Der Mensch - Storyal
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Gefangen in seiner Schicht<br />
Selbstmordkandidaten, Gefühlsextremisten, Sektenanhänger,<br />
Gewaltopfer. Arthur und Beth passen<br />
in diese Galerie. <strong>Der</strong> Gegenstand der Zauberei und<br />
Magie lässt sich aber auch noch anders deuten: Im<br />
Grunde findet die Autorin hier eine Metapher für<br />
das Erzählen selbst. Auch deshalb ist schon im ersten<br />
Kapitel des „Blauen Buches“ vom Buch selbst<br />
die Rede, auch deshalb wird es zwischendurch thematisiert<br />
und taucht in der Schlusscoda erneut auf.<br />
Erzählen ist bei Kennedy ein heilender Prozess.<br />
Formal ist die Autorin auf der Höhe ihres Stoffes.<br />
Einerseits entwirft sie eine regelrechte Partitur aus<br />
den verschiedenen Stimmen, Blickwinkeln und Perspektiven,<br />
die sie ineinander blendet und kunstvoll<br />
verwebt. Dazwischen tauchen die inneren Monologe<br />
von Beth und Arthur auf, vom Fließtext durch Kursivschrift<br />
abgesetzt, und dann gibt es noch Akzente<br />
durch Begriffe im Fettdruck. Immer wieder nimmt<br />
einen die Sprache Kennedys gefangen: Sie braucht<br />
nur wenige Sätze, um so etwas wie Schönheit zu erzeugen.<br />
Es ist ein echtes Sprachgeschehnis:<br />
„Elizabeth kehrt ans Geländer zurück, sieht das<br />
Meer um sie herum Hügel aufwerfen, in Spalten<br />
aufreißen, Bruchlinien bilden, als wäre das Schiff in<br />
eine Schüssel aus schwarzem Glas gesperrt und würde<br />
unablässig gegen eine solche gläserne Höhe und<br />
Tiefe anhämmern.“<br />
Das syntaktische Gewebe ist mal komplex und<br />
ausufernd, dann wieder prasseln kurze Sätze auf<br />
uns ein, knappe Dialoge. Wie im wirklichen Leben<br />
zerfließen diese Gespräche aber auch, sind von Ähs<br />
und Verzögerungen durchlöchert, spiegeln die Stimmung<br />
der Beteiligten, die böse oder traurig sind, Dinge<br />
nicht deutlich aussprechen wollen und sie umso<br />
deutlicher untergründig mitteilen. Kennedy traktiert<br />
die Sprache wie ein Tischtennisspieler seinen Ball,<br />
schlägt sie vor und zurück und lässt sie durch die<br />
Luft springen, denn auch auf der Mikroebene hat<br />
die Autorin viel zu bieten. Es wimmelt von überraschenden<br />
Vergleichen. Beth schmuggelt ihren Mantel<br />
mit aus der Kabine „wie eine zerknüllte Schande“.<br />
Ein Windstoß springt sie an „wie ein großer Hund“<br />
und die blanke Luft „schreit, singt, weint, wiegt sie<br />
hin und her“.<br />
An einer anderen Stelle fühlt sich Beths Kabine<br />
so an wie <strong>Der</strong>eks Schädel, „der von innen her glatt<br />
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gerieben wird - abgestanden wie ein Kaninchenstall“,<br />
heißt es. Seelische Befindlichkeiten spiegeln sich in<br />
Personifikationen. <strong>Der</strong> Wind „zerzaust Geräusche“,<br />
sodass sie „unzuverlässig“ klingen. Die Stille ist<br />
„brodelnd“, das Wetter „wirft“ sich auf dem Balkon<br />
herum. Dass diese Bilder auch auf Deutsch wirken,<br />
liegt allein an ihrem einfallsreichen Übersetzer Ingo<br />
Herzke, der für Kennedy eine federnde, plastische<br />
und zupackende Sprache erfindet. „Das blaue Buch“<br />
entwickelt eine große Spannung, und das hängt<br />
auch mit der schwierigen Liebe zwischen Beth und<br />
Arthur zusammen. Am vierten Tag der Überfahrt<br />
streckt Beth die Waffen. Während ihr Freund <strong>Der</strong>ek<br />
marode das Bett hütet, sucht Beth Arthurs Suite auf.<br />
Mehr bei http://www.dradio.de/dlf/sendungen/<br />
buechermarkt/1866948/<br />
Gemeinsamkeiten<br />
Zwei Sendungen innerhalb von zwei Stunden.<br />
Zwei Features mit sehr unterschiedlichem Gegenstand.<br />
In der Musikszene geht es um eine Opern-<br />
Regisseurin, im Buch der Woche um die Rezension<br />
eines Romans. In beiden Fällen aber haben sich die<br />
Autoren tief in ihr Thema eingegraben. Sie haben<br />
keinen Blick mehr für die umgebende Welt, für sie<br />
gibt es nur noch die Oper oder das Blaue Buch.<br />
Nichts anderes ist mehr existent. Eine Welt ohne<br />
Andrea Moses und/oder Alison Louise Kennedy -<br />
Unvorstellbar!<br />
Fachsprache<br />
Leider gibt es von der Musikszene keinen so ausführlichen<br />
Text wie für das Blaue Buch. Die Sprache<br />
der Musikszene aber ist genauso speziell, wie die der<br />
Literaturwissenschaft. In beiden Fällen wird eine<br />
Fachsprache verwendet, die niemand versteht, der<br />
nicht sein komplettes Leben der Oper oder der Literaturkritik<br />
verschrieben hat. In beiden Fällen reden<br />
die Leute am eigentlichen Publikum völlig vorbei. Sie<br />
reden nur für die fünf Spezialisten, die sich (manchmal)<br />
gerade noch verstehen, miteinander kommunizieren<br />
können. In vielen Fällen kommunizieren aber<br />
auch diese Fünf nicht wirklich miteinander, weil die<br />
Sprache nicht eineindeutig ist. Man glaubt sich vom<br />
Gegenüber verstanden, tatsächlich aber halten beide<br />
nur Monologe.