Juden im Mittelalter Seite 1-13 - Leseprobe 100 dpi
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Leben in der mittelalterlichen Stadt<br />
1
Inhaltsverzeichnis<br />
Grußwort 4<br />
Dr. Josef Schuster<br />
Beiträge<br />
Zur Einführung 5<br />
Dorothea Weltecke<br />
<strong>Juden</strong> und Christen <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong> 14<br />
Facetten ihres Zusammenlebens unter besonderer Berücksichtigung des Bodenseeraums<br />
Markus J. Wenninger<br />
Als Rechtlose in die Geldleihe abgedrängt? 24<br />
Zur rechtlichen Stellung und wirtschaftlichen Tätigkeit von <strong>Juden</strong><br />
in den süddeutschen Reichsstädten des späten <strong>Mittelalter</strong>s<br />
Christian Scholl<br />
Hebrew Illuminated Manuscripts from Lake Constance before <strong>13</strong>48 32<br />
Sarit Shalev-Eyni<br />
Jüdische Bildkultur <strong>im</strong> mittelalterlichen Deutschland 48<br />
Katrin Kogman-Appel<br />
Siedlungsgeschichte und Verfolgungen der <strong>Juden</strong> <strong>im</strong> Bodenseegebiet<br />
bis zum späten 14. Jahrhundert 60<br />
Michael Schlachter<br />
Im Westen von Aschkenas 70<br />
Aspekte von Konflikt und Religion <strong>im</strong> jüdischen Bodenseeraum<br />
Martha Keil<br />
Christen und <strong>Juden</strong> <strong>im</strong> Europa der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts 79<br />
Zur Ausgrenzung von <strong>Juden</strong> <strong>im</strong> Umfeld der großen Reformkonzilien<br />
Christian Jörg<br />
Gewalt gegen <strong>Juden</strong> und Konflikte in der Stadt 87<br />
Überlegungen zu einer verstörenden „Normalität“ am Beispiel der Stadt Konstanz<br />
und des Bodenseeraums<br />
Johannes Heil<br />
2<br />
Forschungsberichte<br />
Auf den Spuren jüdischer Geschichte in Konstanz 97<br />
Eine spätmittelalterliche Mikwe <strong>im</strong> Bereich Fischmarkt/<br />
untere Münzgasse<br />
Jochem Pfrommer
Topographie jüdischer Wohnorte am Bodensee 104<br />
Mareike Hartmann<br />
Auf Spurensuche 109<br />
Die Friedhöfe der <strong>Juden</strong> nach ihrer Vertreibung<br />
Susanne Härtel<br />
Ein „Zürcher“ jenseits der Alpen 116<br />
Der Zürcher SeMaK als Zeugnis jüdischer Mobilität <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong><br />
Ingrid Kaufmann<br />
Geraubt, Recycelt, Wiedergefunden 120<br />
Hebräische Pergamentfragmente aus dem Bodenseeraum in Archiven und Bibliotheken<br />
Andreas Lehnardt<br />
Forschungsbericht zu den <strong>Juden</strong>siegeln 124<br />
Andreas Lehnertz<br />
Aus den Konzeptbüchern der Konstanzer Kurie 127<br />
Bischöfe und <strong>Juden</strong> <strong>im</strong> späten <strong>Mittelalter</strong><br />
Christoph Cluse<br />
Enigmatic Illustrations in the Darmstadt Haggada <strong>13</strong>2<br />
A Chivalric Version of Olam ha-Ba<br />
Meyrav Levy<br />
Die rechtliche Stellung der <strong>Juden</strong> in den Städten des westlichen Bodenseeraumes 140<br />
Lukas-Daniel Barwitzki<br />
<strong>Juden</strong>hüte am Bodensee 144<br />
Vanessa Fitzner<br />
Bildliche Darstellungen von <strong>Juden</strong> am Bodensee <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong> 148<br />
Versuch einer Analyse<br />
Sabrina Restle und Julia Zeller<br />
<strong>Juden</strong> in mittelalterlichen Kirchen 153<br />
Die Wandmalereien von St. Peter und Paul (Reichenau) und St. Johann (Stein am Rhein)<br />
Hanna Nüllen<br />
Feste und Spiel 159<br />
Geselliges Beisammensein zwischen <strong>Juden</strong> und Christen<br />
Miriam Bastian und Mareike Hartmann<br />
Die Ravensburger <strong>Juden</strong>gemeinde 164<br />
Katharina Pöss<br />
Exponate 167<br />
3<br />
Bibliographie 203
Grußwort<br />
Die Ausstellung „Zu Gast bei <strong>Juden</strong>“ leistet daher<br />
etwas ungeheuer Wertvolles: Sie wechselt die<br />
Blickrichtung. Sie eröffnet eine ganz neue Perspektive<br />
auf das jüdische Leben <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>. Die<br />
Ausstellungsmacher haben sich auf Spurensuche<br />
begeben, um den Blick der jüdischen Gemeinschaft<br />
von damals einzunehmen und das Wechselspiel<br />
zwischen <strong>Juden</strong> und Christen <strong>im</strong> Bodenseeraum<br />
des <strong>Mittelalter</strong>s zu beleuchten.<br />
Dabei ist etwas Großartiges geschehen: Die Ausstellung<br />
verdeutlicht: <strong>Juden</strong> und Christen sind<br />
zwei <strong>Seite</strong>n derselben Kultur. Es gibt nicht nur<br />
eine christliche, sondern auch eine jüdische Gotik.<br />
<strong>Juden</strong> und Christen gingen derselben Mode nach,<br />
hatten ähnliche Geschmäcker.<br />
4<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Besucher<br />
der Ausstellung,<br />
<strong>Juden</strong>, eingepfercht in Ghettos; Pogrome gegen<br />
<strong>Juden</strong> oder antisemitische Darstellungen von <strong>Juden</strong><br />
– das sind gängige Themen von Schriften oder<br />
Ausstellungen über das <strong>Juden</strong>tum <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>.<br />
Selbstverständlich sind diese Themen sehr wichtig.<br />
Leider ruht in ihnen <strong>im</strong>mer die Gefahr, judenfeindliche<br />
Klischees und Stereotypen über das <strong>Juden</strong>tum<br />
zu verfestigen.<br />
Und <strong>im</strong>mer wieder stellen wir fest: Antisemitische<br />
Vorurteile, auf die wir heute treffen, sind <strong>im</strong> Grunde<br />
jahrhundertealt. Sie werden tradiert und unreflektiert<br />
an die nächste Generation weitergegeben.<br />
Unwahre Tatsachenbehauptungen, die schon <strong>im</strong><br />
<strong>Mittelalter</strong> in Umlauf gebracht wurden, um <strong>Juden</strong><br />
zu diskr<strong>im</strong>inieren und zu verfolgen, finden sich<br />
heute zum Beispiel in abgewandelter Form in Kommentaren<br />
über den Nahostkonflikt oder über die<br />
Wall Street.<br />
Zugleich vermeidet es die Ausstellung, die Geschichte<br />
des Zusammenlebens von <strong>Juden</strong> und<br />
Christen schönzureden oder platte, unwissenschaftliche<br />
Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.<br />
Doch sie vermittelt eine klare Botschaft: <strong>Juden</strong><br />
waren nicht Zugereiste, die die deutsche Kultur ein<br />
Stück weit prägten, sondern sie waren ebenso Teil<br />
dieser deutschen Kultur wie Christen. Und dass in<br />
diesen Blütezeiten oft der gesellschaftliche Fortschritt<br />
am größten war und herausragende kulturelle<br />
Werke entstanden, sollte niemand als historische<br />
Zufälle werten.<br />
Ich danke den beteiligten Wissenschaftlern und<br />
dem Archäologischen Landesmuseum für diese<br />
beeindruckende Leistung und wünsche allen und<br />
hoffentlich zahlreichen Besuchern gewinnbringende<br />
Erkenntnisse sowie einen neuen Blick auf die<br />
Konzilstadt Konstanz!<br />
Dr. Josef Schuster<br />
Präsident des Zentralrats der <strong>Juden</strong> in<br />
Deutschland
Zur Einführung<br />
Dorothea Weltecke<br />
Vergessen und Verzerren<br />
Wer zur Konzilszeit von 1414 bis 1418 Konstanz<br />
und die anderen Bodenseestädte besuchte,<br />
traf <strong>im</strong> bunten Getümmel auch auf ihre jüdischen<br />
Bewohner. Schon seit über 200 Jahren<br />
lebten <strong>Juden</strong> und Christen in dieser Region<br />
zusammen. Das Konzil fiel in die zweite Epoche<br />
jüdischer Ansiedlung am Bodensee und <strong>im</strong><br />
Bistum Konstanz, 1 nachdem die Gemeinden in<br />
den verheerenden Pogromen der Pestzeit <strong>13</strong>48<br />
ausgelöscht worden waren. Der gemeinsame<br />
städtische Alltag endete schließlich um 1450,<br />
als die <strong>Juden</strong> vertrieben wurden. 2 Konnten die<br />
jüdischen Bewohner der Bodenseeregion dieses<br />
Ende vorhersehen? Es sieht nicht so aus.<br />
Trotz etlicher Verfolgungswellen am Anfang<br />
des 15. Jahrhunderts, die dieser letzten Vertreibung<br />
vorausgingen, wollten die jüdischen<br />
Gemeinden ihre zwe<strong>im</strong>al jährlich stattfindenden<br />
Gelehrtentreffen in Schaffhausen fortsetzen.<br />
Sie ersuchten 1435 erfolgreich um ein<br />
Privileg dafür. Einige Jahre vorher kaufte sich<br />
ein Mann namens Abraham aus St. Gallen noch<br />
ein großes Haus in Konstanz in der (heutigen)<br />
Münzgasse.<br />
Fast nichts mehr ist von dieser multireligiösen<br />
Kultur zu sehen. Die Häuser der <strong>Juden</strong> hatten<br />
sich nichtjüdische Besitzer angeeignet. Die<br />
Synagogen wurden zerstört, der alte Friedhof<br />
von Überlingen wurde aufgehoben. Ganz wenige<br />
Spuren sind heute wieder sichtbar gemacht,<br />
wie auf dem christlichen Friedhof Überlingen<br />
oder durch die Tafel, die in der Münzgasse in<br />
Konstanz an die einstige Synagoge erinnert. An<br />
anderen Stellen wurde bisher darauf verzichtet,<br />
wie an der St.-Ulrich-Straße in Überlingen:<br />
In Überlingen fand <strong>13</strong>32 ein furchtbares<br />
Pogrom statt, nachdem ein Ritualmordvorwurf<br />
erhoben worden war; die Überlinger <strong>Juden</strong><br />
wurden getötet. Der Junge, dessen Tod den<br />
<strong>Juden</strong> zur Last gelegt wurde, hieß Ulrich. Dem<br />
dann so genannten „Guten Ulrich“ wurde eine<br />
Kapelle am Fundort seiner Leiche gebaut und<br />
seine Wundertätigkeit verehrt, übrigens zum<br />
Missfallen der Bischöfe von Konstanz. Ein Seniorenhe<strong>im</strong><br />
in dieser Straße führt noch <strong>im</strong>mer<br />
seinen Namen.<br />
Andere Hinweise schließlich führen schlechterdings<br />
in die Irre: Am Pulverturm in Konstanz<br />
ist eine Tafel angebracht, die behauptet, dass<br />
die <strong>Juden</strong> einstmals den Bau dieses Turms, in<br />
dem sie dann 1430, 1443 und 1448 gefangen<br />
gehalten wurden, finanziert hätten. Es trifft<br />
zu, dass sie dort eingesperrt waren – aber sie<br />
hatten den Turm nicht bezahlt. Er entstand<br />
auch nicht zur Zeit ihrer Ansiedlung, 3 sondern<br />
erst weit über <strong>100</strong> Jahre später. 4 Die Tafel geht<br />
letztlich auf die böse Ironie einer Erzählung<br />
in der Konstanzer Chronik von Zündelin aus<br />
dem 16. Jahrhundert zurück, die die <strong>Juden</strong><br />
<strong>im</strong> 15. Jahrhundert in ihrem eigenen Turm<br />
schmachten lassen wollte. 5 Das Erzählen und<br />
Deuten begann schon damit, die Geschichte<br />
zu verzerren.<br />
Wer an die Welt des Bodensees <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong><br />
denkt, hat die bedeutenden Kirchen und Klöster<br />
vor Augen, das UNESCO Welterbe der Insel<br />
Reichenau, das Bistum Konstanz, einst das<br />
größte Bistum nördlich der Alpen, und nicht<br />
zuletzt das Konzil. Die jüdische Geschichte<br />
kommt hier nicht vor, geschweige denn der<br />
gemeinsame Alltag in der Stadt. An ihrer Stelle<br />
sind falsche Vorstellungen gewachsen, bei<br />
5<br />
1 Burmeister 1994–2001.<br />
2 Hörburger 1981.<br />
3 Löwenstein 1878, 19, dem alle übrigen Autoren folgen.<br />
4 Marmor 1860, 106-108.<br />
5 Löwenstein 1878, 19f. stützte sich auf die Abschrift in der Thurgauischen Kantonsbibliothek Frauenfeld, Y 192, eine weitere Kopie ist z. B. in<br />
Karlsruhe, GLA, 65/305. Die Chronik ist bisher nicht gedruckt.
6<br />
<strong>Juden</strong> wie bei Nichtjuden. Sie finden sich in<br />
dem vor 1933 viel gespielten Stück „Der Jude<br />
von Konstanz“, das Wilhelm von Scholz 1905<br />
geschrieben hatte: Die <strong>Juden</strong> lebten nicht, wie<br />
hier behauptet, außerhalb der Altstadt jenseits<br />
des Rheins in einem schäbigen Ghetto. 6 Man<br />
musste auch keinesfalls, wie der Jude Nasson<br />
in diesem Stück, zum Christentum konvertieren,<br />
um endlich rechtmäßig ein Haus in der<br />
Stadt besitzen zu dürfen und eine He<strong>im</strong>at zu<br />
finden. Dies sind aber die entscheidenden Motive<br />
des Stückes, die seine Erzählung begründen<br />
und vorwärtstreiben. Im Jahr 20<strong>13</strong> wurde<br />
das Stück unter überregionaler Anteilnahme<br />
neu inszeniert. Die wenigsten der zahlreichen<br />
Rezensenten verzichteten darauf, Scholz’ Benutzung<br />
historischer Quellen zu erwähnen;<br />
niemand zweifelte an der historischen Tatsächlichkeit<br />
der Darstellung. 7 Die erheblichen<br />
historischen Fehler waren nicht aufgefallen,<br />
weil sie schon lange die Fakten ersetzt hatten.<br />
Das kulturelle Gedächtnis besteht offenbar<br />
auch aus Scheintatsachen.<br />
Aber wurden <strong>Juden</strong> nicht optisch diskr<strong>im</strong>iniert,<br />
mussten sie sich nicht kennzeichnen<br />
und einen gelben Hut aufsetzen? Lebten die<br />
Religionsgemeinschaften nicht abgesondert<br />
voneinander, mieden sich misstrauisch und<br />
wussten wenig über die Theologie und die Sitten<br />
der anderen? Waren die <strong>Juden</strong> nicht eine<br />
Randgruppe, verachtet und ausgestoßen wie<br />
Bettler, Leprakranke und Prostituierte? Auch<br />
dies ist falsch. In den Beiträgen dieses Bandes<br />
werden deshalb besonders die so prominenten<br />
Scheinfakten an der Überlieferung überprüft.<br />
An dieser Stelle sollen nur einige allgemeine<br />
Bemerkungen den Rahmen darstellen, über die<br />
Zeit der Ansiedlung, die Herkunft der <strong>Juden</strong><br />
am Bodensee, ihre Sprache und ihre Position<br />
informieren. Außerdem gilt es, die Ziele der<br />
Ausstellung zu erläutern.<br />
<strong>Juden</strong> am Bodensee –<br />
Übliches und Besonderes<br />
Wann sich in der Bodenseeregion die ersten<br />
<strong>Juden</strong> ansiedelten, ist nicht bekannt. Sie wurden<br />
erst aktenkundig, nachdem sie in den<br />
Städten Gemeinden mit einer eigenen Organisation<br />
gegründet und Land für einen Friedhof<br />
in Überlingen erworben hatten. Dies war<br />
etwa um 1200 der Fall. Damit beginnt die<br />
jüdisch-christliche Phase der mittelalterlichen<br />
Geschichte am Bodensee vergleichsweise<br />
spät. In vielen Bischofsstädten der deutschen<br />
Lande gab es seit dem 9. oder 10. Jahrhundert<br />
bedeutende jüdische Gemeinden. 8 Seit<br />
dem 12. Jahrhundert war die Bodenseeregion<br />
zweifellos ein wirtschaftlich und kulturell<br />
innovativer und interessanter Raum. Er wurde<br />
zunehmend besser in die überregionalen<br />
Handelsnetze eingebunden, vor allem seit<br />
dem Ausbau wichtiger Alpenpässe wie dem<br />
Gotthardpass <strong>im</strong> <strong>13</strong>. Jahrhundert. Die jüdischen<br />
Gemeinden am Bodensee waren bald<br />
untereinander bestens vernetzt. Sie wurden<br />
auch von außen als eine Großgemeinde (Medinat<br />
Bodase) wahrgenommen, wie sie auch in<br />
anderen Regionen bestanden. Was die Größe<br />
der Gemeinden betrifft, sind nur Schätzungen<br />
möglich. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung<br />
war mindestens jüdisch, in manchen Städten<br />
auch mehr.<br />
Um 1200 war überall in der jüdischen Welt<br />
das rabbinische <strong>Juden</strong>tum seit geraumer Zeit<br />
voll ausgeprägt. Der babylonische Talmud, die<br />
große theologische und religionsgesetzliche<br />
Richtschnur des <strong>Juden</strong>tums aus den Schulen in<br />
Mesopotamien, war von Asien bis zum Atlantik<br />
in der jüdischen Welt bekannt und maßgeblich.<br />
Der Talmud wurde geradezu die tragbare<br />
He<strong>im</strong>at des <strong>Juden</strong>tums. 9 Er wurde in Talmudschulen<br />
(Jeschiwot) studiert, in denen Gelehrte<br />
zusammenkamen, lernten und diskutierten.<br />
6 Scholz 1905.<br />
7 Vgl. Assmann 2016, 40-41, die ebenfalls die historische Faktizität des Stückes durch Archivstudium des Autors nicht bezweifelt.<br />
8 Haverkamp 2002a.<br />
9 Boyarin 2015.
Zur Einführung<br />
Eine solche Jeschiwa gab es auch am Bodensee,<br />
eben in Schaffhausen.<br />
Schon war <strong>im</strong> Westen der jüdischen Welt,<br />
war in Frankreich und den deutschen Landen<br />
(Aschkenas) eine eigene, auf dem Talmud beruhende<br />
jüdische Gelehrsamkeit entwickelt.<br />
Salomon ben Isaak (1040–1105), genannt<br />
Raschi, hatte bereits seinen bedeutenden Talmudkommentar<br />
geschrieben, der breit bekannt<br />
war und bis heute gedruckt und studiert wird.<br />
Besonders geachtete Gelehrte in den jüdischen<br />
Zentren erhielten Anfragen zu den aktuellen<br />
Problemen vor Ort. Die Entscheidungen<br />
(Responsen) wurden gesammelt und verbreitet<br />
und vertieften so die Verbindungen zwischen<br />
den jüdischen Gemeinden.<br />
Das Hebräische hatte eine Wiederbelebung erfahren<br />
und war die gemeinsame Sprache und<br />
Schrift, mit der sich <strong>Juden</strong> aus unterschiedlichen<br />
Kulturen und Räumen miteinander verständigen<br />
konnten. Die <strong>Juden</strong> am Bodensee<br />
sorgten für Schulunterricht in Hebräisch und<br />
Aramäisch, den Sprachen des Talmuds. Die Gebildeten<br />
beherrschten Hebräisch so gut, dass<br />
sie ihre Schriftsprache auch für alltägliche,<br />
profane Belange benutzen konnten. Wie und<br />
ob Mädchen, etwa die Töchter der Rabbiner,<br />
Unterricht bekommen konnten, ist nicht bekannt.<br />
Für Konstanz ist <strong>im</strong>merhin nach 1420<br />
eine gelehrte Schwester Mirjam des überregional<br />
bekannten Rabbi Perez namentlich<br />
bekannt. 10 Für den synagogalen Gottesdienst<br />
wurden eigene hebräische Dichtungen verfasst,<br />
die die wöchentliche Lesung der Thora<br />
durch den Jahreskreis gestalteten. Die häuslichen<br />
Feste, allen voran der wöchentliche Feiertag,<br />
also der Sabbat, und das Pessachfest<br />
<strong>im</strong> Frühling, das die Errettung der <strong>Juden</strong> aus<br />
der Sklaverei feiert, waren das zweite Zentrum<br />
jüdischer Frömmigkeit. Der dritte Bereich war<br />
die tägliche konkrete Ausrichtung der Lebensführung<br />
an den 6<strong>13</strong> Geboten und Verboten.<br />
Für all dies entstanden neue Interpretationen<br />
und Gewohnheiten, die auf die Gegenwart der<br />
Gemeinden reagierten. Auch vom Bodenseeraum<br />
sind Impulse ausgegangen.<br />
Die <strong>Juden</strong> der Bodenseeregion waren neben anderen<br />
Regionen vor allem aus Frankreich eingewandert,<br />
und die französische Tradition blieb<br />
ein wichtiges Element. Viele von ihnen waren<br />
Flüchtlinge, andere kamen aus wirtschaftlichen<br />
Interessen. Im 14. und 15. Jahrhundert hatten<br />
sie gute Beziehungen nach Italien, wie andere<br />
Kaufleute aus dem Süden, die sich am Bodensee<br />
niedergelassen hatten. Die Zugewanderten<br />
hielten lange an ihren jeweiligen Gewohnheiten<br />
fest, und auch ein Akzent war noch lange<br />
hörbar, weshalb man sie mitunter noch Jahrzehnte<br />
später etwa als „der Franzose“ oder als<br />
„der Welsche“ bezeichnete. 11 Weil die jüdischen<br />
Gemeinden der Bodenseeregion <strong>im</strong>mer wieder<br />
Einwanderer unterschiedlicher Kulturen und<br />
Regionen aufnahmen und weil sie eng mit der<br />
nichtjüdischen Gesellschaft zusammenlebten,<br />
entstand vermutlich kein eigener Dialekt. Die<br />
Menschen sprachen die Sprache der Region.<br />
Aber es versteht sich, dass sie eigene (hebräische)<br />
Ausdrücke für best<strong>im</strong>mte Gegenstände<br />
und Tätigkeiten, für die Tage und Jahreszählung<br />
und anderes mehr gebrauchten.<br />
Die jüdischen Gemeinden und Haushalte waren<br />
nicht arm, denn nur wirtschaftlich interessanten<br />
<strong>Juden</strong> wurde der Zuzug gestattet. Die<br />
Städte der Region luden <strong>Juden</strong> in ihre Mauern<br />
ein, weil sie an der Expertise auswärtiger<br />
Bankiers und Händler interessiert waren. Das<br />
galt nicht nur für jüdische Bankiers, sondern<br />
auch für Franzosen („Kawersche“) oder für Italiener<br />
(„Lombarden“). 12 Die <strong>Juden</strong>, Frauen wie<br />
Männer, waren darüber hinaus als Kaufleute<br />
7<br />
10 Quellen und Literatur bei Burmeister 1996, 124, 159.<br />
11 Ebd., 35.<br />
12 Gilomen 2010; Ders. 2011a; vgl. Reichert 2002 u. a.
Abb. 1: <strong>Juden</strong> erhalten den päpstlichen Segen. Die Darstellung der <strong>Juden</strong> entspricht nicht dem Wortlaut des Textes. Konstanz,<br />
Rosgartenmuseum, Ulrich Richental Chronik, Hs. 1, fol. 105v-106r, um 1465.<br />
8<br />
tätig. Außerdem gab es Ärzte. Man weiß von<br />
einem Gastwirt und von einem Maler. <strong>13</strong> Andere<br />
Tätigkeiten wurden für die jüdische Gemeinde<br />
selbst gebraucht, wie der Schreiber der heiligen<br />
Schriften (Sofer), Hauslehrer und Schulmeister<br />
14 oder Metzger.<br />
Wenn auch die jüdischen Haushalte keineswegs<br />
mittellos waren, gab es mit den Knechten,<br />
Mägden und anderen Bediensteten der Häuser<br />
<strong>im</strong>mer auch eine jüdische Unterschicht. Andererseits<br />
gehörten aber auch die wohlhabenden<br />
<strong>Juden</strong> nicht zu den Reichen der Städte am Bodensee.<br />
Das waren stets – auch politisch einflussreiche<br />
– christliche Finanziers und Kaufleute<br />
wie die Familien Humpis in Ravensburg<br />
oder Muntprat in Konstanz am Ende des 14.<br />
und <strong>im</strong> 15. Jahrhundert. 15<br />
Anders als für viele Christen war das Konstanzer<br />
Konzil für <strong>Juden</strong> wirtschaftlich sehr wenig<br />
ertragreich. Zu dieser Zeit waren die jüdischen<br />
Bankiers in Konstanz nur eine kleine<br />
Minderheit. 12 jüdische Bankiers standen 73<br />
christlichen gegenüber. 16 Zugleich wurde in<br />
dieser Epoche in den Städten am Bodensee<br />
und am Oberrhein die Polemik gegen Darlehensgeschäfte<br />
und Edelmetallausfuhr besonders<br />
scharf. Obschon sich auch Einhe<strong>im</strong>ische<br />
wacker daran beteiligten, wurden diese Pole-<br />
<strong>13</strong> Burmeister 1996, 119.<br />
14 Ebd., 160.<br />
15 Maurer 1989–1996.<br />
16 Maurer 1996, 11f. Zu den italienischen Bankiers und zur umstrittenen Anwesenheit von Cos<strong>im</strong>o de Medici Weissen 2012; vgl. auch Badisches<br />
Landesmuseum Karlsruhe 2014.
Zur Einführung<br />
miken vor allem in Restriktionen gegen <strong>Juden</strong><br />
und Lombarden gemünzt. 17 Für seine stets<br />
klammen Kassen aber war König Sigismund<br />
(<strong>13</strong>68–1437) an den Steuern der <strong>Juden</strong> interessiert.<br />
Deshalb sicherte er ihre Ansiedlung<br />
und ihren Schutz in den Städten. Und deshalb<br />
bemühte er sich auf dem Konzil von Konstanz<br />
1417 auch be<strong>im</strong> neuen Papst Martin gleich<br />
nach dessen Wahl am 11. November um die<br />
Bestätigung ihrer Privilegien.<br />
Der Konstanzer Chronist Ulrich Richental beschrieb<br />
detailliert die Begegnung, als die <strong>Juden</strong><br />
vor dem Haus zum Schlegel auf den Papst<br />
warteten (Abb. 1). Ulrich weiß, dass die reich<br />
bekrönten und auf rotem Kissen unter einem<br />
golddurchwirkten Tuch gebetteten Gegenstände,<br />
die die Gemeindevorsteher dem Papst entgegenhalten,<br />
die Thorarollen sind. Er behandelt<br />
diese Rollen, die er „ire zehen gebott“<br />
nennt, so selbstverständlich, als hätte er sie<br />
zuvor schon gesehen. Er lässt die <strong>Juden</strong> auf<br />
Hebräisch singen, um den Papst willkommen<br />
zu heißen. Ulrich schreibt, die <strong>Juden</strong> sahen<br />
aus wie an „irem langen tag“. 18 Ulrich und seine<br />
Leser wissen selbstverständlich, was <strong>Juden</strong><br />
an ihrem „langen Tag“, dem Versöhnungstag<br />
(Jom Kippur), einem der höchsten Feiertage,<br />
tragen. 19 Er hat sie oft vor der Synagoge gesehen,<br />
sodass er diese nebenbei eingestreute<br />
Bemerkung für völlig ausreichend hält.<br />
Die Privilegien von Papst, Herrschern und lokalen<br />
Obrigkeiten machten in Europa die Rechtsstellung<br />
der <strong>Juden</strong> aus. Diese war kompliziert.<br />
Wie überall in den christlichen und übrigens<br />
auch in den islamischen Herrschaftsgebieten<br />
des <strong>Mittelalter</strong>s war Religion eine Kategorie<br />
sozialer Ungleichheit, die sich in der rechtlichen<br />
Position niederschlug. Andere Kategorien<br />
der Ungleichheit waren etwa Geschlecht,<br />
Herkunft, Geburt oder Besitz. Nie galt gleiches<br />
Recht für alle, und oft konnten Menschen ihre<br />
bisherigen Rechte behalten, wenn sie sich an<br />
einem neuen Ort niederließen.<br />
Es ist aber tatsächlich zu vermuten, dass die<br />
rechtliche Position der <strong>Juden</strong>, wenn sie Bürger<br />
der Bodenseestädte waren, derer der christlichen<br />
Bürger recht ähnlich war. Das war mit<br />
Ansprüchen und Pflichten verbunden. Noch in<br />
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzte<br />
sich ein Jude über mehrere Instanzen in<br />
einem Prozess gegen einen reichen und mächtigen<br />
Patrizier durch, der seine Schulden nicht<br />
zahlen wollte (s. S. 143).<br />
Dieses Vorgehen entspricht den allgemeinen<br />
mittelalterlichen Prinzipien in Ost und West.<br />
<strong>Juden</strong> (und Musl<strong>im</strong>e) wurden in christlichen<br />
Gebieten geduldet wie Christen und <strong>Juden</strong> in<br />
islamischen Gebieten. Leben und Besitz dieser<br />
Gruppen wurden geschützt. In der Organisation<br />
ihrer eigenen Belange waren sie autonom.<br />
Diese Duldung mussten sie mit Loyalität und<br />
höheren Steuern abgelten. Gleichzeitig fand<br />
eine Art Bevorzugung statt, oft auf dem Gebiet<br />
der Wirtschaft. Da die Geduldeten zugleich<br />
in Adels- und Machtstrukturen nicht<br />
eingebunden waren, konnten sie für Herrscher<br />
oder Stadtherren auch in der Administration<br />
interessant sein.<br />
Das Ideal der religiösen Eliten beider <strong>Seite</strong>n<br />
wäre eine klare Kennzeichnung und soziale<br />
Trennung zwischen den Angehörigen der Religionen<br />
gewesen. Heute ist bekannt, dass<br />
dafür Regeln zwar aufgeschrieben und wiederholt,<br />
aber selten verwirklicht waren, anders als<br />
später in der Neuzeit. Die gegenseitige wirtschaftliche<br />
Abhängigkeit ging vielmehr mit<br />
einer sozialen Verflechtung einher, auch am<br />
Bodensee. Dazu gehörten nicht zuletzt Austausch<br />
und gegenseitige Beobachtung in reli-<br />
9<br />
17 Gilomen 2010; 294.<br />
18 Richental 2010, 114.<br />
19 Burmeister 1996, <strong>13</strong>0.
10<br />
giösen Dingen, sowohl auf der Straße als auch<br />
zwischen Gelehrten.<br />
In vielen Regionen Europas und Asiens verschlechterte<br />
sich <strong>im</strong> 14. und 15. Jahrhundert<br />
die Lage der geduldeten Religionsgruppen. 20<br />
Dies gilt auch für die <strong>Juden</strong> am Bodensee.<br />
Die Autonomie der jüdischen Gemeinden wurde<br />
ausgehöhlt, die Dauer der Ansiedlung begrenzt.<br />
Dies untergrub die Positionen der Leiter<br />
der Gemeinde und der Rabbiner und lockerte<br />
den Zusammenhalt der <strong>Juden</strong>. Die städtischen<br />
Räte mischten sich in die Belange der jüdischen<br />
Bewohner ein, wie sie auch zunehmend<br />
den Anspruch erhoben, die Lebensführung der<br />
christlichen Bevölkerung zu gestalten.<br />
Gewalt gegen die religiösen Minderheiten kam<br />
in allen mittelalterlichen Gesellschaften, doch<br />
in unterschiedlicher Häufigkeit vor. Bei der<br />
Erklärung von Vertreibung und Morden sollte<br />
man nicht einfach die Begründungen wiederholen,<br />
die die Zeitgenossen selbst anführten<br />
(wie etwa Schulden bei <strong>Juden</strong> oder Rache für<br />
den Tod Jesu). Die Pogrome hatten selten etwas<br />
mit dem zu tun, was die <strong>Juden</strong> taten oder<br />
ließen, aber viel mit den sozialen Konstellationen<br />
unter den Christen. Auch die Bezeichnung<br />
„Sündenbock“ ist irreführend, denn die<br />
Gewalttäter und ihre Anstifter verfolgten sehr<br />
konkrete Interessen. Mit Gewalt wie mit Ordnungspolitik<br />
konnten geistliche und weltliche<br />
Autoritäten Handlungsfähigkeit und Frömmigkeit<br />
demonstrieren. 21 Aufständische, Frauen<br />
oder Handwerker konnten versuchen, gewissermaßen<br />
über die Leichen der <strong>Juden</strong> hinaufzusteigen,<br />
um sich bei den Obrigkeiten für ihre<br />
Anliegen Gehör oder wenigstens gesellschaftliche<br />
Aufmerksamkeit zu verschaffen. Konkurrierende<br />
St<strong>im</strong>men in der Kirche, wie die Prediger<br />
der Bettelorden, Priester, die Bischöfe und<br />
die Vorsteher ihrer Gerichte, begründeten mit<br />
Äußerungen über oder gegen <strong>Juden</strong> ihren Reformwillen<br />
und ihre spirituelle Autorität. Diese<br />
Mechanismen sind am Bodensee <strong>im</strong>mer wieder<br />
zu beobachten. Politische Rivalitäten, das<br />
Fehlen einer allgemein anerkannten Macht,<br />
das Land verwüstende Kriege und innerstädtische<br />
Aufstände zogen ebenfalls nicht selten<br />
Gewalt an <strong>Juden</strong> nach sich.<br />
Die verheerenden Pestpogrome <strong>13</strong>48 waren<br />
von einflussreichen Gruppen überall in den<br />
Städten Europas sorgfältig vorbereitet und<br />
angezettelt worden. Die auffällig vielen und<br />
historisch späten Ritualmordbeschuldigungen<br />
am Bodensee dagegen stehen <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit Spannungen zwischen städtischen<br />
Gruppen, den Konzilien von Konstanz und Basel<br />
und der Kirchenreform (s. S. 79, 94-96). 22<br />
Während der Verfolgungswellen galten alle<br />
Bürgerrechte, die schon in der Antike theologisch<br />
begründete Existenzberechtigung der<br />
<strong>Juden</strong> und lokale Schutzzusagen nichts mehr.<br />
Verlust des gesamten Vermögens und nicht<br />
selten des Lebens waren die Regel.<br />
Die Ausstellung<br />
Nur wenige Spuren haben sich von diesem<br />
jüdischen Leben am Bodensee erhalten. Darunter<br />
befinden sich einige hebräische Prachtmanuskripte.<br />
Ihre Bilder sind das eindrücklichste<br />
Zeugnis, das die jüdische Perspektive<br />
auf die gotische Welt der Städte zeigt. Hier<br />
sind Szenen aus Reiseleben und Geschäft, mit<br />
Männern, Frauen und Kindern, mit Architektur,<br />
mit Elementen aus Fest und Fantasiewelt<br />
dargestellt. Auf den Bildern finden sich auch<br />
ganz realistisch dargestellte Gegenstände, die<br />
archäologisch erhalten sind, wie kostbares Geschirr<br />
und Mobiliar, das wohlhabende <strong>Juden</strong><br />
wie Christen gleichermaßen schätzten. Auch<br />
von <strong>Juden</strong> in Auftrag gegebene Wandmale-<br />
20 Z. B. Nirenberg 2015; El-Leithy 2004; Luz 20<strong>13</strong>.<br />
21 Vgl. Lohrmann 1990.<br />
22 Diese späte Renaissance der Ritualmordbeschuldigung in dieser Region ist noch nicht befriedigend untersucht, zuletzt Müller 2002a.
Zur Einführung<br />
reien, die in Zürich erhalten geblieben sind,<br />
zeigen, dass sie und ihre christlichen Nachbarn<br />
denselben Leidenschaften nachgingen.<br />
<strong>Juden</strong> und Christen teilten zum Beispiel die<br />
Vorliebe für mittelhochdeutsche Literatur oder<br />
für kostbare Stoffe. Vieles interpretierten und<br />
nutzten sie unterschiedlich, wie Symbole und<br />
Motive, die entweder jüdische oder christliche<br />
Bedeutungen haben konnten. Sie gingen zum<br />
Beten in unterschiedliche Gebäude, sie spotteten<br />
wohl auch über die Gewohnheiten der<br />
anderen – aber sie gehörten zur selben Kultur.<br />
Gotische städtische Kultur am Bodensee<br />
ist nicht einfach christlich. Sie ist eine Kultur<br />
von Christen und von <strong>Juden</strong>.<br />
Es ist gerade die kunstgeschichtliche Forschung,<br />
die in den letzten Jahren zu einem<br />
radikalen Umdenken über das Zusammenleben<br />
von <strong>Juden</strong> und Christen angeregt hat. 23 Früher<br />
wurden von <strong>Juden</strong> in Auftrag gegebene<br />
Bilder oft als Zeichen von Ass<strong>im</strong>ilation betrachtet,<br />
die keine eigenständige Bedeutung<br />
zu haben schienen. Der neue Ansatz versteht<br />
diese Kunstwerke heute als höchst eigensinnige<br />
Teilhabe der <strong>Juden</strong> an der Welt der Gotik<br />
und somit die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede<br />
zwischen Christen und <strong>Juden</strong> als zwei<br />
<strong>Seite</strong>n derselben Kultur.<br />
Dieser Ansatz soll nun zum ersten Mal in einer<br />
Ausstellung präsentiert werden. Die Zusammenführung<br />
der über alle Welt verstreuten<br />
Prachtmanuskripte, die einst <strong>im</strong> Bodenseeraum<br />
entstanden, ist wissenschaftlich geboten (und<br />
wurde hier nicht vollständig erreicht). Auch<br />
die weitaus weniger spektakulären übrigen<br />
Reste des jüdischen Lebens, die zusammengetragen<br />
wurden, verdienen eine Präsentation.<br />
Das inhaltliche Anliegen der Ausstellung ist<br />
eine Einladung zum Wechsel der Perspektive.<br />
Deshalb wird hier die jüdische Bilderwelt<br />
entfaltet, die auf den ersten Blick gotisch<br />
vertraut zu sein scheint, zugleich aber durch<br />
hebräische Buchstaben überrascht. Das Bildgedächtnis<br />
von gotischer Kunst wird aktiviert<br />
und die gewohnte Verbindung von „gotisch“<br />
und „christlich“ gebrochen. Auf diese Weise<br />
wird, so ist zu hoffen, die Überprüfung der so<br />
tief verankerten und dennoch historisch falschen<br />
Vorstellungen vom <strong>Mittelalter</strong> und den<br />
<strong>Juden</strong> vorbereitet. Die gotische städtische<br />
Kultur war komplex und zugleich von Herausforderungen<br />
geprägt, in denen sich die Menschen<br />
der Gegenwart womöglich gespiegelt<br />
finden mögen.<br />
Der Katalog<br />
Der Begleitband zur Ausstellung zeigt den<br />
neuesten Stand zur Geschichte der <strong>Juden</strong> am<br />
Bodensee <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>. Er behandelt besonders<br />
die schon angesprochenen Fragen zum<br />
Aussehen und zu den Kleidern der <strong>Juden</strong>, zur<br />
räumlichen Verteilung in der Stadt, zum Recht<br />
und zu den Formen christlich-jüdischen Zusammenlebens.<br />
Weil so gut wie kein religiöses<br />
oder anderes Schrifttum aus den Gemeinden<br />
selbst erhalten ist, kann das innere Leben der<br />
Gemeinden nur angedeutet werden. Allerdings<br />
ist zu hoffen, dass auf diesem Gebiet noch<br />
weitere Fortschritte erzielt werden können,<br />
wenn die erhaltenen Zeugnisse weiter philologisch<br />
und theologisch untersucht werden. 24<br />
Für diesen Begleitband konnten international<br />
bekannte Spezialisten gewonnen werden,<br />
die die Bodenseeregion in die allgemeine Geschichte<br />
des <strong>Juden</strong>tums und die gemeinsame<br />
Geschichte von <strong>Juden</strong> und Christen in den<br />
deutschen Landen einordnen. Aber auch junge<br />
Forschende aus Konstanz und anderen Städten<br />
haben mitgewirkt und die Grundlage für eine<br />
neue Sicht auf die gemeinsame Geschichte der<br />
Städte in der Region geschaffen. Seit 2012 ha-<br />
11<br />
23 Einen Neuanfang bieten hier Wild, Böhmer 1999 u. a.; Epelbaum 2002; Shalev-Eyni 2010.<br />
24 Vgl. Lehnardt 2010; Kaufmann 2011.
12<br />
ben Konstanzer Studierende die Zeugnisse in<br />
den Archiven aufgesucht und die Thesen der<br />
älteren Forschung überprüft. Ihre Ergebnisse<br />
gehen hier in Forschungsberichte und in die<br />
Interpretation der ausgestellten Objekte ein.<br />
Dabei bauen die Beiträge auf der Forschungsarbeit<br />
älterer Generationen auf.<br />
Vor allem Archivare sowie jüdische und nichtjüdische<br />
Regionalforscher betreuen das Gebiet,<br />
verstärkt seit dem 19. Jahrhundert. 25<br />
Dazu gehörten auch der Konstanzer Rabbiner<br />
Heymann Chone (1874–1946) oder die sozial<br />
engagierte Florence Guggenhe<strong>im</strong>-Grünberg<br />
(1898–1989). 26 Besonders bedeutend wurde<br />
die erste Gesamtdarstellung des Bodenseegebietes<br />
von Leopold Löwenstein (1843–1923),<br />
dessen Schilderungen seither, vielfach leider<br />
ohne weitere Prüfung, übernommen wurde. 27<br />
Auch der Archivar und Historiker Karl-Heinz<br />
Burmeister (1936–2014) hat über Jahre intensiv<br />
und systematisch geforscht und <strong>im</strong>mer<br />
wieder wichtige Beiträge veröffentlicht. Von<br />
ihm stammt die beste moderne Gesamtdarstellung.<br />
28 Gelegentlich haben Forscher von<br />
außerhalb oder aus dem internationalen Raum<br />
sich für den Bodensee interessiert, dann jedoch<br />
ebenfalls Meilensteine gesetzt. 29 Zu nennen<br />
sind nicht zuletzt das große Projekt der<br />
Germania Judaica, die Forschungen von Alfred<br />
Haverkamp sowie die Arbeiten des Arye-Ma<strong>im</strong>on-Instituts<br />
an der Universität Trier. 30 Auch<br />
einige Doktorarbeiten, zumeist <strong>im</strong> Fach Geschichte,<br />
sind in Süddeutschland, Österreich<br />
und in der Schweiz entstanden. 31 Weil die Forschung<br />
recht verstreut und zum Teil schlecht<br />
zugänglich ist, bietet der Begleitband am Ende<br />
eine aktuelle und um Vollständigkeit bemühte<br />
Bibliographie der Veröffentlichungen zu den<br />
<strong>Juden</strong> am Bodensee. Trotz dieser bedeutenden<br />
Leistungen steht die Forschung noch am Anfang,<br />
denn <strong>im</strong> Vergleich zu anderen Regionen<br />
liegt der jüdische Bodensee bisher <strong>im</strong> Schatten<br />
der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.<br />
Außerdem wird es für die Forschung mehr zu<br />
tun geben, als die jüdische Geschichte einfach,<br />
gleichsam als zusätzliches Kapitel, zu<br />
ergänzen, ohne die Betrachtung insgesamt zu<br />
ändern.<br />
Vielmehr ist zu fragen, was diese mittelalterliche<br />
Welt ausmachte, wenn hier unterschiedliche<br />
Religionen an einem Ort zusammenlebten.<br />
Anders gesagt, es wäre mit Ernst die Frage zu<br />
stellen, was sich nicht oder anders entwickelt<br />
hätte, hätte es keine 250 Jahre Zusammenleben<br />
am Bodensee gegeben. Die wirtschaftliche<br />
Entwicklung wäre sicherlich anders verlaufen.<br />
Ferner kann vermutet werden, dass<br />
die verflochtenen Lebenswelten, das Wissen<br />
übereinander und der intensive religiöse Austausch<br />
die Identität beider Gruppen geprägt<br />
hat. Nicht zu vernachlässigen ist die lange Erfahrung<br />
eines städtischen Alltags <strong>im</strong> Wechsel<br />
der Jahreszeiten, in Krieg und Frieden, be<strong>im</strong><br />
Feiern und Fasten.<br />
In den sozialen Beziehungen waren religiöse<br />
Unterschiede <strong>im</strong>mer bekannt, aber nicht <strong>im</strong>mer<br />
erheblich. Freundschaften, eine gleiche soziale<br />
Lage und derselbe Geschmack mochten das<br />
Verhalten zuweilen mehr best<strong>im</strong>men. Deshalb<br />
konnten sich feine jüdische Herren und ein<br />
Chorherr zum Kartenspielen treffen, einer interessanten<br />
Errungenschaft aus Italien, selbst<br />
verbotenerweise an Weihnachten, selbst <strong>im</strong><br />
mächtigen Karmeliterkloster in Ravensburg (s.<br />
S. 162). Die Geschichte auch des städtischen<br />
Bodenseeraumes <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong> als eine Welt<br />
unterschiedlicher Religionen zu denken, ent-<br />
25 Harder 1863; Kayserling 1865; Roth von Schreckenstein 1872; Martin 1878; Stern 1887; Ders. 1890 u. a.<br />
26 Guggenhe<strong>im</strong>-Grünberg 1954; Chone 1936a; Ders. 1936b; Ders. 1938.<br />
27 Löwenstein 1878.<br />
28 Burmeister 1996–2001.<br />
29 Stromer, Toch 1978; Friedenberg 1987.<br />
30 Elbogen, Avneri, Ma<strong>im</strong>on et al., I-III, 1963–2003 und Haverkamp, Müller 2011ff.; Haverkamp 2002a.<br />
31 Z. B. Hörburger 1981; Scholl 2012.
Zur Einführung<br />
spricht den wissenschaftlichen Entwicklungen<br />
in der mittelalterlichen Religionsgeschichte,<br />
sogar über Europa hinaus. So wird beispielsweise<br />
die sogenannte „islamische Kultur“ <strong>im</strong><br />
<strong>Mittelalter</strong> heute als eine Kultur betrachtet,<br />
an der <strong>Juden</strong>, Christen und Musl<strong>im</strong>e gemeinsam<br />
Anteil hatten und die sie gemeinsam hervorgebracht<br />
haben. 32 Es versteht sich, dass das<br />
<strong>Mittelalter</strong> kein Vorbild für die Gegenwart sein<br />
kann. Man darf das Zusammenleben von Ju-<br />
den, Christen und Musl<strong>im</strong>en in Ost und West<br />
nicht verklären, nur weil es bestanden hat.<br />
Strukturellen Ungleichheiten, die gewaltoffenen<br />
Räume und die Abwertung der Geduldeten<br />
luden <strong>im</strong>mer wieder dazu ein, sich an ihnen<br />
schadlos zu halten. Aber die Möglichkeit gemeinsamer<br />
Kultur in unterschiedlichen religiösen<br />
Interpretationen könnte heute neue Perspektiven<br />
eröffnen.<br />
<strong>13</strong><br />
32 Die Forschung exper<strong>im</strong>entiert deshalb mit dem Begriff „islamicate“ als Ersatz für „islamisch“, um anzudeuten, dass es eine Kultur unter<br />
islamischer Herrschaft, doch keine monoreligiöse islamische Kultur gewesen ist. Vgl. Arjomand 2004; s. Marx, Pahlitzsch, Weltecke 2012.