Achtsames Leben Herbst 2016
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ewusstes leben<br />
<strong>Leben</strong> mit Flüchtlingen<br />
ditionierung? So schwer ist das doch nicht. Augen,<br />
Mund, Hände, Füße, was machen die da<br />
in unserem Zusammenleben als Menschen so<br />
verschiedener Herkunft? Obwohl meine neuen<br />
Mitbewohner über meinen Vegetarismus<br />
staunen, essen wir oft gemeinsam. Auf Festen<br />
tanzen wir miteinander. Ich helfe ihnen beim<br />
Deutschlernen, sie mir beim Arabisch- und Persisch-Lernen<br />
und bei der Gartenarbeit.<br />
Europa und Asien<br />
Schon als Gymnasiast in der Zeit des Kalten<br />
Krieges und der Antivietnamkriegsdemos<br />
habe ich mich gefragt, was unsere Weltgesellschaft<br />
zu einer friedlichen machen kann, in der<br />
die Menschen einander lieben und die Natur<br />
schützen. Damals bin ich aus Europa geflüchtet,<br />
weil ich diesen Kontinent und das, was er<br />
seit 1492 dem Rest der Welt angetan hatte, unerträglich<br />
fand. Davon wollte ich nicht ein Teil<br />
sein. So wurde Asien mit seinen Weisheitstraditionen<br />
für mich zur geistigen Heimat, mit der<br />
ich mich gegen das christliche Europa und den<br />
vom Kommerz besessenen Westen absetzte.<br />
Heute erscheint mir das alles als vielschichtiger<br />
und auf verzwicktere Weise miteinander verwoben<br />
als damals. Familienbande z.B. waren für<br />
mich Westler damals ein lästiges, meine individuelle<br />
Freiheit einschränkendes Hindernis – bei<br />
den Asiaten, die da aus nicht funktionierenden<br />
Staaten kommen, sehe ich nun, wie wertvoll<br />
Familienbande sein können. So lerne ich von<br />
Menschen, die anders sind als ich. Von Fremden<br />
kann man so viel mehr lernen als von Menschen,<br />
die einem selbst gleichen.<br />
Weltgesellschaft<br />
Mein Wunsch ist heute, dass mehr Menschen<br />
als bisher erkennen mögen, wie sehr die kulturelle<br />
und ethnische Vielfalt auf der Erde eine<br />
Bereicherung ist. Monokulturen finde ich öde.<br />
So ähnlich wie in der Landwirtschaft sind sie<br />
auch in der Kultur krisenanfälliger als vielfältige,<br />
variantenreiche Gebilde. Wir brauchen aber<br />
auch Gemeinsamkeit. Zum Beispiel brauchen<br />
wir eine Sprache, in der wir miteinander kommunizieren<br />
können – das Englische ist dafür in<br />
mancher Hinsicht geeignet. Und wir brauchen<br />
einen Verhaltenskodex, der rechtlich verbindlich<br />
ist und durch eine nicht-korrupte Institution mit<br />
Gewaltmonopol durchsetzbar ist. Die Macht der<br />
Märkte darf nicht stärker sein als die Werte der<br />
Menschen. Im Zusammenleben mit den Flüchtlingen,<br />
die seit 2015 in so hohem Maß in unser<br />
Land eingewandertströmt sind, können wir<br />
Fähigkeiten entwickeln, die uns auf die Errichtung<br />
einer unseren Werten gemäßen Weltgesellschaft<br />
vorbereiten.<br />
Hin und weg? Weg und hin!<br />
Im Kontext des Zusammenlebens mit den bei<br />
uns in gewisser Hinsicht heimatlosen Flüchtlingen<br />
fällt mir wieder die erste buddhistische Initiation<br />
ein, die pabbajja heißt: Hinausgehen in<br />
die Heimatlosigkeit. Dieser Schritt weg von den<br />
Bindungen der Herkunft, vom ‚Herkömmlichen‘,<br />
war für Buddha auch ein Schritt hin zu etwas,<br />
ein Heimkommen und Ankommen in neuen,<br />
selbst gewählten Bindungen: Sangam sharanam<br />
gacchami, zur Gemeinschaft nehme ich<br />
Zuflucht. Das Niemandsland dazwischen bleibt<br />
dabei kostbar auch im Ankommenden und in<br />
den neuen Bindungen der Hintergrund. Dieses<br />
undefinierbare Niemandsland ist so wertvoll,<br />
wie in der Musik die Stille zwischen den Tönen<br />
und auf einem Bild die Leerräume zwischen<br />
den Gestalten, in denen die Leinwand, auf der<br />
sich alles abspielt, sichtbar und spürbar bleibt.<br />
Wolf Sugata Schneider, Jg. 52. Autor, Redakteur,<br />
Kabarettist. 1971-75 Studium der Naturwiss.<br />
und Philosophie in München. 1975-77 in<br />
Asien. 1978-1984 leben in Landkommunen<br />
in D, I, NL, USA. 1985-2015 Hrsg. der Zeitschrift<br />
connection. Seit 2008 Theaterspiel &<br />
Kabarett. schneider@connection.de, Blogs auf<br />
connection.de und leben-mit-fluechtlingen.de.<br />
Alle Fotos Copyright Wolf Schneider. Die darauf<br />
Abgebildeten haben der Veröffentlichung<br />
zugestimmt.<br />
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