufsform eins werden zwar in<br />

einigen Themenpunkten mitbedacht, haben aber aufgr<strong>und</strong> ihrer geringen Entwicklungs-<br />

chancen in dieser Arbeit nur einen geringen Stellenwert. Ebenso betrifft dies Patienten<br />

in Verlaufsform vier. Aufgr<strong>und</strong> ihrer guten Entwicklungsmöglichkeiten ohne jegliche<br />

Defektsymptomatik sind sie in zeitlich begrenztem Rahmen „schnell“ wieder Herr ihrer<br />

Lage <strong>und</strong> sind nicht so sehr auf Unterstützung in ihrer <strong>Sexualität</strong> angewiesen.<br />

5


2. Begriffsklärung<br />

2.1. <strong>Wachkoma</strong><br />

Der Begriff des <strong>Wachkoma</strong>s kennt in der heutigen Gesellschaft vielerlei Synonyme. So<br />

beschreiben beispielsweise das „Apallische Syndrom“, der „Vegetative State“ <strong>und</strong> das<br />

„Coma Vigile“ ein <strong>und</strong> denselben Zustand. Allen diesen Begriffen inne ist das<br />

neurologische Krankheitsbild, bei dem es zum Ausfall der Großhirnrinde <strong>und</strong> einem<br />

Bewusstseinsverlust kommt, ausgelöst durch verschiedenste Gr<strong>und</strong>erkrankungen bzw.<br />

Unfälle. 2 Die entsprechenden Krankheitssymptome wurden <strong>im</strong> Jahre 1967 vom<br />

Neurologen Franz Gerstenbrand formuliert.<br />

2.2. Remissionsphasen nach Gerstenbrand<br />

Gerstenbrand hat mit seinen 7 Remissionsphasen ein gr<strong>und</strong>legendes Standardwerk<br />

geschaffen, welches noch 40 Jahre später nichts an Bedeutung verloren hat. Im<br />

Folgenden sollen die Phasen beschrieben <strong>und</strong> mit ausgewählten Symptomen umrissen<br />

werden:<br />

Phase 1 – Koma<br />

� Der Patient hat eine tiefe Bewusstseinsstörung <strong>und</strong> öffnet seine Augen nicht.<br />

Phase 2 – Zustand <strong>Wachkoma</strong><br />

� Der Patient zeigt keinerlei emotionale Reaktionen. Er reagiert nur auf<br />

Schmerzreize oder pflegerische Handlungen mit einer reflektorischen<br />

Pr<strong>im</strong>itivmotorik. Auf sonstige äußere Reize zeigt er motorische<br />

Pr<strong>im</strong>itivschablonen <strong>im</strong> Sinne von Massenbewegungen. Orale Mechanismen sind<br />

zu beobachten.<br />

Phase 3 – Pr<strong>im</strong>itiv-psychomotorische Phase<br />

� Mittlerweile kann der Patient kurz Blickkontakt halten, aber ein optisches<br />

Fixieren <strong>und</strong> auch Erkennen des Gesehenen ist noch nicht möglich. Er zeigt jetzt<br />

ein <strong>und</strong>ifferenziertes, ängstliches Verhalten einhergehend mit<br />

psychomotorischen Unruhe-, Abwehr-, Wisch- <strong>und</strong> Strampelbewegungen, die<br />

teilweise noch mit Massenbewegungen verb<strong>und</strong>en sind.<br />

2 Nydahl, Peter (Hrsg.): <strong>Wachkoma</strong> – Betreuung, Pflege <strong>und</strong> Förderung eines Menschen <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong>,<br />

München 2007; S. 4.<br />

6


Phase 4 – Phase des Nachgreifens<br />

� Der Patient zeigt unter Pflege- <strong>und</strong> Therapiemaßnahmen ein deutlich<br />

erkennbares ungeduldiges Verhalten. Alles was greifbar ist wird in den M<strong>und</strong><br />

gesteckt <strong>und</strong> erste m<strong>im</strong>ische Reaktionen wie z. B. ein Lachen oder Schmollen<br />

können beobachtet werden. Ein Unmutsbrummen oder Lallen kommt als<br />

akustisches Symptom dazu. Da der Patient noch situativ desorientiert ist, kann er<br />

verbalen Aufforderungen noch nicht nachkommen.<br />

Phase 5 – Klüver-Bucy-Phase<br />

� Zu diesem Zeitpunkt differenzieren sich die Gefühle des Patienten. Trotzdem<br />

zeigt sich <strong>im</strong>mer wieder ein rasch wechselndes Affektverhalten, bei dem der<br />

Patient in einem Moment zornig reagiert <strong>und</strong> <strong>im</strong> nächsten ein Schmeichel- <strong>und</strong><br />

Streichelverhalten zeigt. Dies geht einher mit einem fehlenden Schamgefühl.<br />

Eine erste Codesprache ist möglich.<br />

Phase 6 – Korsakow - Phase<br />

� Mit zunehmendem Erwachen von Gefühlsleben <strong>und</strong> Orientierung wird der<br />

Patient sich seiner eigenen St<strong>im</strong>mung bewusst. Er kann nun am Sprachaufbau<br />

arbeiten sowie an komplexeren, koordinierten Bewegungsabläufen.<br />

Phase 7 – Integrationsstadium<br />

� Im Rahmen seiner motorischen Fähigkeiten wird der Patient zunehmend<br />

unabhängiger. Es gelingt ihm die Einstellung zu sich selbst <strong>und</strong> der Behinderung<br />

zu positiveren. Da die Orientierung weitgehend vorhanden ist, ist ein sinnvolles<br />

Handeln möglich. 3<br />

Während seiner Beobachtungen konnte Gerstenbrand vier verschiedene Verlaufsformen<br />

feststellen. Die erste Form beschreibt das Bestehenbleiben der apallischen Phase. In der<br />

zweiten kommt der Patient zwar über die apallische Phase hinaus, bleibt aber mit seiner<br />

Entwicklung in einer Remissionsphase stehen. In der dritten Verlaufsform gelangt ein<br />

Patient durch alle Remissionsphasen, behält aber einen Defekt zurück (Defektstadium),<br />

während die letzte Form ein zeitlich begrenztes Durchgangssyndrom ohne<br />

Restsymptomatik ist. 4<br />

3 Friesacher, Heiner; Grünewald, Matthias u. a.: - Fachzeitschrift <strong>für</strong> <strong>Intensivpflege</strong> <strong>und</strong> Anästhesie 2005 /<br />

Nr. 13; S. 3ff.<br />

4 Ebd.; S. 2.<br />

7


2.3. <strong>Sexualität</strong><br />

„Allgemein auch Geschlechtlichkeit; Bezeichnung <strong>für</strong> eine sehr allgemeine <strong>und</strong><br />

gr<strong>und</strong>legende Äußerung des Lebens mit drei Gr<strong>und</strong>funktionen:<br />

1. Fortpflanzung (reproduktiv)<br />

2.Beziehung <strong>und</strong> Kommunikation (sozialisierend)<br />

3. Lustgewinn <strong>und</strong> Befriedigung (rekreativ) bei Menschen […].“ 5<br />

Diese Definition erscheint sehr gradlinig <strong>und</strong> auf das Nötigste reduziert, jedoch ist der<br />

Begriff <strong>Sexualität</strong> sehr viel differenzierter zu betrachten. Es erscheint angebracht dem<br />

eine weitere Begriffsklärung gegenüberzustellen, um damit individuelle Freiräume <strong>für</strong><br />

eigene Gedanken zu geben.<br />

„Sie ist eine teure oder billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen<br />

Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression, der<br />

Herrschaft, der Macht, der Strafe <strong>und</strong> der Unterdrückung. Ein kurzweiliger<br />

Zeitvertreib, Liebe, Kunst, Schönheit, ein Gr<strong>und</strong> zur Selbstachtung, eine Form der<br />

Zärtlichkeit, eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen,<br />

Spiritualität, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder<br />

Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Technik, eine<br />

biologische Funktion, Ausdruck psychischer Ges<strong>und</strong>heit oder Krankheit oder einfach<br />

eine sinnliche Erfahrung […]“ 6<br />

2.4. Covert Behavior<br />

Es handelt sich hierbei um ein verdecktes, inneres Verhalten (Wahrnehmen <strong>und</strong><br />

Empfinden), dass sich durch keinerlei äußere Reaktionen ableiten bzw. ablesen lässt. 7<br />

Mit Hilfe von technischen Geräten ist es jedoch möglich „innere Veränderungen“<br />

aufzuzeichnen <strong>und</strong> anhand derer mögliche Interpretationen zu wagen. Als Möglichkeit<br />

der Aufzeichnung sollen als Beispiel das Elektro-Enzephalogramm oder Monitoring<br />

genannt werden. 8<br />

5 Dressler, Stephan <strong>und</strong> Christoph Zink (Berarb.): Pschyrembel - Wörterbuch <strong>Sexualität</strong>, Berlin 2003; S. 485.<br />

6 http://www.alphanova.at/media/Tagungsunterlagen.pdf; S. 26ff. (15.03.09).<br />

7 Wegner, Gudrun: Rechtsfragen des <strong>Wachkoma</strong>s, Hamburg 2006; S. 27.<br />

8 http://www.wachkoma.at/Informationen/Info_Dokumente/Zieger_intensiv_2002.pdf; S. 266. (03.04.09).<br />

8


2.5. Surrogat <strong>und</strong> Surrogatperson<br />

Der Begriff „Surrogat“ – vom lat. „surrogatus“ – bedeutet „an die Stelle eines anderen<br />

gewählt.“ 9 Die Surrogatperson bezeichnet demnach Fachpersonen, die auswählte<br />

Formen der Sexualtherapie anbieten <strong>und</strong> in diesem Zusammenhang körperlichen<br />

Kontakt zum Patienten aufnehmen <strong>und</strong> entsprechende Aktivitäten praktisch üben. 10<br />

2.6. Sexualbegleitung / Sexualassistenz<br />

Sexualbegleitung beschreibt das Zusammentreffen eines Patienten <strong>und</strong> eines<br />

Sexualbegleiters innerhalb einer zeitlich begrenzten Surrogatpartnerschaft. Während<br />

dieses Zeitraumes ist es dem Patienten möglich, unabhängig von der Außenwelt <strong>und</strong> mit<br />

Hilfe des Begleiters, neue Erfahrungen mit seinem Körper <strong>und</strong> seiner <strong>Sexualität</strong> zu<br />

sammeln. Der Patient soll seinen Körper nicht mehr als defizitären Feind ansehen,<br />

sondern lernen seine Ressourcen zu erkennen, sie anzunehmen, sich als lustvoll zu<br />

erfahren <strong>und</strong> wohl zu fühlen. Im weiteren Verlauf stellt die Sexualbegleitung eine<br />

Vorbereitung auf das reale Leben dar, die den Patienten befähigen soll zukünftig selbst<br />

Beziehungen zu knüpfen <strong>und</strong> zu erhalten sowie die eigene <strong>Sexualität</strong> weiter zu<br />

entdecken. Die Leistungen, die seitens des Surrogats erbracht werden, schließen in den<br />

meisten Fällen direkten Oral-, Vaginal- oder Analverkehr aus. 11<br />

2.7. Prostitution<br />

Prostitution ist eine Dienstleistung, die <strong>für</strong> eine entsprechende Entlohnung oder einen<br />

gleichwerten Vorteil, sexuelle Dienste anbietet <strong>und</strong> erbringt. Oral-, Vaginal- <strong>und</strong><br />

Analverkehr ist hierbei möglich. 12<br />

9 Pschyrembel, Willibald (Hrsg.): Pschyrembel - Klinisches Wörterbuch, Berlin; S. 1615.<br />

10 Pschyrembel - Wörterbuch <strong>Sexualität</strong>; S. 527.<br />

11 http://www.isbbtrebel.de/sexualbegleitung.htm; (03.01.09).<br />

12 Pschyrembel - Wörterbuch <strong>Sexualität</strong>; S. 415.<br />

9


2.8. Empowerment<br />

Der Begriff Empowerment bedeutet wörtlich übertragen soviel wie „Ermächtigung“<br />

oder „Bevollmächtigung“. Dabei gibt es Strategien <strong>und</strong> Maßnahmen nach denen<br />

geschulte Therapeuten anderen helfen können, ihre Autonomie <strong>und</strong> somit auch den<br />

Grad der Selbstbest<strong>im</strong>mung zu steigern. Dieser Prozess beginnt anfänglich damit dem<br />

Patienten aufzuzeigen, wo seine Ressourcen liegen <strong>und</strong> wie er sie richtig einsetzen<br />

kann. So wird angestrebt einen größtmöglichen Grad der Autonomie zu erreichen <strong>und</strong><br />

den Patienten zu befähigen seine eigenen Interessen selbständig, selbstverantwortlich<br />

<strong>und</strong> couragiert zu vertreten <strong>und</strong> umzusetzen. 13<br />

2.9. Peer Counseling<br />

„Peer“ ist ein englischer Begriff, der gleichaltrige oder gleichgestellte Personen<br />

beschreibt. „Counseling“ bezeichnet dagegen die „Beratung Gleichgesinnter“. Im<br />

deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff als „Behinderte beraten Behinderte“<br />

übersetzt. Der Vorteil dessen liegt auf der Hand, indem Beratender <strong>und</strong> zu Beratender in<br />

einer gleichen oder ähnlichen Situation sind. Es können offen <strong>und</strong> direkt Probleme<br />

angesprochen werden, ohne dass ein Gefühl der Ausgrenzung entstehen muss. 14<br />

13 http://www.empowerment.de/gr<strong>und</strong>lagentext.html; (13.03.09).<br />

14 http://www.bzsl.de/bzsl/beratung_peer_counseling.php; (23.03.09).<br />

10


3. <strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong><br />

3.1. <strong>Sexualität</strong> in niedrigen Remissionsphasen (1-4)<br />

Oft begegnet es Pflegenden in der Praxis, dass sich Pflegbedürftige mehr oder weniger<br />

offensichtlich in ihrer <strong>Sexualität</strong> angesprochen fühlen <strong>und</strong> dem entsprechend reagieren.<br />

Auch <strong>im</strong> Arbeitsalltag mit <strong>Wachkoma</strong>patienten ist <strong>Sexualität</strong> ein Thema.<br />

Besonders in Bezug auf Männer in niedrigen Remissionsphasen kann gelegentlich<br />

beobachtet werden, dass sie sowohl selbstständig eine Erektion entwickeln, als auch<br />

unter der Körperpflege. Dies gilt <strong>für</strong> Männer jeder Altersstufen; gehäuft ist dies aber bei<br />

Jugendlichen <strong>und</strong> jungen Erwachsenen zu sehen. Als Pflegender reagiert man, gemäß<br />

seiner Ausbildungswerte, entweder mit einem stillen „Rückzug“ oder man „übersieht“<br />

diese Beobachtung während der Pflege geflissentlich. 15 Bei Frauen hingegen ist es<br />

schwierig Körperveränderungen aufgr<strong>und</strong> sexuellen Verlangens zu erkennen. So oder so<br />

macht es die Situation <strong>für</strong> die Pflegenden nicht leichter. Solang die <strong>Wachkoma</strong>patienten<br />

nicht in der Lage sind sich auszudrücken <strong>und</strong> Bedürfnisse mitzuteilen, kann die<br />

Pflegekraft nur interpretieren, was körperliche Reaktionen dieser Art zu bedeuten<br />

haben.<br />

Das zerebrale System (Vorderhirn <strong>und</strong> zentrales Nervensystem), welches zwar durch<br />

eine krankheitsbedingte Ursache oder einen Unfall Schädigungen erfahren hat, spielt<br />

<strong>im</strong>mer noch eine Hauptrolle bei der sexuellen Erregung. Nach empfangenen Signalen<br />

werden weiterhin Impulse über die intakten Nervenbahnen zu den Sinnesorganen<br />

gesendet <strong>und</strong> beeinflussen so z. B. Erektionen oder die Lubrikation der Frau. So erklärt<br />

sich auch warum es zu spontanen Erektionen bei <strong>Wachkoma</strong>patienten kommen kann,<br />

ohne dass es einer direkten St<strong>im</strong>ulation der Genitalien bedarf. Sexuelle Reize erhält der<br />

Patient ausschließlich durch das Vorderhirn. 16<br />

Häufig haben Pflegekräfte <strong>und</strong> andere betreuende Personen wenig oder auch keine<br />

Kenntnis davon, wie der <strong>Wachkoma</strong>patient sich vor der lebensveränderten Situation<br />

sexuell ausgelebt hat. In Hinblick auf Libido- <strong>und</strong> Leistungsunterschiede muss eine<br />

Erektion bzw. Lubrikation demnach nicht aufgr<strong>und</strong> der situativen Libido erfolgen,<br />

sondern kann eine Reaktion auf einen mechanischen Reiz sein. 17<br />

15<br />

Schäffler, Arne <strong>und</strong> Nicole Menche u. a. (Hrsg.): Pflege heute – Lehrbuch <strong>und</strong> Atlas <strong>für</strong> Pflegeberufe,<br />

München 2000; S. 242.<br />

16<br />

Offenhausen, Hermann B. F.: Behinderung <strong>und</strong> <strong>Sexualität</strong> – Probleme <strong>und</strong> Lösungsmöglichkeiten,<br />

Bonn 1981; S. 36.<br />

17 Ebd. S. 43.<br />

11


Ob die getroffene Interpretation <strong>im</strong>mer den Bedürfnissen entspricht, sei – mit Rücksicht<br />

auf das Covert Behavior des Patienten – zunächst in Frage gestellt. Vor einem solchen<br />

Hintergr<strong>und</strong> ist es gr<strong>und</strong>sätzlich wichtig, jegliche sexuelle Bedürfnisbefriedigungen<br />

seitens der Pflegekräfte, Angehörigen <strong>und</strong> Betreuer zu unterlassen. Dieses stellt <strong>im</strong><br />

Zweifelsfall, der unter diesen Voraussetzungen <strong>im</strong>mer gegeben ist, einen sexuellen<br />

Missbrauch dar. Von daher müssen sexuelle Reaktionen der Patienten als gegeben<br />

hingenommen werden. Es darf zu keinen sexuellen Handlungen kommen, da sich die<br />

entsprechenden Personen sonst strafbar machen. (siehe auch 5. Rechtliche Aspekte)<br />

3.2. <strong>Sexualität</strong> in höheren Remissionsphasen (5-7)<br />

Erreicht ein <strong>Wachkoma</strong>patient Remissionsphase 5, die so genannte Klüver-Bucy-Phase,<br />

entwickelt er ein bedingtes Sprach- <strong>und</strong> Situationsverhältnis. Ab diesem Zeitpunkt ist es<br />

möglich eine individuelle Codesprache zu entwickeln. 18 Ob dabei ein zwe<strong>im</strong>aliges<br />

Augenzwinkern oder ein fester Händedruck ein Ja bedeutet, hängt von den individuellen<br />

Fähigkeiten des Patienten ab. Dies schafft <strong>für</strong> den Betroffenen erstmals die Möglichkeit,<br />

Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche zu äußern. Unter anderem beginnen einige Patienten mit dem<br />

Versuch der Masturbation. Da sie jedoch ihre eigenen Fähigkeiten <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

noch nicht richtig einschätzen können, misslingen die Versuche aufgr<strong>und</strong> körperlicher<br />

Bewegungseinschränkungen. Als unangenehm wird die Situation von den Betroffenen<br />

nicht empf<strong>und</strong>en, da ihnen noch das Schamgefühl fehlt. In den nachfolgenden Phasen<br />

erwacht ihr Gefühlsleben mehr <strong>und</strong> mehr, sodass sie sich ihrer eigenen St<strong>im</strong>mung<br />

zunehmend bewusst werden. 19 Angehörige <strong>und</strong> Pflegende können sich mit den<br />

Betroffenen auseinander setzen <strong>und</strong> sexuelle Bedürfnisse zur Sprache bringen. Im<br />

Vergleich zu <strong>Wachkoma</strong>patienten in Remissionsphase 1-4, können jetzt, bei<br />

eindeutigem Einverständnis, sexuelle Unterstützung bzw. Handlungen erfolgen, ohne<br />

dass sich der Unterstützende strafbar macht.<br />

18 Friesacher, Heiner; Grünewald, Matthias u. a.: Intensiv - Fachzeitschrift <strong>für</strong> <strong>Intensivpflege</strong> <strong>und</strong><br />

Anästhesie 2005 / Nr. 13; S. 3.<br />

19 Ebd.; S. 3-4.<br />

12


3.3. Medikamente<br />

Ein wichtiger Punkt <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Libido <strong>und</strong> dem sexuellen<br />

Leistungsvermögen sind Medikamente. Diverse Präparate werden oft in Kombination<br />

verschrieben, um unterschiedlichsten Symptomen vorzubeugen bzw. sie zu lindern.<br />

Unter den Medikamenten gibt es Präparate, die gegenteilige Auswirkungen auf die<br />

<strong>Sexualität</strong> haben. Zum einen ist eine allgemein depressive, dämpfende Wirkung auf das<br />

Zentralnervensystem möglich. Zum anderen gibt es spezifische Auswirkungen auf das<br />

autonome Nervensystem, die direkten Einfluss auf die Sexualfunktion haben.<br />

Insbesondere Männer leiden oftmals unter der Beeinflussung des autonomen<br />

Nervensystems. Manchmal kann es, durch besagte Medikamentenkombinationen, auch<br />

zu einem gleichzeitigen Eintritt beider Wirkweisen kommen. Im Weiteren sollen einige<br />

Medikamentengruppen kurz dargestellt werden. 20<br />

3.3.1. Antihypertonika<br />

Antihypertonika bewirken durch eine Vasodilatation eine Blutdrucksenkung.<br />

Gleichzeitig wird damit die Wirkung des Adrenalins etwas gehemmt, was in manchen<br />

Fällen zu Impotenz <strong>und</strong> Nachlassen der sexuellen Funktion führen kann. Ein Wirkstoff,<br />

der oft in diesem Bereich eingesetzt wird, nennt sich Reserpin. Bei Frauen kann sich<br />

dieses Mittel auch ovulationshemmend auswirken, sodass darin noch einmal eine<br />

zusätzlich dämpfende Auswirkung auf die Libido besteht. 21<br />

3.3.2. Antidepressiva<br />

Die Depression ist eine Diagnose, die in den letzten Jahren vermehrt gestellt wurde.<br />

Damit einhergehend ist ein reduzierter Sexualantrieb, ein reduziertes Interesse an<br />

<strong>Sexualität</strong> <strong>und</strong> an sexuellen Aktivitäten. Während der Behandlung einer solchen<br />

Erkrankung kommt es oft zum Einsatz von Antidepressiva. Eine erste Gruppe an<br />

Antidepressiva die eingesetzt wird hat trizyklische Komponenten. Die genaue<br />

antidepressive Wirkung ist zwar noch nicht vollständig erforscht, jedoch geht man<br />

davon aus, dass sie ähnliche Auswirkungen wie die Antihypertonika haben. Eine zweite<br />

Präparatgruppe sind die Monoaminooxidase-Hemmer, die auch bei einem Hypertonus<br />

20 Behinderung <strong>und</strong> <strong>Sexualität</strong>; S. 136.<br />

21 Ebd.; S. 136-137.<br />

13


eingesetzt werden. Sie bewirken an den adrenergischen Nervenenden eine Blockierung<br />

der Innervation der Sexualdrüsen sowie eine zentrale Depression. 22<br />

3.3.3. Antispasmodika<br />

Krampfmittel wirken sich relaxierend auf Muskeln <strong>im</strong> Magendarmtrakt, des<br />

Gallentraktes, des Harnleiters <strong>und</strong> der Gebärmutter aus. Da sie sich zudem auf die<br />

Ganglien auswirken <strong>und</strong> sie blockieren können, kann Impotenz eine Folge sein. 23<br />

3.3.4. Sedativa <strong>und</strong> Tranquilizer<br />

Phenothiazine <strong>und</strong> Benzodiazepine sind zwei der am häufigsten angewandten<br />

Wirkstoffgruppen. Beiden gleich, ist eine gr<strong>und</strong>legend dämpfende Wirkung auf sexuelle<br />

Aktivitäten des Menschen, da sie Müdigkeit <strong>und</strong> Mattigkeit hervorrufen können. Einige<br />

mögliche Folgen daraus sind Impotenz, gedämpfte Libido <strong>und</strong> Ejakulationsstörungen,<br />

wobei die Erektion <strong>und</strong> die Fähigkeit zum Orgasmus <strong>im</strong> Allgemeinen nicht gestört<br />

sind. 24<br />

3.3.5. Psychoaktive Wirkstoffe <strong>und</strong> Opioide<br />

Wirkstoffe aus dieser Gruppe die <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong>bereich wahrscheinlich am häufigsten<br />

eingesetzt werden, sind natürlich vorkommende psychoaktive Substanzen, wie<br />

Morphium oder synthetische Opioide wie Fentanyl. Diese Stoffe können unter gewissen<br />

Umständen eine durchaus positive Auswirkung auf die <strong>Sexualität</strong> mancher Menschen<br />

haben. Unter Einnahme dieser Wirkstoffe kann es nämlich, ähnlich wie bei der<br />

Einnahme von Alkohol, zu einem Abbau von Hemmungen kommen. Meist jedoch ist<br />

ein Nachlassen des Sexualverhaltens zu beobachten. Dieser Fall tritt dann ein, wenn<br />

entsprechende Mittel zu häufig oder zu hoch dosiert eingenommen werden. Sie führen<br />

zu einer Dämpfung des Sexualtriebes <strong>und</strong> der Sexualfunktionen. 25<br />

22<br />

Behinderung <strong>und</strong> <strong>Sexualität</strong>; S. 137.<br />

23<br />

Ebd.; S. 138.<br />

24<br />

Ebd.; S. 138.<br />

25<br />

Ebd.; S. 140-141.<br />

14


3.4. Rollenwechsel des Partners / Veränderung der Partnerschaft<br />

Für eine Partnerschaft stellt die Diagnose <strong>Wachkoma</strong> zunächst eine große Ohnmacht <strong>und</strong><br />

Hilflosigkeit <strong>und</strong> in Bezug auf die sexuelle Beziehung eine große Herausforderung dar.<br />

Die Partnerschaft verändert sich massiv. Es kommt zu einem Rollenwechsel des ges<strong>und</strong>en<br />

Partners. 26 Das heißt, er (der ges<strong>und</strong>e Partner) stellt jetzt nicht mehr nur den Ehemann/-<br />

frau, Lebensgefährten/-in, Liebhaber/-in, Vater, Mutter der gemeinsamen Kinder etc. dar.<br />

“Je nach Starre des Rollenverhaltens <strong>und</strong> Art der Partnerschaft wird der Rollentausch<br />

besser oder schlechter vollzogen <strong>und</strong> verkraftet.“ 27 Der ges<strong>und</strong>e Partner wird also je<br />

nachdem, mehr oder weniger zum Pflegenden. Entweder leistet er die Betreuung oder<br />

pflegerische Hilfestellung. Unter Umständen übernehmen diese Angehörigen auch die<br />

vollständige Versorgung in der häuslichen Umgebung. 28 Wenn man davon ausgeht, dass<br />

der Partner die komplette Pflege, das heißt auch die Int<strong>im</strong>pflege, Inkontinenzversorgung<br />

etc. allein auf sich n<strong>im</strong>mt, ist es sicherlich verständlich, wenn jegliches sexuelles Interesse<br />

be<strong>im</strong> ges<strong>und</strong>en Partner verloren geht. „Pflege <strong>und</strong> Erotik muss strengstens getrennt sein,<br />

um eine beidseitige Begehrlichkeit aufrechtzuerhalten. Wer seinen Partner waschen,<br />

abtrocknen, anziehen, frisieren muss, der kann ihn unmöglich in einem autonomen<br />

Lustbereich wahrnehmen.“ 29 Andererseits ist auch oft zu beobachten, dass der ges<strong>und</strong>e<br />

Partner sich zunehmend überfordert fühlt mit der Situation <strong>und</strong> sich mehr <strong>und</strong> mehr vom<br />

betroffenen Partner zurückzieht. Nicht wenige Beziehungen scheitern, da der ges<strong>und</strong>e<br />

Partner <strong>für</strong> sich neue Lebensinhalte bzw. Lebensziele formuliert. Pflegekräfte <strong>und</strong><br />

sonstige Angehörige müssen in diesem Fall die Entscheidung akzeptieren, denn mit dem<br />

Rollenwechsel einher geht auch die Änderung des Blickwinkels dem betroffenen Partner<br />

gegenüber. Der <strong>Wachkoma</strong>patient hat oftmals starke Persönlichkeitsveränderungen,<br />

sodass Angehörige bzw. Partner die geliebte Person nicht wieder erkennen. Diesem liegt<br />

der Ausfall der Großhirnrinde zu Gr<strong>und</strong>e, die Bewusstsein <strong>und</strong> Persönlichkeit<br />

beherbergt. 30<br />

Es gibt aber auch Partner, die, trotz aller Trauer über diesen Zustand, eine enorme<br />

Hoffnung damit verknüpfen, wenn sie täglich <strong>für</strong> den geliebten Menschen da sind <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />

26 Horn, Anette: Pflegende Angehörige wachkomatöser Menschen, Bern 2008; S. 107.<br />

27 Brunen, M. Helgard <strong>und</strong> Eva Elisabeth Herold (Hrsg.): Ambulante Pflege – Die Pflege ges<strong>und</strong>er <strong>und</strong><br />

kranker Menschen (Band 1 – Gr<strong>und</strong>lagen – Ganzheitliche, integrative Pflege), Hannover 2001; S. 468.<br />

28 Pflegende Angehörige wachkomatöser Menschen; S. 118.<br />

29 http://www.alphanova.at/media/Tagungsunterlagen.pdf; S. 29. (13.12.08).<br />

30 www.wachkoma.at/Informationen/Info_Dokumente/persoenlichkeit.pdf; S. 2. (23.03.09).<br />

15


Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchen sie zu fördern. 31 Das beginnt bei passiven<br />

Bewegungsübungen, Organisieren von alternativen Therapiemöglichkeiten, bis hin zum<br />

Kuscheln <strong>und</strong> Liebkosen. Diese Partner vernachlässigen oft zunehmend ihre eigene<br />

Selbstständigkeit <strong>und</strong> Freizeit. Sie gestehen sich selbst keine Freiräume mehr zu <strong>und</strong> ihr<br />

Alltag spielt sich häufig nur noch zwischen der Arbeit, eventueller Kindererziehung <strong>und</strong><br />

dem Pflegehe<strong>im</strong> ab. 32<br />

Wie oben erwähnt scheitern viele Beziehungen schon frühzeitig nach Eintreten des<br />

<strong>Wachkoma</strong>zustandes. Doch auch in späteren Remissionsphasen kann es dazu kommen.<br />

Gründe hier<strong>für</strong> sind hier sicherlich die zunehmend erkennbaren Wesensveränderungen des<br />

betroffenen Partners, aber auch ganz praktische Dinge, die einem Wiederbeleben des<br />

„alten“ Sexuallebens <strong>im</strong> Wege stehen. Anzuführen sind dabei die mögliche Harn- <strong>und</strong><br />

Stuhlinkontinenz, Spastiken oder gar Kontrakturen. Die Angst des postapallischen Patienten<br />

während des sexuellen Verkehrs Harn oder Stuhl zu verlieren, ist mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit sehr groß. 33 Im Gegenzug kann möglicherweise der Partner sich davor<br />

ekeln. Spastiken können <strong>im</strong> aktiven Sexualleben hinderlich sein, da sie bei Anstrengung oft<br />

stärker werden. Im Zusammenhang mit entstandenen Kontrakturen sind zudem nicht mehr<br />

bisher vertraute Stellungen möglich. 34 Dies sind Probleme mit denen der Betroffene <strong>und</strong> der<br />

Partner zunächst lernen müssen umzugehen. „Manche Eheleute würden aber eher auf ein<br />

aktives Sexualleben verzichten, als auf eine intakte <strong>und</strong> erfüllende Beziehung.“ 35<br />

3.5. Angehörigen <strong>und</strong> Mitarbeitern das Thema <strong>Sexualität</strong> nahebringen<br />

Das Thema <strong>Sexualität</strong> findet <strong>im</strong> Pflegealltag <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gespräch mit Angehörigen so gut wie<br />

gar keinen Platz, da es <strong>für</strong> beide Seiten ein überschreiten der Int<strong>im</strong>sphäre darstellt -selbst<br />

wenn es dabei um den Betroffenen selbst geht. Es fällt vielen Partnern schwer ein solch<br />

sensibles Thema Pflegenden gegenüber offen anzusprechen <strong>und</strong> darzustellen, dass sowohl<br />

der Betroffene als auch sie selbst als Partner ein sexuelles Verlangen spüren. „Für<br />

Angehörige <strong>und</strong> Pfleger bedeutet der Umgang mit der <strong>Sexualität</strong> der betreuten Menschen<br />

auch eine persönliche Herausforderung. Einen Menschen dabei zu unterstützen, eine<br />

sexuelle Identität zu entwickeln <strong>und</strong> diese auch zu leben, erfordert zwangsläufig eine<br />

31<br />

Pflegende Angehörige wachkomatöser Menschen; S.114.<br />

32<br />

Pflegende Angehörige wachkomatöser Menschen; S.104 <strong>und</strong> 107.<br />

33<br />

<strong>Wachkoma</strong>; S. 6.<br />

34<br />

http://www.uni-kassel.de/fb4/issl/wind/pdf/referat_s_<strong>und</strong>_b_bei_querschnittlaehmung.pdf; S. 6. (13.12.08).<br />

35 Ebd.; S. 7.<br />

16


Auseinandersetzung mit der eigenen <strong>Sexualität</strong>.“ 36 Angehörige haben nach dem akuten<br />

Eintritt des <strong>Wachkoma</strong>s in vielen Fällen ein Pflichtbewusstsein, das durch die Gesellschaft<br />

vorgeformt ist. Sie haben oftmals das Gefühl, nun alles <strong>für</strong> den kranken Partner tun zu<br />

müssen, damit es ihm schnell wieder besser geht. In dieser Situation haben Gedanken r<strong>und</strong><br />

um das Thema <strong>Sexualität</strong> keinen Platz – obwohl es in der Paarbeziehung bislang täglich<br />

Thema war <strong>und</strong> sei es nur ein best<strong>im</strong>mter Blick, eine Berührung gewesen. Dem ges<strong>und</strong>en<br />

Partner, der nach einigen Wochen oder Monaten den ersten Schock überw<strong>und</strong>en hat,<br />

kommen sicherlich irgendwann Gedanken zur Zukunft der eigenen <strong>Sexualität</strong>. 37 Je nach<br />

Persönlichkeit gibt es Angehörige, die sich schuldig fühlen, solche Gedanken zu haben. Sie<br />

fühlen sich einerseits von gesellschaftlichen Normen gezwungen, eigene Bedürfnisse<br />

zurückzustellen <strong>und</strong> allein nach dem Wohl des kranken Partners zu handeln. Andererseits<br />

bringt es den einen oder anderen auf die Idee, wie der betroffene Partner wohl in diesem<br />

Moment dazu steht. Bekommt er mit, dass ich ihn besuche? Wenn ja, findet er mich noch<br />

attraktiv? Findet er sich noch attraktiv? Kann er Lust empfinden? Wenn mein Partner<br />

jemals aus dem <strong>Wachkoma</strong> erwacht <strong>und</strong> eine Behinderung zurück behält, wie wird die<br />

Gesellschaft darauf reagieren, mit einem Behinderten Sex zu haben bzw. <strong>Sexualität</strong> zu<br />

leben?<br />

Als ges<strong>und</strong>er Mensch hält man Abstand zu Personen, die einem fremd oder wenig bekannt<br />

sind. Als Pflegeperson bzw. pflegender Angehöriger ist man gewissermaßen „gezwungen“<br />

diese Distanz zu durchbrechen <strong>und</strong> zu einem Abstand überzugehen, der sich<br />

allgemeingültig als int<strong>im</strong> bezeichnen lässt. Hierzu zählen Abstände von 15-50 cm bis hin zu<br />

direktem Kontakt, der eigentlich nur zu den eigenen Kindern oder dem Ehepartner<br />

existiert. 38 Wenn diese Distanzminderung aufgr<strong>und</strong> der Pflegebedürftigkeit zustande<br />

kommt, kann es beiderseits zu unangenehmen Gefühlen kommen, die teils auf Erziehung<br />

oder auf gesellschaftliche Normen zurückzuführen sind. Denn als ges<strong>und</strong>er,<br />

situationsgeb<strong>und</strong>ener Mensch ist man <strong>für</strong> spezielle Erfordernisse bereit, sich, beispielsweise<br />

<strong>für</strong> Untersuchungen, zu entkleiden oder Berührungen <strong>im</strong> Int<strong>im</strong>bereich zuzulassen. Man<br />

erduldet das Gefühl der Nacktheit, aber es bedarf doch einer hohen psychischen Kraft dies<br />

auszuhalten. 39 Meist wird diese Nähe <strong>für</strong> Pflegende schnell zur Routine. Sie machen sich<br />

nur noch wenig Gedanken über die Persönlichkeit, die sie vor sich haben. Sie schauen eher<br />

36 http://www.goethe.de/Ins/eg/prj/jgd/the/tab/de2762624.htm; (13.12.08).<br />

37 Pflegende Angehörige wachkomatöser Menschen; S. 109.<br />

38 Pflege heute; S. 242.<br />

39 Pflege heute; S. 242.<br />

17


ob es Auffälligkeiten aus pflegerischem Blickwinkel gibt. Die Gedanken sind also rein<br />

professioneller Natur.<br />

Um sowohl Angehörigen als auch Mitarbeitern nun dieses Thema bzw. AEDL (Aktivitäten<br />

<strong>und</strong> existenzielle Erfahrungen des Lebens) ins Bewusstsein zu rufen <strong>und</strong> sie etwas zu<br />

sensibilisieren, bietet es sich an Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung zu suchen. So gibt es Vereine, die<br />

sich mit der <strong>Sexualität</strong> Behinderter auseinandersetzten <strong>und</strong> sich da<strong>für</strong> einsetzen. Zudem<br />

bieten Beratungsstellen, wie z. B. Pro Familia 40 41 , Informationen zu diesen Themen.<br />

Sexualbegleiter / Sexualassistenten, die sich auf die Begleitung behinderter Menschen<br />

spezialisiert haben, geben ebenfalls Hilfestellungen, so auch in Informationsabenden <strong>für</strong><br />

Pflegeeinrichtungen. 42<br />

3.6. Das Recht auf ein selbstbest<strong>im</strong>mtes Sexualleben<br />

„They are regularly treated like children, given very little responsibility over their lives,<br />

expected to behave in ways differently to the rest of the population and definitely not<br />

expected to be sexual.” 43<br />

„Viele Menschen nehmen einfach an, dass schwere körperliche oder geistige<br />

Behinderungen gleichzeitig ein befriedigendes Geschlechtsleben ausschließen.” 44<br />

Wie an diesen Zitaten zu erkennen ist, ist eine zugestandene <strong>Sexualität</strong> <strong>für</strong> körperlich <strong>und</strong><br />

geistig Behinderte nicht selbstverständlich. Dennoch ist es <strong>für</strong> <strong>Wachkoma</strong>patienten ebenso<br />

wichtig, wie <strong>für</strong> andere Menschen auch, selbst über ihre <strong>Sexualität</strong> zu entscheiden <strong>und</strong> sie<br />

nach eigenen Vorstellungen auszuleben sobald sie in der Lage sind eine eindeutige<br />

Willensbek<strong>und</strong>ung auszudrücken. „Das verlangt oft eine kritische Auseinandersetzung mit<br />

der eigenen Erziehung <strong>und</strong> Mut zum eigenen Körper.“ 45 In der Phase von Klüver-Bucy, in<br />

der den Betroffenen noch jegliches Schamgefühl fehlt, sehen sie in ihren autonomen<br />

Handlungen nichts Schl<strong>im</strong>mes oder gar Verwerfliches. So kann es beispielsweise dazu<br />

kommen, dass Betroffene fast den ganzen Tag damit versucht sind, sich selbst zu<br />

40 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 75. (15.03.09).<br />

41 http://www.profamilia.de/shop/download/203.pdf; S. 2. (15.03.09).<br />

42 http://www.paritaet-berlin.de/artikel/artikel.php?artikel=1366; (15.03.09).<br />

43 Porter, Mary; Sexuality and people with physical disabilities-Report on a study by Mary Porter <strong>und</strong>er<br />

contractual agreement with W.H.O., Copenhagen 1987; S. 35.<br />

44 Haeberle, Erwin J.; Die <strong>Sexualität</strong> des Menschen – Handbuch <strong>und</strong> Atlas, Berlin 1985; S. 497.<br />

45 http://www.profamilia.de/shop/download/60.pdf; S. 8. (15.03.09).<br />

18


efriedigen, ungeachtet dessen, ob ihnen jemand zuschaut oder sich vielleicht auch mehrere<br />

Menschen <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer aufhalten. Genauso kann es auch zu unerwünschten, aber bewusst<br />

ausgeführten Berührungen zu Pflegenden / Besuchern kommen. Das kann gerade <strong>für</strong><br />

Angehörige, vor allem <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> Partner, zu einer starken Belastung werden.<br />

Die langsam „erwachenden“ Patienten empfinden ihren Körper selbst häufig als<br />

minderwertig <strong>und</strong> nicht mehr liebenswert durch andere. Oft kommen Probleme derlei Art<br />

auf die Betroffenen zu, dass sie von ihren Sexualpartnern /-in abgelehnt werden oder sich<br />

abgelehnt fühlen. 46 Je weiter der postapallische Patient sich seiner Lage bewusst wird, desto<br />

wichtiger ist es, ihn von einem Defizitdenken seinem Körper gegenüber, hin zu einer sich<br />

wertschätzenden Persönlichkeit zu führen. Dies ist ein langer <strong>und</strong> steiniger Weg, der vor<br />

den Betroffenen liegt <strong>und</strong> allein meist nicht zu bewältigen ist. Ziel <strong>für</strong> den<br />

<strong>Wachkoma</strong>patienten mit voraussehbarer Defektsymptomatik soll es sein, „Sich selbst <strong>und</strong><br />

auch andere zu akzeptieren, Abschied zu nehmen von dem Ziel, wie das Fotomodell zu<br />

werden, <strong>und</strong> anzufangen, eigene Werte zu entdecken <strong>und</strong> wertzuschätzen.“ 47<br />

Bei Menschen, die erst <strong>im</strong> Erwachsenenalter ihren <strong>Wachkoma</strong>zustand <strong>und</strong> damit eine<br />

spätere Defektsymptomatik erworben haben, stellt sich die Situation meist so dar, dass<br />

diesen Menschen „…erlaubt wird ihre <strong>Sexualität</strong> zu verlieren…“ 48 sie wird ihnen<br />

abgesprochen, da sie nach Meinung anderer „größere“ Probleme als dieses haben. Vor<br />

allem in Eirichtungen, die eine längerfristige Pflege <strong>und</strong> Betreuung anbieten kommt das<br />

Thema <strong>Sexualität</strong> oft ins Hintertreffen <strong>und</strong> somit ins vergessen. Das öffentliche Bild solcher<br />

Einrichtungen zeigt nur allzu oft „verstaubte“ Ansichten in Bezug auf die<br />

Geschlechtertrennung etc. . 49<br />

In der <strong>Wachkoma</strong>forschung sind in den letzten Jahrzehnten verschiedene Komaskalen<br />

entwickelt worden um den Entwicklungsstand des apallischen <strong>und</strong> postapallischen<br />

Patienten möglichst genau einzuschätzen. Beispiele <strong>für</strong> solche Skalen sind die Glasgow<br />

Coma Scale (GKS), die Koma Remission Skala (KRS) <strong>und</strong> die Skala expressive<br />

Kommunikation <strong>und</strong> Selbstaktualisierung (SEKS). 50 Dabei geht es hauptsächlich darum<br />

eine qualitative Beschreibung der Symptomatik zu sichern. Leider bieten sie keine<br />

Möglichkeit den Willen des Patienten zu erfassen. So wird in Pflegeeinrichtungen, trotz<br />

46<br />

http://www.profamilia.de/shop/download/60.pdf; S. 4. (15.03.09).<br />

47<br />

Ebd.; S. 9. (15.03.09).<br />

48<br />

Behinderung <strong>und</strong> <strong>Sexualität</strong>; S. 32.<br />

49<br />

http://www.isp-dortm<strong>und</strong>.de/downloadfiles/ Frank_Herrath_-_Was_behindert_Sexualitat.pdf; S. 1. (13.12.08).<br />

50 <strong>Wachkoma</strong>; S. 6.<br />

19


diverser betriebener Managements, noch zu einem Großteil nach der Devise „satt <strong>und</strong><br />

sauber“ gehandelt, da auch dies einen pflegerischen Schwerpunkt darstellt. Ein<br />

Management zur Einschätzung oder Förderung selbstbest<strong>im</strong>mter <strong>Sexualität</strong> existiert leider<br />

nicht. Dazu kommen noch die geringen Weiterbildungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Angehörige <strong>und</strong><br />

Pflegende zum Thema <strong>Sexualität</strong> <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong>, ebenso wie fehlende Richtlinien.<br />

In Bezug auf die sexuelle Rehabilitation (dem Erreichen des früheren Zustands vor<br />

Auftreten der Behinderung) lässt sich kaum eine pauschale Aussage treffen. Diese hängt<br />

von vielen Faktoren ab, wie z. B. von der Schwere der körperlichen Behinderung, ob<br />

Kontrakturen oder Spastiken zurück bleiben, ob weiterhin ein Anfallsleiden besteht oder<br />

auch, ob es <strong>im</strong> Rahmen der zum <strong>Wachkoma</strong> führenden Situation gar zum Verlust einer oder<br />

mehrerer Gliedmaßen kommt. Natürlich muss man auch den zeitlichen Rahmen der<br />

durchlaufenen Remissionsphasen <strong>und</strong> die Schwere der Hirnverletzungen in die Prognosen<br />

miteinbeziehen. In jedem Fall sollte der Betroffene aber nicht seine Konzentration auf den<br />

„Defekt“ legen, sondern sollte sich ganz neu mit seinem Körper auseinander setzten, ihn<br />

neu erforschen. „Dabei werden womöglich Befriedigungs- <strong>und</strong> Entspannungs-<br />

möglichkeiten entdeckt, die früher verborgen waren. Durch die Konzentration auf das<br />

Verlorene besteht die Gefahr, dass auch das noch oder neu Vorhandene verloren geht.“ 51<br />

Menschen mit einer körperlichen Behinderung können sich das Leben leichter machen,<br />

indem sie sich keinen geltenden Normen unterwerfen. „Stattdessen könnten sie neugierig<br />

sein <strong>und</strong> alles versuchen, um herauszufinden wie vielfältig, wie verschieden <strong>und</strong><br />

variantenreich sexuelles Erleben ist, wenn sich die sexuellen Empfindungen nicht in<br />

gesellschaftlich vorgegebene Muster einfügen müssen.“ 52 Dabei ist es möglich <strong>im</strong> Sinne des<br />

Empowermentkonzeptes Unterstützung von außen anzufordern. So kann, wenn der<br />

Betroffene einverstanden ist, Kontakt zu Behindertenvereinen (Peer Counseling), Pro<br />

Familia oder direkt Sexualbegleitern aufgenommen werden. Diese können den<br />

<strong>Wachkoma</strong>patienten unterstützen seine sexuellen Interessen weitestgehend<br />

selbstverantwortlich <strong>und</strong> selbstständig auszuführen <strong>und</strong> ihm helfen, den eigenen Spielraum<br />

kennen zu lernen. 53<br />

51 http://www.profamilia.de/shop/download/60.pdf; S. 12. (15.03.09).<br />

52 Ebd.; S. 12.<br />

53 Ebd.; S. 15.<br />

20


4. Sexualassistenz<br />

4.1. Passive Sexualassistenz<br />

Diese Form der Assistenz kann, wenn der Betroffene darum bittet, von Angehörigen,<br />

Pflegenden <strong>und</strong> Betreuern gleichermaßen erfüllt werden. Zu passiven Hilfestellungen<br />

wie zum Beispiel das Besorgen von entsprechenden Videos, Spielzeugen, Zeitschriften<br />

<strong>und</strong> Verhütungsmitteln gehört auch die Sexualberatung sowie streicheln, massieren,<br />

umarmen, halten, liebkosen <strong>und</strong> küssen. 54 55 Eine weitere Möglichkeit der Hilfestellung<br />

stellt die Kontaktaufnahme zu Prostituierten oder Sexualbegleitern <strong>und</strong> damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Terminabsprachen dar. Sobald ein solcher Termin stattfindet, gehört es<br />

auch zu den passiven Handlungen, den Betroffenen vorzubereiten. Der <strong>Wachkoma</strong>-<br />

patient wird dann, seinem Wunsch entsprechend, be- oder entkleidet <strong>und</strong> eventuell, zum<br />

Schutz der Int<strong>im</strong>sphäre, in einen anderen, abgeschiedenen Raum gebracht, in dem es zu<br />

Handlungen kommen soll. Die An- <strong>und</strong> Abreise der Prostituierten etc. gehört ebenso<br />

dazu, wie der Schutz vor Fremdbest<strong>im</strong>mung <strong>und</strong> struktureller Gewalt.<br />

4.2. Aktive Sexualassistenz<br />

Bei der aktiven Sexualassistenz geht es darum, außenstehende Personen, direkt in die<br />

aktive Umsetzung sexueller Phantasien einzubeziehen („außenstehend“ meint hier<br />

Personen, die in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis zum <strong>Wachkoma</strong>patienten stehen).<br />

Diese Beziehungsebene soll einer Gewalttat <strong>und</strong> damit einen Machtmissbrauch<br />

gegenüber Schutzbefohlenen verhindern. Gerade in niedrigen Remissionsphasen wie<br />

beispielsweise in der Phase des Nachgreifens, kann es <strong>für</strong> versorgende Personen<br />

missverständlich sein, wenn der Betroffene nach ihnen greift, sie mit Blicken fixiert <strong>und</strong><br />

vielleicht lächelt bzw. wenn Männer möglicherweise eine Erektion dabei haben. Die<br />

Dunkelziffer der Personen, die in solch eine Situation ein sexuelles Verlangen<br />

interpretieren <strong>und</strong> sich dann auf Handlungen dieser Art (z. B. verdeckt in Int<strong>im</strong>pflege)<br />

einlassen, ohne dass der Betroffene eine eindeutige Aussage dazu treffen kann sind<br />

sicherlich höher als vermutet. Die Gefahr durch betreuende Personen, das bestehende<br />

Abhängigkeitsverhältnis auszunutzen, wird allgemein als sehr hoch eingestuft. 56 Um<br />

solchen Fehlentscheidungen <strong>und</strong> damit einem Machtmissbrauch vorzubeugen, sind nur<br />

54 http://www.nicolai-vista.de/sozial/diplom_daebritz_sozpaed.pdf; S. 51. (17.03.09).<br />

55 http://de.wikipedia.org/wiki/Surrogatpartnerschaft; (17.03.09).<br />

56 http://www.schleswigholstein.de/IM/DE/InnereSicherheit/RatKr<strong>im</strong>inalitaetsverhuetung/Downloads/kon<br />

zept __menschen__mit__behinderung,templateId=raw,property=publicationFile.pdf; S. 14. (03.04.09).<br />

21


außenstehende, professionelle Personen befugt Leistungen dieser Art zu übernehmen.<br />

Voraussetzung da<strong>für</strong> ist wiederum, die persönliche Überzeugung des professionellen<br />

Assistenzgebers von der Eindeutigkeit der Willensbek<strong>und</strong>ung des <strong>Wachkoma</strong>patienten<br />

selbst. Zur aktiven Begleitung gehören Sexualerziehung mit vielen theoretischen<br />

Kenntnissen zu Ängsten, Befriedigungsmöglichkeiten oder sexuellem Missbrauch, aber<br />

auch sexuelle Massagen, Handbefriedigung <strong>und</strong> Geschlechtsverkehr. 57 Viele Sexual-<br />

begleiter beschränken ihr Tun jedoch auf den Austausch von Zärtlichkeiten <strong>und</strong><br />

Handbefriedigung bzw. Ermächtigung des Betroffenen zur Selbstbefriedigung<br />

(Empowerment). Dadurch möchten sie sich zur Prostitution abgrenzen, die auch<br />

58 59<br />

Zungenküsse, Oral- <strong>und</strong> Geschlechtsverkehr anbietet.<br />

4.3. Sexualassistenz vs. Prostitution<br />

Unter dem Assisstenzgeber sollte eine kompetente Kraft zu verstehen sein, die sowohl<br />

über pflegerische als auch pädagogische Vorkenntnisse verfügt. „Zu diesen Vor-/<br />

Basiskenntnissen gehören nach Walter: eine Reflexion der eigenen <strong>Sexualität</strong>,<br />

Kenntnisse über Hebetechniken sowie <strong>im</strong> Umgang mit Spastik, Lähmung <strong>und</strong><br />

Inkontinenz (pflegerische Gr<strong>und</strong>ausbildung); Kenntnisse über unterschiedliche Formen<br />

von Behinderung <strong>und</strong> den Umgang mit kognitiven <strong>und</strong> emotionalen Reaktionen,<br />

einschließlich der Gr<strong>und</strong>lagen einer klientenzentrierten Gesprächsführung<br />

(behindertenpädagogische Gr<strong>und</strong>lagen); Kenntnisse über die Sexualentwicklung,<br />

sexuelle Funktionsstörungen sowie Möglichkeiten <strong>und</strong> Techniken unterstützter<br />

<strong>Sexualität</strong> (sexualtherapeutische Gr<strong>und</strong>lagen); juristisches Gr<strong>und</strong>wissen sowie die<br />

Bereitschaft, unter Supervision die eigenen Grenzen <strong>und</strong> Probleme in der<br />

professionellen Rolle der Sexualbegleitung zu reflektieren.“ Walter geht aufgr<strong>und</strong><br />

seiner Überlegungen davon aus, dass eine professionelle Sexualbegleitung von<br />

60 61<br />

Prostitution unterschieden werden kann.<br />

57<br />

http://www.alphanova.at/media/Tagungsunterlagen.pdf; S. 42. (17.03.09).<br />

58<br />

Ebd.; S. 46.<br />

59<br />

http://www.sexualassistenz.ch/geschichte.htm; (17.03.09).<br />

60<br />

Walter,Joach<strong>im</strong>(Hrsg.); Sexualbegleitung <strong>und</strong> Sexualassistenz bei Menschen mit Behinderungen;<br />

Heidelberg 2004; S. 12ff.<br />

61<br />

http://www.nicolai-vista.de/sozial/diplom_daebritz_sozpaed.pdf; S. 50-51. (17.03.09).<br />

22


4.4. Ablauf einer Sexualbegleitung am Beispiel von Nina de Vries<br />

Nina de Vries, 1961 in den Niederlanden geboren, kam <strong>im</strong> Jahr 1990 nach Deutschland.<br />

Ihr erster Wohnsitz war Berlin; dort arbeitete sie als Künstlerin / Graphikerin. Später<br />

fand sie in einem Rehazentrum <strong>für</strong> behinderte Menschen eine Anstellung <strong>und</strong> ab 1994<br />

bot sie erotische Massagen <strong>für</strong> Menschen ohne sichtbare Behinderung an. Seit einigen<br />

Jahren lebt sie nun schon in Potsdam <strong>und</strong> gilt als eine der ersten Sexualbegleiterinnen in<br />

Deutschland. Mit einer therapeutischen Ausbildung <strong>und</strong> den später angebotenen<br />

Massagen ergab es sich, dass mehr <strong>und</strong> mehr behinderte Menschen auf sie zukamen.<br />

Erst waren es nur Körperbehinderte, später kamen auch Menschen mit geistigen<br />

Behinderungen dazu. De Vries selbst sagt, der Beruf sei zu ihr gekommen, nicht sie zu<br />

ihm. „Die Arbeit ist entstanden, weil ein Bedarf besteht <strong>und</strong> ich meistens auf Anfragen<br />

mit „Ja“ geantwortet habe.“ 62<br />

Einer sexuellen Handlung geht eine erste Kontaktaufnahme voraus. Diese geschieht von<br />

unterschiedlichsten Seiten. So sind es He<strong>im</strong>leitungen, Betreuer, Eltern, Psychologen etc.<br />

die ein erstes Gespräch aufnehmen. Dabei werden gr<strong>und</strong>legende Anhaltspunkte zum<br />

Verhalten / Äußerungen des Assistenznehmers (<strong>Wachkoma</strong>patient) <strong>und</strong> zum weiteren<br />

Vorgehen geklärt (z. B. eine erste Terminabsprache). De Vries möchte <strong>im</strong> Falle dessen,<br />

dass eine dritte Person den Kontakt aufn<strong>im</strong>mt genauestens darüber in Kenntnis gesetzt<br />

werden, wie die Idee entstand sie anzurufen. Sie möchte in Erfahrung bringen was da<strong>für</strong><br />

spricht, dass der potentielle Klient eine sexuelle Begegnung wünscht. Bei einem ersten<br />

Termin kommt de Vries dann entweder ins He<strong>im</strong> oder die häusliche Umgebung – je<br />

nach Situation. Es folgt ein ausführliches Gespräch mit der Person, die den Kontakt<br />

hergestellt hat <strong>und</strong> soweit möglich auch mit dem potentiellen Klienten selbst. Dabei<br />

werden Verhaltensauffälligkeiten oder Äußerungen von Seiten der Sexualbegleiterin<br />

erfragt, damit sie einen Gesamteindruck bekommt <strong>und</strong> sich „eine plausible Geschichte<br />

ergibt.“ 63 Letztendlich möchte sie dabei herausfinden, ob das Angebot welches sie<br />

machen kann zur Geschichte / Situation passt <strong>und</strong> es beiden beteiligten Parteien gut tut.<br />

Nach so einem ersten intensiven Gespräch findet dann eventuell noch eine Fortbildung<br />

<strong>für</strong> alle Beteiligten (aktiven <strong>und</strong> passiven) statt oder es wird gleich ein Termin <strong>für</strong> eine<br />

Einzelsitzung ausgemacht. Kommt es zur Einzelsitzung, so trifft Nina de Vries das erste<br />

Mal allein mit dem potentiellen Klienten in Kontakt <strong>und</strong> auch erst dann entscheidet sich<br />

62 http://www.projekt-gink-go.org/themen/gesellschaft_kultur_de_vries.html; (17.03.09).<br />

63 http://www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=7718&mode=play; 22. Minute (17.03.09).<br />

23


ob es zu weiteren Handlungen kommt. Voraussetzung da<strong>für</strong> ist, ob der<br />

<strong>Wachkoma</strong>patient in der Lage ist „klare Ansagen zu machen“ oder „ganz klar zu<br />

signalisieren, was er will“ 64 <strong>und</strong> natürlich ob der Klient auch eine Sympathie <strong>für</strong> de<br />

Vries zeigt – sie leiden kann. Um das herauszufinden n<strong>im</strong>mt sie sich viel Zeit, um auf<br />

die Person einzugehen. Sollte ihr die Situation oder die Äußerungen nicht zu h<strong>und</strong>ert<br />

Prozent eindeutig sein, so bricht sie die Einzelsitzung ab <strong>und</strong> kehrt vorerst zum Umfeld<br />

des Assistenznehmers zurück. Sollte sie jedoch eine eindeutige Antwort vom<br />

Betroffenen erhalten, so lässt sie sich in einem körpernahen Dialogaufbau auf Hand-<br />

entspannung, Beratung, Zärtlichkeit, Körperkontakt, erotische Massagen (Genital-<br />

massage) <strong>und</strong> Anleitung zur Selbstbefriedigung ein. 65<br />

4.5. Kosten<br />

Die Preise bei Nina de Vries belaufen sich danach, um welche Art von Termin es sich<br />

handelt. Eine Einstiegsberatung kostet, bei einer Dauer von 90 Minuten, 80 Euro<br />

(ermäßigt 60 Euro). Ebenso kostet eine Einzelsitzung 80 Euro, <strong>für</strong> die Dauer von 60<br />

Minuten. Hausbesuche hingegen sind etwas kostspieliger <strong>und</strong> belaufen sich auf Kosten<br />

ab 110 Euro (ohne nähere Zeitangaben). Zudem bietet sie auch noch Fortbildungen oder<br />

Infoveranstaltungen <strong>für</strong> Mitarbeiter von Einrichtungen, Eltern <strong>und</strong> leitendem Personal<br />

an. Die Kosten da<strong>für</strong> sind 60 Euro pro St<strong>und</strong>e (min<strong>im</strong>al 120 Minuten sind dabei<br />

einzuplanen). Dazu kommen allerdings noch Fahrt- <strong>und</strong> eventuelle Übernachtungs-<br />

kosten. 66 Ihr Haupteinzugsgebiet erstreckt sich auf Berlin <strong>und</strong> Brandenburg, aber<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich ist sie auch bereit in ganz Deutschland Sitzungen <strong>und</strong> Veranstaltungen zu<br />

geben.<br />

4.6. Streitpunkte der Sexualbegleitung<br />

Ein erster Streitpunkt ist der der Ruhigstellung. Kritiker haben starke Be<strong>für</strong>chtungen, dass<br />

die Sexualbegleitung nur der Ruhigstellung der Klienten bzw. Assistenznehmer dient,<br />

ähnlich wie man es früher mit Medikamenten gemacht habe. „Es sollte jedoch zu keiner<br />

unheilvollen Rückkehr der Dampfkessel- oder Triebstautheorie kommen <strong>und</strong> der Gefahr,<br />

dass Angehörige <strong>und</strong> Betreuungskräfte Sexualbegleitung als Patentlösung ansehen, um<br />

64<br />

http://www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=7718&mode=play; 22. Minute (17.03.09).<br />

65<br />

Ebd.; 22.-23. Minute<br />

66<br />

http://www.wiend.at/koerperkontakt1.htm; (17.03.09).<br />

24


ein von ihnen als belastend erlebtes Verhalten ihres Angehörigen oder Klienten mit einer<br />

Behinderung zu korrigieren.“ 67 Als Weiteres gehört auch dazu, dass Sexualbegleitung nur<br />

ein Aspekt der <strong>Sexualität</strong> ist, aber das es andere wichtigere gibt, als diesen speziellen.<br />

Wichtiger erscheint einerseits das Schaffen von Möglichkeiten <strong>für</strong> körper- <strong>und</strong> geistig<br />

behinderte Patienten Menschen kennen zu lernen <strong>und</strong> damit Partnerschaften zu<br />

ermöglichen. Andererseits ist auch das Bereitstellen von Räumlichkeiten ein wichtiger<br />

Aspekt, in dem eine Privat- <strong>und</strong> Int<strong>im</strong>sphäre aufkommen kann <strong>und</strong> in der <strong>Sexualität</strong><br />

ausgelebt werden kann. “Sexualbegleitung bzw. Sexualassistenz sind nur eine Facette von<br />

<strong>Sexualität</strong>.“ 68 So sollte die Sexualbegleitung <strong>im</strong> Idealfall nur eine Übergangslösung sein,<br />

die die Klienten befähigt ein Selbstbewusstsein <strong>und</strong> ein Körpergefühl aufzubauen, um<br />

dann auf andere zuzugehen, mögliche Partner kennen zu lernen, oder auch nur sich selbst<br />

zu entdecken. Sie ist keinesfalls eine Dauerlösung.<br />

Zum dritten wird, durch schon erwähnte Kritiker, auch in Frage gestellt, ob es <strong>im</strong> Rahmen<br />

der Sexualbegleitung zu einer selbst best<strong>im</strong>mten <strong>Sexualität</strong> kommen kann, wenn man von<br />

finanziellen Ressourcen abhängig ist <strong>und</strong> von Terminfreiheiten anderer. Es scheint so als<br />

ob die Selbstbest<strong>im</strong>mtheit in diesem Punkt einen Dämpfer bekommt. Weitere Probleme<br />

die <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Assistenz auftauchen sind zum Beispiel, die Assistenz<br />

durch Mitarbeiter, was ein absolutes Tabu darstellt <strong>und</strong> auch eine rechtliche<br />

Auseinandersetzung fordert. Trotzdem gibt es Mitarbeiter, die „verschleiert“ in der<br />

Ganzkörperwäsche so einen Schritt wagen. Welche Probleme mögen entstehen, wenn der<br />

Klient sich in seinen Begleiter verliebt <strong>und</strong> aus der Surrogatpartnerschaft, eine Paar- oder<br />

Liebesbeziehung von seiner Seite aus entwickelt? Kann ein Sexualbegleiter anhand<br />

verschiedener Konzepte auf verschiedenste Behinderungsformen eines Klienten<br />

eingehen? Außerdem stellt Sexualbegleitung auch einen Sonderweg dar. Die „Klienten“<br />

haben andernfalls keine großen Chancen, als gleichwertige Menschen in der Gesellschaft<br />

einen Sexualpartner zu finden. Sie sind also durch ihre Behinderung wieder behindert <strong>und</strong><br />

genötigt Sonderwege zu gehen. 69<br />

67 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 25. (17.03.09).<br />

68 http://disgenderbility.files.wordpress.com/2008/05/streitpunkt-sexualbegleitung.pdf; S. 1. (17.03.09).<br />

69 http://disgenderbility.files.wordpress.com/2008/05/streitpunkt-sexualbegleitung.pdf; S. 2. (17.03.09).<br />

25


5. Rechtliche Aspekte<br />

5.1. Allgemeingültige Rechtsgr<strong>und</strong>lagen<br />

Internationale Schätzungen haben ergeben, dass r<strong>und</strong> 10 % der Bevölkerung als<br />

behindert gilt, davon wiederum 70 % als körperbehindert. Aufgr<strong>und</strong> dieser nicht<br />

unerheblichen Zahlen schien es notwendig, rechtliche Gr<strong>und</strong>lagen <strong>für</strong> diesen Teil der<br />

Gesellschaft gesetzlich zu regeln.<br />

Im Jahr 2001 trat in diesem Zusammenhang das momentan gültige Sozialgesetzbuch IX<br />

(SGB IX) in Kraft. Dieses sieht <strong>für</strong> jeden Menschen mit Behinderung vor,<br />

selbstbest<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> zudem gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen.<br />

Denn egal in welchen Rehabilitationsbemühungen sich dieser Mensch befindet, sind die<br />

oben genannten zwei Punkte (Selbstbest<strong>im</strong>mung <strong>und</strong> Gleichberechtigung) hier<br />

gesetzlich als Ziele verankert. Unter diese Aspekte fällt auch das Recht auf die sexuelle<br />

Selbstbest<strong>im</strong>mung, sowohl <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>e als auch <strong>für</strong> behinderte Menschen. Schon<br />

Anfang der 1990er Jahre wurde deshalb von den Vereinten Nationen in den<br />

„Rahmenbest<strong>im</strong>mungen <strong>für</strong> die Herstellung der Chancengleichheit <strong>für</strong> Behinderte“ das<br />

Recht auf freie Entfaltung sexueller Beziehungen festgelegt. 70 Zudem sichert auch das<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland allen Bürgern ein Recht auf Selbst-<br />

best<strong>im</strong>mung (GG-Persönlichkeitsrecht nach Art.1, Abs.1 <strong>und</strong> Art.2, Abs.1) zu. In<br />

diesem Recht ist die Inanspruchnahme der Sexualassistenz inbegriffen, sofern dadurch<br />

nicht die Rechte Dritter verletzt werden. Anders formuliert, stellt dieses Recht ein<br />

Abwehrrecht dar. Das bedeutet, „…dass es dem Staat verboten ist in die sexuelle Selbst-<br />

best<strong>im</strong>mung der Menschen mit Behinderung einzugreifen <strong>und</strong> ihnen sexuelle Aktivitäten<br />

gr<strong>und</strong>los zu verbieten.“ 71<br />

Dem „Recht auf Sexualassistenz <strong>und</strong> –begleitung“ darf jedoch nicht der Anspruch<br />

entnommen werden, dass der Staat entsprechende Leistungen bereitzustellen hat,<br />

geschweige denn, dass er Institutionen darin finanziell zu unterstützen oder gar die<br />

Kosten der individuellen Inanspruchnahme zu tragen hat. Diesbezüglich ist nirgends<br />

eine gesetzliche Leistungspflicht des Staates verankert. 72<br />

Ist ein Behinderter, <strong>im</strong> Fall dieser Facharbeit ein <strong>Wachkoma</strong>patient, wieder in der Lage<br />

mit Hilfe von Erotikartikeln (entsprechende Magazine, erotische Spielzeuge oder<br />

70 http://www.profamilia.de/shop/download/60.pdf; S. 4. (17.03.09).<br />

71 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 11. (17.03.09).<br />

72 Ebd.; S.11.<br />

26


Filme…) seine <strong>Sexualität</strong> auszuleben, so stellen diese Artikel einen allgemeinen Bedarf<br />

dar, der bei Sozialhilfeempfängern aus dem Regelsatz der „Hilfe zum Lebensunterhalt“<br />

(§37 SGB XII) abzudecken ist. Allerdings gibt es auch einen sogenannten<br />

„behinderungsbedingten Bedarf“. Als Beispiele da<strong>für</strong> gelten die Kosten einer<br />

Vertrauensperson, die ein bettlägeriger Patient benötigt, um an entsprechende Magazine<br />

zu gelangen oder die ein körperlich <strong>und</strong> kognitiv eingeschränkter <strong>Wachkoma</strong>patient<br />

benötigt, um an Hilfen zur Selbstbefriedigung zu kommen. Leistungsgr<strong>und</strong>lagen da<strong>für</strong><br />

sind nur die „Hilfe zur Pflege“ (§61 SGB XII) <strong>und</strong> die „Eingliederungshilfe“ (§53 SGB<br />

XII). Eine Finanzierung besonderer Leistungen der Sexualassistenz durch den<br />

Sozialhilfeträger kommt nur dann in Betracht, wenn die bedürftigen Menschen keine<br />

anderweitigen Möglichkeiten haben soziale Kontakte einzugehen <strong>und</strong> reguläre sexuelle<br />

Dienstleistungen von Prostituierten in Anspruch zu nehmen. 73<br />

5.2. Sexualassistenz oder sexualisierte Gewalt/Missbrauch<br />

Prinzipiell kann man in der Erwachsenenpflege davon ausgehen, dass eine passive<br />

Hilfestellung gegenüber dem „Bedürftigen“ nicht strafbar ist. In Bezug auf die aktive<br />

Sexualassistenz sieht dies ein wenig differenzierter aus. Kommt es aufgr<strong>und</strong> von<br />

erkennbarem <strong>und</strong> nicht allein vermutetem Einvernehmen zu solch einer Hilfestellung,<br />

ist auch dies gr<strong>und</strong>sätzlich als straflos anzusehen. Diese Form der Hilfestellung darf<br />

allerdings nicht von Personen erfolgen, die in jeglicher Hinsicht in einem Beratungs-,<br />

Betreuungs- oder Behandlungsverhältnis zu der in Anspruch nehmenden Person stehen.<br />

Sollte es zu aktiven Handlungen mit unmittelbarem Körperkontakt zwischen einer<br />

diesem Personenkreis angehörigen <strong>und</strong> einem Patienten kommen, so ist dies nach §174a<br />

Abs.2 StGB strafbar. „Dies gilt in aller Regel auch dann, wenn die Assistenz durch den<br />

Menschen mit Behinderung erwünscht ist.“ 74<br />

Demnach dürfen nur Leistungen von „externen Personen“, hierzu gehören<br />

beispielsweise Sexualassistenten oder Prostituierte, von den Patienten angenommen<br />

werden. Gelingt es den Sexualassistenten / Prostituierten allerdings nicht, <strong>im</strong> direkten<br />

Kontakt mit den mehrfachbehinderten Personen / <strong>Wachkoma</strong>patienten, deren Willen<br />

eindeutig festzustellen, so sind diese Personen in der Situation als juristisch<br />

widerstandsunfähig (§179 StGB) einzustufen. Menschen die als widerstandsunfähig<br />

73 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S.11-12. (17.03.09).<br />

74 Ebd.; S.14.<br />

27


gelten, können weder eigene Grenzen formulieren, noch verteidigen. Jeglicher sexueller<br />

Kontakt ist damit als missbräuchlich anzusehen <strong>und</strong> somit strafbar. 75 Wer letztendlich<br />

als widerstandsunfähig einzustufen ist, muss <strong>im</strong> Einzelfall überprüft werden, da da<strong>für</strong><br />

nach einem Urteil des B<strong>und</strong>esgerichtshofes nicht allein die Feststellung einer geistigen<br />

Behinderung als ausreichend gelten kann (§177 Abs.1 Ziff.3 StGB <strong>und</strong> §179 Abs.1<br />

StGB).<br />

Da die entgeltliche Sexualbegleitung rechtlich als Prostitution gilt, fällt diese unter das<br />

„Gesetz der Ordnungswidrigkeiten“ (OWiG) <strong>und</strong> unter den darin befindlichen §120, der<br />

die Verbotene Ausübung der Prostitution regelt <strong>und</strong> deren Werbung verbietet. So<br />

unterliegt die Sexualbegleitung den strafrechtlichen Grenzen der Prostitution. 76<br />

Wesentlich eindeutiger sind die sexuellen Assistenzleistungen bei der Pflege Minder-<br />

jähriger geregelt. Personen, die noch nicht die Volljährigkeit erreicht haben, sind gr<strong>und</strong>-<br />

legend in ihrer ungestörten, sexuellen Entwicklung zu schützen. Demzufolge ist es<br />

verboten durch passive Assistenz, sexuelle Handlungen Minderjähriger mit anderen<br />

Personen zu fördern. Bei aktiver Sexualassistenz kann ein solches Verhalten als<br />

sexueller Missbrauch von Kindern, Jugendlichen oder Schutzbefohlenen angesehen<br />

werden – welches somit strafbar ist. 77<br />

5.3. Bedeutung der He<strong>im</strong>ordnung <strong>für</strong> die Ausübung von Sexualassistenz<br />

Die He<strong>im</strong>ordnung bildet die Gr<strong>und</strong>lage, auf deren Basis die Interessen der<br />

He<strong>im</strong>bewohner geschützt werden. Laut He<strong>im</strong>gesetz werden dem Betreuten Wohn- <strong>und</strong><br />

Schlafraum zur Verfügung gestellt. Diese sind <strong>im</strong> Sinne des Art.13 Abs.1 GG als<br />

Zuhause <strong>und</strong> damit auch als Wohnung zu betrachten <strong>und</strong> unterliegen damit dem<br />

Hausrecht. Da dem He<strong>im</strong>träger lt. He<strong>im</strong>G keinerlei Befugnis obliegt Besuchszeiten oder<br />

Ausgehkontrollen durchzuführen, so ist ihm laut selbigem auch nur Zutritt zu<br />

Bewohnerräumen zu gewähren, wenn eine Zust<strong>im</strong>mung durch den Bewohner erfolgt<br />

(§15 Abs.2 Nr.1 He<strong>im</strong>G). In Bezug auf die Sexualassistenz ist der He<strong>im</strong>träger demnach<br />

nicht befugt, sexuelle Kontakte der Bewohner in ihren Wohn- <strong>und</strong> Schlafräumen zu<br />

unterbinden bzw. einzuschränken. Das gilt auch dann, wenn der Assistenznehmer eine<br />

Sexualbegleiterin aufsuchen möchte oder diese zu sich einlädt. Allerdings ist es auch<br />

75<br />

http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 14. (17.03.09).<br />

76<br />

http://www.juraforum.de/gesetze/OWiG/120/120_OWiG_verbotene_aus%FCbung_der_prostitution,_w<br />

erbung_f%FCr_prostitution.html; (17.03.09).<br />

77<br />

http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 13-14. (17.03.09).<br />

28


die Pflicht der He<strong>im</strong>leitung lt. §11 Abs.1 Nr.6 He<strong>im</strong>G <strong>für</strong> eine angemessene Qualität<br />

des Wohnens zu sorgen. Dazu wird auch die Begegnung mit Menschen gezählt, die sich<br />

der Bewohner ausgesucht hat. Eine Ausnahme dabei kann nur zutreffen, wenn<br />

Mitbewohner in unzumutbarer Art <strong>und</strong> Weise in ihren Lebensgewohnheiten<br />

beeinträchtigt werden. Dann können von Seiten des He<strong>im</strong>trägers Grenzen derlei Art<br />

gesetzt werden, dass Privatkontakte der Bewohner eingeschränkt werden. Allerdings ist<br />

so eine Entscheidung nur in begrenztem Umfang zulässig <strong>und</strong> sollte die Ult<strong>im</strong>a Ratio<br />

sein. 78<br />

Das Ausleben der eigenen <strong>Sexualität</strong> durch einen Betreuten kann, wie eben schon<br />

genannt, mit Lebensgewohnheiten der Mitbewohner kollidieren. Man sollte daneben<br />

aber nicht vergessen, dass es auch das Personal zu schützen gilt. Insbesondere vor<br />

unerwünschten sexuellen Handlungen <strong>und</strong> Äußerungen am Arbeitsplatz, sowie<br />

pornographischen Abbildungen sollte der Schutz bestehen.<br />

Pflegende sind gr<strong>und</strong>sätzlich nicht verpflichtet, sexuelle Assistenz zu leisten. In<br />

Einzelfällen muss aber beurteilt werden, ob sie passive Hilfe zu leisten haben. Es sollte<br />

dann zu verneinen sein, wenn der Pflegende dabei unmittelbar mit sexuellem Verhalten,<br />

Äußerungen oder pornographischen Bildern konfrontiert wird. Dies widersetzt sich<br />

nämlich dem Beschäftigtenschutzgesetz. „Der Schutz des Beschäftigten rechtfertigt nur<br />

dann den Eingriff in die Privat- <strong>und</strong> Int<strong>im</strong>sphäre der Bewohner/Innen, wenn er<br />

anderweitig nicht gewährleistet werden kann <strong>und</strong> der Eingriff verhältnismäßig ist.“ 79<br />

5.4. Missbrauch Schutzbefohlener<br />

Verschiedene Untersuchungen haben belegt, dass die Wahrscheinlichkeit <strong>für</strong> geistig <strong>und</strong><br />

mehrfach behinderte Mädchen <strong>und</strong> Frauen in He<strong>im</strong>en sexuelle Gewalt zu erfahren, fast<br />

doppelt so hoch ist wie <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>e Frauen. Zudem berichten auch behinderte Männer<br />

von vermehrten Übergriffen sexualisierter Gewalt. „Die Täter rekrutieren sich meist<br />

aus dem sozialen Umfeld des Tatopfers, d.h. aus der Familie, dem Fre<strong>und</strong>es- <strong>und</strong><br />

Kollegenkreis oder der Wohneinrichtung.“ 80<br />

Sexualisierte Gewalt <strong>und</strong> damit einhergehende Grenzüberschreitungen finden <strong>im</strong><br />

Pflegealltag auch heute noch keinen Platz <strong>und</strong> werden stattdessen verschwiegen bzw.<br />

78 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 51-54. (17.03.09).<br />

79 Ebd.; S.15.<br />

80 Ebd.; S.22.<br />

29


tabuisiert. Die Opfer haben in solchen Situationen nur wenig Möglichkeit auf<br />

Unterstützung <strong>und</strong> Schutz zu hoffen. Gerade <strong>im</strong> Hinblick auf <strong>Wachkoma</strong>patienten<br />

erscheint die Hilflosigkeit noch stärker <strong>und</strong> qualvoller. Selbst bei bestehendem<br />

Verdachtsmoment ist eine eindeutige Überführung nur schwer umsetzbar. Nicht selten<br />

haben die Täter zwar auch Mitwisser, aber die wiederum stürzen sich in Ohnmachts-<br />

gefühle <strong>und</strong> Loyalitätskonflikte. Dazu kommt noch der Belegungsdruck von Seiten der<br />

He<strong>im</strong>leitung sowie deren Angst um eine negative, öffentliche Darstellung ihrer<br />

Einrichtung. All das führt dazu, dass eventuelle Verdachtsmomente weder verfolgt noch<br />

an etwaige Behörden weitergeleitet werden. Konsekutiv bildet sich eine Kette des<br />

Schweigens. So ist es möglich, dass sowohl Ärzte, betreuende Personen oder He<strong>im</strong>leiter<br />

jahrelang schweigen <strong>und</strong> die ihnen Schutzbefohlen über lange Zeiträume sexuell<br />

missbraucht werden. 81<br />

Ein weiterer Gr<strong>und</strong> in eine solche Abhängigkeit gegenüber Familienmitgliedern oder<br />

Pflege- / Unterstützungspersonen zu gelangen liegt zudem <strong>im</strong> deutschen System der<br />

sozialen Sicherung, das vorrangig durch fremdbest<strong>im</strong>mte Versorgungsstrukturen<br />

gekennzeichnet ist. Betreute können demnach keine eigene Wahl über ihr Unter-<br />

stützungspersonal treffen, sondern erfahren eine Zuweisung durch die entsprechende<br />

Einrichtung. Der zu Betreuende ist somit nicht weisungsbefugt. Im Falle des<br />

<strong>Wachkoma</strong>patienten in den niedrigen Remissionsphasen, ist es dem Patienten<br />

körperlich <strong>und</strong> kognitiv nicht möglich irgendeine Wahl zu treffen. Er ist darauf<br />

angewiesen den Unterstützungspersonen <strong>und</strong> ihrem ordnungsgemäßen Verhalten zu<br />

vertrauen. Mittels einer kanadischen Studie wird die jährliche Zahl der Opfer von<br />

Professional Sexual Misconduct (PSM) allein in Deutschland auf 160.000 Menschen<br />

geschätzt. Zudem geht die Studie davon aus, dass Angehörige des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

hier zu Tätern werden. 82<br />

5.5. Beschäftigtenschutzgesetz<br />

Dieses Gesetz dient Frauen <strong>und</strong> Männern zum Schutz ihrer Würde <strong>und</strong> ihrer sexuellen<br />

Selbstbest<strong>im</strong>mung. Indirekt kommt es so auch zur Wahrung des Betriebsfriedens <strong>und</strong><br />

einer angemessenen Arbeitsatmosphäre.<br />

81 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 22. (17.03.09).<br />

82 Ebd.; S. 23.<br />

30


Der Begriff des Arbeitsplatzes ist <strong>im</strong> Beschäftigtenschutzgesetz nicht näher definiert.<br />

Arbeitsgerichte sehen diesen aber unter der angegebenen Dienst- / Geschäftsstelle an, so<br />

wie er <strong>im</strong> Dienstvertrag festgehalten wurde. Dazu gehören auch die Räume, in denen<br />

sich der Arbeitnehmer aufhält um seine Arbeitspflicht zu erfüllen. Sollte es innerhalb<br />

dieser Räumlichkeiten nach §174 ff StGB zu strafbaren Grenzüberschreitungen<br />

kommen <strong>und</strong> darüber hinaus auch zu sonstigen sexuellen Handlungen sowie<br />

Aufforderungen dazu, so handelt es sich nach §2 Abs.2 BeschäftigtenschutzG um<br />

sexuelle Belästigung, da sie eine Würdeverletzung der Beschäftigten am Arbeitsplatz<br />

darstellt. Ebenso zählen Bemerkungen sexuellen Inhalts oder das Zeigen bzw. sichtbare<br />

Anbringen von pornografischen Darstellungen, die von den betroffenen Arbeitnehmern<br />

erkennbar abgelehnt werden zur sexuellen Belästigung. 83<br />

Oftmals sind es Kollegen oder Vorgesetzte die belästigen. Im Falle des Ges<strong>und</strong>heits-<br />

wesens kann das auch auf die pflege- <strong>und</strong> assistenzbedürftigen Patienten / Bewohner<br />

zutreffen. Da das Augenmerk dieser Arbeit auf dem des <strong>Wachkoma</strong>s liegt, können es<br />

die Betroffenen selbst sein, die in höheren Remissionsphasen (s. 3.2.) zu „Belästigern“<br />

werden. Sei es durch Selbstbefriedigung, die sie <strong>im</strong> Beisein Dritter (Pflegenden oder<br />

Therapeuten) durchführen oder sich Pornofilme ansehen, denen Dritte nicht entgehen<br />

können. Sicherlich gibt es noch weitere Situationen denen eine sexuelle Belästigung<br />

anhaftet. Wichtig bei der Einschätzung dessen ist aber <strong>im</strong>mer, dass der Tatbestand nur<br />

erfüllt ist, wenn ein absichtliches <strong>und</strong> somit auch ein „…vorsätzlich, sexuell best<strong>im</strong>mtes<br />

Verhalten…“ vorliegt. 84<br />

Die Verpflichtungen die Pflegekräfte mit ihrem Arbeitsvertrag eingehen, schließen<br />

Leistungen des Pflegens <strong>und</strong> Betreuens in allen AEDL´s ein, nicht aber die<br />

Befriedigung sexueller Bedürfnisse. Eine solche Pflicht müsste demnach explizit <strong>im</strong><br />

Arbeitsvertrag vereinbart werden, damit Pflegekräfte auch auf diesem Bereich<br />

Leistungen erbringen. Somit wären sie formal zunächst nicht strafrechtlich zu ver-<br />

folgen. Sollte allerdings der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs i. S. d. §174a <strong>und</strong> c<br />

StGB bei so vereinbarten Handlungen erfüllt sein, so wäre ein solcher Arbeitsvertrag als<br />

nichtig anzusehen (§134 BGB). Außerdem fielen solche Absprachen <strong>im</strong> Rahmen der<br />

Pflege <strong>und</strong> Betreuung unter die Prostitutionsabsprache, da sie sexuelle Dienste gegen<br />

Entgelt einschließen. „Verpflichtet sich eine Pflege- oder Betreuungskraft jedoch<br />

83 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 54. (17.03.09).<br />

84 Ebd.; S. 54.<br />

31


vertraglich sexuelle Handlungen an Klient/Innen mit Behinderungen zu dulden oder<br />

vorzunehmen gilt Folgendes: Sind die beabsichtigten sexuellen Handlungen als<br />

missbräuchlich <strong>im</strong> Sinne der §§174 ff StGB <strong>und</strong> mithin als strafrechtlich verboten<br />

einzustufen, wäre die Vereinbarung solcher Handlungen nach §134 StGB nichtig. Sind<br />

sie nicht missbräuchlich, so würde es sich um die rechtswirksame Vereinbarung von<br />

sexuellen Leistungen handeln, die aber rechtlich nicht einklagbar sind.“ 85 So ist der<br />

Arbeitnehmer letztendlich nur seinem Gewissen verpflichtet, da, wie eben gesagt, diese<br />

Leistungen nicht einklagbar sind. Jedoch sollte er sich darüber bewusst sein wo seine<br />

persönlichen Handlungs – <strong>und</strong> Duldungsgrenzen liegen. Möchte eine Pflegeinrichtung<br />

dennoch Leistungen der passiven Sexualassistenz erbringen so erfordert dies besondere<br />

Absprachen mit den Pflegekräften. 86<br />

85 http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf; S. 55. (17.03.09).<br />

86 Ebd.; S. 55.<br />

32


6. Zusammenfassung<br />

Wie sich in der Arbeit herauskristallisiert hat, ist der Umgang mit <strong>Wachkoma</strong>patienten<br />

<strong>und</strong> ihrer <strong>Sexualität</strong> noch eine rechtliche Grauzone. Es gibt keine Möglichkeiten der<br />

objektiven Einschätzung um ein mögliches sexuelles Verlangen zu beurteilen.<br />

Allenfalls ist es unter einem hohen Zeitaufwand möglich den mutmaßlichen Willen<br />

festzustellen, <strong>Sexualität</strong> leben zu wollen. Dem vorausgesetzt wird mindestens die<br />

Remissionsphase 5 <strong>und</strong> die damit einhergehenden ersten Verständigungsversuche. Doch<br />

meistens denken viele Betreuungspersonen noch lange nicht daran dem Patienten eine<br />

<strong>Sexualität</strong> zuzugestehen <strong>und</strong> danach zu fragen. Erst wenn der Betroffene in der Lage ist<br />

selbst das Thema anzusprechen kommt das betreuende Umfeld auf die Idee, dass in<br />

diesem Bereich unterstützungsbedarf besteht.<br />

Obwohl das Pflegepersonal <strong>und</strong> Angehörige als ges<strong>und</strong>e Menschen täglich mit dem<br />

Thema <strong>Sexualität</strong> konfrontiert werden, so stellt es doch heutzutage <strong>im</strong>mer noch eine<br />

große Herausforderung <strong>für</strong> alle Beteiligten dar, dem <strong>Wachkoma</strong>patienten eine eigene<br />

<strong>Sexualität</strong> einzuräumen. Dies wird in nächster Zukunft sicherlich keine große<br />

Veränderung erfahren, denn die Entwicklungsarbeit auf dem Gebiet steckt noch in den<br />

Kinderschuhen. Außerdem stellt die Gesellschaft ein weiteres großes Hindernis dar,<br />

indem sie sich der Thematik um „Behinderte“ <strong>und</strong> <strong>Sexualität</strong> verschließt <strong>und</strong> dies allzu<br />

oft als krank oder abartig tituliert. <strong>Sexualität</strong> <strong>und</strong> Behinderung - in der öffentlichen<br />

Meinung eigentlich zwei Themen, die sich gegenseitig ausschließen, wie Feuer <strong>und</strong><br />

Wasser!<br />

Demnach wird die Thematik unter einem pflegerischen Gesichtspunkt nur schwer bzw.<br />

langsam Einzug in den Berufsalltag finden. Denn es verlangt Zeit <strong>und</strong> persönliches<br />

Interesse des Pflegepersonals sich mit einem Patienten intensiv auseinanderzusetzen,<br />

von ihm Informationen zu erhalten <strong>und</strong> sich <strong>für</strong> ihn einzusetzen. Sollte eine<br />

Pflegeperson nach solchen Bemühungen allerdings zu der Überzeugung gelangen, dass<br />

ein Patient beispielsweise eine Sexualbegleitung wünscht, muss dies <strong>im</strong> Team noch<br />

einmal kontrovers diskutiert <strong>und</strong> beobachtet werden. Nur so hat das Team die Chance<br />

herauszufinden, ob diese Überzeugung seine Richtigkeit hat <strong>und</strong> einem Missbrauch<br />

vorzubeugen. Solange es aber keine objektiven Einschätzungsmöglichkeiten gibt, wird<br />

das AEDL einer praktischen <strong>Sexualität</strong> nur in seltensten Fällen umsetzbar sein.<br />

Es gehört aber auch ein gr<strong>und</strong>legendes Umdenken dazu, dass die <strong>Sexualität</strong> ihren<br />

Ursprung nicht in den Eierstöcken oder Hoden, sondern – wenn überhaupt irgendwo –<br />

33


<strong>im</strong> Kopf hat. Denn in unserem Gehirn entsteht die Idee etwas Sexuelles erleben zu<br />

wollen <strong>und</strong> unsere Gedanken malen uns aus wie es sein soll. Demzufolge kann die<br />

Möglichkeit des orgastischen Erlebens nicht allein auf intakte Genitalfunktionen zurück<br />

zu führen sein. „Es gibt so etwas wie eine Ganzkörpersexualität: Mit jedem unserer<br />

Sinnesorgane können wir erotische <strong>und</strong> sexuelle Reize wahrnehmen. Nicht nur die<br />

erogenen Zonen unseres Körpers, sondern alle Körperbereiche sind in der Lage, auf<br />

St<strong>im</strong>ulierung sexuell zu reagieren.“ 87<br />

Sexualassistenz bietet da eine Möglichkeit, <strong>Sexualität</strong> zu leben, die sich bislang aber<br />

noch keiner großen Bekanntheit erfreut. Für diesen Berufszweig existiert bisher kein<br />

offizielles Erscheinungsbild in Deutschland. Dieses Bild wird bislang nur von<br />

selbstständigen Sexualbegleitern geprägt die sich auf Fachtagungen mit den Inhalten<br />

ihres Berufsalltages auseinander setzen <strong>und</strong> versuchen Richtlinien zu schaffen.<br />

Engagierte Personen <strong>und</strong> Vereine auf diesem Gebiet bemühen sich hier um ein<br />

konzeptionelles Handeln <strong>und</strong> darum sexuelles Leben von Menschen mit Behinderung<br />

int<strong>im</strong>itätsachtend <strong>und</strong> anerkennend zu begleiten.<br />

Letztendlich können Pflegekräfte oft nicht die Professionalität <strong>im</strong> Umgang mit<br />

<strong>Sexualität</strong> leisten, die ihnen zugesprochen wird. Denn <strong>im</strong> Berufszweig Pflege wird das<br />

Thema zwar vordergründig als wichtig dargestellt (vor allem in der Ausbildung), doch<br />

fehlen Hintergr<strong>und</strong>informationen <strong>und</strong> entsprechende Handlungsleitlinien. Dazu kommt<br />

noch, dass sich Pflegende oftmals selbst nicht mit der eigenen <strong>Sexualität</strong> <strong>und</strong> den damit<br />

verb<strong>und</strong>enen eigenen Grenzen auseinander setzen. So schieben die meisten Pflegenden<br />

das Thema <strong>im</strong> Berufsleben von sich weg, da sie sich sonst durch die Patienten gedrängt<br />

fühlen sich mit der eigenen <strong>und</strong> der fremden <strong>Sexualität</strong> auseinanderzusetzen <strong>und</strong> somit<br />

nur allzu oft an ihre Grenzen stoßen.<br />

87 http://www.profamilia.de/shop/download/60.pdf; S. 7. (19.03.09).<br />

34


7. Literaturliste<br />

• Brunen, M. Helgard <strong>und</strong> Eva Elisabeth Herold (Hrsg.): Ambulante Pflege – Die<br />

Pflege ges<strong>und</strong>er <strong>und</strong> kranker Menschen (Band 1 – Gr<strong>und</strong>lagen – Ganzheitliche,<br />

integrative Pflege), Hannover 2001.<br />

• Dressler, Stephan <strong>und</strong> Christoph Zink (Berarb.): Pschyrembel - Wörterbuch<br />

<strong>Sexualität</strong>, Berlin 2003.<br />

• Friesacher, Heiner; Grünewald, Matthias u. a.: Intensiv - Fachzeitschrift <strong>für</strong><br />

<strong>Intensivpflege</strong> <strong>und</strong> Anästhesie 2005 / Nr. 13.<br />

• Haeberle,Erwin J.; Die <strong>Sexualität</strong> des Menschen – Handbuch <strong>und</strong> Atlas, Berlin<br />

1985.<br />

• Horn, Anette: Pflegende Angehörige wachkomatöser Menschen, Bern 2008.<br />

• Nydahl, Peter (Hrsg.): <strong>Wachkoma</strong> – Betreuung, Pflege <strong>und</strong> Förderung eines<br />

Menschen <strong>im</strong> <strong>Wachkoma</strong>, München 2007.<br />

• Offenhausen, Hermann B. F.: Behinderung <strong>und</strong> <strong>Sexualität</strong> – Probleme <strong>und</strong><br />

Lösungsmöglichkeiten, Bonn 1981.<br />

• Porter,Mary; Sexuality and people with physical disabilities-Report on a study<br />

by Mary Porter <strong>und</strong>er contractual agreement with W.H.O.; Copenhagen 1987.<br />

• Pschyrembel, Willibald (Hrsg.): Pschyrembel - Klinisches Wörterbuch, Berlin<br />

2002.<br />

• Schäffler, Arne <strong>und</strong> Nicole Menche u. a. (Hrsg.): Pflege heute – Lehrbuch <strong>und</strong><br />

Atlas <strong>für</strong> Pflegeberufe, München 2000.<br />

• Walter, Joach<strong>im</strong>(Hrsg.); Sexualbegleitung <strong>und</strong> Sexualassistenz bei Menschen<br />

mit Behinderungen, Heidelberg 2004.<br />

• Wegner, Gudrun: Rechtsfragen des <strong>Wachkoma</strong>s, Hamburg 2006.<br />

35


8. Internetquellen<br />

• http://de.wikipedia.org/wiki/Surrogatpartnerschaft<br />

• http://www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=7718&mode=play<br />

• http://www.alphanova.at/media/Tagungsunterlagen.pdf<br />

• http://www.bzsl.de/bzsl/beratung_peer_counseling.php<br />

• http://www.empowerment.de/gr<strong>und</strong>lagentext.html<br />

• http://www.goethe.de/Ins/eg/prj/jgd/the/tab/de2762624.htm<br />

• http://www.isbbtrebel.de/sexualbegleitung.htm<br />

• http://www.isp-dortm<strong>und</strong>.de/downloadfiles/Frank_Herrath_-<br />

_Was_behindert_Sexualitat.pdf<br />

• http://www.juraforum.de/gesetze/OWiG/120/120_OWiG_verbotene_aus%FCbu<br />

ng_der_prostitution,_werbung_f%FCr_prostitution.html<br />

• http://www.nicolai-vista.de/sozial/diplom_daebritz_sozpaed.pdf<br />

• http://www.paritaet-berlin.de/artikel/artikel.php?artikel=1366<br />

• http://www.profamilia.de/shop/download/203.pdf<br />

• http://www.profamilia.de/shop/download/219.pdf<br />

• http://www.profamilia.de/shop/download/60.pdf<br />

• http://www.projekt-gink-go.org/themen/gesellschaft_kultur_de_vries.html<br />

• http://www.sexualassistenz.ch/geschichte.htm<br />

• http://www.uni-kassel.de/fb4/issl/wind/pdf/referat_s_<strong>und</strong>_b_bei_<br />

querschnittlaehmung.pdf<br />

• http://www.wiend.at/koerperkontakt1.htm<br />

• www.wachkoma.at/Informationen/Info_Dokumente/persoenlichkeit.pdf<br />

• http://www.wachkoma.at/Informationen/Info_Dokumente/Zieger_intensiv_2002<br />

.pdf<br />

• http://www.schleswig-holstein.de/IM/DE/InnereSicherheit/<br />

RatKr<strong>im</strong>inalitaetsverhuetung/Downloads/konzept__menschen__mit__behinderu<br />

ng,templateId=raw,property=publicationFile.pdf<br />

• http://disgenderbility.files.wordpress.com/2008/05/streitpunkt-<br />

sexualbegleitung.pdf<br />

36


9. Eigenständigkeitserklärung<br />

Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig<br />

angefertigt habe. Dabei wurden keine anderen als die angegebenen Quellen bzw.<br />

Hilfsmittel verwendet. Gedanken, die direkt aus fremden Quellen übernommen wurden,<br />

sind als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Arbeit wurde bisher keiner anderen<br />

Prüfungskommission vorgelegt.<br />

Ort, Datum<br />

______________________________________________<br />

Unterschrift (Vorname Name)<br />

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