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Edel sei der Mensch, hilfreich und gut... - carocktikum.de

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Son<strong><strong>de</strong>r</strong>heft<br />

»1. International Summerschool«<br />

72. Jg. – Son<strong><strong>de</strong>r</strong>ausgabe Sommer 2008


Impressum<br />

Herausgegeben im Auftrag <strong>de</strong>s Schulvereins »Carolinum« e.V.<br />

in Zusammenarbeit mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Altschülerschaft e.V. durch:<br />

Jost Reinhold<br />

Helga Reuter<br />

Dr. Eberhard Voß<br />

Henry Tesch<br />

Olaf Müller<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Die Bezugsgebühren für Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Schulvereins »Carolinum« e.V.<br />

<strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Altschülerschaft e.V. sind in <strong><strong>de</strong>r</strong> Spen<strong>de</strong> enthalten.<br />

Redaktionskollegium:<br />

Prof. Dr. Sigrid Jacobeit<br />

Hannelore Gentzen<br />

Jana Minkner<br />

Dirk Kollhoff<br />

Dr. Detlef Stietzel<br />

Gesamtherstellung:<br />

Göttinger Tageblatt GmbH & Co. KG – Druckhaus Göttingen<br />

Anfragen unter:<br />

Gymnasium Carolinum, Louisenstraße 30, 17235 Neustrelitz,<br />

Tel. 0 39 81 / 28 67 10, Fax 0 39 81 / 28 67 30, E-Mail: info@carolinum.<strong>de</strong>


Inhalt<br />

• Vorwort: Prof. Sigrid Jacobeit .......................................................................... 8<br />

• Eröffnungsre<strong>de</strong>n: Henry Tesch <strong>und</strong> Dr. Otto Nübel ................................................. 10<br />

• Ablaufplan <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool ........................................................................ 14<br />

• Vorlesungen:<br />

Prof. Michel Cullin ........................................................................... 16<br />

Dr. Egon Freitag ............................................................................. 20<br />

Avi Primor .................................................................................... 38<br />

Dr. Susanne Urban .......................................................................... 42<br />

Prof. Poltawski ............................................................................... 52<br />

• Einführungstext: Seminare, Zeitzeugen, Essays<br />

Inger Gulbrandsen ........................................................................... 62<br />

Menachem Kallus ........................................................................... 63<br />

Emmy Arbel ................................................................................. 65<br />

• Essays:<br />

Julia Prochor ................................................................................. 68<br />

Henrike Reincke ............................................................................. 69<br />

Claudia Schöwe .............................................................................. 71<br />

Anna Warncke ............................................................................... 72<br />

Max Alexandrin .............................................................................. 75<br />

• Abschlussworte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler ............................................................................ 77<br />

• Reflexionen:<br />

Annette Nielsen .............................................................................. 79<br />

Margit Wunsch ............................................................................... 80<br />

Julia Prochor – Emmy Arbel ................................................................ 81<br />

Heiko Benzin – Israel ....................................................................... 85<br />

Artikel von Elisa Wehser .................................................................... 85<br />

• Ausstellung: Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s Lebens? ............................................................ 87<br />

• Anhang .................................................................................................. 95<br />

5


Die Schirmherrschaft übernahm <strong><strong>de</strong>r</strong> Minister für Bildung, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Kultur <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Mecklenburg-Vorpommern Herr Henry Tesch.<br />

Die <strong>de</strong>m Carolinum <strong>sei</strong>t vielen Jahren fre<strong>und</strong>schaftlich verb<strong>und</strong>ene<br />

Wissenschaftlerin Frau Prof. Dr. Sigrid Jacobeit steht <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

»Internationalen Summerschool«als Präsi<strong>de</strong>ntin vor.<br />

Die Organisation <strong>und</strong> Durchführung dieser neuen auf das Studium<br />

vorbereiten<strong>de</strong>n Unterrichtsform wäre ohne materielle <strong>und</strong> i<strong>de</strong>elle Unterstützung<br />

nicht möglich gewesen.<br />

Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s zu nennen sind in diesem Zusammenhang <strong><strong>de</strong>r</strong> Internationale<br />

Fre<strong>und</strong>eskreis Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück e.V. mit <strong>sei</strong>nem Vorsitzen<strong>de</strong>n Herrn<br />

PD Dr. Otto Nübel sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Schulverein Gymnasium Carolinum e.V.<br />

mit <strong>sei</strong>nem Vorsitzen<strong>de</strong>n Herrn Jost Reinhold.<br />

Dieses Son<strong><strong>de</strong>r</strong>heft <strong><strong>de</strong>r</strong> historisch-literarischen Zeitschrift »Carolinum«<br />

fasst wichtige Inhalte <strong>und</strong> Reflexionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Veranstaltungen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

»1. Internationalen Summerschool« am Gymnasium Carolinum zusammen.<br />

6<br />

Zum ersten Mal fand vom 3. bis 6. September 2007 am Gymnasium<br />

Carolinum Neustrelitz die »Internationale Summerschool« statt.<br />

Die Redaktion


ZERTIFIKAT<br />

.............................................<br />

Goethe: Komponierte Landschaft<br />

(Spätsommer 1787?)<br />

Henry Tesch<br />

hat an <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. Internationalen Summerschool<br />

am Gymnasium Carolinum Neustrelitz<br />

vom 3. bis 6. September 2007<br />

zum Thema „<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>“<br />

erfolgreich teilgenommen.<br />

Minister für Bildung,<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Kultur<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Prof. Dr. Sigrid Jacobeit<br />

Präsi<strong>de</strong>ntin <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool,<br />

Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Instituts für Bildung<br />

<strong>und</strong> Erziehung e.V.,<br />

Humboldt-Universität zu Berlin<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong><br />

<strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>,<br />

<strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>gut</strong>...«<br />

www.summer-school-carolinum.<strong>de</strong><br />

1. International<br />

Summerschool<br />

PD Dr. Otto Nübel<br />

Vorsitzen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>de</strong>s Internationalen<br />

Fre<strong>und</strong>eskreises Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

Ravensbrück e.V.<br />

7


Vorwort<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Präsi<strong>de</strong>ntin <strong><strong>de</strong>r</strong> International Summerschool<br />

Frau Prof. Dr. Sigrid Jacobeit<br />

Wie entsteht eine Summerschool, noch<br />

zu<strong>de</strong>m an einem Gymnasium <strong>und</strong> zu<strong>de</strong>m<br />

eine internationale? Wie entstand<br />

unsere 1. International Summerschool<br />

am Gymnasium Carolinum in Neustrelitz?<br />

Schauen wir ins Internet, um eine<br />

Antwort auf die allgemeine Frage zu<br />

fin<strong>de</strong>n, dann stellen wir fest, dass solche<br />

Sommerschulen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschools<br />

beinahe ausschließlich für Studieren<strong>de</strong><br />

angeboten wer<strong>de</strong>n, sie sich auf mehrere<br />

Wochen o<strong><strong>de</strong>r</strong> gar Sommermonate beziehen<br />

<strong>und</strong> zu unterschiedlichen Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Freizeitmöglichkeiten eingela<strong>de</strong>n<br />

wird. Es sind mehrheitlich Universitäten<br />

in unterschiedlichen Städten<br />

<strong>de</strong>s In- <strong>und</strong> Auslands, die die semesterfreie<br />

Zeit für ergänzen<strong>de</strong> Bildungsangebote<br />

im Rahmen von Sommerschulen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschools nutzen <strong>und</strong><br />

dies in zahlreichen Fachrichtungen.<br />

Meine Universität, die Humboldt-Universität<br />

zu Berlin, führt beispielsweise<br />

in diesem Sommer eine sechswöchige<br />

Leo Baeck Summer University durch,<br />

die sich auf Fragen jüdischen Lebens<br />

<strong>sei</strong>t <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg konzentriert.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Mahn- <strong>und</strong> Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

Ravensbrück/Stiftung Bran<strong>de</strong>nburgische<br />

Ge<strong>de</strong>nkstätten haben wir im August<br />

2005 eine Sommeruniversität zum<br />

Thema »Ge<strong>de</strong>nkstätten an Orten nationalsozialistischer Verbrechen. Authentizität, Funktion,<br />

Selbstverständnis« gestartet. Sie wur<strong>de</strong> bereits im September 2007 als dritte <strong>und</strong> Europäische<br />

Sommer-Universität mit jeweils an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Themen fortgesetzt <strong>und</strong> ist für dieses<br />

Jahr wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um im September geplant.<br />

Fügt sich nun unsere 1. International Summerschool in das allgemeine Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> fachspezifisch<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> interdisziplinär ausgerichteten Sommerschulen, Summerschools o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sommeruniversitäten<br />

ein? Eigentlich gar nicht, aber <strong>de</strong>shalb haben wir sie nicht initiiert. Wir,<br />

das sind Henry Tesch, bis November 2006 Leiter <strong>de</strong>s Gymnasium Carolinum <strong>und</strong> <strong>sei</strong>t<strong>de</strong>m<br />

Minister für Bildung, Wissenschaft <strong>und</strong> Kultur <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Mecklenburg-Vorpommern, das<br />

ist Olaf Müller, <strong><strong>de</strong>r</strong> nachfolgen<strong>de</strong> kommissarische Leiter <strong>de</strong>s Carolinum, Dr. habil. Otto<br />

Nübel, Vorsitzen<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Internationalen Fre<strong>und</strong>eskreises Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück e.V.<br />

<strong>und</strong> ich selbst als Honorar-Professorin am Institut für Europäische Ethnologie <strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität<br />

zu Berlin. Wir hatten bei unserer Initiative ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Motive. Zuallererst<br />

sollten es Carolinum-Schülerinnen <strong>und</strong> Carolinum-Schüler am Beginn <strong>de</strong>s 13. Jahrgangs<br />

<strong>sei</strong>n, <strong>de</strong>nen ein voruniversitäres Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Verbindung von Lehre <strong>und</strong> Forschung<br />

8


geboten wer<strong>de</strong>n sollte, damit von Vorlesungen <strong>und</strong> Seminaren, gewissermaßen ein Vorspiel<br />

zum Akt <strong>de</strong>s Studierens unterschiedlicher Fachrichtungen an Universitäten <strong>und</strong><br />

Fachhochschulen. Darüber hinaus wollten wir Schüler <strong>und</strong> Lehrer <strong><strong>de</strong>r</strong> Carolinum-Partnerschulen<br />

in Norwegen, Dänemark, Polen, Italien <strong>und</strong> Israel einla<strong>de</strong>n. Noch wichtiger<br />

war uns aber die inhaltliche Fokussierung dieser zusätzlichen Bildung, die Fragen einer<br />

<strong>Mensch</strong>enbildung gleichkommen <strong>und</strong> sich auf einen Zeitraum von vier Tagen konzentrieren<br />

sollte. Bei dieser Problematik sollten uns vor allem Überleben<strong>de</strong> <strong>de</strong>s KZ Ravensbrück<br />

helfen; in Begegnungen mit ihnen – im Rahmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool mit Inger Gulbrandsen<br />

aus Norwegen, Menachem Kallus <strong>und</strong> Emmie Arbel aus Israel – <strong>und</strong> vielen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zuvor<br />

– hatten wir selbst <strong>Mensch</strong>enbildung erfahren. Die Summerschool hatten wir im Herbst<br />

2006 für <strong>de</strong>n 3. bis 6. September 2007 verabre<strong>de</strong>t, jenen Zeitpunkt unmittelbar nach <strong>de</strong>m<br />

En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sommerferien, <strong><strong>de</strong>r</strong> komprimierter nicht <strong>sei</strong>n konnte. Das Programm dieser Tage<br />

nannte fünf Vorlesungen <strong>und</strong> 22 Seminare, die jeweils als obligatorische Vorlesungen <strong>und</strong><br />

fakultative Seminare angeboten wur<strong>de</strong>n.<br />

Wer aber sollte dieses Programm einer <strong>Mensch</strong>enbildung auf hohem wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> menschlichen Niveau anbieten? Und welchen Namen sollten wir unserer zusätzlichen<br />

»Schule« in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule geben? Ein Carolinum-Schüler half uns auf die Frage,<br />

wie er jenes Vorhaben nennen wür<strong>de</strong>, sehr entschlossen »Summerschool«; später erhielten<br />

wir für dieses Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Amerikanisierung unserer Sprache auch Kritik. So war im Büro<br />

<strong>de</strong>s Schulleiters Henry Tesch unsere 1. International Summerschool geboren. In einem Telefonat<br />

mit meinem einstigen Kommilitonen im Fernstudium Ethnographie an <strong><strong>de</strong>r</strong> Humboldt-Universität,<br />

Dr. Egon Freitag, ein Spezialist <strong><strong>de</strong>r</strong> Klassik <strong>und</strong> Mitarbeiter am Weimarer<br />

Goethe-Museum, erzählte ich das Vorhaben, erlebte einen begeisterten Zuhörer, <strong>und</strong><br />

wir nahmen <strong>sei</strong>ne I<strong>de</strong>e für das Motto <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool, nämlich das Goethe-Zitat »<strong>E<strong>de</strong>l</strong><br />

<strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>« auf. Ein Motto, mit <strong>de</strong>m wir auch die nächsten Summerschool-Themen<br />

überschreiben möchten. Egon Freitag eröffnete auch gewissermaßen das<br />

Bildungsangebot am ersten Tag mit einer Vorlesung »Es ist nichts als Tätigkeit nach einem<br />

bestimmten Ziel, was das Leben erträglich macht. Selbstverwirklichung <strong>und</strong> Kreativität<br />

aus klassischer Sicht«. Der lei<strong>de</strong>nschaftliche Dozent erlebte sehr interessierte, ja am En<strong>de</strong><br />

begeisterte Schüler <strong>und</strong> Lehrer, <strong>und</strong> er hatte am gleichen Tag noch ein Seminar angeboten<br />

zum Thema »Der <strong>Mensch</strong>heit Wür<strong>de</strong> ist in eure Hand gegeben. Humanität <strong>und</strong> Erkenntnisstreben<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Weimarer Klassik«.<br />

Über eine ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Zeit, nämlich über ihre Zeit im Frauen-Konzentrationslager<br />

Ravensbrück <strong>und</strong> über ihr jahrzehntelanges Engagement in norwegischen Schulen, berichtete<br />

Inger Gulbrandsen aus Sörumsand/Norwegen unter <strong>de</strong>m Seminartitel »<strong>Mensch</strong>enbil<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

im KZ. Ein Thema für die <strong>Mensch</strong>enbildung nachfolgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Generationen«. Mit einer<br />

Vorlesung unter <strong>de</strong>m Titel »Zivilcourage als höchste Wür<strong>de</strong>« been<strong>de</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemalige Botschafter<br />

Israels in Deutschland, Prof. Avi Primor, <strong>de</strong>n ersten Tag. Die ihm in <strong>de</strong>n nächsten<br />

Tagen folgen<strong>de</strong>n Vorlesungs-Dozenten, Dr. Susanne Urban, Mitarbeiterin <strong><strong>de</strong>r</strong> Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

Yad Vashem in Israel <strong>und</strong> Prof. Dr. Andrzej Poltawski, Krakow/Polen sowie Prof. Dr.<br />

Michel Cullin von <strong><strong>de</strong>r</strong> Diplomatischen Aka<strong>de</strong>mie in Wien, <strong><strong>de</strong>r</strong> am Eröffnungsabend<br />

sprach, bil<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>n internationalen Rahmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehren<strong>de</strong>n.<br />

Das reiche Programm, das durch Seminar-Beiträge von Carolinum-Pädagogen unterstützt<br />

wur<strong>de</strong>, eine zu<strong>de</strong>m begleiten<strong>de</strong> Ausstellung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage »Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s Lebens?«,<br />

gibt das Anliegen <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. International Summerschool im Carolinum wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, damit<br />

die Tage <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildung <strong>und</strong> Begegnung, einer internationalen Begegnung von Generationen,<br />

von Schülern <strong>und</strong> KZ-Überleben<strong>de</strong>n, von Wissenschaftlern, Politikern <strong>und</strong> allen, die daran<br />

beteiligt waren. Einige <strong><strong>de</strong>r</strong> für diesen Band ausgewählten Essays, die von <strong>de</strong>n Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schülern am letzten Tag <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool verfasst wur<strong>de</strong>n, spiegeln das Anliegen<br />

wi<strong><strong>de</strong>r</strong>. Wir, die Initiatoren <strong>und</strong> Organisatoren, waren glücklich darüber.<br />

Ich danke allen Mitwirken<strong>de</strong>n herzlich, <strong>und</strong> ich freue mich auf die 2. International<br />

Summerschool im Gymnasium Carolinum Neustrelitz vom 1. bis 4. September 2008.<br />

9


Re<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Ministers für Bildung,<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Kultur<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Mecklenburg-Vorpommern<br />

<strong>und</strong> Schirmherrn Herrn Henry Tesch,<br />

zur Eröffnung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 1. International Summerschool<br />

am 3. September 2007<br />

Meine sehr verehrten Damen <strong>und</strong> Herren, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Cullin, liebe Zeitzeuginnen<br />

<strong>und</strong> Zeitzeugen, liebe Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Partner <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule, liebe Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schüler, liebe Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen, sehr geehrter Herr Dr. Nübel, liebe Sigrid, liebe<br />

Gäste,<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>,<br />

Hilfreich <strong>und</strong> <strong>gut</strong>!<br />

Denn das allein unterschei<strong>de</strong>t ihn<br />

Von allen Wesen, Die wir kennen.«<br />

Diese Worte Goethes aus <strong>sei</strong>ner O<strong>de</strong> »Das Göttliche« sind uns allen bekannt, sie sind<br />

eine Mahnung zu hilfsbereitem, gütigem, gemeinnützigem Wirken. Goethe betont mit diesem<br />

Text die Son<strong><strong>de</strong>r</strong>stellung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en. Der <strong>Mensch</strong> allein besitzt die Fähigkeit zu unterschei<strong>de</strong>n,<br />

zu wählen <strong>und</strong> zu richten. Der <strong>Mensch</strong> besitzt die Fähigkeit, über <strong>de</strong>n Augenblick<br />

hinaus zu <strong>de</strong>nken <strong>und</strong> zu schaffen. Damit schafft er eine Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Werte.<br />

Bereits zwei Jahre vorher, 1781, äußert sich Moses Men<strong>de</strong>lssohn unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Überschrift<br />

»Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en« so:<br />

»Wahrheit erkennen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste thun.« Damit haben wir<br />

<strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>gedanken <strong><strong>de</strong>r</strong> Klassik durch zwei wichtige Denker ihrer Zeit herausgestellt. Es<br />

geht um die freie Entfaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Persönlichkeit, <strong><strong>de</strong>r</strong> Individualität <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en. Es geht<br />

um die Ausbildung <strong><strong>de</strong>r</strong> Anlagen, Begabungen <strong>und</strong> Fähigkeiten <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en. Das heißt,<br />

im Mittelpunkt steht <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, stehen <strong>sei</strong>ne Bildung <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne Wür<strong>de</strong>.<br />

Hier kommt <strong>de</strong>n schulischen Einrichtungen ihre entsprechen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung zu. Wenn<br />

wir nach Neustrelitz blicken, so erfüllt im Jahre 1795 Herzog Carl zu Mecklenburg die<br />

Bitte Neustrelitzer Bürger nach einer »besseren Schulanstalt«, in<strong>de</strong>m er am 12.April eine<br />

Stiftungsurk<strong>und</strong>e zur Bildung einer Oberschule erlässt <strong>und</strong> 1806 mit <strong>de</strong>m Spruch »Der<br />

sittlichen <strong>und</strong> wissenschaftlichen Bildung <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugend« <strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>s Gymnasiums<br />

<strong>de</strong>utlich macht.<br />

Soweit die Gedanken <strong>und</strong> Vorstellungen aus <strong>de</strong>m 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />

Daraus können wir die Frage ableiten, ob diese Vor<strong>de</strong>nker für die Erziehung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en<br />

in unserer heutigen <strong>de</strong>mokratischen Gesellschaft <strong>und</strong> Zeit an einem humanistischen<br />

Gymnasium noch aktuell genug sind. Die Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, die Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schüler <strong>de</strong>s Gymnasium Carolinum stellen sich je<strong>de</strong>n Tag <strong>de</strong>m Anspruch, <strong>de</strong>n Traditionen<br />

ihrer Schule gerecht zu wer<strong>de</strong>n. Dabei steht die all<strong>sei</strong>tige Bildung im Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>gr<strong>und</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

politischen <strong>und</strong> historischen Bildung kommt dabei jedoch immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> eine beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Be<strong>de</strong>utung zu.<br />

Es ist wichtig, dass die junge Generation sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufgabe zur Beschäftigung mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Vergangenheit stellt, dass sie sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart <strong>und</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zukunft mit dieser Zeit<br />

au<strong>sei</strong>nan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzt <strong>und</strong> darüber ins Gespräch kommt.<br />

10


Dabei geht es um nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es, als ein entsprechen<strong>de</strong>s Geschichtsbewusst<strong>sei</strong>n zu entwickeln,<br />

Überlieferungen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit, ge<strong>de</strong>utete Geschichte <strong>und</strong> Geschichten<br />

zu hinterfragen, Erfahrungen mit <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Rolle in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte, generell mit<br />

geschichtlichen Zusammenhängen von Welt <strong>und</strong> <strong>Mensch</strong> zu machen. Es geht um das historische<br />

Denken in allen Bereichen, angefangen beim außer- <strong>und</strong> vorschulischen alltagsweltlichen<br />

Geschichts<strong>de</strong>nken <strong><strong>de</strong>r</strong> »Laien«, über das schulische Geschichtslernen, historische<br />

Projektarbeit, Erinnerungs- <strong>und</strong> Geschichtskultur bis hin zu universitärer Forschung <strong>und</strong><br />

Lehre.<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>« – dies ist das Motto <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. Internationalen<br />

Summerschool am Gymnasium Carolinum in Neustrelitz. Gemeinsam mit <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemaligen<br />

Leiterin <strong><strong>de</strong>r</strong> Mahn- <strong>und</strong> Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück, Frau Prof. Sigrid Jacobeit, entstand im<br />

letzten Jahr die I<strong>de</strong>e, an dieser Schule etwas für die Entwicklung <strong>de</strong>s Geschichtsbewusst<strong>sei</strong>ns<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler zu tun. In diesem Zusammenhang wollten die Initiatoren, zu <strong>de</strong>nen auch<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Internationale Fre<strong>und</strong>eskreis sowie die Kollegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachschaft Geschichte gehörten,<br />

sich auch <strong>de</strong>m Anspruch stellen, die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler <strong><strong>de</strong>r</strong> 13. Jahrgangsstufe auf<br />

die bevorstehen<strong>de</strong> Studierfähigkeit vorzubereiten. In kurzer Zeit entstand ein Konzept,<br />

das immer mehr ausgefeilt wur<strong>de</strong>. Es ging darum, ein die Schüler ansprechen<strong>de</strong>s Motto zu<br />

fin<strong>de</strong>n, Referenten, Partner <strong>und</strong> Unterstützer zu gewinnen.<br />

Ich freue mich ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s, Sie, liebe Zeitzeugen, heute hier begrüßen zu können.<br />

Sie haben lange Anfahrtswege auf sich genommen, um die inzwischen zur Tradition gewor<strong>de</strong>nen<br />

Kontakte zu vertiefen <strong>und</strong> die 1. Internationale Summerschool am Gymnasium<br />

Carolinum zu unterstützen sowie zu bereichern. Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.<br />

Meine sehr verehrten Gäste, liebe Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler, liebe Kolleginnen <strong>und</strong><br />

Kollegen, lassen Sie mich zum Abschuss meiner Gedanken Dank sagen. Diesen möchte ich<br />

richten an alle, die dieses so wichtige Ereignis unterstützen <strong>und</strong> zum Gelingen, davon bin<br />

ich überzeugt, beitragen. Nennen möchte ich an dieser Stelle vor allem unsere Präsi<strong>de</strong>ntin<br />

Frau Prof. Sigrid Jacobeit, die mit Ihrer Kreativität <strong>und</strong> Ihrem Wissen die Organisation<br />

begleitet hat. Die Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachschaft Geschichte mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Fachschaftsleiterin<br />

Frau Jana Minkner haben sich beispielhaft in die Vorbereitung <strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten<br />

Tage eingebracht <strong>und</strong> sie wer<strong>de</strong>n alle Veranstaltungen begleiten <strong>und</strong> unterstützen. Ohne<br />

sie geht es nicht. Dafür meinen herzlichen Dank.<br />

Mein Dank richtet sich ebenso an alle, die diese Internationale Summerschool durch<br />

Vorlesungen <strong>und</strong> Seminare zu <strong>de</strong>m machen, was wir uns zum Ziel gesetzt haben, nämlich<br />

<strong>de</strong>n Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern unsere Geschichte auf eine ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Art <strong>und</strong> Weise<br />

näher zu bringen <strong>und</strong> somit zur Au<strong>sei</strong>nan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit beizutragen.<br />

Danken möchte ich all <strong>de</strong>nen, die diese Tage för<strong><strong>de</strong>r</strong>n: <strong>de</strong>m Internationalen Fre<strong>und</strong>eskreis<br />

mit <strong>sei</strong>nem Vorsitzen<strong>de</strong>n Dr. Nübel, <strong><strong>de</strong>r</strong> Ertomis-Stiftung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Siemens AG sowie<br />

<strong>de</strong>m Schulverein »Carolinum« e.V.<br />

Mein Dank richtet sich auch an die Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen unserer Partnerschulen<br />

in Polen, Dänemark <strong>und</strong> Israel, die unserer Einladung zur Internationalen Summerschool<br />

gefolgt sind <strong>und</strong> diese gemeinsam mit ihren <strong>de</strong>utschen Gastschülern absolvieren wer<strong>de</strong>n.<br />

Zu Gast sind während <strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten Tage auch Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler <strong><strong>de</strong>r</strong> Berliner<br />

»Nelson Man<strong>de</strong>la Schule«, einer bilingualen Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe. Ich<br />

bin überzeugt, auch für Sie wer<strong>de</strong>n die nächsten Tage ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e.<br />

Mir bleibt nun, dieser 1. Internationalen Summerschool <strong>gut</strong>es Gelingen zu wünschen,<br />

Zeit für anregen<strong>de</strong> Gespräche <strong>und</strong> Diskussionen. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse <strong>und</strong><br />

die Einschätzung aller Beteiligten, damit wir im kommen<strong>de</strong>n Jahr die 2. Internationale<br />

Summerschool am 1.September 2008 starten können.<br />

Herzlichen Dank.<br />

11


Eröffnungsansprache <strong>de</strong>s<br />

Vorsitzen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Internationalen Fre<strong>und</strong>eskreises<br />

Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück e.V. PD Dr. Otto Nübel<br />

Als Vorsitzen<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s IFK, <strong>de</strong>s<br />

Internationalen Fre<strong>und</strong>eskreises<br />

für die Mahn- <strong>und</strong> Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

Ravensbrück, begrüße<br />

ich Sie alle in dieser schönen<br />

Aula <strong>de</strong>s Gymnasiums Carolinum<br />

in Neustrelitz, an erster<br />

Stelle <strong>und</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s herzlich<br />

die drei hier anwesen<strong>de</strong>n<br />

Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s KZ Ravensbrück,<br />

Inger Gulbrandsen aus<br />

Norwegen sowie Emmie Arbel<br />

<strong>und</strong> ihren Bru<strong><strong>de</strong>r</strong> Menachem<br />

Kallus aus Israel.<br />

Eine Freu<strong>de</strong> ist uns auch<br />

die Anwesenheit unseres<br />

Schirmherrn, <strong>de</strong>s Herrn Kultusministers<br />

in Mecklenburg-Vorpommern<br />

Henry Tesch; <strong>de</strong>s<br />

Leiters <strong><strong>de</strong>r</strong> gastgeben<strong>de</strong>n<br />

Schule Gymnasium Carolinum<br />

Olaf Müller sowie <strong><strong>de</strong>r</strong> Damen<br />

<strong>und</strong> Herren <strong>de</strong>s Lehrkörpers<br />

im Carolinum <strong>und</strong> von allen<br />

teilnehmen<strong>de</strong>n Schulen aus<br />

Dänemark, Israel <strong>und</strong> Polen.<br />

Ein herzliches Grußwort<br />

gilt nicht zuletzt <strong>de</strong>n anwesen<strong>de</strong>n<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern,<br />

immerhin r<strong>und</strong> 200<br />

Jugendlichen aus vier Nationen. Mit einigem Recht ist schon im Vorfeld gesagt wor<strong>de</strong>n, sie<br />

<strong>sei</strong>en die wichtigsten hier im Saal. An sie richtet sich nämlich unsere Summerschool, <strong>und</strong><br />

abgesehen davon: ihnen gehört die Zukunft.<br />

Unser Internationaler Fre<strong>und</strong>eskreis, <strong><strong>de</strong>r</strong> IFK, tut am heutigen Tage einen großen<br />

Schritt. Denn er kann, in fre<strong>und</strong>schaftlichem Zusammenwirken mit <strong>de</strong>m Carolinum, <strong>sei</strong>ne<br />

Arbeit durch die Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool auf eine ganz neue, bislang nicht erreichbare<br />

Ebene heben. Eines unserer traditionellen Ziele ist die von uns so genannte »Begegnung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Generationen«, d.h. die Begegnung <strong><strong>de</strong>r</strong> heutigen Jugend mit Zeitzeugen <strong>und</strong> KZ-<br />

Überleben<strong>de</strong>n, die aus eigener Erfahrung über dramatische Schicksale <strong>und</strong> Ereignisse <strong>de</strong>s<br />

Zweiten Weltkrieges berichten können. Dies geschieht von uns aus immer mit einem<br />

großen Ziel vor Augen, nämlich, dass sich solche Katastrophen nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ereignen mögen.<br />

Diese Begegnungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Generationen haben wir in <strong>de</strong>n vergangenen Jahren in Zusammenarbeit<br />

mit möglichst vielen Schulen durchzuführen versucht. Es waren immer Begegnungen,<br />

die tiefste Eindrücke auf bei<strong>de</strong>n Seiten hinterließen, bei <strong>de</strong>n Schülern wegen <strong>de</strong>s<br />

ihnen unvorstellbaren Elends <strong><strong>de</strong>r</strong> Jahre <strong>de</strong>s Nationalsozialismus, bei <strong>de</strong>n Überleben<strong>de</strong>n<br />

12


wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> grenzenlosen Konzentriertheit, <strong>de</strong>s hohen Interesses <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Anteilnahme <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schüler.<br />

Aber es waren eben immer nur einzelne Schulen, einzelne Klassen, die wir erreichen<br />

konnten, mehr nicht. Die Summerschool im Carolinum in Neustrelitz, die wir heute aus<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Taufe heben, soll unseren Wirkungskreis entschei<strong>de</strong>nd erweitern, <strong>de</strong>nn hier erreichen<br />

wir auf einmal nicht nur zwei Dutzend, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n zweihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Schüler, <strong>und</strong> obendrein nicht<br />

nur einer, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n gleich mehrerer Nationalitäten. Das gab es noch nie!<br />

Der IFK erhofft <strong>und</strong> wünscht sich durch die Summerschool eine unvergleichlich viel<br />

breitere Wirkung <strong>de</strong>s Gesprächs zwischen <strong>de</strong>n Generationen, zwischen <strong>de</strong>n Überleben<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> heutigen Jugend, die Weitergabe kostbarster Lebenserfahrungen, die zukünftige<br />

Generationen vielleicht davor behüten können, ein ähnlich furchtbares Schicksal erlei<strong>de</strong>n<br />

zu müssen wie die Generation ihrer Eltern <strong>und</strong> Großeltern.<br />

Unsere Bitte an die junge Generation hier im Saal geht dahin, <strong>de</strong>n Rednern ihre ungeteilte<br />

Aufmerksamkeit zu schenken. Nehmen Sie mit, was sie Ihnen zu bieten vermögen, es<br />

könnte <strong>sei</strong>n, dass Sie es dringend brauchen wer<strong>de</strong>n. Der Jugend steht bekanntlich die<br />

ganze Welt offen, mit all ihren immensen Chancen, aber auch ebensolchen Gefahren. Die<br />

heutige Welt bietet Jugendlichen mehr als jemals zuvor, hat jedoch so viele Türen, »dass<br />

man Angst bekommt, ob sie auch die richtige Tür erwischen«, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Unternehmer<br />

Neckermann einmal seufzte.<br />

Die Summerschool möchte nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es, als Sie beim Aufbruch zu dieser für Sie richtigen<br />

Tür ein Stück <strong>de</strong>s Weges begleiten zu können.<br />

PD Dr. Otto Nübel, Avi Primor <strong>und</strong> Prof. Dr. Sigrid Jakobeit<br />

13


Programm<br />

Montag, 3. September 2007<br />

18.00 Uhr Eröffnung <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. Internationalen<br />

Summerschool<br />

Ort: Aula <strong>de</strong>s Carolinums<br />

PD Dr. Otto Nübel<br />

Vorsitzen<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Internationalen Fre<strong>und</strong>eskreises<br />

Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück e.V.<br />

Henry Tesch<br />

Minister für Bildung, Wissenschaft <strong>und</strong> Kultur<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Mecklenburg-Vorpommern<br />

Schirmherr <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. Internationalen Summerschool<br />

Dr. Dr. h.c. Harald Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>mann (angefragt)<br />

Botschafter <strong><strong>de</strong>r</strong> B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland in<br />

Israel<br />

Prof. Dr. Sigrid Jacobeit<br />

Institut für Europäische Ethnologie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Humboldt-Universität zu Berlin, Präsi<strong>de</strong>ntin <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Summerschool<br />

Prof. Dr. Michel Cullin<br />

ehem. stellv. Generalsekretär <strong>de</strong>s Deutsch-<br />

Französischen Jugendwerkes<br />

Diplomatische Aka<strong>de</strong>mie Wien,<br />

Leiter <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeitsstelle für österreichischfranzösische<br />

Beziehungen,<br />

Beauftragter für <strong>de</strong>n Balkan<br />

Vorlesung: Gerechtigkeit <strong>de</strong>n Gerechten!<br />

Beispiele aus Frankreich, Deutschland <strong>und</strong><br />

Österreich«<br />

Eröffnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung »Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn<br />

<strong>de</strong>s Lebens?«<br />

Dienstag, 4. September 2007<br />

8.30 bis 10.00 Uhr – Vorlesung (obligatorisch)<br />

Ort: Aula <strong>de</strong>s Carolinums<br />

Dr. Egon Freitag,Weimar<br />

»Es ist nichts als Tätigkeit nach einem bestimmten<br />

Ziel, was das Leben erträglich macht.<br />

Selbstverwirklichung <strong>und</strong> Kreativität aus klassischer<br />

Sicht«<br />

14<br />

11.00 bis 12.30 Uhr - Seminare (zur Auswahl)<br />

Inger Gulbrandsen, Sörumsand/Norwegen<br />

Raum 315<br />

»<strong>Mensch</strong>enbil<strong><strong>de</strong>r</strong> im KZ. Ein Thema für die<br />

<strong>Mensch</strong>enbildung nachfolgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Generationen«<br />

Schwester Maria Theresia Smith, Berlin<br />

Raum 317<br />

»Auf einem spirituellen Weg. Leben in einem<br />

kontemplativen Kloster in <strong><strong>de</strong>r</strong> Großstadt«<br />

Heiner Tettenborn, Augsburg Raum 201<br />

»Afghanistan Frühjahr 2006 – ein Land <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Terroristen, Warlords <strong>und</strong> Heroin-Mafia«<br />

Brigitte Kather, Berlin Raum 318<br />

»Perspektiven <strong>und</strong> I<strong>de</strong>ntität durch Erinnerung<br />

an Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand«<br />

Jörn Mothes, Schwerin Raum 203<br />

»Der größte Lump im ganzen Land, das ist <strong>und</strong><br />

bleibt <strong><strong>de</strong>r</strong> Denunziant (Hoffmann von Fallersleben)<br />

- Verrat als Laster 200 Jahre nach<br />

Goethe«<br />

Heike Algner, Carolinum Raum 403<br />

»Zivilcourage gegen Rechts«<br />

Elke Hartwig/Dirk Kollhoff, Carolinum<br />

Raum 204<br />

»Ge<strong>de</strong>nkstätten als Orte von <strong>Mensch</strong>enbildung«<br />

Dr. Claudia Lenz, Oslo (Seminar in Englisch)<br />

Raum 316<br />

»Das Entscheidungs- <strong>und</strong> Handlungsdilemma<br />

am Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Rettungsaktion <strong><strong>de</strong>r</strong> Weißen<br />

Busse«<br />

14.00 bis 15.30 Uhr - Seminare (zur Auswahl)<br />

Die Seminarräume wer<strong>de</strong>n über Aushang<br />

bekanntgegeben.<br />

Dr. Egon Freitag, Weimar Raum 403<br />

»Der <strong>Mensch</strong>eit Wür<strong>de</strong> ist in eure Hand<br />

gegeben. Humanität <strong>und</strong> Erkenntnisstreben in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Weimarer Klassik«<br />

Dr. Kinan Jaeger, Bonn Raum 201<br />

»Islam - Islamismus - Terrorismus«<br />

Margit Wunsch, Berlin Raum 318


»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong> –<br />

Dänemark: Ein beispielhaftes Land im Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand<br />

gegen <strong>de</strong>n Nationalsozialismus «<br />

Sabine Hunger, Carolinum Raum 203<br />

»Guernica - Ein Gemäl<strong>de</strong> von Pablo Picasso<br />

(1937) <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne Hintergrün<strong>de</strong>«<br />

Dr. Claudia Lenz, Oslo Raum 317<br />

»Das Entscheidungs- <strong>und</strong> Handlungsdilemma<br />

am Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> Rettungsaktion <strong><strong>de</strong>r</strong> Weißen<br />

Busse«<br />

Elke Kollhoff/Ulrich Beesk, Carolinum<br />

Raum 315<br />

»Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spiegelung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>enbil<strong>de</strong>s in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Tagespresse - Eine Analyse von Originalzeitungen<br />

1914 -1945«<br />

Elke Hartwig/Dirk Kollhoff, Carolinum<br />

Raum 204<br />

»Ge<strong>de</strong>nkstätten als Orte von <strong>Mensch</strong>enbildung«<br />

18.30 bis 20.30 Uhr - Vorlesung<br />

(obligatorisch)<br />

Ort: Aula <strong>de</strong>s Carolinums<br />

Prof. Avi Primor, Herzlia/lsrael<br />

»Zivilcourage als höchste Wür<strong>de</strong>«<br />

Mittwoch, 5. September 2007<br />

8.30 bis 10.00 Uhr - Vorlesung (obligatorisch)<br />

Ort: Aula <strong>de</strong>s Carolinums<br />

Dr. Susanne Urban, Yad Vashem/lsrsel<br />

»Tikkun Olam o<strong><strong>de</strong>r</strong>: Die Welt reparieren.<br />

Ein jüdisches Konzept als universale I<strong>de</strong>e <strong>und</strong><br />

<strong>sei</strong>ne Be<strong>de</strong>utung in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart«<br />

11.00 bis 12.30 Uhr - Seminare (zur Auswahl)<br />

Menachem Kallus in Begleitung <strong>sei</strong>ner<br />

Schwester Emmy Arbel/lsrael Raum 315<br />

»Als Junge im KZ Ravensbrück.<br />

Fragen nach <strong>de</strong>m menschlichen Leben«<br />

Daniel Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>er, Berlin Raum 403<br />

»Was ist Gewalt – Das Erkennen verschie<strong>de</strong>ner<br />

Formen von Gewalt bis zum Zivilcourage<br />

Training«<br />

Dunya Breur, Amsterdam/Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lan<strong>de</strong><br />

Raum 318<br />

»Die Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lan<strong>de</strong> <strong>und</strong> Deutschland im Schatten<br />

<strong>de</strong>s 2. Weltkrieges. Eine persönliche Rezeption«<br />

Edith Sparmann, Dres<strong>de</strong>n Raum 204<br />

»<strong>Mensch</strong>-bleiben <strong>und</strong> Unmenschen erleben im<br />

Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1941<br />

bis 1945«<br />

Jörn Mothes, Schwerin Raum 203<br />

»Der größte Lump im ganzen Land, das ist <strong>und</strong><br />

bleibt <strong><strong>de</strong>r</strong> Denunziant<br />

(Hoffmann von Fallers-leben) -<br />

Verrat als Laster 200 Jahre nach Goethe«<br />

Franka Walter, Carolinum Raum 317<br />

»Opfer - Täter - Zivilcourage«<br />

Reinhard Plewe, Prenziau Raum 201<br />

»Vom Bauhaus zur Baracke - Zur Pervertierung<br />

einer Wohnform«<br />

14.00 bis 15.30 Uhr - Vorlesung<br />

(obligatorisch)<br />

Ort: Aula <strong>de</strong>s Carolinums<br />

Prof. Dr. Andrzei Poltawski, Krakow/Polen<br />

»Die philosophische Konzeption <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen<br />

Person von Karol Woityla<br />

(Papst Johannes Paul II.)«<br />

16.00 bis 17.30 Uhr – Sportangebote<br />

(zur Auswahl mit Extra-Aushang)<br />

18.30 bis 21.00 Uhr – Abendprogramm<br />

(auch für die Öffentlichkeit)<br />

mit Schülerbands Grünes Licht, Osmodia, Public<br />

Static Void in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensa;<br />

Gesprächsr<strong>und</strong>en mit KZ-Überleben<strong>de</strong>n: Emmy<br />

Arbel <strong>und</strong> Menachem Kallus, Israel (Englisch),<br />

Inger Gulbrandsen, Sörumsand/Norwegen <strong>und</strong><br />

Edith Sparmann, Dres<strong>de</strong>n<br />

Donnerstag, 6. September 2007<br />

9.30 bis 12.30 Uhr<br />

Abschlussarbeit (Essay) für die Schülerinen <strong>und</strong><br />

Schüler <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. Internationalen Summerschool<br />

14.00 bis 15.30 Uhr<br />

Abschluss <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool mit Vergabe <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Zertifikate an die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler <strong>und</strong><br />

Dank an alle, die die Summerschool ermöglicht<br />

haben.<br />

15


Michel Cullin<br />

GERECHTIGKEIT DEN GERECHTEN<br />

am Beispiel Frankreichs<br />

»Die Erinnerung an einen Gerechten ist eine Quelle <strong>de</strong>s<br />

Segens« heißt es im Alten Testament. Mehr <strong>de</strong>nn je müssen<br />

wir uns heute in einer Welt voll von Ungerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Ausgrenzung ständig diesen überlieferten Spruch<br />

vergegenwärtigen. Gera<strong>de</strong> jetzt ist das Verhalten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Mensch</strong>en damals im Zweiten Weltkrieg, die Solidarität<br />

<strong>und</strong> Mithilfe im Kampf gegen das Dritte Reich geleistet<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> ganz einfach Humanität gezeigt haben , um jüdische<br />

<strong>und</strong> nicht jüdische Opfer <strong>de</strong>s Dritten Reiches vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Ermordung<br />

zu retten, unglaublich aktuell, wenn es darum<br />

geht, <strong>de</strong>n Wert <strong><strong>de</strong>r</strong> Gerechtigkeit einzufor<strong><strong>de</strong>r</strong>n sowie Zivilcourage<br />

an <strong>de</strong>n Tag zu legen.<br />

Erinnerungsarbeit ist ein f<strong>und</strong>amentales Element <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

politischen Bildung. Sie ist durch Ge<strong>de</strong>nken an die Opfer<br />

selbstverständlich gewährleistet, aber auch durch Erinnerung<br />

an die Gerechten, an jene Männer <strong>und</strong> Frauen, die<br />

lei<strong><strong>de</strong>r</strong> viel zu wenige waren, aber <strong>de</strong>nnoch als Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heit<br />

Zeugnis für Humanismus <strong>und</strong> Solidarität in einer barbarischen Welt gelegt haben, in<strong>de</strong>m<br />

sie ihr eigenes Leben riskierten, ohne sich manchmal <strong>de</strong>ssen voll bewusst zu <strong>sei</strong>n. Die<br />

»citoyenneté européenne« bleibt eine leere Worthülse, wenn nicht an diese Gerechten erinnert<br />

wird, die individuell o<strong><strong>de</strong>r</strong> kollektiv aus <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Motivationen gehan<strong>de</strong>lt<br />

haben: etwa 14000 bis 15000 <strong>Mensch</strong>en in <strong>de</strong>m von <strong>de</strong>n Nazis besetzten Europa aber auch<br />

darüber hinaus, eine Dunkelziffer, die sehr komplex ist, <strong>de</strong>nken wir an die Verschie<strong>de</strong>nheit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> antifaschistischen Engagements in dieser Zeit in Frankreich <strong>und</strong> in Deutschland.<br />

In diesem Zusammenhang darf Erinnerungsarbeit nicht mit »<strong>de</strong>voir <strong>de</strong> mémoire« (Erinnerungspflicht)<br />

verwechselt wer<strong>de</strong>n, die sich die Überleben<strong>de</strong>n zum Ziel gesetzt hatten,<br />

als sie nach <strong>de</strong>m Inferno <strong>de</strong>s KZ in ihre Län<strong><strong>de</strong>r</strong> zurückgekehrt waren <strong>und</strong> ihnen wenige<br />

Leute die Greuel- <strong>und</strong> Schreckenstaten, die sie erlebt hatten, glauben wollten, wie es<br />

Primo Lévy o<strong><strong>de</strong>r</strong> Simone Veil zu unterschiedlichen Zeiten formuliert haben.<br />

Die Gerechtigkeit, die <strong>de</strong>n Gerechten wi<strong><strong>de</strong>r</strong>fahren soll, liegt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerungsarbeit,<br />

die Verdrängung zu verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n hilft, die eine oft – i<strong>de</strong>ologisch gesehen – zu national o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zu wenig pluralistisch geprägte Geschichts- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ge<strong>de</strong>nkkultur erzeugt. Gera<strong>de</strong> in diesem<br />

Europa, das wir aufbauen, gilt mehr <strong>de</strong>nn je <strong><strong>de</strong>r</strong> Spruch <strong>de</strong>s französischen Philosophen<br />

Bernard Henry Lévy, <strong><strong>de</strong>r</strong> »un patriotisme <strong>de</strong> la mémoire valant comme constitution <strong>de</strong><br />

l’Europe« einfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t, einen Patriotismus <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerung also, <strong><strong>de</strong>r</strong> als Basis für eine europäsische<br />

Verfassung gilt, d.h. eine Politik <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerung, die die Wertedimension eines<br />

neuen Kosmopolitismus einbezieht.<br />

Alles beginnt mit <strong>de</strong>m » souvenir partagé« o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Doppelkultur. Ohne z.B. die transnationale<br />

Dimension <strong>de</strong>s Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stands im <strong>de</strong>utsch-französischen Kontext einzubeziehen,<br />

kann es keine Basis für die » citoyenneté européenne » in <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n geben. Im<br />

<strong>de</strong>utsch-französischen Kontext heißt es, Interesse <strong>und</strong> Bewusst<strong>sei</strong>n für Transkulturalität zu<br />

schaffen. Deswegen wur<strong>de</strong> im Deutsch-Französischen Jugendwerk z.B. auf das <strong>de</strong>utsche<br />

Exil in Frankreich zwischen 1933 <strong>und</strong> 1945 ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>er Akzent gelegt, weil diese Män-<br />

16


ner, Frauen <strong>und</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, damals eine wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprüchliche Transkulturalität erlebt haben, die<br />

unter <strong>de</strong>n historisch gesehenen schwierigsten Umstän<strong>de</strong>n trotz allem herrschte <strong>und</strong> Impulse<br />

für einen späteren » patriotisme <strong>de</strong> mémoire valant constitution <strong>de</strong> l’Europe« geliefert<br />

haben. Es <strong>sei</strong>en in diesem Zusammenhang nur die Namen von Alfred Grosser <strong>und</strong> Stephane<br />

Hessel erwähnt. Dabei geht es nicht um die I<strong>de</strong>alisierung Frankreichs in dieser Zeit bzw.<br />

um die Konsolidierung eines neuen alten Mythos, wonach Frankreich das Asylland par<br />

excellence wäre. Frankreich, das einer<strong>sei</strong>ts für verfolgte Deutsche nach 1933 o<strong><strong>de</strong>r</strong> für verfolgte<br />

Österreicher nach 1934 bzw.1938 das Gefühl <strong><strong>de</strong>r</strong> unmittelbaren Lebensrettung vermitteln<br />

konnte, weil die Internalisierung von tradierten historischen Vorstellungen, so<br />

etwa nach <strong>de</strong>m bekannten Spruch: » Je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> hat eine doppelte Heimat, die Seine<br />

<strong>und</strong> Frankreich« bei <strong>de</strong>n aus Deutschland <strong>und</strong> Österreich emigrierten <strong>Mensch</strong>en weit verbreitet<br />

war, war aber keineswegs das Frankreich <strong><strong>de</strong>r</strong> Gerechten, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das Frankreich,<br />

das eine <strong><strong>de</strong>r</strong> größten Schan<strong>de</strong>n <strong>sei</strong>ner Geschichte schuf, als es im Waffenstillstandsabkommen<br />

zwischen Pétain <strong>und</strong> Hitler im Juni 1940 <strong><strong>de</strong>r</strong> Auslieferung <strong><strong>de</strong>r</strong> verfolgten Deutschen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Österreicher an das Dritte Reich aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s berüchtigten Artikels 19 zustimmte.<br />

Schon vor <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg begann <strong><strong>de</strong>r</strong> Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gang jener republikanischen Kultur,<br />

die <strong><strong>de</strong>r</strong> französische Historiker Gérard Noiriel in <strong>sei</strong>nem vor Jahren erschienenen<br />

Buch »Les origines républicaines <strong>de</strong> Vichy« analysiert <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>en Kontinuität er bis heute<br />

in zahlreichen Publikationen thematisiert hat. Dieser Artikel 19 <strong>de</strong>s Waffenstillstandsabkommens<br />

fand keinen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand bei Pétain, weil er das Produkt eines Zeitgeistes war,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> schon damals die »Auslän<strong><strong>de</strong>r</strong>« als dubiose fragwürdige <strong>Mensch</strong>en abstempelte, die<br />

zum Untergang Frankreichs beitrugen. Wie sehr Teile <strong><strong>de</strong>r</strong> französischen Öffentlichkeit damals<br />

Teilen <strong><strong>de</strong>r</strong> Öffentlichkeit in <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n heute fatal ähneln, lässt sich an manchen<br />

Presseergüssen diesbezüglich gestern <strong>und</strong> heute nachlesen. Die Ausgrenzung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

»étrangers indésirables« (unerwünschte Auslän<strong><strong>de</strong>r</strong>) war voll im Gang. Mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Worten:<br />

Die so genannten »décrets Daladier«, Verordnungen <strong>und</strong> Dekrete nach <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>s<br />

bekannten Ministerpräsi<strong>de</strong>nten Edouard Daladier, <strong><strong>de</strong>r</strong> das Münchner Abkommen unterschrieb,<br />

kündigten lange vor <strong>de</strong>m französischen Staatsantisemitismus, <strong>de</strong>n die Vichy- Gesetze<br />

im Herbst 1940 <strong>und</strong> später 1941 nach Art <strong><strong>de</strong>r</strong> Nürnberger Rassengesetze legalisierten,<br />

Maßnahmen an, die zur Ausschließung »unerwünschter Auslän<strong><strong>de</strong>r</strong>« führten. Die ersten<br />

Internierungslager für Auslän<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong>n von <strong><strong>de</strong>r</strong> Republik Frankreich eingerichtet<br />

<strong>und</strong> trugen sogar <strong>de</strong>n Namen »camp <strong>de</strong> concentration«, Konzentrationslager also, die allerdings<br />

in Südfrankreich im Wesentlichen zuerst für flüchten<strong>de</strong> Spanienkämpfer eingerichtet<br />

wur<strong>de</strong>n. Es war allerdings die französische Republik <strong>und</strong> nicht das Vichy-Regime, die bei<br />

Kriegsbeginn die <strong>de</strong>utschen sowie die österreichischen Flüchtlinge <strong>und</strong> Antifaschisten internierte,<br />

weil sie Repräsentanten einer feindlichen Macht waren. Es gab keine Differenzierung:<br />

Hitler-Gegner wur<strong>de</strong>n mit Nazis eingesperrt, die Opfer also mit ihren Henkern<br />

zusammen, <strong>de</strong>nen sie glaubten entflohen zu <strong>sei</strong>n!<br />

Es war somit die Vorstufe für die Politik, die danach kam <strong>und</strong> im »statut <strong>de</strong>s Juifs«<br />

gipfelte, jene antisemitische Gesetzgebung, die die Beteiligung von Vichy-Frankreich an<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Schoah beweist. Die mutigen <strong>und</strong> einmaligen Worte von Präsi<strong>de</strong>nt Jacques Chirac 1995<br />

beim Ge<strong>de</strong>nken an die Verschleppung von 12.000 Ju<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Pariser Sportstadion »<br />

Vel d’hiv« in die To<strong>de</strong>slager nach Auschwitz <strong>und</strong> Treblinka 1942 sind heute in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerungspolitik<br />

<strong>de</strong>s französischen Staates fest verankert : »ce jour là la France a commis<br />

l’irréparable« »an diesem Tag hat Frankreich das Irreparable vollzogen«. Sie gelten auch<br />

für die Vorgeschichte.<br />

Es wäre falsch eine Kollektivschuld daraus abzuleiten, wenn auch 1940 <strong><strong>de</strong>r</strong> erfolgte<br />

Waffenstillstand – mit Ausnahme von De Gaulle <strong>und</strong> einigen Zehntausen<strong>de</strong>n, die bereit<br />

waren, von London aus <strong>de</strong>n Kampf gegen Hitler<strong>de</strong>utschland weiterzuführen – hingenommen<br />

wur<strong>de</strong>. Neben <strong>de</strong>n Gerechten gab es auch Franzosen, die im Namen <strong><strong>de</strong>r</strong> nationalen<br />

Revolution » das Irreparable vollzogen.«<br />

17


Nun, wo waren die Gerechten? Wer waren sie? Aus welchen Gruppen kamen sie? Eine<br />

Vorbemerkung: Wenn im Unterschied zu an<strong><strong>de</strong>r</strong>en von <strong>de</strong>n Nazis besetzten Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n überproportional<br />

in Frankreich 2 / 3 <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n, Männer, Frauen <strong>und</strong> vor allem Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> gerettet<br />

wur<strong>de</strong>n, dann wohl weil es diese Gerechten gegeben hat: Namen wie Gabrielle Perrier,<br />

Pierre Marcel Wiltzer, Philippe Dehan, Simone Monnier, Marguerite Soubeyran, Jeanne<br />

Barnier sind stellvertretend für viele An<strong><strong>de</strong>r</strong>e, die in bestimmten Orten wie Le Chambon<br />

sur Lignon, Izieu o<strong><strong>de</strong>r</strong> Dieulefit das »Irreparable« nicht nur nicht vollzogen haben,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben.<br />

Frankreich war am Anfang in zwei Zonen geteilt: die etwa von Nordfrankreich bis<br />

südlich von <strong><strong>de</strong>r</strong> Loire gelegene von <strong>de</strong>n Deutschen besetzte Zone <strong>und</strong> die Südfrankreich<br />

umfassen<strong>de</strong> so genannte freie Zone. In <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Zonen gab es Gerechte. Die Risiken<br />

waren die gleichen für die <strong>Mensch</strong>en, die helfen wollten <strong>und</strong> tatsächlich halfen: entwe<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

von <strong>de</strong>n Deutschen o<strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong>de</strong>n eigenen Landsleuten, <strong>de</strong>n berüchtigten Gendarmen von<br />

Vichy, verhaftet, ins Gefängnis gesetzt o<strong><strong>de</strong>r</strong> nach Deutschland <strong>de</strong>portiert zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Le Chambon sur Lignon im Zentralmassiv unweit von <strong>de</strong>n Cevennen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Dieulefit<br />

in <strong>de</strong>n Voralpen zwischen <strong>de</strong>m Dauphiné <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Provence sind zwei Orte, die in diesem<br />

Zusammenhang als Beispiele für die Erinnerung an Gerechte gelten. In diesen bei<strong>de</strong>n<br />

Orten wur<strong>de</strong>n mit Hilfe von vorwiegend evangelischen Christen, Pfarrern wie Gemein<strong>de</strong>mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n,<br />

jüdische Familien aus Deutschland <strong>und</strong> Österreich, aber auch aus Mitteleuropa<br />

versteckt o<strong><strong>de</strong>r</strong> es wur<strong>de</strong> ihnen zur Flucht in die Schweiz verholfen. Das ganze Dorf von<br />

Chambon sur Lignon, ja fast die ganze Kleinstadt von Dieulefit hielten durch in dieser<br />

Zeit <strong>und</strong> verrieten nie die <strong>Mensch</strong>en, <strong>de</strong>nen sie halfen. Sie schützten sie vor Denunziation<br />

bzw. vor <strong>de</strong>m Zugriff durch französische Gendarmen o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch die Gestapo.<br />

Es war allerdings kein Zufall, dass es sich meistens bei diesen Gerechten um evangelische<br />

Christen han<strong>de</strong>lte, die <strong>de</strong>n Appell von Karl Barth an die französischen Protestanten<br />

im Oktober 1940, <strong>de</strong>n Kampf gegen Hitler weiterzuführen, gehört hatten. In diesem südlichen<br />

Teil Frankreichs, links <strong>und</strong> rechts <strong><strong>de</strong>r</strong> Rhône, in <strong>de</strong>n Départements Haute Loire,<br />

Lozére, Gard,Drôme, Rhône, aber vor allem in <strong>de</strong>n Cevennen, ein altes Hugenottengebiet,<br />

war über die Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te hindurch das Bedürfnis zu verstecken, zu helfen, zu retten, stark<br />

verankert. Es war aus <strong>de</strong>n Verfolgungen durch das französische Königshaus, insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

durch die Aufhebung <strong>de</strong>s Toleranzediktes von Nantes, <strong>de</strong>nen die Protestanten im 17.Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

ausgesetzt wur<strong>de</strong>n, erwachsen <strong>und</strong> war somit ein kontinuierliches Merkmal dieser<br />

Region zwischen <strong>de</strong>m Rhône <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Alpen. Gewissermaßen revanchierten sich die Erben<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Hugenotten bei <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Asylsuchen<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> 40 er Jahre für die Aufnahme von<br />

französischen Protestanten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Pfalz <strong>und</strong> in Preußen im 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Was wäre<br />

Berlin ohne diese frankophone Dimension in Kunst <strong>und</strong> Kultur aus dieser Zeit?<br />

Es darf noch erwähnt wer<strong>de</strong>n, dass Protestanten <strong>und</strong> Ju<strong>de</strong>n zusammen dank <strong><strong>de</strong>r</strong> Französischen<br />

Revolution 1789, aber auch <strong>und</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s dank <strong><strong>de</strong>r</strong> »laicité« <strong><strong>de</strong>r</strong> französischen<br />

Republik am Beginn <strong>de</strong>s 20.Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts, d. h. <strong><strong>de</strong>r</strong> Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche, eine<br />

gesellschaftliche Anerkennung gewonnen hatten, die die Basis für eine Art Schicksalsgemeinschaft<br />

bil<strong>de</strong>te <strong>und</strong> die Solidarität <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Religionsgemeinschaften gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ausgrenzung durch die katholische Kirche verstärkt hatte. Gera<strong>de</strong> im Zweiten Weltkrieg,<br />

als das kleriko-faschistische Regime von Vichy Ju<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Freimaurern, wie Protestanten<br />

zu <strong>sei</strong>nen Fein<strong>de</strong>n erklärt hatte, war jene Schicksalsgemeinschaft auffallend. Wie Dietrich<br />

Bonhoeffer <strong>und</strong> die bekennen<strong>de</strong> Kirche in Deutschland waren in Frankreich überwiegend<br />

evangelische Pastoren neben vereinzelten katholischen Geistlichen jene Stimmen, die sehr<br />

früh scharfe Worte gegen <strong>de</strong>n Nationalsozialismus sowie gegen <strong>de</strong>n Staatsantisemitismus<br />

von Vichy fan<strong>de</strong>n. Allerdings herrschte primär bei <strong>de</strong>n Katholiken ein eisiges Schweigen<br />

<strong>sei</strong>tens <strong><strong>de</strong>r</strong> Amtskirche gegenüber <strong>de</strong>n ersten Ausgrenzungsmaßnahmen. Sogar <strong><strong>de</strong>r</strong> Lyoner<br />

Kardinal Gerlier, <strong><strong>de</strong>r</strong> ab 1942 die Verfolgungen <strong>und</strong> die Verschleppungen von Ju<strong>de</strong>n in<br />

<strong>und</strong> aus Frankreich schärfstens verurteilte, erklärte noch 1941: »Niemand erkennt mehr als<br />

ich das große Übel, das die Ju<strong>de</strong>n an Frankreich verübt haben, niemand unterstützte mit<br />

18


mehr Eifer als ich die Politik von Marshall Pétain... Sein Gesetz (gemeint ist hier <strong><strong>de</strong>r</strong> »statut<br />

<strong>de</strong>s Juifs, die antisemitische Gesetzgebung) ist nicht ungerecht, doch aufgr<strong>und</strong> <strong>sei</strong>ner<br />

Anwendung kommt es dazu, dass an Gerechtigkeit <strong>und</strong> Barmherzigkeit gesündigt wird«.<br />

Zum Schluss muss noch die Frage gestellt wer<strong>de</strong>n, ob die Begrifflichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Gerechten<br />

auch auf die antifaschistischen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>standskämpfer ausge<strong>de</strong>hnt wer<strong>de</strong>n soll. Waren sie<br />

doch <strong>Mensch</strong>en, die nicht nur Zeugnis für eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>heit legen wollten <strong>und</strong> auch<br />

in ihrem Kampf gegen Hitler an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en, die bedroht, unterdrückt o<strong><strong>de</strong>r</strong> verfolgt waren,<br />

befreien wollten. Zu <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen politischen Strömungen, die diesen antifaschistischen<br />

Kampf führten, gehört das komplexe <strong>und</strong> viel zu differenzieren<strong>de</strong> Kapitel <strong><strong>de</strong>r</strong> kommunistischen<br />

Bewegung in Frankreich. Die Au<strong>sei</strong>nan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung mit diesem Kampf wäre<br />

eine eigenen Studie wert. Der junge franko-<strong>de</strong>utsche Historiker Gilhem Zumbaum-Tomasi<br />

vom Centre Marc Bloch in Berlin hat die be<strong>de</strong>utendste Arbeit im <strong>de</strong>utschsprachigen Raum<br />

dazu geschrieben. Insofern können hier nur einige Hinweise gegeben wer<strong>de</strong>n: Das Kapitel<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> MOI (Main d’Oeuvre immigrée), die Organisation <strong><strong>de</strong>r</strong> KPF, die ausländische Kämpfer<br />

umschloss, wur<strong>de</strong> in Frankreich erst in <strong>de</strong>n letzten 15 Jahren untersucht, nicht zuletzt durch<br />

<strong>de</strong>n französischen Historiker Stéphane Courtois, <strong>de</strong>ssen Buch »Le sang <strong>de</strong> l’étranger« für<br />

große Aufregung in <strong><strong>de</strong>r</strong> KPF sorgte. Die MOI bestand aus überwiegend kommunistischen,<br />

laizistisch linksorientierten Ju<strong>de</strong>n. Komplex ist in diesem Zusammenhang die Darstellung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Solidarität <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Rettungsaktionen <strong>sei</strong>tens <strong>de</strong>s kommunistischen Machtapparates. Es<br />

kreuzen sich dabei zwei Geschichten: die <strong><strong>de</strong>r</strong> nationalsozialistischen Verfolgung <strong>und</strong> die <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

stalinistischen Repression. Die Zeit zwischen August 1939 <strong>und</strong> Juni 1941 mit <strong>de</strong>m Hitler-<br />

Stalin Pakt darf in <strong>de</strong>m Zusammenhang von Rettung <strong>und</strong> Solidarität mit <strong>de</strong>n Opfern <strong>de</strong>s<br />

Dritten Reiches nicht vergessen wer<strong>de</strong>n. Bis heute ist dieses Spannungsfeld noch nicht ganz<br />

aufgearbeitet wor<strong>de</strong>n. Differenziert gehört das Thema <strong>de</strong>s jüdischen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stan<strong>de</strong>s mit<br />

<strong>sei</strong>nen Folgen auf jüdische I<strong>de</strong>ntität im Krieg <strong>und</strong> nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Befreiung. Komplex <strong>und</strong> differenziert<br />

muss diese Geschichte behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, weil die KPF im 2.Weltkrieg zweifelsohne<br />

zu jener französischen Zivilgesellschaft gehörte, die im Untergr<strong>und</strong> ein starkes Netzwerk<br />

gegen die Nazibesetzung bil<strong>de</strong>te <strong>und</strong> Hilfsorganisationen schuf, um Flüchtlingen zu helfen<br />

sowie Verfolgte zu retten. Daran muss immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> erinnert wer<strong>de</strong>n, obwohl <strong><strong>de</strong>r</strong> Stalinismus<br />

diese einmalige politische Arbeit diskreditiert hat. Dennoch hat die KPF dazu beigetragen,<br />

dass es zu <strong>de</strong>m lei<strong><strong>de</strong>r</strong> noch heute viel zu wenig bekannten Kreis <strong><strong>de</strong>r</strong> Gerechten<br />

eine Dunkelziffer von sozusagen »Mitstreitern« ermöglicht hat, die in Vergessenheit geraten<br />

sind, weil sie zum Teil Parteirebellen waren o<strong><strong>de</strong>r</strong> ausgeschlossen wur<strong>de</strong>n.<br />

Alle, Gerechte wie Mitstreiter, zeugen von dieser republikanischen Kultur Frankreichs,<br />

die nicht in Vichy-Frankreich untergegangen war, aber nach <strong>de</strong>m Krieg viel zu sehr in eine<br />

I<strong>de</strong>alisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Resistance verfiel, die die Vichy-Vergangenheit lange Zeit verdrängte.<br />

Gerechtigkeit <strong>de</strong>n Gerechten heißt nicht nur gegen Pauschalisierung <strong>und</strong> Kollektivschuld<br />

zu kämpfen, die in vereinfachen<strong><strong>de</strong>r</strong> schematischer Darlegung von Nationalgeschichte immer<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> vorkommt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch Erinnerungsarbeit zu leisten, damit Zivilcourage gewürdigt<br />

wird, was immer zeigt, dass es auch eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Geschichte, eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e politische<br />

Realität, auch in <strong>de</strong>n schlimmsten Kapiteln <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>heitsgeschichte gegeben hat. So ist<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> »patriotisme <strong>de</strong> mémoire«, <strong><strong>de</strong>r</strong> Bernard Henry Levy am Herzen liegt, zu verstehen.<br />

Professor Dr. Michel Cullin, geboren 1944, studierte von 1962 bis 1966 Germanistik <strong>und</strong><br />

Politikwissenschaft in Paris. Seine aka<strong>de</strong>mische Lehrtätigkeit führte ihn im Zeitraum von<br />

1971 bis 2004 an die Universitäten in Orleans <strong>und</strong> Nizza sowie an die Universitäten Wien,<br />

Innsbruck, Hei<strong>de</strong>lberg, Berlin <strong>und</strong> Greifswald. Außer<strong>de</strong>m hatte Professor Dr. Cullin <strong>de</strong>n<br />

Jean – Monnet – Lehrstuhl für Europa – Studien an <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität in Jena inne <strong>und</strong> war<br />

Direktor <strong>de</strong>s Forschungszentrums über österreichische Politik, Kultur <strong>und</strong> Geschichte<br />

an <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität Nizza. Heute ist er als Professor für Politikwissenschaft an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Diplomatischen Aka<strong>de</strong>mie in Wien sowie als Leiter <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeitsstelle für österreichisch –<br />

französische Beziehungen <strong>und</strong> Son<strong><strong>de</strong>r</strong>beauftragter für <strong>de</strong>n Balkan tätig.<br />

19


Egon Freitag<br />

»Es ist nichts als Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel,<br />

was das Leben erträglich macht.«<br />

Selbstverwirklichung <strong>und</strong> Kreativität<br />

aus klassischer Sicht<br />

Sehr geehrte Präsi<strong>de</strong>ntin <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

International Summer school,<br />

Frau Prof. Dr. Jacobeit, liebe<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler, sehr<br />

geehrte Teilnehmerinnen <strong>und</strong><br />

Teilnehmer <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. International<br />

Summer school, meine sehr geehrten<br />

Damen <strong>und</strong> Herren, die<br />

Selbstverwirklichung ist heute<br />

zur kreativen Lebensaufgabe<br />

gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn »<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong><br />

kann ein sinnloses Leben nicht<br />

ertragen.« 1 Bereits Friedrich<br />

Schiller erklärte: »Es ist nichts<br />

als Tätigkeit nach einem bestimmten<br />

Ziel, was das Leben<br />

erträglich macht.« 2 Den Feigen<br />

<strong>und</strong> Selbstzweiflern rief er zu:<br />

»Hasen, Krüppel, lahme H<strong>und</strong>e <strong>sei</strong>d ihr alle, wenn ihr das Herz nicht habt, etwas Großes<br />

zu wagen!« 3<br />

Der <strong>Mensch</strong> hat nicht nur das Bedürfnis, sich zu ernähren <strong>und</strong> zu klei<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch<br />

das Verlangen, sich schöpferisch zu entfalten <strong>und</strong> unabhängig zu wer<strong>de</strong>n. Denn essen, trinken<br />

<strong>und</strong> Nachkommen zeugen, kann schließlich auch ein Insekt. Selbstverwirklichung ist<br />

die Realisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebenschancen, die sich aus <strong>de</strong>n eigenen Anlagen, Fähigkeiten <strong>und</strong><br />

Entwicklungsmöglichkeiten ergeben, also die Verwirklichung <strong><strong>de</strong>r</strong> im eigenen Selbst angelegten<br />

Bestimmungen. Sie wird als die höchste Stufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Bedürfnisse angesehen. Das Streben<br />

nach diesem Ziel setzt ungeahnte Kräfte frei. Gilt es doch, <strong>sei</strong>nen Lebensentwurf, <strong>sei</strong>ne<br />

Träume <strong>und</strong> I<strong>de</strong>en, gegen eine Welt von Hin<strong><strong>de</strong>r</strong>nissen durchzusetzen.<br />

1 Jung, Carl Gustav; zitiert nach: Stevens, Anthony: Jung. Aus <strong>de</strong>m Englischen von Johanna Ohnesorg.<br />

(Her<strong><strong>de</strong>r</strong> / Spektrum Meister<strong>de</strong>nker; Bd. 4759), Freiburg/Basel/Wien 1999, S. 174.<br />

2 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 27. April 1801. In: Schillers Werke. Nationalausgabe.<br />

Historisch-kritische Ausgabe. Begrün<strong>de</strong>t von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal,<br />

Benno von Wiese <strong>und</strong> Siegfried Sei<strong>de</strong>l. Herausgegeben im Auftrag <strong><strong>de</strong>r</strong> Stiftung Weimarer Klassik <strong>und</strong> <strong>de</strong>s<br />

Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. Weimar 1943 ff., 57 Bän<strong>de</strong> [im folgen<strong>de</strong>n<br />

zitiert mit: NA <strong>und</strong> Angabe <strong><strong>de</strong>r</strong> Band- <strong>und</strong> Seitenzahl]; hier: 31. Bd., S. 30.<br />

3 Schiller, Friedrich: Die Räuber. Ein Schauspiel. I. Akt, 2. Szene. In: NA, 3. Bd., S. 26.<br />

20


Der amerikanische Kreativitätsforscher Ellis Paul Torrance bemerkte so treffend: »Das<br />

Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreativität besteht darin, sich zu verlieben in das, was man tut.« 4<br />

Und <strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanische Philosoph John Dewey erklärte: »Herauszufin<strong>de</strong>n, wozu man<br />

sich eignet <strong>und</strong> eine Gelegenheit zu fin<strong>de</strong>n, das zu tun, ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlüssel zum Glücklich<strong>sei</strong>n«.<br />

5<br />

Der amerikanische Psychologe Abraham Harold Maslow entwarf eine Bedürfnishierarchie.<br />

Nach <strong>sei</strong>ner Auffassung müssen zunächst die Gr<strong>und</strong>bedürfnisse, wie Nahrung <strong>und</strong><br />

Kleidung erfüllt <strong>sei</strong>n, bevor <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> höhere Bedürfnisse hat. 6 Wer um das nackte<br />

Überleben kämpft, kann sich nicht schöpferisch entfalten. In <strong><strong>de</strong>r</strong> täglichen Arbeitsroutine<br />

monotoner Tätigkeit bleibt ebenfalls kaum Zeit dafür. Dies wußten auch schon Goethe<br />

<strong>und</strong> Schiller. So bemerkte Schiller: »Der <strong>Mensch</strong> ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt<br />

<strong>und</strong> sich satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen <strong>und</strong> satt zu essen haben, wenn sich<br />

die beßre Natur in ihm regen soll.« 7 Und Goethe schrieb: »In <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong>en ist eine bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Natur, die gleich sich tätig beweist, wenn <strong>sei</strong>ne Existenz gesichert ist.« 8<br />

Maslow meint, die <strong>Mensch</strong>en besitzen fünf Bedürfnisgruppen, die man als eine Pyrami<strong>de</strong><br />

darstellen kann. Aufsteigend von unten nach oben glie<strong><strong>de</strong>r</strong>t er diese Bedürfnishierarchie<br />

folgen<strong><strong>de</strong>r</strong>maßen:<br />

1. Physiologische o<strong><strong>de</strong>r</strong> körperliche Bedürfnisse, wie Essen <strong>und</strong> Trinken, Kleidung,<br />

Schlaf <strong>und</strong> Unterkunft.<br />

2. Sicherheit: Schutz <strong><strong>de</strong>r</strong> körperlichen Unversehrtheit, materielle Sicherheit; Sicherheit<br />

<strong>de</strong>s Arbeitsplatzes.<br />

3. Soziale Bedürfnisse: Geborgenheit, Liebe, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft.<br />

4. die Wertschätzung: <strong><strong>de</strong>r</strong> Wunsch nach Erfolg <strong>und</strong> Ansehen, das Einbringen eigener<br />

Fähigkeiten.<br />

5. An <strong><strong>de</strong>r</strong> Spitze dieser Bedürfnispyrami<strong>de</strong> steht die Selbstverwirklichung:<br />

die Verwirklichung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Potentiale, wie Anlagen, Talente <strong>und</strong> Begabungen;<br />

die Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Persönlichkeit.<br />

4 Das Zitat lautet im Original: »The essence of creativity is being in love with what one is doing.« (Torrance,<br />

Ellis Paul: The nature of creativity as manifest in its testing. In: Sternberg, Robert J. (Ed.): The nature of<br />

creativity. New York 1988, p. 68).<br />

5 Dewey. John; zitiert nach: Herrmann, Ned: Kreativität <strong>und</strong> Kompetenz. Das einmalige Gehirn. Einführung<br />

von Roland Spinola. Aus <strong>de</strong>m Amerikanischen von Wolfgang Becker. Fulda 1991, S. 109.<br />

6 Maslow, Abraham Harold: Motivation and personality. New York 1954; dt. Ausgabe: Motivation <strong>und</strong> Persönlichkeit.<br />

Reinbek bei Hamburg 1999; Ders.: Creativity in self-actualizing people. In: An<strong><strong>de</strong>r</strong>son, Harold<br />

H. (Ed.): Creativity and its cultivation. New York 1959, pp. 83-95; vgl. auch: Meurer, Claudia: Selbstverwirklichung<br />

im »New Age« <strong>und</strong> bei John Dewey. Berlin 2000; Peterhans, Irène: Wer<strong>de</strong> dich selbst. Das<br />

Konstrukt <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstverwirklichung aus psychologischer Sicht (Lizentiatsarbeit. Universität Fribourg, Departement<br />

für Angewandte Psychologie). Bern 2004; Počivavšek, Ludvik: Selbstverwirklichung: eine Analyse<br />

aus psychologischer <strong>und</strong> ethischer Sicht (Europäische Hochschulschriften, Reihe VI: Psychologie, Bd.<br />

693). Frankfurt am Main/Berlin/Bern/ Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2002.<br />

7 Schiller an Friedrich Christian von Augustenburg, 11. November 1793. In: NA, 26. Bd., S. 299.<br />

8 Goethe, Johann Wolfgang: Von <strong>de</strong>utscher Baukunst. In: Goethes Werke, hg. im Auftrage <strong><strong>de</strong>r</strong> Großherzogin<br />

Sophie von Sachsen. 4 Abteilungen mit insgesamt 133 Bän<strong>de</strong>n (in 143 Büchern): I. Abt.: Werke (Bd. 1-55),<br />

II. Abt.: Naturwissenschaftliche Schriften (Bd. 1-15), III. Abt.: Tagebücher (Bd. 1-13), IV. Abt.: Briefe (Bd.<br />

1-50) Weimar 1887-1919. Nachdruck: München 1987; [nebst] Bd. 144-146: Nachträge <strong>und</strong> Register zur IV.<br />

Abt.: Briefe, hg. von Paul Raabe, B<strong>de</strong>. 1-3. München 1990 [= Weimarer Ausgabe], im folgen<strong>de</strong>n nur mit<br />

»WA« <strong>und</strong> Angabe <strong><strong>de</strong>r</strong> Abteilung, <strong><strong>de</strong>r</strong> Band- <strong>und</strong> Seitenzahl bezeichnet. – hier: WA, I, 37. Bd., S. 148. –<br />

»Bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Natur« be<strong>de</strong>utet die Selbstgestaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> schöpferischen, vere<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n, rohe Natur in Kunst verwan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />

Einbildungskraft, die künstlerisch formen<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> gestalten<strong>de</strong> Tätigkeit.<br />

21


Dieses Streben ist eine wichtige Triebkraft für je<strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en. Das wichtigste Bewährungsfeld<br />

dafür ist die Tätigkeit. Sie bestimmt letztlich <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en, <strong>de</strong>n er<br />

sich selbst gibt.<br />

Bereits Goethe wies auf diesen Zusammenhang hin <strong>und</strong> erklärte: »Und doch darf man<br />

sagen: Wenn das, was <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> besitzt, von großem Wert ist, so muß man <strong>de</strong>mjenigen,<br />

was er tut <strong>und</strong> leistet, noch einen größern zuschreiben.« 9<br />

Und Schiller erklärte selbstbewußt: » ... Der <strong>Mensch</strong> ist die Quelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Kraft selbst <strong>und</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Schöpfer <strong>de</strong>s Gedankens.« 10 Mit 23 Jahren hatte er <strong>sei</strong>nen Lebensanspruch recht <strong>de</strong>utlich<br />

artikuliert: »In meinen A<strong><strong>de</strong>r</strong>n sie<strong>de</strong>t etwas – ich möchte gern in dieser holperichten<br />

Welt einige Sprünge machen, von <strong>de</strong>nen man erzählen soll.« 11<br />

Und Goethe erklärte: »Diese Begier<strong>de</strong>, die Pyrami<strong>de</strong> meines Da<strong>sei</strong>ns, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Basis mir<br />

angegeben <strong>und</strong> gegrün<strong>de</strong>t ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles<br />

andre <strong>und</strong> läßt kaum augenblickliches Vergessen zu. Ich darf mich nicht säumen, ich bin<br />

schon weit in Jahren vor, (Goethe war erst 31, als er dieses schrieb) <strong>und</strong> vielleicht bricht<br />

mich das Schicksal in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte, <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Babylonische Turm bleibt stumpf, unvollen<strong>de</strong>t.<br />

Wenigstens soll man sagen, es war kühn entworfen, <strong>und</strong> wenn ich lebe, sollen, will’s Gott,<br />

die Kräfte bis hinauf reichen.« 12<br />

Im Jahre 1783 verfaßte Goethe ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s weltanschaulich-ethisches Gedicht, in<br />

<strong>de</strong>m er die sittliche Selbstbestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en, <strong>sei</strong>n gemeinnütziges Wirken als e<strong>de</strong>l,<br />

hilfsbereit <strong>und</strong> <strong>gut</strong> formuliert – <strong>und</strong> zwar als Verpflichtung. Dieses Gedicht ist eigentlich<br />

eine feierliche Hymne o<strong><strong>de</strong>r</strong> eine O<strong>de</strong> <strong>und</strong> erhielt <strong>de</strong>n Titel:<br />

22<br />

Das Göttliche<br />

<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>,<br />

Hilfreich <strong>und</strong> <strong>gut</strong>!<br />

Denn das allein<br />

Unterschei<strong>de</strong>t ihn<br />

Von allen Wesen,<br />

Die wir kennen.<br />

Heil <strong>de</strong>n unbekannten<br />

Höhern Wesen,<br />

Die wir ahnen!<br />

Ihnen gleiche <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>,<br />

Sein Beispiel lehr uns<br />

Jene glauben!<br />

Denn unfühlend<br />

Ist die Natur:<br />

Es leuchtet die Sonne<br />

Über Bös’ <strong>und</strong> Gute,<br />

Und <strong>de</strong>m Verbrecher<br />

Glänzen, wie <strong>de</strong>m Besten<br />

Der Mond <strong>und</strong> die Sterne.<br />

9 Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>jahre, III. Buch, 9. Kapitel. In: WA, I., 25. Bd.(1),<br />

S. 180.<br />

10 Friedrich Schiller an Caroline von Beulwitz, 27. November 1788. In: NA, 25. Bd., S. 146 f.<br />

11 Friedrich Schiller an Henriette von Wolzogen, 8. Januar 1783. In: NA, 23. Bd., S. 60.<br />

12 Goethe an Johann Kaspar Lavater, etwa 20. September 1780. In: WA, IV, 4. Bd., S. 299.


Wind <strong>und</strong> Ströme,<br />

Donner <strong>und</strong> Hagel<br />

Rauschen ihren Weg,<br />

Und ergreifen<br />

Vorüber eilend,<br />

Einen um <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>n.<br />

Auch so das Glück<br />

Tappt unter die Menge,<br />

Faßt bald <strong>de</strong>s Knaben<br />

Lockige Unschuld,<br />

Bald auch <strong>de</strong>n kahlen<br />

Schuldigen Scheitel.<br />

Nach ewigen, ehrnen,<br />

Großen Gesetzen<br />

Müssen wir alle<br />

Unseres Da<strong>sei</strong>ns<br />

Kreise vollen<strong>de</strong>n.<br />

Nur allein <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong><br />

Vermag das Unmögliche:<br />

Er unterschei<strong>de</strong>t,<br />

Wählet <strong>und</strong> richtet;<br />

Er kann <strong>de</strong>m Augenblick<br />

Dauer verleihen.<br />

Er allein darf<br />

Den Guten lohnen,<br />

Den Bösen strafen,<br />

Heilen <strong>und</strong> retten,<br />

Alles Irren<strong>de</strong>, Schweifen<strong>de</strong><br />

Nützlich verbin<strong>de</strong>n.<br />

Und wir verehren<br />

Die Unsterblichen,<br />

Als wären sie <strong>Mensch</strong>en,<br />

Täten im Großen,<br />

Was <strong><strong>de</strong>r</strong> Beste im Kleinen<br />

Tut o<strong><strong>de</strong>r</strong> möchte.<br />

Der edle <strong>Mensch</strong><br />

Sei <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>!<br />

Unermü<strong>de</strong>t schaff er<br />

Das Nützliche, Rechte,<br />

Sei uns ein Vorbild<br />

Jener geahneten Wesen! 13<br />

Der ethische Gehalt dieses Gedichts ist schlicht <strong>und</strong> einfach. Es ist die Mahnung zu<br />

hilfsbereitem, gütigem, gemeinnützigem Wirken. Goethe spricht hier von <strong><strong>de</strong>r</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Stellung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ner Wür<strong>de</strong>. Sein <strong>Mensch</strong>enbild entspricht <strong>de</strong>m Geist klassischer<br />

Humanität. – <strong>E<strong>de</strong>l</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong> zu <strong>sei</strong>n, nach Einsicht <strong>und</strong> Überzeugung zu han<strong>de</strong>ln,<br />

das allein kann <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>.<br />

13 Goethe: Das Göttliche. In: WA, I, 2. Bd., S. 83-85.<br />

23


Aber »unfühlend« geht die Natur »ihren Weg«, nach eigenen Gesetzen, d.h. nach <strong>de</strong>n<br />

Naturgesetzen, <strong>de</strong>nn die Sonne strahlt über Böse <strong>und</strong> Gute. Der Mond <strong>und</strong> die Sterne<br />

leuchten <strong>de</strong>m Verbrecher wie <strong>de</strong>m Besten.<br />

Dann behan<strong>de</strong>lt Goethe das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> physikalischen Erscheinungen: »Wind <strong>und</strong> Ströme,<br />

Donner <strong>und</strong> Hagel rauschen ihren Weg«, unbekümmert, ob sie <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong>en nützen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Scha<strong>de</strong>n zufügen. Der <strong>Mensch</strong> ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur unterworfen, <strong>de</strong>nn nach ewigen Gesetzen<br />

»müssen wir alle unseres Da<strong>sei</strong>ns Kreise vollen<strong>de</strong>n.«<br />

Aber <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur nur physisch unterworfen, nicht geistig, <strong>de</strong>nn Gott hat<br />

ihm auch <strong>de</strong>n Schein <strong>de</strong>s Himmelslichts gegeben, die Vernunft. »Nur allein <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong><br />

vermag das Unmögliche«. Er besitzt Urteilskraft. »Er unterschei<strong>de</strong>t, wählet <strong>und</strong> richtet.«<br />

Der <strong>Mensch</strong> »allein darf <strong>de</strong>n Guten lohnen, <strong>de</strong>n Bösen strafen, heilen <strong>und</strong> retten.« –<br />

Das erhebt <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en über die unfühlen<strong>de</strong> Natur <strong>und</strong> das Schicksal. Das Göttliche im<br />

<strong>Mensch</strong>en ist <strong>sei</strong>ne Fähigkeit, sittlich zu han<strong>de</strong>ln, also e<strong>de</strong>l, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong> zu <strong>sei</strong>n. Dann<br />

wird er »ein Vorbild jener geahneten Wesen«. Die Götter sind keine Wesen, von <strong>de</strong>nen wir<br />

wissenschaftliche Kenntnisse haben, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n wir »ahnen« sie nur.<br />

Es heißt im Gedicht:<br />

»Heil <strong>de</strong>n unbekannten<br />

Höhern Wesen,<br />

Die wir ahnen!<br />

Ihnen gleiche <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>,<br />

Sein Beispiel lehr uns<br />

Jene glauben!«<br />

Das heißt, die Grün<strong>de</strong> für diese Ahnung liefert das moralisch Gute im <strong>Mensch</strong>en.<br />

Durch unsere ethische Gesinnung, d.h. durch unser sittliches Wollen <strong>und</strong> Han<strong>de</strong>ln in verschie<strong>de</strong>nen<br />

Lebenssituationen, durch Normen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebensführung, die sich aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Verantwortung<br />

gegenüber an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>Mensch</strong>en herleiten, sind wir ein Spiegelbild <strong>de</strong>s Göttlichen.<br />

Der <strong>Mensch</strong> ist von <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorstellungskraft <strong>de</strong>s Göttlichen, von <strong>de</strong>n Göttern abhängig. Es<br />

heißt im Gedicht: »Ihnen gleiche <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>«.<br />

Mit Hilfe <strong>sei</strong>ner Kreativität, mit <strong>sei</strong>nem Erfindungsreichtum kann <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> »<strong>de</strong>m<br />

Augenblick Dauer verleihen.« Ohne <strong>de</strong>n schöpferischen <strong>Mensch</strong>en mit <strong>sei</strong>ner Begabung,<br />

Originalität, Phantasie <strong>und</strong> Neugier (im Sinne von Gier nach Neuem), <strong>sei</strong>nem I<strong>de</strong>en- <strong>und</strong><br />

Erfindungsreichtum <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ner Kunstfertigkeit wäre <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufbau <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Welt<br />

gar nicht <strong>de</strong>nkbar, so daß man gewissermaßen feststellen kann, die ganze <strong>Mensch</strong>heitsgeschichte<br />

ist in ihrem zivilisatorischen Fortschritt <strong>und</strong> mit ihrem gigantischen Erkenntniszuwachs<br />

auf allen gesellschaftlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen <strong>und</strong> technischen Gebieten<br />

eigentlich Kreativitätsgeschichte.<br />

Der Schweizer Kreativitätsforscher Gottlieb Guntern erklärt drastisch: »Ohne Kreativität<br />

wäre <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> noch immer ein Primat, <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Savanne im schlecht koordinierten<br />

Schlagabtausch <strong>de</strong>n Knüppel schwingt <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen aufgeregtes Gekreisch Rivalen <strong>und</strong><br />

Freßfein<strong>de</strong> auf Distanz halten soll.« 14<br />

14 Guntern, Gottlieb (Hrsg.): Der kreative Weg. Kreativität in Wirtschaft, Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft. Zürich<br />

1991, S. 9.<br />

24


Bei aller Ironie ist dies durchaus ernstgemeint, <strong>de</strong>nn 98 Prozent unserer genetischen<br />

Ausstattung teilen wir mit <strong>de</strong>n Schimpansen. »Was uns von ihnen unterschei<strong>de</strong>t – Sprache,<br />

Wertvorstellungen, künstlerische Ausdrucksformen, Wissenschaft <strong>und</strong> Technik – ist die<br />

Folge individueller Erfindungen. ... Ohne Kreativität wäre es in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat äußerst schwierig,<br />

<strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en vom Affen zu unterschei<strong>de</strong>n.« 15 Erst durch »Kreativität haben die Kulturen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Welt Mythen <strong>und</strong> Sagen, ethische <strong>und</strong> ästhetische Normen <strong>und</strong> Werte, Sitten <strong>und</strong> Gebräuche,<br />

soziale Verträge <strong>und</strong> Rollenerwartungen, Religionen <strong>und</strong> I<strong>de</strong>ologien, Rituale <strong>und</strong><br />

Sakramente, technologische Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>, erhabene Kunstwerke <strong>und</strong> brillante wissenschaftliche<br />

Theorien entwickelt.« 16<br />

»Die Natur hat uns keine Schwingen, Pelze, Klauen, Fühler o<strong><strong>de</strong>r</strong> Elefantenrüssel gegeben;<br />

aber sie hat uns <strong>de</strong>n menschlichen Intellekt gegeben, die wirkungsvollste aller Mitgiften,<br />

wenn wir nur nicht zu ängstlich sind, sie zu gebrauchen.« 17<br />

Nicht weil die Dinge so schwierig sind, wagen wir sie nicht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n weil wir sie nicht<br />

wagen, sind sie so schwierig.<br />

Das Bewußtwer<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Leistungskraft erreichte einen ersten Höhepunkt im<br />

Zeitalter <strong><strong>de</strong>r</strong> Renaissance. Hier wur<strong>de</strong>n normative Wertvorstellungen formuliert, wie <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Mensch</strong> <strong>sei</strong>n sollte. Ein I<strong>de</strong>albild war die ständige Vervollkommnung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en, verb<strong>und</strong>en<br />

mit einem Höchstmaß an Bildung <strong>und</strong> Gelehrsamkeit.<br />

Ein weiterer Höhepunkt war die Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung, das 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Anläßlich<br />

<strong>sei</strong>nes Schulabschlusses sagte <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Klopstock in einer Abschiedsre<strong>de</strong>: »Durch die Sache<br />

selbst, durch ein großes, unvergängliches Werk müssen wir zeigen, was wir können!« 18<br />

Es gibt ein Schwierigkeitsgesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Motivation. Es besagt, daß schwierige Aufgaben<br />

<strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en zu einer Steigerung <strong>sei</strong>ner Motivation veranlassen. Mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwierigkeit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufgabenstellung wachse auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille, dieses Problem zu lösen. 19 Große Belastungen<br />

führen bei kreativen Persönlichkeiten nicht unweigerlich zum Zusammenbruch, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

zu Motivation <strong>und</strong> Leistungssteigerung. Der Arzt <strong>und</strong> Psychoanalytiker Kurt Robert<br />

15 Csikszentmihalyi, Mihaly: Kreativität. Wie Sie das Unmögliche schaffen <strong>und</strong> Ihre Grenzen überwin<strong>de</strong>n.<br />

Aus <strong>de</strong>m Amerikanischen von Maren Klostermann. Stuttgart 1997, S. 9 f. – Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Besprechung dieses Buches<br />

bemerkte <strong><strong>de</strong>r</strong> Rezensent <strong><strong>de</strong>r</strong> »Welt« dazu so treffend: »Wenn <strong>de</strong>m Manager die I<strong>de</strong>en ausgehen, wird<br />

er zum Affen <strong>sei</strong>nes Unternehmens.« (WELT am SONNTAG, Nr. 27, 6. Juli 1997, S. 46) – Lei<strong><strong>de</strong>r</strong> ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Rezensent<br />

nicht namentlich, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur unter <strong>de</strong>m Kürzel »cada. Bad So<strong>de</strong>n« genannt.<br />

16 Guntern, Gottlieb (Hrsg.): Der kreative Weg, a.a.O., S. 9 f.<br />

17 Toynbee, Arnold Joseph: Weltordnung <strong>und</strong> Weltreligion. In: Vogt, Joseph: Wege zum historischen<br />

Universum. Von Ranke bis Toynbee (= Urban-Bücher. Die wissenschaftliche Taschenbuchreihe, hg. von<br />

Fritz Ernst, Bd. 51), Stuttgart 1961, S. 121.<br />

18 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Abschiedsre<strong>de</strong> in Schulpforte am 21. September 1745. Im Original lateinisch,<br />

übersetzt von Carl Friedrich Cramer. In: Klopstock. Eine Auswahl aus Werken, Briefen <strong>und</strong> Berichten.<br />

Mit Einführungen <strong>und</strong> Erläuterungen von Arno Sachse. Berlin 1956, S. 81.<br />

19 Das Schwierigkeitsgesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Motivation wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Arzt <strong>und</strong> Psychologen Narziß Kaspar<br />

Ach (1871-1946) aufgestellt. Er wies auf das beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Energiepotential <strong>de</strong>s Willens hin, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille<br />

ermögliche es <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en, ihre Handlungsziele auch gegen Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stän<strong>de</strong> <strong>und</strong> Hemmnisse (z.B. Ermüdung)<br />

über längere Zeit hinweg zu verfolgen. Auch Andreas Hillgruber hatte 1912 ein Schwierigkeitsgesetz<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Motivation formuliert. Ähnlichkeiten fin<strong>de</strong>n sich in neueren Mo<strong>de</strong>llen zur Anstrengungskalkulation,<br />

auch in Wulf-Uwe Meyers 1984 entwickeltem »Konzept von <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Begabung«, auch als<br />

»Selbstkonzept eigener Fähigkeit« bezeichnet. (Ach, Narziß Kaspar: Über die Willenstätigkeit <strong>und</strong> das<br />

Denken. Göttingen 1905; Ders.: Über <strong>de</strong>n Willensakt <strong>und</strong> das Temperament. Leipzig 1910; Ders.: Analyse<br />

<strong>de</strong>s Willens. In: Ab<strong><strong>de</strong>r</strong>hal<strong>de</strong>n, E. (Hrsg.): Handbuch <strong><strong>de</strong>r</strong> biologischen Arbeitsmetho<strong>de</strong>n, 6. Bd., Berlin<br />

1935; Ders.: Zur neueren Willenslehre. In: Bericht, 15. Kongreß <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen Gesellschaft für Psychologie.<br />

Jena 1936; Hillgruber, A.: Fortlaufen<strong>de</strong> Arbeit <strong>und</strong> Willensbetätigung. Untersuchungen zur Psychologie<br />

<strong>und</strong> Philosophie 1, 1912, Heft 6; Rheinberg, F.: Motivation (Gr<strong>und</strong>riß <strong><strong>de</strong>r</strong> Psychologie. Eine Reihe in<br />

22 Bän<strong>de</strong>n, hg. von H. Selg <strong>und</strong> D. Ulich, Bd. 6; Urban-Taschenbücher; Bd. 555), Stuttgart/Berlin/Köln<br />

³2000.<br />

25


Eissler bemerkt dazu: »Das Rätsel <strong>de</strong>s Genies ist, daß die scheinbar fürchterlichsten Belastungen<br />

<strong>und</strong> Deformierungen <strong>sei</strong>ner Persönlichkeit nicht zum krankhaften Zusammenbruch<br />

führen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>de</strong>n Acker bil<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>m höchste Werte sprossen.« 20<br />

Goethe erklärte: »Den lieb’ ich, <strong><strong>de</strong>r</strong> Unmögliches begehrt.« 21 In <strong>sei</strong>nem Roman »Wilhelm<br />

Meisters Lehrjahre« vergleicht er <strong>de</strong>n kreativen Lebensentwurf mit einem<br />

Bauwerk, das wir ausführen wollen. Da heißt es: »Das ganze Weltwesen liegt vor uns<br />

wie ein großer Steinbruch vor <strong>de</strong>m Baumeister, <strong><strong>de</strong>r</strong> nur dann <strong>de</strong>n Namen verdient, wenn<br />

er aus diesen zufälligen Naturmassen ein in <strong>sei</strong>nem Geiste entsprungenes Urbild mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

größten Ökonomie, Zweckmäßigkeit <strong>und</strong> Fertigkeit zusammenstellt. Alles außer uns ist<br />

nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische<br />

Kraft, die das zu erschaffen vermag, was <strong>sei</strong>n soll, <strong>und</strong> uns nicht ruhen <strong>und</strong> rasten läßt,<br />

bis wir es außer uns o<strong><strong>de</strong>r</strong> an uns, auf eine o<strong><strong>de</strong>r</strong> die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Weise dargestellt haben.« 22<br />

Die kreative Kraft ist also tief in unserem Inneren als Anlage bzw. als Möglichkeit vorhan<strong>de</strong>n,<br />

ist intrinsisch motiviert <strong>und</strong> treibt uns zur Entfaltung <strong>und</strong> Verwirklichung, <strong>de</strong>nn in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Tätigkeit, im Schaffen <strong>und</strong> Vollbringen sieht Goethe die Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en.<br />

So erklärt er: »Der <strong>Mensch</strong> erfährt <strong>und</strong> genießt nichts, ohne sogleich produktiv zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Dies ist die innerste Eigenschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Natur. Ja man kann ohne Übertreibung<br />

sagen, es <strong>sei</strong> die menschliche Natur selbst.« 23 Dabei komme es darauf an, die Erinnerung<br />

<strong>und</strong> Sehnsucht fruchtbar in die Gegenwart zu integrieren, <strong>de</strong>nn »was uns irgend Großes,<br />

Schönes, Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s begegnet, muß nicht erst von außen her wie<strong><strong>de</strong>r</strong> er-innert, gleichsam<br />

er-jagt wer<strong>de</strong>n, es muß sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben,<br />

mit ihm eins wer<strong>de</strong>n, ein neueres beßres Ich in uns erzeugen <strong>und</strong> so ewig bil<strong>de</strong>nd in uns<br />

fortleben <strong>und</strong> schaffen. Es gibt kein Vergangnes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur<br />

ein ewig Neues, das sich aus <strong>de</strong>n erweiterten Elementen <strong>de</strong>s Vergangenen gestaltet, <strong>und</strong><br />

die echte Sehnsucht muß stets produktiv <strong>sei</strong>n, ein neues Beßres erschaffen.« 24<br />

Goethe misst <strong>de</strong>n Anlagen <strong>de</strong>s Individuums große Be<strong>de</strong>utung bei. Es <strong>sei</strong>en »Kräfte, die<br />

im <strong>Mensch</strong>en nur wohnen, <strong>und</strong> wovon sich je<strong>de</strong> in ihrer Art ausbil<strong>de</strong>n läßt. ... Je<strong>de</strong> Anlage<br />

ist wichtig, <strong>und</strong> sie muß entwickelt wer<strong>de</strong>n. ... In je<strong><strong>de</strong>r</strong> Anlage liegt auch allein die Kraft,<br />

sich zu vollen<strong>de</strong>n.« 25 Doch dies bedarf auch <strong>de</strong>s Willens, <strong>de</strong>nn die »Anlagen entwickeln<br />

sich zwar auch naturgemäß, müssen aber erst durch <strong>de</strong>n Willen geübt <strong>und</strong> nach <strong>und</strong> nach<br />

gesteigert wer<strong>de</strong>n.« 26<br />

Darauf drängte auch <strong><strong>de</strong>r</strong> be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Theologe, Religions- <strong>und</strong> Geschichtsphilosoph,<br />

Sprach- <strong>und</strong> Volksliedforscher, Literaturkritiker <strong>und</strong> Dichter Johann Gottfried Her<strong><strong>de</strong>r</strong>. Er<br />

erklärte: »Ohne Begeisterung geschah nichts Großes <strong>und</strong> Gutes auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong>; die man für<br />

Schwärmer hielt, haben <strong>de</strong>m menschlichen Geschlecht die nützlichsten Dienste geleistet.<br />

Trotz alles Spottes, trotz je<strong><strong>de</strong>r</strong> Verfolgung <strong>und</strong> Verachtung drangen sie durch; <strong>und</strong> wenn sie<br />

nicht zum Ziel kamen, so kamen sie doch weiter <strong>und</strong> brachten weiter.« 27<br />

20 Eissler, Kurt Robert: Prinzipielles zur Psychoanalyse <strong>de</strong>s Genies. In: Jahrbuch für Pychoanalyse, 8, 1975, S.<br />

7- 47; zitiert in: Kraft, Hartmut (Hrsg.): Psychoanalyse, Kunst <strong>und</strong> Kreativität heute. Die Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

analytischen Kunstpsychologie <strong>sei</strong>t Freud. Köln 1984, S. 24.<br />

21 Goethe: Faust. Zweiter Teil, 2. Akt. In: WA, I, 15.1, S. 132.<br />

22 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 6. Buch: Bekenntnisse einer schönen Seele. WA, I, 22. Bd., S. 332 f.<br />

23 Goethe: Über <strong>de</strong>n Dilettantismus. WA, I, 47. Bd., S. 323.<br />

24 Goethe zum Kanzler von Müller, 4. November 1823. In: Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe.<br />

Kleine Ausgabe, hg. von Ernst Grumach. Weimar 1959, S. 84.<br />

25 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 8. Buch. In: WA, I, 23. Bd., S. 216 f.<br />

26 Goethe: Über Naturwissenschaft im Allgemeinen. In: WA, II, 11. Bd., S. 144.<br />

27 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>s Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan. 33 Bän<strong>de</strong>. Berlin 1877-1913 [Im folgen<strong>de</strong>n nur mit<br />

»SWS« bezeichnet]. – hier: SWS, 18. Bd., S. 285.<br />

26


Her<strong><strong>de</strong>r</strong> schreibt: »Mit Anlagen kommen wir auf die Welt; ausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n diese<br />

Anlagen nur durch Übung. [...] Was aus uns wer<strong>de</strong>n soll, muß in uns durch Übung wer<strong>de</strong>n.«<br />

28 »Der Wort-Unterricht, die tote Lehre, das Lektion-lernen, Nachschreiben usf. sind,<br />

so lange nicht Übung <strong>de</strong>s Geistes, <strong>de</strong>s Willens, <strong><strong>de</strong>r</strong> Lust <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe [...] dazu kommt,<br />

tote Wörter <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n bald ekelhafte Namen. Lust <strong>und</strong> Liebe macht alles<br />

leicht; Übung beseelt je<strong>de</strong>s Werk, in<strong>de</strong>m sie die Anlage in uns zur selbstbewußten Kraft,<br />

Fähigkeit zu Fertigkeit erhöht. Durch Übung erhielt man <strong>de</strong>n Preis in allen Kampfspielen.<br />

[...] Durch willige, frohe, unablässig fortgesetzte Übung allein wird man in <strong>sei</strong>ner Kunst<br />

Meister.«<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> setzte sich bereits für <strong>de</strong>n Anschauungsunterricht ein <strong>und</strong> meinte: »Wie man<br />

ohne Buchstaben nicht lesen, ohne Zahlen nicht rechnen, ohne Stimme nicht sprechen<br />

kann, so kann Mathematik nicht ohne sinnliche Darstellung, Geographie nicht ohne Landkarten,<br />

Naturgeschichte nicht ohne Abbildungen, Physik nicht ohne Versuche, Geschichte<br />

nicht ohne Leitfa<strong>de</strong>n ... vorgetragen wer<strong>de</strong>n.« 29<br />

Nachdrücklich for<strong><strong>de</strong>r</strong>te Her<strong><strong>de</strong>r</strong> zum Selbst<strong>de</strong>nken <strong>und</strong> zur Klarheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriffe auf:<br />

»Seine Gedanken kann mir <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehrer nicht eingeben, eintrichtern, meine Gedanken kann<br />

<strong>und</strong> muß er wecken, daß sie meine Gedanken wer<strong>de</strong>n. Der beste Prüfstein, ob jemand etwas<br />

erfaßt, verstan<strong>de</strong>n hat, ist, daß er’s selbst vortragen kann, nach <strong>sei</strong>ner eignen Art, mit<br />

<strong>sei</strong>nen eignen Worten.« 30<br />

»Das ewige Wen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Drehen vom Subjekt aufs Prädikat, vom Prädikat aufs Subjekt«<br />

<strong>sei</strong> nur »ein leibhaftes Wortgähnen, da man <strong>de</strong>n M<strong>und</strong> zur rechten <strong>und</strong> linken, auf<strong>und</strong><br />

abwärts zieht <strong>und</strong> immer doch nichts« als einen »Fuhrmannslaut« herausbringt. Nur<br />

unsere eigenen Worte, »diese allein bezeichnen unsere eigenen Gedanken. Ihnen muß man<br />

folgen, an sie <strong>sei</strong>ne eignen Gedanken knüpfen; so lernt man lehrend, so lehrt man lernend.<br />

Wie in allen Künsten die eigne Übung alles [...] <strong>und</strong> ohne sie keine Kunst ist, so ist in Wissenschaften<br />

nichts ohne eigne Aufsätze, in <strong>sei</strong>ner eigensten Gedankenmanier. [...] Die Gedankenweise<br />

<strong>de</strong>s Lehrers ist <strong>de</strong>m Lernen<strong>de</strong>n nur Vorbild, wie im Zeichnen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler [...]<br />

das Gebil<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Meisters [...] nachzeichnet.« 31 Durch Übung kann man also <strong>sei</strong>ne kreativen<br />

Anlagen, Begabungen <strong>und</strong> Talente steigern.<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> setzte sich auch kritisch mit <strong>sei</strong>nem Zeitalter au<strong>sei</strong>nan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong> erklärte: »Unsere<br />

Zeit [ist] darauf eingerichtet, die Vielwisserei <strong>und</strong> Vieltuerei zu beför<strong><strong>de</strong>r</strong>n. [...] Unsre<br />

Zeit läuft so schnell; sie bringt in kurzer Zeit so vieles [...] zur Ansicht. [...] Die ins Fieber<br />

gejagte Industrie <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>en bringt in wil<strong>de</strong>n Träumen bunte Ungeheuer hervor, die<br />

<strong>de</strong>m verwirrten tollen Geschmack unsrer Zeitgenossen das flüchtige Vergnügen <strong>de</strong>s Unerhörten,<br />

<strong>de</strong>s Niegesehenen, <strong>de</strong>s Neuen geben, ihre Sinne aufreizen <strong>und</strong> mit <strong>de</strong>m Ver<strong><strong>de</strong>r</strong>bnis<br />

<strong>de</strong>s <strong>gut</strong>en Geschmacks wenigstens die Gewinnsucht befriedigen. Solche Geschmacksver<strong><strong>de</strong>r</strong>ber<br />

stehen auf <strong>de</strong>m bunten Markt <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt jetzt an allen Ecken, vor allen Pforten.« Sie<br />

schreien uns ins Ohr: »Kauft hier! kauft allerhand, kauft lang <strong>und</strong> kurze Ware, gemalt neumodisch<br />

Band! Orgelum, Orgelei du<strong>de</strong>ldum <strong>de</strong>i! [...] Sehe man die Flut <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen Bücher,<br />

die Trö<strong>de</strong>lbu<strong>de</strong>n gängiger Romane! bemerke man <strong>de</strong>n wüsten Theatergeschmack o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ungeschmack <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen, wo das beste mit <strong>de</strong>m schlechtesten wechselt.« 32<br />

28 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Johann Gottfried: Schulre<strong>de</strong>n. [Von Schulen als Übungsplätzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fähigkeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Seele] 1799.<br />

In: SWS, 30. Bd., S. 253.<br />

29 Ebenda, S. 256.<br />

30 Ebenda, S. 268.<br />

31 Ebenda, S. 268 f.<br />

32 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Johann Gottfried: Schulre<strong>de</strong>n [Von <strong>de</strong>n Gefahren <strong><strong>de</strong>r</strong> Vielwisserei <strong>und</strong> Vieltuerei] 1801. In: SWS,<br />

30. Bd., S. 279 f.<br />

27


In <strong>sei</strong>nen kritischen Äußerungen steigerte sich Her<strong><strong>de</strong>r</strong> oft bis zur Polemik. Wenn ihn<br />

<strong>sei</strong>ne Frau o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Fre<strong>und</strong> beschwor, sich doch zu mäßigen, so entgegnete er: »Ich schreibe<br />

nicht für Weimar, ich schreibe für Deutschland, für die Welt.« 33<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> for<strong><strong>de</strong>r</strong>te: »Der <strong>Mensch</strong> muß nach etwas Höherem streben, damit er nicht unter<br />

sich sinke.« 34 »Man suche, was wahr <strong>und</strong> dauernd <strong>und</strong> auf’s e<strong>de</strong>lste glücklich macht, <strong>de</strong>m<br />

schenke man unablässigen Fleiß, Studium <strong>und</strong> Kräfte.« 35<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> meint: »... Zu viele wollen studieren; zu viele wollen heute Buchstabenmänner<br />

wer<strong>de</strong>n. O wer<strong>de</strong>t Geschäftsmänner. [...] Ein Handwerker, ein Künstler, ein Geschäftsmann<br />

ist gewiß <strong><strong>de</strong>r</strong> brauchbarere <strong>Mensch</strong> vor so vielen unnützen, halbgelehrten Buchstabenmännern!<br />

... Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> schrecklichen Konkurrenz« [auch diesen Begriff kannte Her<strong><strong>de</strong>r</strong> schon!],<br />

also bei <strong><strong>de</strong>r</strong> schrecklichen Konkurrenz »<strong>und</strong> großen Menge <strong><strong>de</strong>r</strong> Unwürdigen [muß] die<br />

Achtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Buchstabenmänner abnehmen, [...] <strong>und</strong> es kann vielleicht eine Zeit kommen,<br />

da sie verhungern.« 36<br />

Nicht Halbgelehrte, »son<strong><strong>de</strong>r</strong>n gebil<strong>de</strong>te, nützliche, geschickte <strong>Mensch</strong>en will unsre<br />

Zeit« 37 , <strong>de</strong>nn »eine neue Zeit erwacht, in <strong><strong>de</strong>r</strong> viel Bestrebsamkeit <strong>und</strong> Talente erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n.« 38<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> ermahnt: »In ruhigen Zeiten darf man vielleicht träumen; unsere Zeit [...] rüttelt<br />

vom Schlaf auf.« 39 Nur durch Fleiß, Übung <strong>und</strong> Anspannung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kräfte wird das hohe<br />

Ziel errungen; »<strong>de</strong>m Schlummern<strong>de</strong>n, Schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong>n bleibt es ... unerreicht; er liegt am<br />

Bo<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong> taumelt fort auf <strong>de</strong>m alten ausgetretnen Wege.« 40<br />

Es gelte aber neue Wege zu gehen, d.h. kreativ zu <strong>sei</strong>n. »[...] Wie sehr ruft uns die Zeit<br />

zu [...] größerer Anstrengung, [...] Munterkeit <strong>und</strong> Gewandtheit« auf. 41<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> erwähnt einige be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Wissenschaftler <strong>und</strong> hinterfragt: Wodurch haben<br />

sich <strong>de</strong>nn die großen Genies aller Zeiten ausgezeichnet? »Wesentlich waren sie nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

gebaut, als andre Seelen«, aber »sie konnten einen Gedanken länger festhalten <strong>und</strong><br />

von allen Seiten verfolgen, eine <strong>und</strong> dieselbe Arbeit länger <strong>und</strong> kräftiger treiben; sie hatten<br />

sich mehr geübt. Diese stärkere <strong>und</strong> längere Intensität <strong><strong>de</strong>r</strong> Seelenkräfte machte jenen<br />

Roger <strong>und</strong> Francis Bacon, Kepler <strong>und</strong> Newton, Leibniz, Euler, Linné, Buffon <strong>und</strong> viele an-<br />

33 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Karoline: Her<strong><strong>de</strong>r</strong>s Leben [Erinnerungen aus <strong>de</strong>m Leben Johann Gottfrieds von Her<strong><strong>de</strong>r</strong>]. In: J. G.<br />

von Her<strong><strong>de</strong>r</strong>’s ausgewählte Werke in einem Ban<strong>de</strong>. Stuttgart <strong>und</strong> Tübingen 1844, S. 63.<br />

34 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Johann Gottfried: Briefe zu Beför<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Humanität. Zweite Sammlung. Brief 24: Über die<br />

fortschreiten<strong>de</strong> Vervollkommnung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>engeschlechts. Fragen <strong>und</strong> Zweifel. In: SWS, 17. Bd., S. 114.<br />

35 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Johann Gottfried: Schulre<strong>de</strong>n. [Von <strong>de</strong>n Gefahren <strong><strong>de</strong>r</strong> Vielwisserei <strong>und</strong> Vieltuerei]. 1801. In: WS, 30.<br />

Bd., S. 281.<br />

36 Ebenda. [Von Schulen als Werkstätten <strong>de</strong>s Geistes Gottes, o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s heiligen Geistes]. 1797. In: SWS, 30.<br />

Bd., S. 235.<br />

37 Ebenda [Vom Fortschreiten einer Schule mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit]. 1798. In: SWS, 30. Bd., S. 245.<br />

38 Johann Gottfried Her<strong><strong>de</strong>r</strong> an <strong>sei</strong>nen Sohn Siegm<strong>und</strong> August Wolfgang Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, vor <strong>de</strong>m 17. August 1796.<br />

In: Johann Gottfried Her<strong><strong>de</strong>r</strong>: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803. Unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hg.<br />

von <strong>de</strong>n Nationalen Forschungs- <strong>und</strong> Ge<strong>de</strong>nkstätten <strong><strong>de</strong>r</strong> klassischen <strong>de</strong>utschen Literatur in Weimar<br />

(Goethe- <strong>und</strong> Schiller-Archiv); fortgeführt von <strong><strong>de</strong>r</strong> Klassik Stiftung Weimar. Bearbeitet von Wilhelm<br />

Dobbek † <strong>und</strong> Günter Arnold; (bisher 13 B<strong>de</strong>. erschienen: 9 B<strong>de</strong>., ein Register- <strong>und</strong> drei Kommentarbän<strong>de</strong>).<br />

Weimar 1977 ff.; hier: Bd. 7, S. 50. [Im folgen<strong>de</strong>n mit »Arnold: Briefe« bezeichnet].<br />

39 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Johann Gottfried: Schulre<strong>de</strong>n [Vom Fortschreiten einer Schule mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit]. 1798. In: SWS, 30.<br />

Bd., S. 245.<br />

40 Ebenda, S. 247.<br />

41 Ebenda.<br />

28


<strong><strong>de</strong>r</strong>e tüchtige, erfahrne <strong>und</strong> nützliche Leute. Schwierigkeiten, Gefahren, Hin<strong><strong>de</strong>r</strong>nisse [...]<br />

besiegten sie; so wur<strong>de</strong>n sie Überwin<strong><strong>de</strong>r</strong>.« Der Schlendrian dagegen »gelangt zu nichts.« 42<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> selbst strebte nach <strong>de</strong>m Höchsten <strong>und</strong> erklärte ehrgeizig: »[...] Wirksamkeit<br />

<strong>und</strong> Verdienst, dazu brenne ich <strong>und</strong> krieche durch die Welt. [...]« 43 , <strong>und</strong>: »Ich lechze nach<br />

geistigen Aufschlüssen!« 44 Dieses rastlose Suchen wur<strong>de</strong> zur Motivation <strong>sei</strong>nes Han<strong>de</strong>lns.<br />

Ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Bekenntnis lautet: »Ich gehe durch die Welt, was hab’ ich von ihr, wenn ich<br />

mich nicht unsterblich mache!« 45 Ja, Her<strong><strong>de</strong>r</strong> vertrat sogar schon das Leistungsprinzip.<br />

Dazu erklärte er: »Wem viel gegeben ist, <strong><strong>de</strong>r</strong> hat auch viel zu leisten.« 46<br />

Die Leistung dieser kreativen Persönlichkeiten bestand vor allem darin, die überlieferten<br />

Zeugnisse nicht als normative, ewig gültige Regeln anzusehen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n sie in Frage zu<br />

stellen, das überlieferte Wissen neu zu durch<strong>de</strong>nken <strong>und</strong> es als schöpferischen Impuls weiterzugeben.<br />

Sie rückten damit <strong>de</strong>n kreativen Prozeß in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>s Interesses.<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong> fragte: »Was ist für die <strong>Mensch</strong>en würdiger <strong>und</strong> wichtiger, als die Produktionen<br />

menschlicher Kräfte, die Geschichte menschlicher Bemühungen, <strong>und</strong> die Geburten unseres<br />

Verstan<strong>de</strong>s zu untersuchen?« 47<br />

Her<strong><strong>de</strong>r</strong>s Werk ist auch für die europäische Geistesgeschichte be<strong>de</strong>utsam. Durch <strong>sei</strong>ne<br />

Tätigkeit als Übersetzer weckte er Verständnis für die Eigenarten <strong><strong>de</strong>r</strong> verschie<strong>de</strong>nen Völker<br />

<strong>und</strong> Kulturen. Seine Sammlung »Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Völker in Lie<strong><strong>de</strong>r</strong>n« enthält 172 europäische<br />

<strong>und</strong> außereuropäische Lie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Darunter befin<strong>de</strong>t sich z.B. ein »Lied an eine peruanische<br />

Regengöttin«.<br />

Das Ansehen eines Schriftstellers o<strong><strong>de</strong>r</strong> eines Wissenschaftlers wird häufig an <strong><strong>de</strong>r</strong> Zahl<br />

<strong>sei</strong>ner Publikationen gemessen. Wir sind beeindruckt, mit welchem Arbeitstempo manche<br />

Autoren ihre Bücher verfassen <strong>und</strong> auf welche Menge sie es im Laufe ihres Lebens bringen.<br />

Aber wenn sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor in kreativer Hochstimmung befin<strong>de</strong>t, kann <strong>sei</strong>n Gedankenfluß<br />

unbeschwert zirkulieren. Welch unglaublicher Fleiß, wieviel durchgearbeitete Nächte<br />

am Schreibtisch, welch kräftezehren<strong>de</strong>s Ringen sind für die Erarbeitung <strong>und</strong> Gestaltung<br />

eines Manuskripts erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lich.<br />

Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>telang schrieben die Dichter, Komponisten <strong>und</strong> Gelehrten ihre Werke mit<br />

<strong>de</strong>m schnarren<strong>de</strong>n Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>kiel, wobei die Tinte nicht selten kleckste <strong>und</strong> herumspritzte. Dabei<br />

braucht ihre Produktivität einen Vergleich mit heutigen Schreibleistungen nicht zu<br />

scheuen, <strong>de</strong>nn Vielschreiber gab es zu allen Zeiten.<br />

Goethe hat <strong>sei</strong>ne Farce »Götter, Hel<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Wieland« an einem Sonntagnachmittag<br />

bei einer <strong>gut</strong>en Flasche Burgun<strong><strong>de</strong>r</strong> in einer Sitzung heruntergeschrieben. Das Schauspiel<br />

»Die Geschwister« entwarf er nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Rückkehr von einem Jagdausflug <strong>und</strong> schrieb es in<br />

zwei Tagen nie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Sein Trauerspiel »Clavigo« entstand innerhalb einer Woche. Schiller<br />

verfaßte <strong>de</strong>n »Wilhelm Tell« in sechs Wochen. Welch immense Schreibleistung! Aber die<br />

Motivation zum Schreiben ist unterschiedlich.<br />

42 Ebenda, S. 248.<br />

43 Johann Gottfried Her<strong><strong>de</strong>r</strong> an Johann Friedrich Hartknoch, En<strong>de</strong> Oktober 1769. In: Arnold: Briefe, Bd. 1, S.<br />

168.<br />

44 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Karoline: Her<strong><strong>de</strong>r</strong>s Leben [Erinnerungen aus <strong>de</strong>m Leben Johann Gottfrieds von Her<strong><strong>de</strong>r</strong>], a.a.O., S. 61.<br />

45 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: SWS, 4. Bd., S. 401.<br />

46 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, J. G.: Auch eine Philosophie <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte zur Bildung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>heit. In: SWS, 5. Bd., S. 561.<br />

47 Her<strong><strong>de</strong>r</strong>, Johann Gottfried: Fragmente über die neuere <strong>de</strong>utsche Literatur. Erste Sammlung. In: SWS, 2.<br />

Bd., S. 68.<br />

29


Der englische Schriftsteller Samuel Johnson schrieb in einer einzigen Woche einen Roman,<br />

nur um die Kosten für das Begräbnis <strong>sei</strong>ner Mutter sowie ihre hinterlassenen Schul<strong>de</strong>n<br />

bezahlen zu können. 48 – Ein erschüttern<strong>de</strong>s Beispiel für höchste Produktivität, diktiert<br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> bittersten Not.<br />

Die Devise <strong><strong>de</strong>r</strong> Schriftsteller lautet: »Kein Tag ohne eine Zeile«. 49 Sie »vergleichen ihre<br />

Fähigkeit oft mit einem Muskel, <strong><strong>de</strong>r</strong> täglich trainiert wer<strong>de</strong>n muß.« 50<br />

Der be<strong>de</strong>utendste italienische Dramatiker <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts, Vittorio Alfieri, arbeitete<br />

in Phasen kreativer Hochstimmung mit »Feuereifer«. Ja, es klingt unglaublich, aber er<br />

ließ sich sogar auf <strong>sei</strong>nem Sessel festbin<strong>de</strong>n, um sich zum Schreiben zu zwingen <strong>und</strong> damit<br />

zu verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, das Haus zu verlassen. Darüber berichtet er: »Meine Fesseln waren unter<br />

<strong>de</strong>m Mantel versteckt, in <strong>de</strong>n ich mich hüllte, <strong>und</strong> da ich die Hän<strong>de</strong> frei hatte, um zu lesen,<br />

zu schreiben o<strong><strong>de</strong>r</strong> mir vor die Stirn zu schlagen, so bemerkte niemand, <strong><strong>de</strong>r</strong> zu mir kam, daß<br />

ich mit <strong>de</strong>m Leib auf <strong>de</strong>m Sessel angeb<strong>und</strong>en war.« 51 Manchmal arbeitete er so besessen,<br />

daß er für ein neues Trauerspiel pro Tag einen Akt schrieb. Fünf Akte hat das Stück, so<br />

daß die Erstfassung bereits am sechsten Tag fertig war.<br />

Solche Höchstleistungen gibt es auch bei Wieland, Goethe, Schiller, Balzac <strong>und</strong> vielen<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Autoren, ohne sich gleich am Stehpult, Schreibtisch o<strong><strong>de</strong>r</strong> Stuhl festzubin<strong>de</strong>n.<br />

Wieland schrieb <strong>sei</strong>n Lehrgedicht »Die Natur <strong><strong>de</strong>r</strong> Dinge« in nur zehn Wochen – eine<br />

erstaunliche Leistung, <strong>de</strong>nn es umfaßt über 4000 Alexandriner <strong>und</strong> Wieland war erst siebzehn<br />

Jahre alt. Die meisten Schriftsteller verspüren einen inneren Drang zum Schreiben.<br />

Wieland meinte lakonisch: »Ich weiß nicht, wie das kömmt. Ich muß schreiben; es kömmt<br />

mir an, wie das Nasenbluten, <strong>und</strong> ich lasse es laufen.« 52<br />

Für Goethe war das Dichten zugleich »Bedürfnis <strong>und</strong> Herzenserleichterung«, so daß er<br />

einzelne Begebenheiten, auch »<strong>sei</strong>nen Ärger, Kummer <strong>und</strong> Verdruß über die Angelegenheit<br />

<strong>de</strong>s Tages, Politik usw. gewöhnlich in einem Gedicht« ausdrückte. »Er schaffe sich so<br />

die Dinge vom Halse, wenn er sie in Gedicht[e] bringe.« 53 Auch Schiller verspürte diesen<br />

Schreibzwang <strong>und</strong> teilte <strong>sei</strong>nem Fre<strong>und</strong> Körner mit: »Ich muß ganz Künstler <strong>sei</strong>n können,<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> ich will nicht mehr <strong>sei</strong>n.« 54 Kaum hatte er <strong>sei</strong>ne Tragödie »Die Jungfrau von Orleans«<br />

been<strong>de</strong>t, gestand er: »Mir ist nun wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ganz unbehaglich, ich wünschte wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in einer<br />

neuen Arbeit zu stecken.« 55<br />

48 Samuel Johnson (1709-1784). Es ist <strong>sei</strong>n Roman »History of Rasselas, Prince of Abissinia. A Tale« (Die<br />

Geschichte von Rasselas, Prinz von Abessinien), entstan<strong>de</strong>n 1759.<br />

49 Das war die Devise <strong>de</strong>s französischen Philosophen <strong>und</strong> Schriftstellers Jean-Paul Sartre.<br />

50 Gardner, Howard: Frames of mind. The theory of multiple intelligences. New York 1983. (dt. Ausg.:<br />

Abschied vom IQ. Die Rahmen-Theorie <strong><strong>de</strong>r</strong> vielfachen Intelligenzen. Stuttgart ²1998, S. 84.<br />

51 Benkard, Ernst (Hrsg.): Leben <strong>de</strong>s Vittorio Alfieri aus Asti, von ihm selbst geschrieben. Frankfurt am<br />

Main 1924, S. 168 u. 175 f.<br />

52 Wieland zu Joseph Rückert, Sommer/Frühherbst 1799. In: Rückert, Joseph: Bemerkungen über Weimar<br />

1799, hg. <strong>und</strong> mit einem Nachwort versehen von Eberhard Haufe. Weimar 1969, S. 99-101; vgl. auch die<br />

Aufzeichnung von Samuel Christoph Abraham Lütkemüller: Wielands Privatleben. In: Der Gesellschafter<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Blätter für Geist <strong>und</strong> Herz, 180. Blatt, 11. November 1826, S. 906; vgl. Freitag, Egon (Hrsg.): Ergetzen<br />

ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Musen erste Pflicht ... Geschichten <strong>und</strong> Anekdoten über Christoph Martin Wieland. (Reihe <strong>de</strong>s<br />

Fre<strong>und</strong>eskreises Goethe-Nationalmuseum e.V., Bd. I), Jena 2001, S. 234 f.<br />

53 Goethe zu Sulpiz Boisserée, 8. August 1815. In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer<br />

Berichte aus <strong>sei</strong>nem Umgang. Auf Gr<strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausgabe <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Nachlasses von Flodoard Freiherrn von<br />

Bie<strong><strong>de</strong>r</strong>mann. Ergänzt <strong>und</strong> hg. von Wolfgang Herwig. Fünf Bän<strong>de</strong> in sechs Teilbän<strong>de</strong>n. München 1998,<br />

Bd. 2, S. 1044 f.<br />

54 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 9. März 1789. In: NA, 25. Bd., S. 224.<br />

55 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 27. April 1801. In: NA, 31. Bd., S. 30.<br />

30


Wieland arbeitete noch mit 74 Jahren so intensiv an <strong><strong>de</strong>r</strong> Übersetzung von Ciceros Briefen,<br />

daß er einmal drei Wochen lang nicht das Haus verließ. Dazu meinte er, Cicero läßt<br />

mir »Tag <strong>und</strong> Nacht keine Ruhe«. Hierbei sehe ich nur zwei Möglichkeiten: »Siegen o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

sterben ist die Losung.«<br />

Sehr produktiv war auch <strong><strong>de</strong>r</strong> italienische Schriftsteller Niccolò Tommaseo. 56 Er verfaßte<br />

im Laufe <strong>sei</strong>nes Lebens 233 Bücher <strong>und</strong> 162 Essays. Selbst als er erblin<strong>de</strong>te, diktierte er<br />

noch Manuskripte für neue Bücher. Dieses Schreiben ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat mehr als ein Beruf. Es<br />

ist Berufung <strong>und</strong> dieser Schreibzwang beruht auf intrinsischer Motivation.<br />

In je<strong>de</strong>m kreativen Prozeß gibt es solche Phasen. Der Künstler o<strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaftler ist<br />

zutiefst ergriffen von <strong>sei</strong>ner Aufgabe <strong>und</strong> erlebt zeitweise einen Schaffensrausch, in<strong>de</strong>m er<br />

sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Lösung <strong>sei</strong>nes Problems o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Vollendung <strong>sei</strong>nes Kunstwerks nähert. Dieses<br />

Phänomen geistigen Höhenflugs wird heute in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreativitätsforschung als »Flow-Erlebnis«<br />

bezeichnet. 57 Es ist ein Bewußt<strong>sei</strong>nszustand aktiver Selbstkontrolle, in <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Geist<br />

sprichwörtlich zu fliegen scheint <strong>und</strong> ungeahnte Leistungen hervorbringt. Der Philosoph<br />

Hans Lenk sieht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Begeisterung »das Hauptkennzeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreativität«, gewissermaßen<br />

»die Mutter <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreativität«. – »Und nur Begeisterte können an<strong><strong>de</strong>r</strong>e begeistern.« 58<br />

Goethe fühlte sich in <strong>sei</strong>nem kreativen Prozeß durch <strong>de</strong>n schnarren<strong>de</strong>n Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>kiel gestört,<br />

so daß er lieber mit <strong>de</strong>m Bleistift schrieb. Dazu bemerkte er: »Ich war so gewohnt,<br />

mir ein Liedchen vorzusagen, … daß ich einigemal an das Pult rannte <strong>und</strong> mir nicht die<br />

Zeit nahm, einen quer liegen<strong>de</strong>n Bogen [gera<strong>de</strong>]zurücken, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das Gedicht von Anfang<br />

bis zu En<strong>de</strong> … in <strong><strong>de</strong>r</strong> Diagonale herunterschrieb. In diesem Sinne griff ich weit lieber<br />

zu <strong>de</strong>m Bleistift, welcher williger die Züge hergab: <strong>de</strong>nn es war mir einigemal begegnet,<br />

daß das Schnarren <strong>und</strong> Spritzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fe<strong><strong>de</strong>r</strong> mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten<br />

aufweckte, mich zerstreute <strong>und</strong> ein kleines Produkt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geburt erstickte.« 59<br />

Der kreative Prozeß kann durch zahlreiche innere <strong>und</strong> äußere Faktoren geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gehemmt wer<strong>de</strong>n. Während <strong>sei</strong>ner Arbeit am Drama »Don Carlos« wohnte Schiller als<br />

Gast Körners in <strong>de</strong>ssen »Weinberghäuschen« in Loschwitz bei Dres<strong>de</strong>n. Durch die Arbeit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Wäscherinnen wur<strong>de</strong> er Mitte Oktober 1785 am literarischen Schaffen gehin<strong><strong>de</strong>r</strong>t <strong>und</strong><br />

beschreibt in Versform humorvoll <strong>sei</strong>ne Kreativitätsblocka<strong>de</strong>:<br />

Dumm ist mein Kopf <strong>und</strong> schwer wie Blei,<br />

Die Tabaksdose ledig,<br />

Mein Magen leer – <strong><strong>de</strong>r</strong> Himmel <strong>sei</strong><br />

Dem Trauerspiele gnädig.<br />

Ich kratze mit <strong>de</strong>m Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>kiel<br />

Auf <strong>de</strong>n gewalkten Lumpen;<br />

Wer kann Empfindung <strong>und</strong> Gefühl<br />

Aus hohlem Herzen pumpen?<br />

56 Niccolò Tommaseo (1802-1874).<br />

57 Abgeleitet von flow: fließen, strömen, fluten. – Der Begriff wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m ungarisch-amerikanischen<br />

Soziologen <strong>und</strong> Verhaltenspsychologen Mihaly Csikszentmihalyi geprägt. (Vgl. Csikszentmihalyi, M.:<br />

Flow. Das Geheimnis <strong>de</strong>s Glücks. (Orig. 1990), 4. Aufl., Stuttgart 1996; Ders.: Das Flow-Erlebnis. Jen<strong>sei</strong>ts<br />

von Angst <strong>und</strong> Langeweile im Tun aufgehen (Orig. 1975), 4. Aufl., Stuttgart 1992; Ders./Csikszentmihalyi,<br />

I. S.: Die außergewöhnliche Erfahrung im Alltag. Die Psychologie <strong>de</strong>s Flow-Erlebnisses. Stuttgart 1991.<br />

58 Lenk, Hans: Kreative Aufstiege. Zur Philosophie <strong>und</strong> Psychologie <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreativität (= suhrkamp taschenbuch<br />

wissenschaft 1456). Frankfurt am Main 2000, S. 73; vgl. auch: Peale, Norman Vincent: Was Begeisterung<br />

vermag. Aus <strong>de</strong>m Amerikanischen übersetzt von Alfred Mohler. München 1994.<br />

59 Goethe, J. W.: Dichtung <strong>und</strong> Wahrheit, IV. Teil, 16. Buch. In: WA, I, 29. Bd., S. 14 f.<br />

31


Feu’r soll ich gießen aufs Papier<br />

Mit angefrornem Finger? ––<br />

O Phöbus, hassest du Geschmier,<br />

So wärm auch <strong>de</strong>ine Sänger.<br />

Die Wäsche klatscht vor meiner Tür,<br />

Es scharrt die Küchenzofe –<br />

Und mich – mich ruft das Flügeltier [Pegasus]<br />

Nach König Philipps Hofe.<br />

Ich steige mutig auf das Roß;<br />

In wenigen Sek<strong>und</strong>en<br />

Seh ich Madrid – am Königsschloß<br />

Hab ich es angeb<strong>und</strong>en.<br />

Ich eile durch die Galerie<br />

Und – siehe da! – belausche<br />

Die junge Fürstin Eboli<br />

In süßem Liebesrausche.<br />

Jetzt sinkt sie an <strong>de</strong>s Prinzen Brust<br />

Mit wonnevollem Schauer,<br />

In ihren Augen Götterlust,<br />

Doch in <strong>de</strong>n <strong>sei</strong>nen Trauer.<br />

Schon ruft das schöne Weib Triumph,<br />

Schon hör ich – Tod <strong>und</strong> Hölle!<br />

Was hör ich – einen nassen Strumpf<br />

Geworfen in die Welle.<br />

Und weg ist Traum <strong>und</strong> Feerei –<br />

Prinzessin, Gott befohlen!<br />

Der Teufel soll die Dichterei<br />

Beim Hem<strong>de</strong>nwaschen holen.« 60<br />

Der kreative Prozeß erfolgt meist in vier Phasen: Präparation, Inkubation, Illumination<br />

<strong>und</strong> Verifikation.<br />

1. Präparation ist die Vorbereitungsphase, in <strong><strong>de</strong>r</strong> die Problemwahrnehmung <strong>und</strong> Problemanalyse<br />

erfolgt.<br />

2. ist gewissermaßen die »Bebrütungsphase«. In diesem Stadium kommt es vor, daß<br />

das Problem nicht mehr bewußt durchdacht, aber unbewußt weiter bearbeitet wird.<br />

Es sind vor allem die unbewußten Denkprozesse, in <strong>de</strong>nen sich eine Inspiration, oft<br />

nach langem, vergeblichen, mitunter qualvollem Suchen einstellt. Gute Einfälle lassen<br />

sich nicht erzwingen. Dies mußte auch Schiller erkennen, <strong>de</strong>nn er schreibt:<br />

»Worüber ich schon 5 Wochen fruchtlos brütete, das hat ein mil<strong><strong>de</strong>r</strong> Sonnenblick binnen<br />

3 Tagen in mir gelöst; freilich mag meine bisherige Beharrlichkeit diese Entwicklung<br />

vorbereitet haben, aber die Entwicklung selbst brachte mir doch die erwärmen<strong>de</strong><br />

Sonne mit.« 61<br />

60 Schiller, Friedrich: Bittschrift [Unterthänigstes Pro Memoria an die Consistorialrath Körnerische weibliche<br />

Wasch<strong>de</strong>putation in Loschwitz eingereicht von einem nie<strong><strong>de</strong>r</strong>geschlagenen Trauerspieldichter]. In: NA, 1.<br />

Bd., S. 159 f.<br />

61 Schiller an Goethe, 27. Februar 1795. In: NA, 27. Bd., S. 151 f.<br />

32


3. Illumination. In dieser Phase erfolgt die Inspiration, <strong><strong>de</strong>r</strong> plötzliche Einfall, <strong><strong>de</strong>r</strong> Lösungsvorschlag<br />

bzw. die I<strong>de</strong>enfindung. – Für Goethe waren vor allem die Natur- <strong>und</strong><br />

Landschaft<strong>sei</strong>ndrücke eine Quelle <strong><strong>de</strong>r</strong> Inspiration. 62<br />

4. Verifikation. In diesem Stadium erfolgt die Ausführung. Die Erstfassung wird kritisch<br />

beurteilt <strong>und</strong> in die endgültige Form gebracht. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlußredaktion <strong>de</strong>s Manuskripts<br />

wird auch die Orthographie <strong>und</strong> Interpunktion überprüft. Danach wird von<br />

einem Schreiber das M<strong>und</strong>um, die Reinschrift angefertigt, die als Druckvorlage<br />

dient.<br />

Beim kreativen Prozeß gibt es auch Überschneidungen. 63 Meist verlaufen die Phasen<br />

nicht in einer linearen Stufenfolge, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in mehreren Rückkopplungschleifen, so daß<br />

mitunter eine Phase übersprungen o<strong><strong>de</strong>r</strong> mehrmals durchlaufen wird.<br />

Größere Dichtungen Goethes benötigten längere Phasen <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorbereitung, Eingebung,<br />

Erleuchtung <strong>und</strong> Ausarbeitung, wobei sich auch zahlreiche Kreativitätsblocka<strong>de</strong>n<br />

einstellten. Be<strong>de</strong>utsam sind auch <strong><strong>de</strong>r</strong> kreative Ort <strong>und</strong> die Stimmung zum Schreiben.<br />

Goethe war auch vom Einfluß <strong><strong>de</strong>r</strong> Witterung abhängig <strong>und</strong> bedurfte <strong><strong>de</strong>r</strong> schöpferischen<br />

Einsamkeit.<br />

Einer <strong><strong>de</strong>r</strong> produktivsten Schriftsteller war Honoré <strong>de</strong> Balzac. Er lebte von 1799 bis<br />

1850, wur<strong>de</strong> also nur 51 Jahre alt. Zunächst veröffentlichte er unter verschie<strong>de</strong>nen Pseudonymen.<br />

64 Als die ersten Romane unter <strong>sei</strong>nem eigenen Namen erschienen, war er schon<br />

30 Jahre alt, <strong>und</strong> in <strong>de</strong>n letzten fünf Jahren schrieb er nur noch wenig, weil er sehr krank<br />

war. Sein umfangreiches Meisterwerk entstand also in etwa 15 Jahren. In dieser kurzen<br />

Zeit schrieb er 91 Romane <strong>und</strong> Erzählungen, die er später unter <strong>de</strong>m Titel »Die menschliche<br />

Komödie« zusammenfaßte. 65<br />

Er war sehr begabt, <strong>de</strong>nn bereits mit vier Jahren konnte er lesen. Leidvoll war <strong>sei</strong>ne<br />

Schulzeit. Mit acht Jahren schickten ihn <strong>sei</strong>ne Eltern in das ehemalige Klosterinternat nach<br />

Vendôme. Balzac wur<strong>de</strong> oft mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Riemenpeitsche geschlagen, für vergessene Arbeiten,<br />

für schlecht gekonnte Aufgaben usw. – Am liebsten war ihm die Bibliothek. Er schreibt:<br />

»Ohne Bücher … wäre ich völlig stumpfsinnig gewor<strong>de</strong>n.« Unter ärmlichsten Verhältnis-<br />

62 Goethe sprach von einem »Aperçu«. Das ist eine <strong><strong>de</strong>r</strong> »glücklichen Eingebungen <strong>de</strong>s Augenblicks«, ein<br />

momentanes »Gewahrwer<strong>de</strong>n, Auffassen, Vorstellen, Begriff, I<strong>de</strong>e, wie man es nennen mag. ...« (Goethe,<br />

J. W.: Zur Morphologie, III. Teil. In: WA, II, 8. Bd., S. 135 f.)<br />

63 Es gibt auch Stufenmo<strong>de</strong>lle, bei <strong>de</strong>nen <strong><strong>de</strong>r</strong> kreative Prozeß mit drei, fünf, sechs o<strong><strong>de</strong>r</strong> sieben Phasen angegeben<br />

wird. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreativitätsforschung wird jedoch am häufigsten auf das bereits 1926 konzipierte<br />

Vier-Phasenmo<strong>de</strong>ll von Graham Wallas zurückgegriffen, »<strong>de</strong>ssen Tauglichkeit sich in <strong>sei</strong>ner Funktion als<br />

Bezugsgröße für analoge Nachfolgemo<strong>de</strong>lle zu beweisen scheint.« (Hemmer-Junk, Karin: Kreativität –<br />

Weg <strong>und</strong> Ziel [Europäische Hochschulschriften, Reihe 11, Pädagogik; Bd. 648]. Frankfurt am Main 1995,<br />

S. 60); vgl. auch: Gutjahr, Elisabeth: Der Mythos Kreativität o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Erfindung <strong>de</strong>s Selbstverständlichen.<br />

Berlin 1996, S. 25-46; Preiser, Siegfried: Kreativitätsforschung [Erträge <strong><strong>de</strong>r</strong> Forschung; Bd. 61], 2. Aufl.,<br />

Darmstadt 1986, S. 42-49; vgl. auch: Freitag, Egon: »Wenn ... eine vertraute Fe<strong><strong>de</strong>r</strong> meine Worte auffängt«<br />

Schreibgeräte <strong>und</strong> kreatives Schreiben im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t. In: Schroe<strong><strong>de</strong>r</strong>, Susanne, unter Mitwirkung<br />

von Egon Freitag <strong>und</strong> Viola Geyersbach: Werkzeuge <strong>de</strong>s Pegasus. Historische Schreibzeuge im<br />

Goethe- Nationalmuseum, a.a.O., S. 9-37.<br />

64 Balzac publizierte zunächst unter <strong>de</strong>n Namen Horace <strong>de</strong> Saint-Aubin, Lord R’hoone, Veuve Durant u.a.<br />

65 Den Plan dazu faßte er im Jahre 1836. – 1842 verfaßte er eine Vorre<strong>de</strong> zur »<strong>Mensch</strong>lichen Komödie«.<br />

Darin betont er, daß auch für die <strong>Mensch</strong>heit die Einheit gelte, die Cuvier <strong>und</strong> Geoffroy Saint-Hilaire für<br />

die außermenschliche Natur gef<strong>und</strong>en haben. Die Gesellschaft betrachtet er wie eine Zoologie, <strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

zwei- bis dreitausend Typen er sammeln will. Naturwissenschaftliche Metho<strong>de</strong>n wandte er aufs Literarische<br />

an. (Vgl. Zweig, Stefan: Drei Meister: Balzac – Dickens – Dostojewski. Frankfurt am Main 1999, S.<br />

24. – Die »<strong>Mensch</strong>liche Komödie« enthält »Szenen aus <strong>de</strong>m Privatleben«, »Szenen aus <strong>de</strong>m Provinzleben«<br />

<strong>und</strong> »Szenen aus <strong>de</strong>m Pariser Leben«.<br />

33


sen begann er zu schreiben, doch er hatte zunächst keinen Erfolg. Er kaufte eine Druckerei<br />

<strong>und</strong> wollte die französischen Klassiker in billigen Volksausgaben herausgeben, doch all<br />

<strong>sei</strong>ne kommerziellen Unternehmungen en<strong>de</strong>ten mit <strong>de</strong>m Bankrott. Durch riskante Spekulationen,<br />

66 <strong>und</strong> durch <strong>sei</strong>nen inzwischen kostspieligen Lebensstil war er hoch verschul<strong>de</strong>t.<br />

Die ständigen finanziellen Sorgen, <strong><strong>de</strong>r</strong> zunehmen<strong>de</strong> Druck <strong>sei</strong>ner Gläubiger zwangen ihn<br />

förmlich zur rastlosen schriftstellerischen Arbeit. So erklärte er:<br />

»Ich lebe unter <strong><strong>de</strong>r</strong> härtesten Tyrannei, die man sich selbst auferlegt. Ich arbeite je<strong>de</strong><br />

Nacht <strong>und</strong> je<strong>de</strong>n Tag. ... Mein Gehirn ist in dauern<strong><strong>de</strong>r</strong> Anspannung! ... Ich komme nicht<br />

zur Ruhe! Mein Leben ist ein ewiger Kampf; Schritt für Schritt muß ich mir die Anerkennung<br />

meines Talents erkämpfen. Welche Entbehrungen es mich kostet, diese Fron durchzuhalten,<br />

läßt sich gar nicht sagen. … Es ist ein Märtyrium, nachzusinnen, zu vergleichen,<br />

zu erfin<strong>de</strong>n, sich fortgesetzt <strong>de</strong>n Kopf zu zerbrechen, unterwegs zu <strong>sei</strong>n im weiten Reich<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanken. …« 67<br />

In <strong>sei</strong>nen Werken gibt es 2300 literarische Figuren aus allen Kreisen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft:<br />

Aristokraten, Bankiers <strong>und</strong> Hofschranzen, Geistliche, Militärangehörige, Fabrikanten,<br />

Journalisten, Handwerker, Kleinbürger <strong>und</strong> Bauern, Gauner <strong>und</strong> Kurtisanen, 68 Damen von<br />

Welt <strong>und</strong> Wäscherinnen, Sängerinnen <strong>und</strong> Tänzerinnen, Künstler, Politiker <strong>und</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Personen verschie<strong>de</strong>nster Herkunft <strong>und</strong> sozialer Stellung. 69<br />

Balzac übernimmt die Rolle eines Historiographen <strong>de</strong>s sozialen Lebens <strong>und</strong> blickt hinter<br />

die Kulissen. Er gilt als Begrün<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s soziologischen Realismus, d.h. er schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t das<br />

Leben mit realistischer Genauigkeit. Es sind glänzen<strong>de</strong> Milieuschil<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, Gestalten<br />

voller Leben <strong>und</strong> Echtheit. Beherrscht von Lei<strong>de</strong>nschaft, von Habgier <strong>und</strong> Machtstreben<br />

erkämpfen <strong>und</strong> ergaunern sie ihr Ziel, ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen, ohne Rücksicht<br />

auf Recht o<strong><strong>de</strong>r</strong> Unrecht.<br />

Balzac schil<strong><strong>de</strong>r</strong>t in <strong>sei</strong>nen Romanen Habgier, Betrug, Wucher, Korruption, Erpressung<br />

<strong>und</strong> Intrigen. Die Geldgier zerstört alle menschlichen Beziehungen <strong>und</strong> führt zur Auflösung<br />

aller ethischen Werte.<br />

Balzac galt bereits zu <strong>sei</strong>nen Lebzeiten als <strong><strong>de</strong>r</strong> gefeierte »Mo<strong>de</strong>-Autor«. Seine Werke<br />

wur<strong>de</strong>n übersetzt <strong>und</strong> in vielen Teilen Europas gelesen. Mit zahlreichen Schriftstellern <strong>und</strong><br />

Künstlern war er bekannt o<strong><strong>de</strong>r</strong> befre<strong>und</strong>et, z.B. mit Victor Hugo, George Sand, Alexandre<br />

Dumas, Heinrich Heine, Fre<strong><strong>de</strong>r</strong>ic Chopin, Franz Liszt <strong>und</strong> Gioacchino Rossini.<br />

Selbst Goethe las im Alter von 82 Jahren, im Oktober 1831, einen Roman von Balzac,<br />

»Das Chagrinle<strong><strong>de</strong>r</strong>«. Und er urteilte begeistert: Es ist »ein vortreffliches Werk neuster<br />

Art« <strong>und</strong> trotz einiger Schwächen das »Produkt eines ganz vorzüglichen Geistes«, 70 worüber<br />

sich im einzelnen viel Gutes sagen ließe.« 71<br />

66 Spekulationen: Balzac wollte Ananas züchten <strong>und</strong> nach Schätzen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Seine graben. Reichtümer erhoffte<br />

er sich auf Sardinien, in <strong>de</strong>n römischen Silberminen.<br />

67 Balzac an Zulma Carraud; zitiert nach: Picon, Gaëtan: Honoré <strong>de</strong> Balzac, mit Selbstzeugnissen <strong>und</strong> Bilddokumenten<br />

dargestellt. Aus <strong>de</strong>m Französischen übersetzt von Eleonore zu Salm-Salm <strong>und</strong> Hansgeorg<br />

Maier (rowohlts monographien, begrün<strong>de</strong>t von Kurt Kusenberg, hg. von Klaus Schröter). Reinbek bei<br />

Hamburg 1988, S. 17 f.<br />

68 Kurtisane: Geliebte eines Fürsten, vornehme Buhlerin.<br />

69 Wichtige Charaktere <strong><strong>de</strong>r</strong> »<strong>Mensch</strong>lichen Komödie« sind: Rastignac, <strong><strong>de</strong>r</strong> Streber aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Gascogne, Bianchon,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Arzt, Bixiou, <strong><strong>de</strong>r</strong> Künstler, Vater Goriot, Eugénie Gran<strong>de</strong>t, <strong><strong>de</strong>r</strong> Vetter Pons u.a.<br />

70 Goethe an Friedrich von Müller, 17. November 1831. In: WA, IV, 49. Bd., S. 144.<br />

71 Goethe: Tagebuch, 10.-12. Oktober 1831; Goethe an Friedrich von Müller, 17. November 1831; Goethe zu<br />

Soret, 27. Februar 1832. – Goethe las auch Werke von Victor Hugo <strong>und</strong> Alexandre Dumas d.Ä. – Von<br />

Victor Hugo las er O<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Balla<strong>de</strong>n, die Dramen »Cromwell«, »Hernani«, »Marion Delorme« <strong>und</strong> <strong>de</strong>n<br />

34


Balzac verschanzte sich in <strong>sei</strong>nem Arbeitszimmer, daß er mitunter tagelang nicht verließ.<br />

Von abends um 8 Uhr bis um Mitternacht schlief er tief <strong>und</strong> fest, aber eben nur vier<br />

St<strong>und</strong>en. Sein Diener hatte <strong>de</strong>n Auftrag, ihn um 24 Uhr zu wecken.<br />

Für <strong>sei</strong>ne Arbeit am Schreibtisch hatte sich Balzac ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es Kleidungsstück zugelegt,<br />

eine weiße Karmeliter-Mönchskutte mit Kapuze. Um <strong>sei</strong>ne Hüfte schlang er eine<br />

gol<strong>de</strong>ne Kette. Daran hing aber kein Kreuz, wie bei <strong>de</strong>n Mönchen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ein Schere für<br />

das Papier. Im Winter trug er die Kutte aus Kaschmir, im Sommer aus feinem Leinen.<br />

Der Diener half Balzac in diesen Mantel <strong>und</strong> zün<strong>de</strong>te die Kerzen an. Die Fe<strong><strong>de</strong>r</strong>kiele<br />

hatte er sorgfältig angespitzt <strong>und</strong> das Schreibpapier bereit gelegt. Dann verließ <strong><strong>de</strong>r</strong> Diener<br />

<strong>sei</strong>nen Herrn <strong>und</strong> Balzac schloß sich ein, um nicht gestört zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Balzac benutzte keine Gänsekiele, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n bevorzugte Rabenfe<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Auf <strong>de</strong>m Tisch<br />

befand sich ein sechsarmiger Kerzenleuchter. Rechts lagen die zurecht geschnittenen Rabenfe<strong><strong>de</strong>r</strong>n,<br />

daneben das frisch gefüllte Tintenfaß. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> linken Seite lag <strong>sei</strong>n Skizzenheft,<br />

worin er Einfälle, I<strong>de</strong>en <strong>und</strong> Gedankensplitter notierte, die er in <strong>sei</strong>nen Romanen verwen<strong>de</strong>n<br />

wollte. – Nachschlagewerke, wie Lexika o<strong><strong>de</strong>r</strong> Handbücher, brauchte er nicht. Alles,<br />

was er schrieb, kam aus <strong>sei</strong>ner Vorstellungskraft. 72 Er hatte ein sehr <strong>gut</strong>es Gedächtnis.<br />

An einem Arbeitstag trank Balzac 40 bis 60 Tassen starken Kaffee, um sich wachzuhalten.<br />

73<br />

Balzac besaß eine Gipsbüste von Napoleon <strong>und</strong> erklärte dazu: »Was er mit <strong>de</strong>m Degen<br />

begann, wer<strong>de</strong> ich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Fe<strong><strong>de</strong>r</strong> vollen<strong>de</strong>n.« 74<br />

Den Roman »Vater Goriot« schrieb er in 40 Tagen. 75 Daran arbeitete er täglich zwischen<br />

16 <strong>und</strong> 20 St<strong>und</strong>en.<br />

Im Oktober 1834 schrieb Balzac; »Man müßte sich verzehnfachen können, Gehirn zum<br />

Auswechseln besitzen, ohne Schlaf auskommen, immer mit <strong>sei</strong>nen Eingebungen glücklich<br />

<strong>sei</strong>n, je<strong><strong>de</strong>r</strong> Zerstreuung entsagen.« 76<br />

Für die Imagination <strong>de</strong>s Schriftstellers nennt Balzac folgen<strong>de</strong> Beispiele: »Wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Maler,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Florenz in <strong>de</strong>n glühendsten Farben <strong>und</strong> am richtigsten malt, nie in Florenz geweilt<br />

hat, so kann <strong><strong>de</strong>r</strong> Schriftsteller trefflich die Wüste, ihre Sanddünen, ihre Luftspiegelungen,<br />

die Palmenhaine ihrer Oasen schil<strong><strong>de</strong>r</strong>n, ohne daß er erst ... bis in die Sahara [reisen] müßte.«<br />

Balzacs realistische Darstellungen beruhen aber auch auf präzisen Beobachtungen.<br />

Zwischen 1842 <strong>und</strong> 1846, also in vier Jahren, veröffentlichte er 16 Bän<strong>de</strong> für <strong>sei</strong>nen Romanzyklus<br />

»Die menschliche Komödie«. Das sind 8697 Seiten. 77 Diese Arbeitsweise untergrub<br />

<strong>sei</strong>ne Ges<strong>und</strong>heit. Balzac wur<strong>de</strong> nur 51 Jahre alt. Er starb am 18. August 1850.<br />

Roman »Notre Dame von Paris«. Goethe bezeichnete diesen Roman als »das abscheulichste Buch, das je<br />

geschrieben wor<strong>de</strong>n« <strong>sei</strong> (Zu Soret, 27.6.1831) <strong>und</strong> empörte sich über das Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>wärtige, Puppen- <strong>und</strong><br />

Fratzenhafte <strong><strong>de</strong>r</strong> Figuren. (An Zelter, 18. <strong>und</strong> 28.6.1831; Tagebuch 12.10.1831) – Von Dumas die Tragödie<br />

»Heinrich III. <strong>und</strong> <strong>sei</strong>n Hof« (Henri III. et sa cour), die am 14. Februar 1831 in Weimar aufgeführt wur<strong>de</strong>.<br />

Sie <strong>sei</strong> »ganz vortrefflich«, bemerkte Goethe zu Eckermann am 15.2.1831. Am 21. Dezember 1831 las<br />

Goethe Dumas’ Drama eines Amoralisten »Antony«.<br />

72 Vgl. Licht, Bettina: Balzac. Leben <strong>und</strong> Werk <strong>de</strong>s Romanciers. Mainz-Kostheim 2002, S. 62.<br />

73 Ebenda, S. 14.<br />

74 Ebenda, S. 51.<br />

75 Ebenda, S. 81.<br />

76 Vgl. Balzac, Honoré <strong>de</strong>: Briefe an die Frem<strong>de</strong>. Eine Auswahl. Aus <strong>de</strong>m Französischen von Gerda Gensberger,<br />

hg. <strong>und</strong> eingeleitet von Ulla Momm <strong>und</strong> Gerda Gensberger. Frankfurt am Main 1999, S. 250 f.<br />

77 Ebenda, S. 472. – Im Vorwort dieses Romanzyklus formulierte Balzac die Gr<strong>und</strong>these von <strong><strong>de</strong>r</strong> Lei<strong>de</strong>nschaft<br />

als <strong><strong>de</strong>r</strong> allgewaltigen Triebkraft <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en.<br />

35


Der Schriftsteller Stefan Zweig schrieb anerkennend: »Balzac ist ein Genie … <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

vielleicht größte Heros <strong><strong>de</strong>r</strong> dichterischen Arbeit.« 78<br />

Kreative Persönlichkeiten entwickeln eine erstaunliche Energie, Willenskraft <strong>und</strong> Ausdauer.<br />

Sie haben einen enormen Wissensdrang <strong>und</strong> Lerneifer.<br />

Ein Beispiel aus <strong><strong>de</strong>r</strong> jüngeren Geschichte ist <strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanische Erfin<strong><strong>de</strong>r</strong> Thomas Alva<br />

Edison. Der junge Edison mußte in einem Telegraphenbüro von Boston oft <strong>de</strong>n Nachtdienst<br />

verrichten. Kam er morgens drei Uhr nach Hause, vertiefte er sich mitunter sofort<br />

in das Studium Faradays, anstatt sich schlafen zu legen. Er las so lange, bis <strong>sei</strong>n Fre<strong>und</strong> Milton<br />

Adams aufstand. Dann gingen bei<strong>de</strong> zu einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>thalb Kilometer entfernten Speisehaus.<br />

Edison war jedoch von <strong>de</strong>m Gelesenen so fasziniert, daß er es kaum erwarten konnte,<br />

<strong>sei</strong>n Studium fortzusetzen <strong>und</strong> <strong>sei</strong>nem Begleiter ungeduldig mitteilte: »Adams, ich habe soviel<br />

zu tun, <strong>und</strong> das Leben ist so kurz, daß ich laufen will!« Mit diesen Worten begann er<br />

einen Dauerlauf zum Gasthaus, um nach eingenommener Mahlzeit auf dieselbe Weise<br />

nach <strong>sei</strong>ner Wohnung zurückzueilen, um <strong>sei</strong>n Studium fortzusetzen. 79<br />

Es klingt närrisch, aber kreative Persönlichkeiten sind von ihrer Aufgabe so begeistert,<br />

daß sie alles um sich zu vergessen scheinen. Ohne diese Begeisterung <strong>und</strong> Anspannung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Geisteskräfte wür<strong>de</strong> das Interesse an <strong><strong>de</strong>r</strong> Lösungssuche erkalten. Deshalb gilt:<br />

»Es ist nichts als Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel, was das Leben erträglich<br />

macht.« 80<br />

Dr. Egon Freitag, geb. 1946, studierte Volksk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Museologie. Er ist Diplom-Ethnograph<br />

<strong>und</strong> wissenschaftlicher Mitarbeiter im Goethe-Nationalmuseum Weimar (Direktion<br />

Forschung <strong>und</strong> Bildung – Klassik Stiftung Weimar).<br />

Seine Arbeitsschwerpunkte sind klassische <strong>de</strong>utsche Literatur, vor allem Wieland, Her<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

Goethe, Schiller <strong>und</strong> Eckermann.<br />

Außer<strong>de</strong>m beschäftigt er sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Kreativitätsforschung.<br />

78 Zweig, Stefan: Das Geheimnis <strong>de</strong>s künstlerischen Schaffens. Essays, hg. von Knut Beck. Frankfurt am<br />

Main 1993, S. 332 f.<br />

79 Vgl. Pahl, Franz: Thomas Alva Edison, <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfin<strong><strong>de</strong>r</strong>. Leipzig 1900, S. 34 f.<br />

80 Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 27. April 1801. In: NA, 31. Bd., S. 30.<br />

36


Schüler bei <strong>de</strong>n Vorträgen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Aula<br />

37


Avi Primor<br />

Von Hel<strong>de</strong>ntum <strong>und</strong> Zivilcourage<br />

Das Streben nach Geltung ist tief in <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Natur verwurzelt. Vom gesellschaftlichen<br />

Umfeld geachtet <strong>und</strong> geschätzt zu wer<strong>de</strong>n, ist allgemein das Ziel <strong>de</strong>s Individuums.<br />

Im Laufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte haben <strong>Mensch</strong>en Werte <strong>und</strong> Kriterien für das gesellschaftliche<br />

Zusammenleben geschaffen <strong>und</strong> manche auch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Einer dieser Werte scheint<br />

unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t geblieben zu <strong>sei</strong>n, <strong>und</strong> das ist die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s «Hel<strong>de</strong>ntums«. Und <strong>de</strong>nnoch hat<br />

man auch diesem nicht in je<strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft <strong>de</strong>n gleichen Wert beigemessen. Vor allem im<br />

20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t hat sich die Einschätzung <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>ntums in vielen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n gewan<strong>de</strong>lt.<br />

Angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> außergewöhnlichen Geschichte <strong>de</strong>s jüdischen Volkes tauchen bei <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n<br />

«Hel<strong>de</strong>n« auf, die <strong>de</strong>n allgemeinen Kriterien nicht entsprechen. Diese möchte ich ein<br />

wenig erörtern. Und letzten En<strong>de</strong>s verstehen heute viele unter uns, dass die höchste Wür<strong>de</strong><br />

nicht das herkömmliche Hel<strong>de</strong>ntum ist, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n etwas, wofür man sich nicht immer<br />

Geltung schafft, etwas wofür man manchmal sogar verfolgt wird, nämlich Zivilcourage.<br />

Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts entwarf ein bekannter österreichischer Journalist, Theodor<br />

Herzl, ein Projekt unter <strong>de</strong>m Titel »Der Ju<strong>de</strong>nstaat«. Der Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> aus einer assimilierten<br />

jüdischen Familie stammte, <strong><strong>de</strong>r</strong> kaum etwas von <strong>sei</strong>nen jüdischen Wurzeln wusste<br />

<strong>und</strong> vom Ju<strong>de</strong>ntum <strong>und</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Kultur schon gar nicht, war zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlussfolgerung<br />

gekommen, dass die Emanzipation <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n in West- <strong>und</strong> Mitteleuropa im 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t,<br />

eine Emanzipation, die vor allem Gleichberechtigung beinhalten sollte, ihr Ziel<br />

nicht erreicht hatte. Zwar war die Gleichberechtigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n juristisch vollen<strong>de</strong>t, gesellschaftlich<br />

aber mitnichten. Immer weniger aus religiösen Grün<strong>de</strong>n <strong>und</strong> zunehmend aus<br />

neuerdings sogenannten rassischen, d.h. rassistischen, Grün<strong>de</strong>n verstieß die nichtjüdische<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s das neu entstehen<strong>de</strong> Bürgertum die Ju<strong>de</strong>n.<br />

38


Herzl, ein treuer Bürger <strong>de</strong>s habsburgischen Kaiserreiches, <strong>de</strong>m er für <strong>sei</strong>nen Liberalismus<br />

dankbar war, war auch ein Verehrer Frankreichs <strong>und</strong> vor allem <strong><strong>de</strong>r</strong> Französischen Revolution.<br />

In <strong>de</strong>n neunziger Jahren <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts arbeitete er als Korrespon<strong>de</strong>nt <strong>sei</strong>ner<br />

Wiener Zeitung in Paris. Dies führte ihn unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>em auch zur Berichterstattung<br />

über <strong>de</strong>n damaligen Nationalskandal, die Dreyfuss-Affaire. Wie alle Journalisten <strong>und</strong> Auslandskorrespon<strong>de</strong>nten<br />

stand er als Zeuge im Hof <strong>de</strong>s Invali<strong>de</strong>ndoms <strong>und</strong> verfolgte die Degradierungszeremonie<br />

<strong>de</strong>s Hauptmanns Alfred Dreyfuss. Der französische Berufsoffizier<br />

jüdischer Abstammung wur<strong>de</strong> als Verräter verurteilt. Man warf ihm vor, für die Deutschen<br />

spioniert zu haben. An sich sah Herzl we<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>m Verfahren noch in <strong>de</strong>m Urteil eine beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

interessante Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt wusste man noch nicht, dass Dreyfuss<br />

unschuldig <strong>und</strong> ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Offizier <strong><strong>de</strong>r</strong> Verräter war. Was er da beobachtete, dachte<br />

Herzl, könne überall vorkommen, <strong>und</strong> dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptmann Ju<strong>de</strong> war, war für ihn auch nur<br />

ein Zufall. Dennoch schrieb Herzl in <strong>sei</strong>nen Notizen, dass nur in Frankreich ein jüdischer<br />

Offizier verurteilt wer<strong>de</strong>n könne, weil im Europa jener Zeit nur in Frankreich ein Ju<strong>de</strong> Berufsoffizier<br />

wer<strong>de</strong>n konnte. Das Dilemma Herzls entstand erst, als <strong><strong>de</strong>r</strong> Mob von Paris sich<br />

im Laufe <strong><strong>de</strong>r</strong> Degradierungszeremonie an das Gitter <strong>de</strong>s Invali<strong>de</strong>ndoms drängte <strong>und</strong> »Tod<br />

<strong>de</strong>n Verrätern, Tod <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n« schrie. Also war es für <strong>de</strong>n Pöbel nicht irgen<strong>de</strong>in Hauptmann,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verräter war, auch nicht irgen<strong>de</strong>in Ju<strong>de</strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n alle Ju<strong>de</strong>n, die, obwohl sie<br />

gesetzlich gleichberechtigte französische Bürger waren, doch als Auslän<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong> infolge<strong>de</strong>ssen<br />

als potentielle Verräter betrachtet wur<strong>de</strong>n. Das, schrieb Herzl, geschah ausgerechnet<br />

in Frankreich, <strong>de</strong>m Land <strong><strong>de</strong>r</strong> Revolution <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichberechtigung. Überdies,<br />

schrieb er, geschah dies vor <strong>de</strong>m Invali<strong>de</strong>ndom, wo Napoleon, <strong><strong>de</strong>r</strong> die Emanzipation <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Ju<strong>de</strong>n in Frankreich in die Tat umgesetzt <strong>und</strong> in Europa sie erzwungen hatte, begraben<br />

liegt. Seine Schlussfolgerung lautete: Die echte Gleichberechtigung für die Ju<strong>de</strong>n, ein Leben<br />

in Wür<strong>de</strong> für die Ju<strong>de</strong>n, können erst dann verwirklicht wer<strong>de</strong>n, wenn die Ju<strong>de</strong>n, so wie<br />

alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Völker, ihr eigenes Land, ihre Unabhängigkeit <strong>und</strong> Souveränität erlangen<br />

wer<strong>de</strong>n. Daher <strong>sei</strong>n Manifest »Der Ju<strong>de</strong>nstaat« <strong>und</strong> die Bewegung, die zum Ju<strong>de</strong>nstaat hinführen<br />

sollte, die Zionistische Bewegung. Herzl war ein mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ner, pragmatischer <strong>Mensch</strong>.<br />

Er wollte nicht nur einen Staat für die Ju<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n einen mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen, wettbewerbsfähigen<br />

Staat für die neue Welt <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts. Alte Traditionen wie die Bibel, alte Sprachen<br />

wie die hebräische Sprache, hatten keinen Sinn <strong>und</strong> Stellenwert für ihn. Er dachte,<br />

ein Land für die Ju<strong>de</strong>n solle dort entstehen, wo es möglich <strong>und</strong> praktisch <strong>sei</strong>, <strong>und</strong> ohne Abhängigkeit<br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit. So war er bereit, das englische Angebot zu akzeptieren,<br />

in einem leeren Landstrich Ugandas <strong>de</strong>n zukünftigen Ju<strong>de</strong>nstaat zu grün<strong>de</strong>n. Auch eine<br />

pragmatische Sprache wollte er haben, nämlich die <strong>de</strong>utsche Sprache. Diese war für ihn<br />

eine mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne, kraftvolle Weltsprache, <strong><strong>de</strong>r</strong>er die meisten ihm bekannten Ju<strong>de</strong>n auch mächtig<br />

waren. Ein Großteil <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n lebte damals nämlich im Raum <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Kaiserreiches<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> im Gebiet <strong>de</strong>s österreichischen Kaiserreiches. Viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s in Osteuropa,<br />

sprachen Jiddisch, eine Sprache, <strong><strong>de</strong>r</strong> das mittelalterliche Deutsch zugr<strong>und</strong>e liegt. Die<br />

Einführung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen Sprache als Lan<strong>de</strong>ssprache wäre <strong>de</strong>mnach sowohl leicht durchzusetzen<br />

als auch zukunftsorientiert gewesen. Herzl aber, <strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong>sei</strong>nen Gefolgsleuten<br />

wie ein Prophet gefeiert wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen Wort für <strong>sei</strong>ne Bewegung als Gesetz galt, stand in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> geographischen wie auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> linguistischen Frage fast vor einer Rebellion. Die Ju<strong>de</strong>n,<br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> Zionistischen Bewegung begeistert, bestan<strong>de</strong>n darauf, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> zukünftige Ju<strong>de</strong>nstaat<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Heimat im Lan<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> biblischen jüdischen Königreiche gegrün<strong>de</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong> <strong>und</strong> dass die alte hebräische Sprache, die kaum ein <strong>Mensch</strong> noch verstehen<br />

konnte, <strong><strong>de</strong>r</strong> alle Begriffe <strong>de</strong>s mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Lebens fehlten, wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Sprache dieses Lan<strong>de</strong>s<br />

wer<strong>de</strong>n sollte. Dies war ein überaus unpraktisches <strong>und</strong> sehr mühsames Vorhaben, fast eine<br />

Sisyphusarbeit, <strong>und</strong> <strong>de</strong>nnoch schien sie unentbehrlich. In bei<strong>de</strong>n Angelegenheiten gab<br />

Herzl nach, weil er begriffen hatte, dass <strong>Mensch</strong>en nicht nur praktisch, wirksam <strong>und</strong> produktiv<br />

<strong>sei</strong>n wollen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n dass sie Mythen <strong>und</strong> Symbole brauchen. Ohne diese wird keine<br />

Nation geboren. Ein Volk ist kein wirtschaftliches Unternehmen.<br />

39


Der Ju<strong>de</strong>nstaat Herzls, <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat Israel, liegt nun tatsächlich in <strong>de</strong>m alten biblischen<br />

Land <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n <strong>und</strong> die hebräische Sprache ist <strong>sei</strong>ne Alltagssprache. Bei<strong>de</strong> Ziele wur<strong>de</strong>n<br />

in langer <strong>und</strong> mühsamer Arbeit erreicht. Einer<strong>sei</strong>ts ging es um eine Sprache, die 2.000<br />

Jahre lang nicht mehr benutzt wor<strong>de</strong>n war, es <strong>sei</strong> <strong>de</strong>nn für liturgische Zwecke, so wie etwa<br />

Latein, das bis tief ins 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t hinein im katholischen Gottesdienst benutzt wur<strong>de</strong>.<br />

Eine solche Sprache zu mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nisieren, sie einem ganzen Volk beizubringen, mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Sprache die geläufigen Sprachen <strong>de</strong>s ganzen Volkes zu ersetzen, ist ein kolossaler Ehrgeiz.<br />

Das Land für <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>nstaat zu gewährleisten, ist wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um eine bis heute unvollen<strong>de</strong>te<br />

Ambition, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> Staat Israel, <strong>de</strong>ssen Unabhängigkeit 1948 ausgerufen wur<strong>de</strong>, lebt noch<br />

immer nicht in Frie<strong>de</strong>n. Das be<strong>de</strong>utet, dass er <strong>sei</strong>ne Existenz noch immer nicht vollständig<br />

gesichert hat.<br />

Mythen, Symbole, Legen<strong>de</strong>n, Traditionen sind also für eine Nation unentbehrlich. Die<br />

Frage ist nur, welche Mythen braucht man <strong>und</strong> wann? Braucht eine Nation immer Mythen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> nur bei ihrer Entstehung? Ist je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mythos positiv? Gibt es nicht Mythen, Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>und</strong> Hel<strong>de</strong>n, die für eine Nation auch verheerend <strong>sei</strong>n können? Brecht behauptete: »Unglücklich<br />

das Land, das Hel<strong>de</strong>n nötig hat!« Und dies trifft in zweierlei Hinsicht zu – einmal<br />

in bezug auf mythische Hel<strong>de</strong>n, einmal in bezug auf ›Kriegshel<strong>de</strong>n‹.<br />

Mit welchen Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n wächst ein israelisches Kind auf? Moses, ja Moses ist für ein israelisches<br />

Kind ein Held, aber kein Held wie Siegfried. Moses war kein Kämpfer. Er war<br />

ein Befreier. Er hat die Ju<strong>de</strong>n von <strong><strong>de</strong>r</strong> Sklaverei in Ägypten befreit <strong>und</strong> sie aus Ägypten in<br />

das verheißene Land geführt. Er selber hat aber das zukünftige Land <strong>sei</strong>nes Volkes nicht<br />

erobert, ja nicht einmal betreten. Er starb kurz davor. Sein Nachfolger Josua, <strong><strong>de</strong>r</strong> die Eroberungskriege<br />

um das Land geführt hat, gilt <strong>de</strong>m israelischen Kind bei weitem nicht als<br />

Nationalheld o<strong><strong>de</strong>r</strong> Vorbild. Zwar ist er durchaus eine positive Gestalt, aber er ist we<strong><strong>de</strong>r</strong> ein<br />

Mythos noch ein Held.<br />

In <strong>de</strong>n Jahren danach entstand ein weiterer Held, Samson. Dieser Mann ähnelt schon<br />

etwas mehr <strong>de</strong>m Siegfried. Bekannt für <strong>sei</strong>ne legendäre physische Kraft, hat auch er Kriege<br />

geführt. Aber als Held gilt er nur wegen <strong>sei</strong>nes Teilerfolges im Befreiungskrieg <strong>sei</strong>nes<br />

Volkes gegen die Philister. Darüber hinaus entstand eine tragische Aura um <strong>sei</strong>nen Tod.<br />

Der Mann wur<strong>de</strong> letzten En<strong>de</strong>s besiegt, von <strong>de</strong>n Philistern gefangen genommen <strong>und</strong> in<br />

ihre Hauptstadt Gaza gebracht, wo man ihn geblen<strong>de</strong>t hat. Dann wur<strong>de</strong> er in einem Philistertempel,<br />

in <strong>de</strong>m die Bevölkerung sich versammelt hatte, um ihren Sieg über ihn zu feiern,<br />

zwischen zwei Säulen gefesselt. Die Bibel erzählt, <strong><strong>de</strong>r</strong> blin<strong>de</strong>, gefesselte, aber immer<br />

noch überaus starke Samson habe ausgerufen: »Möge ich mit <strong>de</strong>n Philistern umkommen!«.<br />

Und dabei stieß er mit <strong>sei</strong>nen baren Hän<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n Säulen au<strong>sei</strong>nan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong> das Dach<br />

<strong>de</strong>s Tempels stürzte ein <strong>und</strong> erschlug ihn <strong>und</strong> die Philister. Ein Held also aus zwei Grün<strong>de</strong>n:<br />

zunächst als Freiheitskämpfer <strong>und</strong> dann als würdiger Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Tod <strong><strong>de</strong>r</strong> Demütigung<br />

vorgezogen hat.<br />

In diesem zweiten Sinne wird das israelische Kind mit weiteren Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n bekannt gemacht.<br />

Im Jahr 73 unserer Zeitrechnung, als die letzten verschanzten Freiheitskämpfer gegen<br />

Rom begriffen hatten, dass ihr langjähriger Kampf keine Aussichten mehr hatte, begingen<br />

sie Selbstmord, um <strong>de</strong>m Schicksal, als Sklaven nach Rom verschleppt zu wer<strong>de</strong>n, zu<br />

entgehen. Diese waren also keine siegreichen Hel<strong>de</strong>n, keine Eroberer, aber <strong>Mensch</strong>en, die<br />

für ihre Freiheit kämpften <strong>und</strong> ihr Leben für ihre Wür<strong>de</strong> opferten. - »Zeige mir einen Hel<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> ich wer<strong>de</strong> eine Tragödie für ihn schreiben«, sagte Scott Fitzgerald.<br />

Es gab noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Hel<strong>de</strong>n, noch älter als die Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>ständler gegen Rom in <strong>de</strong>n ersten<br />

Jahren <strong>de</strong>s Christentums. Fast 1000 Jahre zuvor entstand <strong><strong>de</strong>r</strong> größte Held, das größte Vorbild<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Geschichte, König David. 800 Jahre später gab es eine legendäre Familie<br />

von Hel<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n, die fast so mächtig wur<strong>de</strong> wie König David: Die Makkabäer<br />

im 2. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t vor Chr. Diese bei<strong>de</strong>n Erscheinungen haben einen gemeinsamen<br />

Nenner: Sie stehen als Symbol für <strong>de</strong>n Sieg <strong>de</strong>s Schwachen über <strong>de</strong>n Mächtigen, für <strong>de</strong>n<br />

40


Sieg <strong>de</strong>s Unterdrückten über die Besatzungsmacht. David ist mit <strong>sei</strong>nem erfolgreichen<br />

Ringen mit <strong>de</strong>m Riesen Goliath zur Legen<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> die Makkabäer dadurch, dass<br />

sie mit Erfolg <strong>de</strong>n Befreiungskrieg <strong>de</strong>s kleinen jüdischen Volkes gegen die Weltmacht<br />

Griechenland geführt haben. Das Interessante in bei<strong>de</strong>n Fällen ist, dass aus <strong>de</strong>m kleinen<br />

unterdrückten David <strong>und</strong> aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Makkabäer-Familie allmählich Herrscher über ein Königreich<br />

wur<strong>de</strong>n, das <strong>sei</strong>ne Nachbarn mit Kriegen belästigte <strong>und</strong> erfolgreiche Eroberungskriege<br />

führte. Dieses Kapitel <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte König Davids wie auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Makkabäer hat<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um wenig Ruhm bzw. Aufmerksamkeit in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte gef<strong>und</strong>en, die das israelische<br />

Kind lernt.<br />

Aufständische, meist tragische Gestalten, gab es im Laufe <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Geschichte<br />

noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s zu Zeiten <strong>de</strong>s Diasporalebens <strong>de</strong>s jüdischen Volkes in Europa. Aus<br />

diesen entstan<strong>de</strong>n aber wenige Hel<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>. In unseren Zeiten gelten die Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>ständler<br />

<strong>de</strong>s Warschauer Ghettos wie auch die ersten Verteidiger <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Dörfer,<br />

die die Zionistische Bewegung im Lan<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sümpfe <strong>und</strong> Wüsten aufgebaut hat, als Hel<strong>de</strong>n.<br />

Interessant ist, dass für die Geistesbildung <strong>de</strong>s israelischen Kin<strong>de</strong>s meistens die Hel<strong>de</strong>n<br />

von vor 2000 <strong>und</strong> 3000 Jahren be<strong>de</strong>utsam sind. Moses, Samson, David, bzw. <strong>sei</strong>n Sohn,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Frie<strong>de</strong>nskönig Salomon, Judas <strong><strong>de</strong>r</strong> Makkabäer, die Hel<strong>de</strong>n von Massada, das sind die<br />

Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>, das sind die Mythen. Keine Siegfriedgestalten, keine schönen, jungen, kämpferischen<br />

Prinzen im klassischen griechischen Stil, die ihren Ruhm vor allem ihrer Körperkraft<br />

<strong>und</strong> ihrer Tapferkeit bei Eroberungszügen zu verdanken hatten. Hel<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit <strong>und</strong><br />

Wür<strong>de</strong>, das sind die Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>, mit <strong>de</strong>nen das israelische Kind aufwächst.<br />

Hel<strong>de</strong>ntum hat in Wirklichkeit nur eine Be<strong>de</strong>utung: Zivilcourage. Zivilcourage be<strong>de</strong>utet,<br />

dass <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> für sich alleine entschei<strong>de</strong>t, dass er nicht Mitläufer ist, dass er <strong>de</strong>n<br />

Mut hat, gegen <strong>de</strong>n Strom zu schwimmen. Ein <strong>Mensch</strong> mit Zivilcourage wird von <strong>sei</strong>nem<br />

Umfeld oft geächtet, zumin<strong>de</strong>st aber nicht verstan<strong>de</strong>n. Selbst wenn er <strong>sei</strong>n Ziel erreicht,<br />

wird er nicht als Held gefeiert. <strong>Mensch</strong>en verhalten sich oft wie eine Her<strong>de</strong>. Selbst wenn<br />

sie wissen, dass sie gemeinschaftlich direkt in die Katastrophe marschieren, gehen sie weiter,<br />

um nicht außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Reihen zu bleiben. Ab 1943 wussten die meisten Deutschen,<br />

dass, wenn sie weiter hinter Hitler stehen wer<strong>de</strong>n, sie dies nur in die Katastrophe führen<br />

wür<strong>de</strong>. Dennoch wur<strong>de</strong>n die Wenigen, die Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand geleistet haben, <strong>und</strong> zwar nicht immer<br />

nur aus i<strong>de</strong>ologischen Grün<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n um das Wenige zu retten, das noch zu retten<br />

war, eher als Verräter betrachtet. Und zwar von <strong>de</strong>nen, die genau wussten, dass Hitler <strong>und</strong><br />

<strong>sei</strong>n Regime endgültig versagt hatten. Was immer auch geschehen mag, man bleibt in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Her<strong>de</strong>. Mutige Deutsche, die bereit waren, ihr eigenes Leben <strong>und</strong> das Leben ihrer Familie<br />

zu riskieren, um Ju<strong>de</strong>n zu retten, trauten sich oft nicht einmal nach <strong>de</strong>m Krieg <strong>und</strong> sogar<br />

lange nach <strong>de</strong>m Krieg, von ihrer Tapferkeit zu sprechen. Sie fürchteten ihre Umgebung,<br />

ihre Landsleute, die ihr Hel<strong>de</strong>ntum immer noch als Verrat betrachteten. Zivilcourage ist<br />

ein Hel<strong>de</strong>ntum, mit <strong>de</strong>m man sich nicht brüstet. Man tut, was man tun muss, nicht um als<br />

Held ausgezeichnet zu wer<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n aus <strong>de</strong>m tiefsten Gewissen heraus. Cervantes<br />

schreibt in Don Quichotte: »Hel<strong>de</strong>ntum liegt auf halbem Weg zwischen Feigheit <strong>und</strong><br />

Leichtsinn.« Und ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass Napoleons Ausspruch<br />

»Zum Leben ist viel mehr Tapferkeit erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lich als zum Sterben« eine in je<strong><strong>de</strong>r</strong> Hinsicht<br />

ganz beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Be<strong>de</strong>utung hat. Das ist Zivilcourage.<br />

Avi Primor, 1935 in Tel Aviv geboren, studierte Politikwissenschaft <strong>und</strong> Internationale<br />

Beziehungen in Jerusalem, New York <strong>und</strong> Paris. 1961 tritt er in <strong>de</strong>n diplomatischen Dienst<br />

Israels, 1970 – 1975 ist er Gesandter <strong>de</strong>s Staates Israel in Frankreich. Von 1993 bis 1999 ist er<br />

israelischer Botschafter in Deutschland, <strong>sei</strong>t 2000 gehört er <strong>de</strong>m Vorstand <strong><strong>de</strong>r</strong> Zwangsarbeiter-<br />

Stiftung »Erinnerung, Verantwortung <strong>und</strong> Zukunft« an. Heute leitet Primor das Institut für<br />

Europastudien an <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität Herzliya.<br />

41


Dr. Susanne Y. Urban<br />

Tikkun Olam o<strong><strong>de</strong>r</strong>: Die Welt reparieren.<br />

Ein jüdisches Konzept als universale I<strong>de</strong>e <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne Be<strong>de</strong>utung in<br />

Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart<br />

Ich möchte Ihnen <strong>und</strong> euch mit <strong>de</strong>n anschließen<strong>de</strong>n Reflexionen von <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>e <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Tragfähigkeit eines jüdischen humanistischen Konzepts berichten, die universale Be<strong>de</strong>utung<br />

in sich bergen.<br />

Voranstellen möchte ich ein Zitat aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Resolution <strong><strong>de</strong>r</strong> Holocaust-Überleben<strong>de</strong>n, die<br />

2004 in <strong><strong>de</strong>r</strong> zentralen israelischen Holocausterinnerungs- <strong>und</strong> Forschungsstätte Yad Vashem<br />

in Jerusalem – übrigens meinem eigentlichen Arbeitsplatz – verabschie<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n ist.<br />

Darin heißt es:<br />

»’Du sollst nicht töten!’ Diese gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> Aussage menschlicher Moral wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gesamten <strong>Mensch</strong>heit von <strong>de</strong>n Höhen <strong>de</strong>s Berges Sinai aus zugerufen. Das Gedächtnis an<br />

<strong>de</strong>n Mord an 6 Millionen Ju<strong>de</strong>n durch die Nazis <strong>und</strong> ihre bereitwilligen Helfer verpflichtet<br />

uns, nach diesem Gebot zu han<strong>de</strong>ln. … Demnach scheint es offensichtlich <strong>und</strong> unbestreitbar,<br />

dass dieses f<strong>und</strong>amentale Gebot die ganze <strong>Mensch</strong>heit verpflichtet. Und trotz<strong>de</strong>m<br />

wird es in verhöhnen<strong><strong>de</strong>r</strong> Weise in je<strong>de</strong>m Winkel <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt verletzt. … Wir, die wir die Erniedrigung<br />

durch grausamen Rassismus <strong>und</strong> Vorurteil erfahren haben, die zu To<strong>de</strong> verurteilt<br />

waren allein dafür, dass wir als Ju<strong>de</strong>n geboren wur<strong>de</strong>n, wir rufen die <strong>Mensch</strong>heit dazu<br />

auf, das Prinzip <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichheit unter allen <strong>Mensch</strong>en <strong>und</strong> Nationen anzunehmen. ... Heute<br />

kommen wir, <strong>de</strong>nen die Erinnerung in unsere Herzen <strong>und</strong> in unser Fleisch eingebrannt ist,<br />

zusammen, um die Fackel <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerung an die nächste Generation weiterzugeben. Wir<br />

übergeben euch auch die gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> Lehre <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums, dass Erinnerung begleitet<br />

<strong>sei</strong>n muss von tätiger ethischer <strong>und</strong> moralischer Intention. Dies muss F<strong>und</strong>ament <strong>und</strong> Fokus<br />

eurer Energien <strong>sei</strong>n, um eine bessere Welt zu schaffen.«<br />

Dieses Ansinnen – eine bessere Welt zu schaffen – ist, kurz gesagt, das Prinzip <strong>de</strong>s<br />

Tikkun Olam. Tikkun Olam be<strong>de</strong>utet übersetzt: Die Welt reparieren.<br />

Seinen Ursprung hat <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mischna. Die Mischna ist eine aus <strong>de</strong>m 3. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

stammen<strong>de</strong> Sammlung <strong><strong>de</strong>r</strong> mündlich überlieferten jüdischen Lehre.<br />

Der Begriff <strong>de</strong>s Tikkun Olam, die Welt zu vervollkommnen, wird aus <strong>de</strong>m allerersten<br />

Kapitel in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel abgeleitet. Über das En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schöpfungstage heißt es: »Und Gott<br />

vollen<strong>de</strong>te am siebenten Tag <strong>sei</strong>n Werk, das er gemacht ... Da segnete Gott <strong>de</strong>n siebenten<br />

Tag <strong>und</strong> heiligte ihn; <strong>de</strong>nn an ihm ruhte er von all <strong>sei</strong>nem Werk, das Gott zu wirken geschaffen.«<br />

(Bereschit 1:31)<br />

Dieser Satz wirkt unvollständig: »das zu wirken geschaffen«: was <strong>und</strong> mit wem – o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

für wen? Raschi, ein be<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel- <strong>und</strong> Talmudkommentator aus <strong>de</strong>m 11. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t,<br />

schrieb, dass mit diesem unvollen<strong>de</strong>ten Satz gemeint ist, dass wir <strong>Mensch</strong>en nach Vollendung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Welt in dieser selbst »wirken« sollen. Das Werk wird weitergehen müssen, die<br />

Arbeit an <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt ist nicht fertiggestellt. Den <strong>Mensch</strong>en wur<strong>de</strong>n in dieser Welt ein Teil<br />

überlassen, <strong>de</strong>n sie – also wir alle – ergreifen <strong>und</strong> gestalten sollen. Dies ist im zunächst religiösen<br />

Konzept das stetige Arbeiten an unserer eigenen Welt, d.h. Fehler <strong>und</strong> Schwächen<br />

sollen von uns erkannt <strong>und</strong> behoben wer<strong>de</strong>n. Auch ist die Befolgung von Geboten o<strong><strong>de</strong>r</strong>,<br />

weltlicher, von I<strong>de</strong>alen <strong>und</strong> Prinzipien, ein Beitrag zum Ergänzen <strong>und</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong><strong>gut</strong>machen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Welt. Wer diese verletzt, verletzt die Welt – weshalb die Einfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gebote<br />

dazu beitragen soll, die Welt immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufs Neue zu reparieren.<br />

42


In <strong>de</strong>m von frommen<br />

Ju<strong>de</strong>n drei Mal am<br />

Tag gesprochenen Gebet<br />

»Aleinu« fin<strong>de</strong>t<br />

sich auch die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />

Tikkun Olam. Dort<br />

steht, dass es die Aufgabe<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>en <strong>sei</strong>,<br />

»die Welt zum Königreich<br />

Gottes zu machen«,<br />

also dafür Sorge<br />

zu tragen, dass die Welt<br />

sich einem perfekten<br />

Zustand annähert. In<br />

<strong>und</strong> mit <strong>de</strong>m Gebet verspricht<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Beten<strong>de</strong>, dazu<br />

beizutragen. In <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Religion spielt <strong>de</strong>mnach<br />

die I<strong>de</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> Vervollkommnung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Welt<br />

eine zentrale Rolle.<br />

Orthodoxe <strong>und</strong> traditionelle Ju<strong>de</strong>n glauben, dass je stärker man die Gebote befolgt<br />

<strong>und</strong> je mehr Mitzwot (<strong>gut</strong>e Taten) man ausübt, umso mehr wür<strong>de</strong> auch die Welt perfektioniert.<br />

Orthodoxe z.B. sehen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfüllung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schabbatruhe ein Stück Tikkun Olam: Gott<br />

schuf <strong>de</strong>n Schabbat, <strong>de</strong>n wöchentlichen Ruhetag, <strong>und</strong> in<strong>de</strong>m religiöse Ju<strong>de</strong>n diesen Tag<br />

heiligen, helfen sie ihrer Weltsicht nach Gott bei <strong>de</strong>m Streben nach einer <strong>gut</strong>en Welt. Die<br />

I<strong>de</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> Vervollkommnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt durch ein Befolgen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gebote wird in vielen Formen<br />

konservativer Gläubigkeit wi<strong><strong>de</strong>r</strong>gespiegelt. Und doch spiegelt sich in vielen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gebote,<br />

die fromme Ju<strong>de</strong>n befolgen, auch ein allgemeingültiger Aspekt wi<strong><strong>de</strong>r</strong>: So kann die Einhaltung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Kaschrut, <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Speisegesetze, auch unter ethischen Gesichtspunkten gesehen<br />

wer<strong>de</strong>n. Diese Gesetze bestimmen, wie <strong>und</strong> was gegessen wer<strong>de</strong>n darf. Zu<strong>de</strong>m soll<br />

Respekt vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur verinnerlicht wer<strong>de</strong>n. Einzelne Elemente aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Kaschrut können<br />

aber auch ohne Anbindung an das gläubige Ju<strong>de</strong>ntum ein Stück Tikkun Olam <strong>sei</strong>n, <strong>de</strong>nn in<br />

ihr enthalten sind auch die For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nach artgerechter Tierhaltung <strong>und</strong> einer möglichst<br />

geringen Belastung <strong><strong>de</strong>r</strong> Umwelt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Landwirtschaft.<br />

Es gibt viele konservative jüdische Gemein<strong>de</strong>n im europäischen Ausland o<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>n<br />

USA, in <strong>de</strong>nen so genannte »Tikkun Olam-Komitees« fester Bestandteil <strong>de</strong>s Gemein<strong>de</strong>lebens<br />

sind. Bereits in <strong><strong>de</strong>r</strong> konservativen Rabbinerausbildung wird großer Wert darauf gelegt,<br />

dass Rabbinatsstu<strong>de</strong>nten sich sozial engagieren, etwa im Einsatz in gemeinnützigen<br />

Einrichtungen. Dabei be<strong>de</strong>utet diese Anteilnahme an <strong><strong>de</strong>r</strong> Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt nicht nur<br />

die Diskussion um Lehre <strong>und</strong> Gebote, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ganz konkret auch, dass sich die Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong> einfach mal nachmittags treffen, um ihre Kleinstadt von Müll zu befreien<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> um ein Altersheim zu besuchen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n alten <strong>Mensch</strong>en einen Nachmittag zu widmen.<br />

Gute Taten <strong>und</strong> die religiös gebotene Zedaka, die jüdische Wohltätigkeit, aber auch ein<br />

fre<strong>und</strong>liches Wort, einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>Mensch</strong>en in Not helfen, jeman<strong>de</strong>n etwas lehren, sind<br />

im Eigenverständnis <strong>de</strong>s religiösen Ju<strong>de</strong>ntums wichtige Schritte, um die Welt zu einem besseren<br />

Ort zu machen. Es geht nicht nur um große Dinge, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n um <strong>de</strong>n Anfang im Kleinen,<br />

im eigenen Einflussbereich.<br />

43


Religiöse Ju<strong>de</strong>n sagen: »Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Richter, <strong><strong>de</strong>r</strong> ein gerechtes Urteil fällt, ist ein Partner<br />

Gottes in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schöpfung.« Und dies ist eigentlich schon sehr weltlich <strong>und</strong> nicht allein auf<br />

eine religiöse Weltsicht fokussiert. An solchen Stellen wird <strong>de</strong>utlich, dass das Konzept<br />

Tikkun Olam in die säkulare Welt hineinragt <strong>und</strong> ihm eine allgemein gültige Be<strong>de</strong>utung<br />

innewohnt. Tikkun Olam kann, konsequent angewandt, je<strong>de</strong>n Bereich unseres Lebens<br />

durchdringen.<br />

Ehrlich zu <strong>de</strong>inen Mitmenschen zu <strong>sei</strong>n – du darfst nicht betrügen, du darfst nicht stehlen,<br />

du darfst nicht lügen – auch das ist Tikkun Olam. An<strong><strong>de</strong>r</strong>enfalls geht es schief mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Welt, sie wird verrückt; die <strong>Mensch</strong>en nutzen an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en aus, versuchen besser zu<br />

<strong>sei</strong>n als alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en, es ist eine Welt <strong>de</strong>s brutalen, ungebremsten Wettbewerbs. Das aber ist<br />

das Gegenteil von Tikun Olam, diese egoistische <strong>und</strong> <strong>de</strong>struktive Haltung zerstört die Welt.<br />

»Er hat die Welt nicht für das Tohu (Chaos) geschaffen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n dafür, dass wir sie bevölkern.«<br />

(Isaja 45:18)<br />

Tikkun Olam ist also ursprünglich ein religiöses Konzept. Weshalb aber fin<strong>de</strong>n weniger<br />

fromme o<strong><strong>de</strong>r</strong> gar säkulare Ju<strong>de</strong>n in diesem Konzept eine Handlungsanleitung für ihr Leben<br />

– wenn sie vielleicht die Kaschrut nicht einhalten <strong>und</strong> auch das Gebet Aleinu nicht<br />

drei Mal am Tag beten? Wenn sie am Schabbat Auto fahren <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Fernseher anschalten?<br />

Wenn sie als Ju<strong>de</strong>n vielleicht nie o<strong><strong>de</strong>r</strong> nur selten in die Synagoge gehen?<br />

Dies hängt einer<strong>sei</strong>ts damit zusammen, dass auch säkulare Ju<strong>de</strong>n sich als Ju<strong>de</strong>n begreifen,<br />

da das Ju<strong>de</strong>ntum weit mehr ist als die Religion. Und zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en sind die wichtigen<br />

Wurzeln <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums auch säkularen Ju<strong>de</strong>n bekannt, so dass bestimmte Konzepte <strong>und</strong><br />

Gedanken auch ohne Ausübung <strong><strong>de</strong>r</strong> Religion Eingang fin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Alltag.<br />

Es sind humanistische I<strong>de</strong>ale, die sich im Tikkun Olam fin<strong>de</strong>n. Das macht die I<strong>de</strong>e<br />

auch für weniger religiöse o<strong><strong>de</strong>r</strong> weltliche Ju<strong>de</strong>n interessant. Denn auch nicht-religiöse Ju<strong>de</strong>n<br />

wachsen zumeist mit <strong>de</strong>n Geschichten <strong><strong>de</strong>r</strong> Thora auf. Sie ist fester Bestandteil <strong>de</strong>s jüdischen<br />

Narratives, unabän<strong><strong>de</strong>r</strong>lich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Kultur verb<strong>und</strong>en. Dänische Kin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

lauschen <strong>de</strong>n Märchen Hans Christian An<strong><strong>de</strong>r</strong>sens <strong>und</strong> begegnen so <strong>de</strong>m »Hässlichen Entlein«<br />

<strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> »Kleinen Seejungfrau«. Deutsche Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> hören die Geschichten über »Rotkäppchen«<br />

<strong>und</strong> »Schneewittchen«, jüdische Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> lauschen – neben all <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Märchen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Abenteuern von Harry Potter, auch <strong>de</strong>n Abenteuern von Abraham, Moses<br />

<strong>und</strong> Ruth. Jüdische Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> lesen über <strong>de</strong>n Schöpfungsmythos <strong>und</strong> lernen, dass nicht nur<br />

ein Satz, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n gleich die ganze Welt unvollkommen ist. Da fragen Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> doch nach –<br />

<strong>und</strong> schon muss man ihnen erklären, dass die Welt von je<strong>de</strong>m einzelnen abhängt, wir alle<br />

für ihre Verbesserung zuständig sind.<br />

Tikkun Olam be<strong>de</strong>utet für viele säkulare o<strong><strong>de</strong>r</strong> reformorientierte, progressive <strong>und</strong> liberale<br />

Ju<strong>de</strong>n, wie sie z.B. in <strong><strong>de</strong>r</strong> »Union progressiver Ju<strong>de</strong>n« o<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> »Society of Humanistic<br />

Judaism« zusammengeschlossen sind, als Ju<strong>de</strong> <strong>und</strong> <strong>Mensch</strong> über <strong>de</strong>n jüdischen Kreis<br />

hinaus soziale, politische <strong>und</strong> gesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen <strong>und</strong> sich zu engagieren.<br />

Die Tradition <strong>de</strong>s Tikkun Olam wird aus <strong><strong>de</strong>r</strong> religiösen in die humanistische Sphäre<br />

herübergezogen.<br />

Wenn Sie an das Vermächtnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Holocaust-Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nken, aus <strong>de</strong>m ich eingangs<br />

zitiert habe – genau sie for<strong><strong>de</strong>r</strong>n ja von <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachwelt ein Tikkun Olam, <strong>und</strong> zwar auf<br />

Gr<strong>und</strong> ihrer eigenen Erfahrungen. Ich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>hole zwei <strong><strong>de</strong>r</strong> Sätze aus <strong>de</strong>m Text:<br />

»Wir übergeben euch auch die gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> Lehre <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums, dass Erinnerung<br />

begleitet <strong>sei</strong>n muss von tätiger ethischer <strong>und</strong> moralischer Intention. Dies muss F<strong>und</strong>ament<br />

<strong>und</strong> Fokus eurer Energien <strong>sei</strong>n, um eine bessere Welt zu schaffen.«<br />

Die Erfahrung <strong>de</strong>s Holocaust <strong>und</strong> damit die Auslöschung von sechs Millionen Ju<strong>de</strong>n<br />

be<strong>de</strong>utete nicht nur <strong>de</strong>n Verlust eines Drittels <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Weltbevölkerung, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

auch die Konfrontation mit <strong>de</strong>m absolut Bösen, mit <strong>de</strong>m Gegenteil <strong>de</strong>ssen, was die Zehn<br />

Gebote <strong>und</strong> Tikkun Olam be<strong>de</strong>uten. Doch das absolut Böse möchte ich hier nicht verstan-<br />

44


<strong>de</strong>n wissen als ein irgendwie in die Welt gekommenes Böses. Nein – <strong><strong>de</strong>r</strong> Holocaust war von<br />

<strong>Mensch</strong>en geplant, organisiert <strong>und</strong> durchgeführt. <strong>Mensch</strong>en, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vernichtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n<br />

eine Aufgabe sahen <strong>und</strong> sich dieser mit viel Energie widmeten. Dieser nazistische Vernichtungsantisemitismus<br />

wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m großen Historiker Saul Friedlän<strong><strong>de</strong>r</strong> auch als »Erlösungsantisemitismus«<br />

bezeichnet – Nazi-Deutschland wollte mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Auslöschung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n<br />

eine neue Welt kreieren. Mit <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n sollten originär jüdische I<strong>de</strong>en, die Welt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Thora, <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> auf <strong><strong>de</strong>r</strong> abendländischen Kultur basieren<strong>de</strong> Humanismus ausgelöscht wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Welt sollte von diesen I<strong>de</strong>alen »erlöst« wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> anstelle <strong>de</strong>ssen sollte die rassistische,<br />

antisemitische, diktatorische I<strong>de</strong>ologie treten <strong>und</strong> in einem »1000-jährigen<br />

Reich« verwirklicht wer<strong>de</strong>n.<br />

Die gänzliche Auslöschung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n <strong>und</strong> auch <strong>de</strong>s Humanismus gelang nicht. Bereits<br />

während <strong>de</strong>s Holocaust war dies nicht möglich – Nichtju<strong>de</strong>n, die Ju<strong>de</strong>n retteten, retteten<br />

mit ihnen die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en als existenzwürdigem Wesen. Liebe, Fre<strong>und</strong>schaft, Mitleid<br />

<strong>und</strong> Solidarität überlebten als Prinzipien in Ghettos <strong>und</strong> Lagern <strong>und</strong> erhielten eine<br />

neue Be<strong>de</strong>utung gera<strong>de</strong> inmitten dieser Metropolen <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s. An einem Ort wie <strong>de</strong>m<br />

Warschauer Getto, an <strong>de</strong>m es scheinbar leicht fiel, auf menschliche <strong>und</strong> elementare ethische<br />

Werte zu verzichten, wahrten Ju<strong>de</strong>n ihr menschliches Antlitz <strong>und</strong> verliehen Begriffen<br />

wie »Familie«, »Fre<strong>und</strong>schaft« o<strong><strong>de</strong>r</strong> »Solidarität« neue Be<strong>de</strong>utung. Sie klammerten sich an<br />

je<strong>de</strong>n Funken Kultur, sie organisierten Schulen, die bei To<strong>de</strong>sstrafe verboten waren <strong>und</strong><br />

grün<strong>de</strong>ten Netzwerke, um an<strong><strong>de</strong>r</strong>e vor Hunger <strong>und</strong> Krankheit zu retten.<br />

Zugleich war das Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>s Holocaust ein fortwähren<strong>de</strong>s Dilemma:<br />

Auswan<strong><strong>de</strong>r</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> Bleiben? Aus <strong>de</strong>m Ghetto fliehen o<strong><strong>de</strong>r</strong> bei <strong>de</strong>n Eltern bleiben? Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand<br />

leisten o<strong><strong>de</strong>r</strong> das Leben, solange es ging, leben? Das Kind zu Nichtju<strong>de</strong>n geben<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> bei sich behalten? Ich <strong>de</strong>nke, uns allen ist es nicht möglich, über diese Entscheidungen<br />

retrospektiv zu urteilen! Wir können aber eines sehen <strong>und</strong> lernen: es gab Entscheidungen,<br />

die gefällt wur<strong>de</strong>n <strong>und</strong> damit blieb man <strong>Mensch</strong>.<br />

Diese Handlungen stan<strong>de</strong>n im Gegensatz zum Täter, <strong><strong>de</strong>r</strong> alles auf Gesetze <strong>und</strong> Befehle<br />

schob. Der, ebenso wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschauer, noch nach <strong>de</strong>m Holocaust <strong>sei</strong>n Tun o<strong><strong>de</strong>r</strong> Nicht-Tun<br />

damit rechtfertigte, dass er <strong>und</strong> die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s hätten han<strong>de</strong>ln können.<br />

Ju<strong>de</strong>n aber übernahmen noch inmitten dieser Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> »choiceless choices« Verantwortung<br />

<strong>und</strong> wählten, entschie<strong>de</strong>n sich – <strong>und</strong> solange man dies tut, bleibt man <strong>Mensch</strong>.<br />

Während die Gesellschaften in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mehrheit moralisch versagten, gelang <strong><strong>de</strong>r</strong> moralische<br />

Durchbruch auf individueller Ebene. Es waren die in Israel als »Gerechte unter <strong>de</strong>n<br />

Völkern« ausgezeichneten Ju<strong>de</strong>nretter, die in dieser dunkelsten Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Geschichte<br />

Tikkun Olam betrieben. Inmitten einer Zeit, in <strong><strong>de</strong>r</strong> die Welt mehr <strong>und</strong> mehr zerbrach,<br />

sorgten sie für Licht.<br />

Dieser Akt <strong><strong>de</strong>r</strong> Rettung unterschei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Retter in f<strong>und</strong>amentaler Weise vom Täter,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> die Verantwortung auf die Zeiten, die Umstän<strong>de</strong>, die Gesetze, <strong>de</strong>n Befehlsnotstand abschiebt.<br />

Der Täter konnte Einzelne, aber auch Tausen<strong>de</strong> Ju<strong>de</strong>n auslöschen. Die Verantwortung<br />

für diese Taten übernahm er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Regel nicht.<br />

Der Retter sah in <strong>sei</strong>nem Hilfe suchen<strong>de</strong>n Gegenüber einen <strong>Mensch</strong>en, nicht »<strong>de</strong>n« Ju<strong>de</strong>n,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> zum Untermenschen <strong>de</strong>gradiert wor<strong>de</strong>n war. Der Retter riskierte <strong>sei</strong>n Leben für<br />

die Rettung eines o<strong><strong>de</strong>r</strong> mehrerer Ju<strong>de</strong>n <strong>und</strong> übernahm die volle moralische Verantwortung<br />

für <strong>sei</strong>ne Taten. Dies war ein Gegenentwurf zu <strong>de</strong>m Täter o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m Zuschauer, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschauer<br />

blieb.<br />

Die ungarisch-jüdische Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>standskämpferin Hannah Szenes sagte über diese Retter<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> dunkelsten Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen Geschichte: »Es gibt Sterne, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Strahlen auf Er<strong>de</strong>n<br />

noch sichtbar sind, obgleich sie längst verloschen. Es gibt <strong>Mensch</strong>en, die die Welt mit<br />

ihrem Glanz erhellen, obgleich sie nicht mehr unter <strong>de</strong>n Leben<strong>de</strong>n weilen. Diese Lichter<br />

sind am hellsten, wenn die Nacht am finstersten. Sie leuchten <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>heit <strong>de</strong>n Weg«.<br />

45


Diese <strong>Mensch</strong>en, die uns <strong>de</strong>n Weg leuchten, sind Zeichen eines Tikkun Olam.<br />

Doch wie sah die Welt unmittelbar nach <strong>de</strong>m Holocaust für Ju<strong>de</strong>n aus? War <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke<br />

an Tikkun Olam nicht – trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Retter – in <strong>de</strong>n Krematorien zu Asche verbrannt?<br />

War nicht alles, was an eine Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt glauben ließ, zerstört? Durch die Erlebnisse<br />

während <strong>de</strong>s Holocaust hätten Ju<strong>de</strong>n durchaus Verbitterung <strong>und</strong> Resignation zeigen<br />

können. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille für ein »Leben aufs Neu«, wie es im Jiddischen heißt, war<br />

enorm. Die Shearit Hapleita, <strong><strong>de</strong>r</strong> Rest <strong><strong>de</strong>r</strong> Geretteten, wie sich die Ju<strong>de</strong>n selbst nannten,<br />

wählte <strong>de</strong>n Weg zurück ins Leben, auch wenn Trauer <strong>und</strong> Verlust die <strong>Mensch</strong>en langfristig<br />

prägte. Die meisten Überleben<strong>de</strong>n widmeten sich nach einer Phase <strong><strong>de</strong>r</strong> Trauer, <strong>de</strong>s Entsetzens<br />

<strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Hoffnungslosigkeit <strong>de</strong>m Neuanfang. Natürlich zweifelten zunächst viele, ob<br />

das Leben nach Auschwitz noch einen Sinn hat. Und es gab Selbsttötungen. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille<br />

zum Leben war insgesamt stärker als Resignation.<br />

Dies zeigte sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gründung von Familien <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> höchsten Geburtenrate nach<br />

<strong>de</strong>m Krieg – gemessen an <strong><strong>de</strong>r</strong> Zahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Überleben<strong>de</strong>n, aber auch im gesellschaftlichen Engagement<br />

<strong>und</strong> im Aufbau <strong>de</strong>s Staates Israel.<br />

Das menschlich verständliche Sinnen auf Rache, nur von wenigen in wirkliche Aktionen<br />

umgesetzt, floss ein in <strong>de</strong>n Aufbau neuen jüdischen Lebens, in einen Neuanfang. Der<br />

Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Rache bekam somit eine ganz neue Be<strong>de</strong>utung, er wur<strong>de</strong> zu einem Sich-gegen<strong>de</strong>n-Tod-Stemmen,<br />

er wur<strong>de</strong> in Leben <strong>und</strong> Aufbau kanalisiert. Dieser Weg war erneut Ergebnis<br />

einer individuellen, <strong>und</strong> doch überwältigend kollektiven Wahl <strong><strong>de</strong>r</strong> Überleben<strong>de</strong>n.<br />

Diese lebensbejahen<strong>de</strong> Art <strong>und</strong> Weise war ein Stück »Tikkun Olam«.<br />

An dieser Stelle ist zu unterstreichen <strong>und</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> umfassen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung herauszuheben,<br />

dass, gleich in welcher Ausrichtung Tikkun Olam gelebt wird, Ju<strong>de</strong>n, die dieses Konzept<br />

verinnerlicht haben, sich nicht auf Gottes Vorgaben <strong>und</strong> nicht auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en<br />

verlassen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt.<br />

Religiöse <strong>und</strong> traditionelle Ju<strong>de</strong>n sagen: <strong>Mensch</strong>en haben <strong>de</strong>n Zustand <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt zu verantworten,<br />

nicht Gott. Also müssen auch wir <strong>Mensch</strong>en unseren Teil dazu beitragen, dass<br />

die Welt zumin<strong>de</strong>st hier <strong>und</strong> da repariert o<strong><strong>de</strong>r</strong>, aber das erscheint sehr fern, gänzlich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>hergestellt<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Religiöse Ju<strong>de</strong>n verfolgen dies durch die Befolgung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gebote,<br />

die Ausübung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nächstenliebe <strong>und</strong> Hilfe für Bedürftige.<br />

Säkulare Ju<strong>de</strong>n sagen: Nicht Gott o<strong><strong>de</strong>r</strong> einer Regierung mache ich für <strong>de</strong>n Zustand <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Welt verantwortlich, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die <strong>Mensch</strong>en. <strong>Mensch</strong>en sind nicht machtlos, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

kann mit Tikkun Olam zu einer besseren Welt beitragen.<br />

In <strong>de</strong>n 1950ern wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n USA »Tikkun Olam« zu einem säkularisierten Credo liberaler<br />

jüdischer Gruppen <strong>und</strong> wur<strong>de</strong> verstan<strong>de</strong>n als die Quintessenz jüdischer Werte <strong>und</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en universalem humanistischen Kern. Immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong> darauf verwiesen, dass Ju<strong>de</strong>n<br />

nach <strong>de</strong>m Holocaust gera<strong>de</strong>zu verpflichtet <strong>sei</strong>en, im Sinne <strong>de</strong>s Tikkun Olam tätig zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Tikkun Olam ist Teil eines humanistischen Konzepts. Ju<strong>de</strong>n als Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>heit<br />

sind also gefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t, im Sinne von Tikkun Olam tätig zu wer<strong>de</strong>n, innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> jüdischen<br />

Gemeinschaft <strong>und</strong> auch außerhalb, gesamtgesellschaftlich <strong>und</strong> politisch. Dies kann auch<br />

über Organisationen geschehen, hier einige Beispiele:<br />

Das »American Jewish Joint Distibution Committee«, 1914 in <strong>de</strong>n USA gegrün<strong>de</strong>t,<br />

fungiert als Hilfsorganisation für Ju<strong>de</strong>n weltweit. Vor allem in Zeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Bedrohung <strong>und</strong><br />

nach Pogromen z.B. in Russland o<strong><strong>de</strong>r</strong> während <strong>und</strong> nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Shoah war <strong><strong>de</strong>r</strong> JOINT, wie<br />

die Organisation kurz genannt wird, wichtig, um Flüchtlingen zu helfen. Solange es möglich<br />

war, wur<strong>de</strong>n auch Verbindungen in die Ghettos während <strong>de</strong>s Zweiten Weltkriegs aufrechterhalten.<br />

Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Shoah wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um wur<strong>de</strong>n die Überleben<strong>de</strong>n mit all <strong>de</strong>m versorgt,<br />

was es für einen Neuanfang brauchte. Der JOINT ist <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>e verpflichtet, dass alle Ju<strong>de</strong>n<br />

füreinan<strong><strong>de</strong>r</strong> verantwortlich sind <strong>und</strong> einan<strong><strong>de</strong>r</strong> helfen sollen.<br />

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Die »United Jewish Communities«, die 156 jüdische Körperschaften <strong>und</strong> mehr als 44<br />

unabhängige Gemein<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n USA vereinen, sammeln jährlich Gel<strong><strong>de</strong>r</strong>, um humanitäre<br />

Hilfe an jene jüdischen Gemein<strong>de</strong>n zu geben, die bedürftig sind. Auch israelische Städte<br />

<strong>und</strong> Gemein<strong>de</strong>n profitieren davon, z.B. wer<strong>de</strong>n die Gel<strong><strong>de</strong>r</strong> für die Integration <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen<br />

Zuwan<strong><strong>de</strong>r</strong>er o<strong><strong>de</strong>r</strong> zur Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Wohnsituation in <strong>de</strong>n armen Wohnvierteln verwen<strong>de</strong>t.<br />

Auch wer<strong>de</strong>n Terroropfer <strong>und</strong> Leute aus <strong>de</strong>n Grenzregionen, die z.B. aus Gaza<br />

mit Raketen beschossen wer<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, die 2006 im Libanon-Krieg traumatisiert<br />

wur<strong>de</strong>n, mit Therapien <strong>und</strong> Programmen geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Auch Holocaust-Überleben<strong>de</strong>, von<br />

<strong>de</strong>nen viele in armen Verhältnissen leben, erhalten Zuwendungen.<br />

Der 1985 gegrün<strong>de</strong>te »American Jewish World Service« hat sich zum einen die Aufgabe<br />

gestellt, bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Bekämpfung von Armut, Hunger <strong>und</strong> Krankheiten zu helfen. Hierbei wird<br />

universal gedacht <strong>und</strong> die Hilfe wird unabhängig von Nationalität, Religion <strong>und</strong> Hautfarbe<br />

geleistet. Einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Grün<strong><strong>de</strong>r</strong> war <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>n USA leben<strong>de</strong> Elie Wiesel, Holocaust-Überleben<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Er wur<strong>de</strong> 1986 mit <strong>de</strong>m Frie<strong>de</strong>nsnobelpreis ausgezeichnet. Der World Service<br />

fungiert quasi als jüdisches Frie<strong>de</strong>nskorps. Er hat <strong>de</strong>zidiert die Aufgabe, <strong>de</strong>m Konzept <strong>de</strong>s<br />

Tikkun Olam Leben einzuhauchen <strong>und</strong> unterstützt amerikanische Ju<strong>de</strong>n in ihren<br />

Bemühungen, sich für Gleichberechtigung, menschenwürdige Lebensumstän<strong>de</strong> <strong>und</strong> ökonomische<br />

Unabhängigkeit für <strong>Mensch</strong>en weltweit einzusetzen.<br />

Was aber be<strong>de</strong>utet dieses Engagement, außer <strong><strong>de</strong>r</strong> Realisierung <strong>de</strong>s Tikkun Olam, für<br />

Ju<strong>de</strong>n? Das nach <strong>de</strong>m Holocaust geprägte Motto »Nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong>!«, das oftmals im Vagen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> im Theoretischen bleibt, wird mit Leben gefüllt. Auch hier kann man auf das jüdische<br />

Narrativ zurückgreifen, so heißt es in Exodus 23:9: »Und <strong>de</strong>n Fremdling sollst du nicht<br />

bedrücken; ihr selbst wisset ja, wie es <strong>de</strong>m Fremdling zu Mute ist, <strong>de</strong>nn Fremdlinge <strong>sei</strong>d ihr<br />

im Lan<strong>de</strong> Ägypten gewesen.«<br />

Ju<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n imperativ dazu aufgefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t, Empathie für Mitmenschen zu entwickeln.<br />

Die Message hinter »Nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong>« ist wie in <strong>de</strong>n Zeilen aus Exodus prinzipiell dieselbe: Das<br />

jüdische Volk hat <strong>de</strong>n Holocaust erlitten <strong>und</strong> war in dieser größten Not von <strong><strong>de</strong>r</strong> internationalen<br />

Gemeinschaft im Stich gelassen wor<strong>de</strong>n. Deshalb soll »Nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong>« in Einklang mit<br />

Tikkun Olam dazu motivieren, <strong>Mensch</strong>en in Notlagen zu helfen – <strong>und</strong> sich nicht abzuwen<strong>de</strong>n.<br />

Natürlich – Ju<strong>de</strong>n sind <strong>Mensch</strong>en, <strong>und</strong> da gibt es ebenso Gauner wie Gerechte, Rassisten<br />

wie Humanisten, Helfer <strong>und</strong> Zuschauer.<br />

Ich spreche über ein Konzept, ein Imperativ, das wir befolgen SOLLTEN. Dass es nicht<br />

alle tun, ist menschlich. Und doch – es gibt Anzeichen, dass eine nicht geringe Zahl von Ju<strong>de</strong>n<br />

diese I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Tikkun Olam gera<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>m Holocaust internalisiert hat.<br />

Dass dieses Tikkun Olam nicht unbedingt pazifistisch <strong>sei</strong>n muss, dass es militärische<br />

Au<strong>sei</strong>nan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen geben kann o<strong><strong>de</strong>r</strong> sogar geben muss, um an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en zu retten,<br />

ist Teil <strong>de</strong>s Konzepts. Denn um die Welt zu verbessern, ist es schwer, Diktatoren <strong>und</strong> Politikern,<br />

die Genozi<strong>de</strong> unterstützen, die Hand zu reichen. Hier muss man abwägen, welche<br />

Mittel nötig sind <strong>und</strong> gegebenenfalls muss auch Waffengewalt eingesetzt wer<strong>de</strong>n, wenn es<br />

um die Verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>ung o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Beendigung eines Genozids geht.<br />

Der im 12. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t u. a. in Spanien leben<strong>de</strong> <strong>und</strong> wirken<strong>de</strong> jüdische Arzt <strong>und</strong> Philosoph<br />

Maimoni<strong>de</strong>s hat in <strong>de</strong>n »Gesetzen über Mord <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>s Lebens« gechrieben:<br />

»Wenn ein <strong>Mensch</strong> einen Mitmenschen verfolgt <strong>und</strong> dies in <strong><strong>de</strong>r</strong> Absicht, ihn zu töten<br />

– selbst wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfolger ein Min<strong><strong>de</strong>r</strong>jähriger ist –, so ist je<strong><strong>de</strong>r</strong> Ju<strong>de</strong> dazu verpflichtet, zu<br />

versuchen, <strong>de</strong>n Verfolgten zu retten, selbst wenn dabei die Notwendigkeit besteht, <strong>de</strong>n<br />

Verfolger zu töten.« Maimoni<strong>de</strong>s führt weiter aus, dass es eine Pflicht <strong>sei</strong>, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e aufzufor<strong><strong>de</strong>r</strong>n,<br />

ebenfalls zur Hilfe zu eilen.<br />

Und damit sind wir angelangt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart, <strong>und</strong> ich wer<strong>de</strong> ein Beispiel für eine jüdische<br />

Initiative aufgreifen, die in <strong>de</strong>n USA begann <strong>und</strong> mittlerweile in vielen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

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Welt existiert. Lei<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong>und</strong> dies sage ich mit einer Mischung aus Enttäuschung <strong>und</strong> zugleich<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Hoffnung auf eine Än<strong><strong>de</strong>r</strong>ung dieses Zustan<strong>de</strong>s, ist das Engagement in Deutschland<br />

wie in an<strong><strong>de</strong>r</strong>en europäischen Staaten auffallend gering.<br />

Es geht um <strong>de</strong>n <strong>sei</strong>t Jahren andauern<strong>de</strong>n Genozid in Darfur. Darfur ist eine Provinz im<br />

Sudan. Im Westsudan wird <strong>sei</strong>t 2003 durch das sudanesische Regime <strong>und</strong> paramilitärische<br />

Milizien (Janjaweed), die von <strong><strong>de</strong>r</strong> Regierung unterstützt wer<strong>de</strong>n, systematisch die dort leben<strong>de</strong><br />

schwarzafrikanische Bevölkerung verfolgt, vertrieben <strong>und</strong> ermor<strong>de</strong>t. Während die<br />

sudanesische Regierung <strong>und</strong> die Janjaweed sich als arabische Muslime bezeichnen, fühlen<br />

sich die <strong>Mensch</strong>en in Darfur als Schwarzafrikaner – <strong>und</strong> sind doch auch zugleich Muslime,<br />

wie ihre Mör<strong><strong>de</strong>r</strong>. Von <strong>de</strong>n UN <strong>und</strong> in Human Rights-Gruppen wer<strong>de</strong>n die Aktionen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Janjaweed bereits <strong>sei</strong>t ca. 2005 <strong>de</strong>zidiert als Genozid, also als Völkermord, bezeichnet.<br />

Das Vorgehen gegen die Schwarzafrikaner folgt zumeist einem bestimmten Muster: zuerst<br />

bombardiert die sudanesische Luftwaffe die Dörfer, danach fallen die Janjaweed-Milizen<br />

ein <strong>und</strong> foltern, vergewaltigen o<strong><strong>de</strong>r</strong> töten die Dorfbewohner. <strong>Mensch</strong>en wer<strong>de</strong>n entführt,<br />

viele verschwin<strong>de</strong>n für immer. Die schwarzafrikanische Bevölkerung wird systematisch<br />

in die Flucht getrieben; die Flüchtlinge fin<strong>de</strong>n sich in Lagern z.B. im benachbarten<br />

Tschad wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Müssen <strong>Mensch</strong>en das Lager verlassen, um Holz zu sammeln o<strong><strong>de</strong>r</strong> Wasser<br />

zu holen, wer<strong>de</strong>n sie von <strong>de</strong>n Milizen oft überfallen, teils getötet o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Frauen vergewaltigt.<br />

Die sudanesische Regierung behin<strong><strong>de</strong>r</strong>t die Leistung humanitärer Hilfe, verweigert sie<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> bombardiert die Hilfskonvois. Stichproben zufolge ist die Hälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> schwarzafrikanischen<br />

Dörfer in Darfur inzwischen zerstört. Die Massenflucht betraf im Sommer 2007<br />

etwa 2,5 Millionen <strong>Mensch</strong>en, die Toten wur<strong>de</strong>n zu diesem Zeitpunkt auf 250.000 geschätzt.<br />

Ein achtjähriges Mädchen hat einer Helferin in einem Camp im Tschad berichtet: »Wir<br />

rannten aus <strong>de</strong>n brennen<strong>de</strong>n Häusern heraus. Janjaweed <strong>und</strong> Soldaten kamen mit Waffen<br />

<strong>und</strong> Flugzeugen <strong>und</strong> Bomben, alles auf einmal, <strong>und</strong> sehr schnell. Es gab Schießereien …<br />

mein Onkel wur<strong>de</strong> erschossen. Ich sah, wie sie einige Mädchen <strong>und</strong> Frauen mitnahmen.<br />

Wir alle – meine ganze Familie – schrieen <strong>und</strong> rannten vor <strong>de</strong>n Janjaweed weg, um uns in<br />

einem Flussbett zu verstecken. Wir hielten uns alle aneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> fest, um uns nicht zu verlieren.<br />

Hier im Lager sind wir sicher, aber mein Vater ist doch verloren gegangen.«<br />

Rafael Lemkin, polnisch-jüdischer Emigrant, <strong>de</strong>finierte Völkermor<strong>de</strong> angesichts <strong>de</strong>s<br />

Mor<strong>de</strong>s an <strong>de</strong>n Armeniern 1915/16 <strong>und</strong> angesichts <strong>de</strong>s Holocaust bereits 1943 als Genozid.<br />

1948 wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff <strong>de</strong>s Genozids in die Charta <strong><strong>de</strong>r</strong> Vereinten Nationen aufgenommen.<br />

Zitat Artikel II: »In dieser Konvention be<strong>de</strong>utet Völkermord eine <strong><strong>de</strong>r</strong> folgen<strong>de</strong>n<br />

Handlungen, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische o<strong><strong>de</strong>r</strong> religiöse<br />

Gruppe als solche ganz teilweise zu zerstören:<br />

(a) Tötung von Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe;<br />

(b) Verursachung von schwerem körperlichem o<strong><strong>de</strong>r</strong> seelischem Scha<strong>de</strong>n an Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe;<br />

(c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet<br />

sind, ihre körperliche Zerstörung ganz o<strong><strong>de</strong>r</strong> teilweise herbeizuführen; … Artikel<br />

III: Die folgen<strong>de</strong>n Handlungen sind zu bestrafen:<br />

48<br />

(a) Völkermord,<br />

(b) Verschwörung zur Begehung von Völkermord,<br />

(c) unmittelbare <strong>und</strong> öffentliche Anreizung zur Begehung von Völkermord,<br />

(d) Versuch, Völkermord zu begehen,


(e) Teilnahme am Völkermord.«<br />

Lemkin hoffte, dass eine internationale Übereinkunft je<strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Völkermord<br />

verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n sollte. Was aber hat die internationale Gemeinschaft unternommen, um <strong>sei</strong>t<br />

1945 weitere Genozi<strong>de</strong> zu verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n? Was geschah, als in Kambodscha in <strong>de</strong>n 1970ern<br />

durch die kommunistischen Roten Khmer fast ein Drittel <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewohner <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s getötet<br />

wur<strong>de</strong>n? Was, als 1994 in Ruanda in etwas mehr als 30 Tagen knapp eine Million Tutsi<br />

abgeschlachtet wur<strong>de</strong>n? Was tat die UN gegen die so genannten »ethnischen Säuberungen«<br />

in Bosnien? Was tut sie heute gegen <strong>de</strong>n Genozid im Sudan? Nichts? Wenig?<br />

Die UN hat nicht ein einziges Mal die zitierten Artikel anwen<strong>de</strong>n können, um einen<br />

Genozid zu verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Denn sobald auch nur ansatzweise eine Einigung auf die Anwendung<br />

<strong>de</strong>s Völkerrechts zum Genozid am Horizont sichtbar wur<strong>de</strong>, haben <strong><strong>de</strong>r</strong> Sicherheitsrat<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es UN-Gremium Veto eingelegt.<br />

So auch hinsichtlich <strong>de</strong>s Sudan, <strong>de</strong>ssen Regierung enge wirtschaftliche Beziehungen zu<br />

Russland <strong>und</strong> China unterhält. China braucht die Ölreserven im Sudan <strong>und</strong> liefert dafür<br />

u. a. Waffen – mit <strong>de</strong>nen die Janjaweed wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um <strong>de</strong>n Genozid betreiben.<br />

Aber dies be<strong>de</strong>utet nicht, dass wir, die nicht unbeteiligt daneben stehen wollen, keine<br />

Macht haben o<strong><strong>de</strong>r</strong> keinen Druck ausüben können.<br />

Bereits wenige Monate nach Eskalation <strong>de</strong>s Darfur-Konflikts unternahm das United<br />

States Holocaust Memorial Museum in Washington 2004 die ersten Schritte, um die Öffentlichkeit<br />

für das Geschehen in Darfur zu sensibilisieren. Das Museum schickte einen<br />

»Genoci<strong>de</strong> Alert« heraus, einen Warnruf. Die Weltgemeinschaft reagierte nicht.<br />

Warum aber engagierte sich gera<strong>de</strong> das Holocaust-Museum in Washington? In <strong>sei</strong>nem<br />

Beirat fin<strong>de</strong>t sich auch <strong><strong>de</strong>r</strong> bereits erwähnte Elie Wiesel. Wiesel hat zur Situation in Darfur<br />

gesagt: »Wie kann ein Bürger eines freien Lan<strong>de</strong>s nicht darauf aufmerksam wer<strong>de</strong>n? Wie<br />

kann irgendwer irgendwo nicht aufgebracht <strong>sei</strong>n? Wie kann ein <strong>Mensch</strong>, gleich ob religiös<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> säkular, nicht vor Mitleid beben? Und vor allem – wie kann auch nur ein <strong>Mensch</strong><br />

schweigend zusehen?«<br />

Noch 2004, kurz nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Aktion <strong>de</strong>s Washingtoner Museums, haben sich in <strong>de</strong>n USA<br />

als erste weltweite Gruppe Ju<strong>de</strong>n zusammengeschlossen, um die Öffentlichkeit auf Darfur<br />

aufmerksam zu machen. Der »American Jewish World Service« berief ein Treffen ein, an<br />

<strong>de</strong>m auch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e jüdische Organisationen <strong>und</strong> religiöse Gemeinschaften teilnahmen. Dem<br />

folgte die Gründung einer überparteilichen »Save-Darfur-Coalition«. Obgleich die Initiatoren<br />

alle Ju<strong>de</strong>n waren, sollte das Komitee ausdrücklich nicht an die jüdische Gemeinschaft<br />

geb<strong>und</strong>en <strong>sei</strong>n. Dann wur<strong>de</strong>n erste Aktivitäten realisiert, u. a. in Zusammenarbeit<br />

mit <strong>de</strong>m Washingtoner Museum abends eine digitale Ausstellung an das Museum projiziert<br />

– etwas, was das Jüdische Museum Berlin dieses Frühjahr übernommen hatte. Mittlerweile<br />

sieht es jedoch aus, als ob auch Frankfurt am Main aktiv wird. Ansonsten regt sich in<br />

Deutschland übrigens wenig in Sachen Darfur.<br />

David Rubenstein, Koordinator <strong><strong>de</strong>r</strong> Darfur-Initiative in <strong>de</strong>n USA, betont stets, dass es<br />

keine jüdische Organisation ist, doch außer einigen christlichen Gruppen hat sich keine<br />

weitere Organisation o<strong><strong>de</strong>r</strong> Vereinigung angeschlossen – we<strong><strong>de</strong>r</strong> afro-amerikanische<br />

Gruppen noch pro-afrikanische Lobbyisten. Auch keine muslimischen Organisationen. Es<br />

scheint, als ob die jüdische Basis an<strong><strong>de</strong>r</strong>e von einer Teilnahme abhält. Dies passt dazu, dass<br />

auch die arabische Welt <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>en Vertreter, v. a. die Arabische Liga, bislang nichts unternommen<br />

hat, um mäßigend auf die sudanesische Regierung einzuwirken.<br />

Die jüdischen Initiativen aber haben 500.000 USD gesammelt, um <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en in<br />

Darfur Hilfe zukommen zu lassen. Ruth Messinger bereiste das Krisengebiet mehrmals<br />

persönlich.<br />

49


Der sudanesische Verteidigungsminister Ab<strong>de</strong>l Rahim Mohammed Hus<strong>sei</strong>n aber hat in<br />

einer saudi-arabischen Zeitung Anfang August 24 jüdische Organisationen weltweit beschuldigt,<br />

<strong>de</strong>n Konflikt in Darfur aus eigenem Interesse anzuheizen. Ju<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, so <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Politiker wörtlich, »<strong>de</strong>n Holocaust benutzen, um eine Kampagne gegen <strong>de</strong>n Sudan zu lancieren.«<br />

Der Minister weiter: »Jüdische Gruppen nutzen ihren Einfluss <strong>und</strong> ihre Kontrolle<br />

über die amerikanischen <strong>und</strong> britischen Medien, um falsche Angaben zu platzieren <strong>und</strong><br />

die Welt gegen <strong>de</strong>n Sudan aufzubringen.« Der Innenminister <strong>de</strong>s Sudans beschuldigte zeitgleich<br />

die israelische Regierung, sudanesische Flüchtlinge gezielt zu einer Einreise nach Israel<br />

aufzufor<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Was wir hier sehen, sind antisemitische Klischees, gepaart mit <strong>de</strong>m Versuch,<br />

die Darfur-Komitees pauschal zu diskreditieren.<br />

Nach jahrelangem diplomatischem Armdrücken beschloss <strong><strong>de</strong>r</strong> UN-Sicherheitsrat in<br />

New York Anfang August 2007 einstimmig die Schaffung einer UN-Frie<strong>de</strong>nsmission, die<br />

zum Jahresen<strong>de</strong> 2007 stationiert wer<strong>de</strong>n sollte.<br />

Die 26.000 Soldaten aus afrikanischen Staaten sollen die Lage in <strong><strong>de</strong>r</strong> Krisenregion<br />

Darfur stabilisieren <strong>und</strong> die Versorgung <strong><strong>de</strong>r</strong> Vertriebenen gewährleisten. Erst <strong><strong>de</strong>r</strong> vierte<br />

Entwurf für eine Resolution zur Schaffung einer »Blauhelm«-Mission für Darfur fand die<br />

Zustimmung Chinas, das im Sicherheitsrat als eine Art Schutzmacht <strong>de</strong>s Regimes in Khartum<br />

auftritt.<br />

Die zukünftigen UNAMID-Soldaten haben jedoch kein Mandat, die Janjaweed zu entwaffnen,<br />

mutmaßliche Kriegsverbrecher zu verfolgen o<strong><strong>de</strong>r</strong> festzunehmen, um sie <strong>de</strong>m Internationalen<br />

Strafgerichtshof im Haag zu überstellen, <strong><strong>de</strong>r</strong> wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Verbrechen in Darfur<br />

schon länger ermittelt. Bedauerlicherweise ist die Schutztruppe mit Drucklegung <strong>de</strong>s<br />

Buches, Anfang 2008, noch immer nicht in Darfur stationiert.<br />

Und Israel? Dort stran<strong>de</strong>n <strong>sei</strong>t Mitte 2005 täglich Flüchtlinge an <strong><strong>de</strong>r</strong> Grenze zu Ägypten.<br />

Grenzsoldaten auf israelischer Seite haben mehrfach berichtet, wie Flüchtlinge aus<br />

<strong>de</strong>m Sudan von ägyptischen Soldaten erschossen o<strong><strong>de</strong>r</strong> mit Stöcken erschlagen wer<strong>de</strong>n, sobald<br />

sie versuchen, die Grenze zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

Der Sudan gehört auf Gr<strong>und</strong> <strong>sei</strong>ner anti-israelischen Politik <strong>und</strong> <strong>sei</strong>nem radikalen Islamismus<br />

zu <strong>de</strong>n Feindstaaten <strong>de</strong>s jüdischen Staates. Deshalb ist die Diskussion um <strong>de</strong>n Status<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Flüchtlinge aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Perspektive <strong><strong>de</strong>r</strong> israelischen Politik sehr schwer. Gibt man ihnen<br />

pauschal ein Bleiberecht, be<strong>de</strong>utet das auch, dass sich Islamisten bewusst einschleusen<br />

lassen können.<br />

Doch die Politik in all ihrer Unzulänglichkeit ist nur eine Form <strong><strong>de</strong>r</strong> Reaktion. Die<br />

Flüchtlinge wer<strong>de</strong>n zwar in teils provisorischen, teils aber auch erbärmlichen Unterkünften<br />

untergebracht <strong>und</strong> versorgt, eine wirkliche Betreuung vor allem auch auf psychologischer<br />

Ebene, gibt es aber nicht.<br />

Politik han<strong>de</strong>lt rational, nach Gesetzen <strong>und</strong> pragmatischen Überlegungen, nicht nach<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Maßgabe <strong>de</strong>s Tikkun Olam. Nach politischen Maßstäben ist in Israel alles korrekt. Zumal<br />

Sudanesen, sind sie erst einmal in Israel, nicht nach Ägypten zurückgeschickt wer<strong>de</strong>n<br />

– was für die meisten <strong><strong>de</strong>r</strong> Flüchtlinge angesichts <strong>de</strong>s Hasses, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihnen dort – in einem muslimischen<br />

Staat – von Staat, Polizei <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevölkerung entgegenschlägt, sowieso ein<br />

Alptraum ist. In Israel gibt es ein Gesetz, dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> Flüchtling, <strong><strong>de</strong>r</strong> erst einmal <strong>sei</strong>nen Fuß<br />

auf israelischen Bo<strong>de</strong>n gesetzt hat, bleiben kann <strong>und</strong> Recht auf die Anhörung durch <strong>de</strong>n<br />

Vertreter <strong>de</strong>s Flüchtlingskommissars <strong><strong>de</strong>r</strong> UN hat. Erst dann wird entschie<strong>de</strong>n, was geschieht.<br />

In Israel grün<strong>de</strong>ten Bürgerrechtler ein Komitee für die Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Situation <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Darfur-Flüchtlinge gegrün<strong>de</strong>t, kurz: »CARD«. Ihr sind Organisationen <strong>und</strong> Einzelpersonen<br />

angeschlossen. Professor Yehuda Bauer, einer DER Historiker <strong>de</strong>s Holocaust <strong>und</strong> einer<br />

DER großen humanistischen Vertreter <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart, engagiert sich<br />

im Vorstand von CARD. CARD setzt sich auch für jene sudanesischen Flüchtlinge ein, die<br />

50


z.B. von Grenzschmugglern eingeschleust wur<strong>de</strong>n <strong>und</strong> inhaftiert waren. Etliche von ihnen<br />

sind wie<strong><strong>de</strong>r</strong> frei <strong>und</strong> arbeiten nun in Kibbuzim <strong>und</strong> Moshavim, genossenschaftlichen Siedlungen<br />

in Israel. Viele <strong><strong>de</strong>r</strong> Flüchtlinge möchten in Israel bleiben, o<strong><strong>de</strong>r</strong>, wie einer von ihnen<br />

es formulierte: »Einfach frei <strong>sei</strong>n, <strong>und</strong> das kann man hier.«<br />

Äthiopische Ju<strong>de</strong>n, die die afrikanische Lebenswelt besser kennen als je<strong><strong>de</strong>r</strong> Israeli aus<br />

einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Herkunftsland, engagieren sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Betreuung dieser <strong>de</strong>m sudanesischen<br />

Genozid Entronnenen. Sie sind schwarz wie sie, sie waren ebenso auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Flucht wie sie.<br />

Sie teilen die Erfahrungen, <strong>und</strong> da ist es nicht mehr wichtig, ob man Ju<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> Moslem ist.<br />

Einige Israelis haben sogar Flüchtlinge in ihre Privatwohnungen aufgenommen.<br />

Ruth Messinger, Direktorin <strong>de</strong>s »American World Jewish Service«, hofft: »Nun,<br />

während wir über <strong>de</strong>n Genozid im Sudan lernen, beginnen <strong>Mensch</strong>en vielleicht endlich zu<br />

begreifen, dass die Worte ‚Nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong>’ keine leere Hülle <strong>sei</strong>n dürfen.«<br />

Ich bitte Sie: beteiligen Sie sich an <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Tikkun Olam, tragen Sie bei zu <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt. Damit die Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Holocaust am En<strong>de</strong> ihres Lebens in<br />

<strong>de</strong>m Bewusst<strong>sei</strong>n gehen können, dass ihr Vermächtnis angenommen wor<strong>de</strong>n ist. Dass <strong>Mensch</strong>en,<br />

ob Ju<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> Nichtju<strong>de</strong>n, im Sinne <strong>de</strong>s Tikun Olam, geborgen, gerettet <strong>und</strong> unterstützt<br />

wer<strong>de</strong>n. Sollten sich die sudanesischen Überleben<strong>de</strong>n verlassen fühlen, so ist es unser<br />

aller Fehler – <strong>und</strong> auch unsere Schuld.<br />

Die Historikerin Dr. Susanne Y. Urban, geboren 1968, promovierte am Moses - Men<strong>de</strong>lsohn -<br />

Zentrum <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität Potsdam. Seit 1990 ist sie freie Mitarbeiterin <strong>de</strong>s Jüdischen Museums<br />

in Frankfurt a. M. <strong>und</strong> Dozenzin an <strong><strong>de</strong>r</strong> dortigen Jüdischen Volkshochschule. 2004/2005 war<br />

Susanne Y. Urban Fellow Researcher am Institut für Holocaust-Forschung in Yad Vashem/Jerusalem.<br />

Seit 2005 ist sie Mitarbeiterin <strong>de</strong>s German Desk <strong><strong>de</strong>r</strong> Internationalen Schule<br />

für Holocaust – Studien Yad Vashem/Jerusalem.<br />

51


Prof. Andrzej Poltawski<br />

Karol Wojtyłas (Papst Johannes Pauls II.) 1<br />

philosophische Konzeption <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Person<br />

1. Das Problem <strong>de</strong>s Anfangs (<strong><strong>de</strong>r</strong> Quelle)<br />

Der springen<strong>de</strong> Punkt einer philosophischen<br />

Betrachtung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en, aber auch <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Welt, ist die Bemühung, unseren Gegenstand<br />

möglichst voll, ohne Lücken aufzufassen. Das<br />

scheint selbstverstäntllich zu <strong>sei</strong>n. Aber die<br />

Wissenschaften arbeiten z.B. mit Abstraktionen,<br />

<strong>und</strong> viele Denker <strong><strong>de</strong>r</strong> Neuzeit haben ihre<br />

<strong>Mensch</strong>enbil<strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong>de</strong>m Standpunk einer<br />

wissenschaftlichen Abstraktion konstruiert.<br />

Wenn wir aber von einem Aspekt o<strong><strong>de</strong>r</strong> einer<br />

Seinssphäre einmal abstrahieren, kann das<br />

Abstrahierte auf Gr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s so konstruierten<br />

Bil<strong>de</strong>s schon nie erklärt <strong>und</strong> voll verstan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn es ist schon eben von diesem<br />

Bil<strong>de</strong> abgewischt wor<strong>de</strong>n.<br />

Dabei hat die neuzeitliche Philosophie <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en im allgemeinen als ein aus zwei<br />

ganz heterogenen Teilen zusammengesetztes Wesen betrachtet, nämlich aus Leib <strong>und</strong> Bewusst<strong>sei</strong>n.<br />

Es besteht also ein dringen<strong>de</strong>s Bedürfnis, die auf diese Weise zersplitterte Einheit<br />

<strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>enbil<strong>de</strong>s wie<strong><strong>de</strong>r</strong>aufzubauen, um <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en <strong>und</strong> die Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> er lebt,<br />

wirklich zu verstehen.<br />

Die For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophie von einer vollen, unentstellten Beschreibung unserer<br />

unmittelbaren Erfahrung auszugehen, haben die Phänomenologen formuliert. KaroI<br />

Wojtyła hat sich dieser For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung angeschlossen.<br />

2. Der <strong>Mensch</strong> als Person<br />

Der <strong>Mensch</strong> ist Person. Das heißt, sagt Wojtyła kurz, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> existiert <strong>und</strong> han<strong>de</strong>lt.<br />

Die Tiere existieren zwar auch <strong>und</strong> sind auf ihre eigene Weise sehr aktiv; aber es gibt<br />

doch einen wesentlichen Unterschied: Personen sind Urheber ihrer Taten in einem Sinn, in<br />

<strong>de</strong>m es Tiere nicht sind. Die Tiere bestimmen sich eigentlich nicht selbst. Wir glauben, dass<br />

sie von ihrer vererbten Natur <strong>und</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Umgebung <strong>de</strong>terminiert <strong>sei</strong>en. Von einem <strong>Mensch</strong>en<br />

sagen wir, dass er frei ist, dass er <strong>sei</strong>ne Ziele <strong>und</strong> Mittel selbst wählen kann.<br />

Die Möglichkeit einer solchen Wahl <strong>und</strong> Entscheidung setzt in <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong>en zwei<br />

eng zusammenhängen<strong>de</strong>, aber doch verschie<strong>de</strong>ne Fähigkeiten voraus: erstens die Erkenntnisfähigkeit,<br />

die <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Person eine Orientierung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt möglich macht,<br />

die ihm sozusagen Alternativen für eine Wahl vorstellt – <strong>und</strong> zweitens die Fähigkeit, sich<br />

1 Karol Wojtyla 1920~2005, Dr. 1948, Habilitation 1953 [Über die Möglichkeit, eine christliche Ethik in<br />

Anlehnung an Max Scheler zu schaffen, <strong>de</strong>utsch in: Karol Woityła, Primat <strong>de</strong>s Geistes, philosophische<br />

Schriften, 1980, Seewald Verlag] Seit 1954 Ethikvorlesung~n an <strong><strong>de</strong>r</strong> Kath. Universität Lublin, 1956-1978<br />

Leiter <strong>de</strong>s Lehrstuhls für Ethik an dieser Universität, 1958 Bischof, 1967 Kardinal, 1978 Papst Jobannes<br />

Paul II.<br />

52


selbst zu bestimmen <strong>und</strong> zu besitzen. Der letzteren verdankt <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> die Möglichkeit<br />

einer echten Wahl zwischen diesen.Alternativen.<br />

Man hat die tierische Lebensweise, das rein sinnliche Leben als eine Einheit von<br />

Empfindung <strong>und</strong> Bewegung, als ein Wer<strong>de</strong>n beschrieben. 2 Das menschliche Leben ist auch<br />

ein Wer<strong>de</strong>n. Das eigentliche menschliche Wer<strong>de</strong>n verläuft aber auf einer ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Ebene als das Wer<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Tiere, obwohl es bis zu einem gewissen Punkt <strong>de</strong>m Wer<strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />

Lebewesen parallel verläuft. Zum wirklich <strong>Mensch</strong>lichen wird es aber erst aufgr<strong>und</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> eben erwähnten Fähigkeit <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en, <strong>sei</strong>ne Taten selbst zu bestimmen, aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>sei</strong>ner Freiheit. Freiheit macht Verantwortung möglich <strong>und</strong> hängt mit <strong><strong>de</strong>r</strong> ausschließlich<br />

menschlichen Dimension <strong>de</strong>s bewussten Tuns zusammen: mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Sittlichkeit. Der <strong>Mensch</strong><br />

ist ein moralisches Wesen <strong>und</strong> <strong>sei</strong>n Wer<strong>de</strong>n, <strong>sei</strong>n Vollzug o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sich-Vollbringen (o<strong><strong>de</strong>r</strong> aber<br />

Verfall <strong>und</strong> Untergang) ist vor allem ein moralisches Wer<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein moralischer Untergang.<br />

Wojtyła macht uns also auf eine gr<strong>und</strong>sätzliche Dualität <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Dynamismen<br />

aufmerksam. Nämlich einer<strong>sei</strong>ts kann etwas in uns nur geschehen, an<strong><strong>de</strong>r</strong><strong>sei</strong>ts aber<br />

gibt es viele Sachen, die ein <strong>Mensch</strong> bewusst tut. Die erste Abart unserer Tätigkeiten bezeichnet<br />

Wojtyla als Aktivierung; die zweite – die echte menschliche Tat – ist nur <strong>de</strong>m<br />

<strong>Mensch</strong>en als einer freien Person eigen.<br />

Wenn wir z. B. plötzlich wegspringen, um von einem anfahren<strong>de</strong>n Auto nicht überfahren<br />

zu wer<strong>de</strong>n, ist diese ›instinktive‹ Aktion nicht von mir bewusst geplant <strong>und</strong> ausgeführt,<br />

es ist nur etwas, was mit mir geschieht.<br />

Man kann also sagen, dass es zwei verschie<strong>de</strong>ne menschliche Dynamismen gibt: die mit<br />

<strong>de</strong>n Tieren gemeinsame, sinnliche o<strong><strong>de</strong>r</strong> triebhafte ›instinktive‹ Prozesse <strong>und</strong> Reaktionen,<br />

die von unserem bewussten Entschluss – wenigstens direkt – nicht abhängig sind, <strong>und</strong><br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong><strong>sei</strong>ts die Sphäre <strong><strong>de</strong>r</strong> bewussten, freien <strong>und</strong> verantwortlichen Tat, in <strong><strong>de</strong>r</strong> ich selbst<br />

entschei<strong>de</strong>, ob ich etwas tue o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht tue. Die Entscheidung, diesen Unterschied <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Dynamismen als einen philosophischen Gr<strong>und</strong>satz anzunehmen, bringt weittragen<strong>de</strong> metaphysische<br />

– d.h. das Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> wir als Personen leben – betreffen<strong>de</strong> Konsequenzen<br />

mit sich.<br />

Das philosophische Hauptwerk Wojtyłas, Person <strong>und</strong> Tat3 soll also die Erforschung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Tat, welche die Person erschließt, »ein Studium <strong><strong>de</strong>r</strong> Person durch die Tat« <strong>sei</strong>n. Wojtyła<br />

meint, dass »die Tat ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es Moment <strong><strong>de</strong>r</strong> Erscheinung <strong><strong>de</strong>r</strong> Person darstellt« das uns<br />

einen tiefsten Einblick in das Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Person gibt. 4<br />

Der <strong>Mensch</strong> als freier Täter <strong>sei</strong>ner Aktionen<br />

In <strong>de</strong>m unmittelbaren Erleben o<strong><strong>de</strong>r</strong> Erfahren meiner freien Handlungen erscheint mir <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

eigentümliche Zug meines Urhebertums meiner Tat – <strong>de</strong>ssen, dass es eben ich selbst, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>sei</strong>ner Handlung bewusste <strong>und</strong> diese Handlung ausffihren<strong>de</strong> <strong>Mensch</strong> bin, <strong><strong>de</strong>r</strong> diese Handlung<br />

vollbringt. Ich stelle unmittelbar fest, dass dieses Han<strong>de</strong>ln von mir stammt, dass es<br />

we<strong><strong>de</strong>r</strong> irgendwie ›von selbst‹ erschienen ist, noch von einem An<strong><strong>de</strong>r</strong>en zustan<strong>de</strong> gebracht<br />

wu<strong>de</strong>. Dieser Zug meiner Wirkmächtigkeit, wie ihn unser Autor nennt, fehlt im Falle<br />

<strong>de</strong>ssen, was in mir nur geschieht, bei <strong>de</strong>n »Aktivierungen«. Beim freien Han<strong>de</strong>ln ist er aber<br />

offensichtlich vorhan<strong>de</strong>n.<br />

Wenn in einem <strong>Mensch</strong>en etwas nur geschieht, ist er nicht auf dieselbe Weise Urheber<br />

<strong>de</strong>s bezüglichen Prozesses <strong>und</strong> <strong>sei</strong>nes Ergebnisses, als es im Falle einer Tat geschieht. Eine<br />

2 Vgl. z.B. Erin Straus: Vom Sinn <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinne, Berlin2 1956, Springer Verl.<br />

3 Deutsche Ubersetzung von Herbert Springer: Freiburg-Basel-Wien 1981, Her<strong><strong>de</strong>r</strong> Verlag.<br />

4 Person <strong>und</strong> Tat, S. 19.<br />

53


Tat müssen wir als unser Eigentum anerkennen <strong>und</strong> auch als etwas, was wir verantworten.<br />

»Die Verantwortlichkeit – schreibt Wojtyła – sowie das Gefühl <strong>de</strong>s Eigentums, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zugehörigkeit<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Tat zeichnet beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s die Kausalität <strong>und</strong> die Wirkmächtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Person in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Tat aus«. 5 Auf diese Weise, dank <strong>de</strong>m Erleben – <strong><strong>de</strong>r</strong> unmittelbaren Erfahrung unseres<br />

Han<strong>de</strong>lns – erreichen wir die objektive Ordnung <strong>de</strong>s Seins. In <strong>sei</strong>nem bewussten Han<strong>de</strong>ln<br />

ist <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> zugleich im höchstem Maß in <strong>sei</strong>ner Tat, im Kern <strong>sei</strong>nes Han<strong>de</strong>lns anwesend<br />

<strong>und</strong> mit <strong>sei</strong>ner Tat vereint – <strong>und</strong> dabei auch, weil er diese Tat lenkt, weil diese Tat<br />

von ihm abhängig ist, ist er sozusagen in gewissem Sinne außerhalb o<strong><strong>de</strong>r</strong> eher über <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat.<br />

Philosophisch wird es so ausgedrückt, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat zugleich immanent (d.h.<br />

bleibt er gleichsam ›innerhalb‹ <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat) <strong>und</strong> transzen<strong>de</strong>nt (d.h. steht er über <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat) ist<br />

nicht nur ein Element <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n herrscht über sie.<br />

Also, um bewusst <strong>und</strong> frei d. h. gemäß <strong>sei</strong>ner menschlichen Natur zu han<strong>de</strong>ln, muss <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Mensch</strong> zur Selbstbestimmung fähig <strong>sei</strong>n, er kann nicht ausschließlich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sphäre <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Aktivierungen verbleiben. Deswegen, sagt Wojtyła, ist für das menschliche Sein Selbst-<br />

Herrschaft <strong>und</strong> Selbst-Besitz wesentlich.<br />

In <strong>sei</strong>nem Han<strong>de</strong>ln wird <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> notwendigerweise zum Gegenstand <strong>sei</strong>nes<br />

Wissens <strong>und</strong> <strong>sei</strong>nes Han<strong>de</strong>lns. Durch dieses Han<strong>de</strong>ln bestimmt er auch <strong>und</strong> gestaltet sich<br />

selbst <strong>und</strong> <strong>sei</strong>nen eigenen Wert. Diese Selbstbestimmung kommt durch je<strong>de</strong> Wahl, je<strong>de</strong><br />

Entscheidung <strong>und</strong> je<strong>de</strong> Verwirklichung dieser Wahl <strong>und</strong> dieser Entscheidung zustan<strong>de</strong>.<br />

Wojtyła betont auch, dass neben <strong>de</strong>m Streben nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Realisation <strong>sei</strong>ner Taten, die<br />

sich auf verschie<strong>de</strong>ne äußere Ziele richten, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> auch eine Ten<strong>de</strong>nz hat, sich selbst<br />

in <strong>sei</strong>nen Taten ganzen Aktivität vollzubringen – d. h. diese Aktivität so zu führen, dass er<br />

sich in ihr selbst entfalte <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne einzigartige Gestalt <strong>de</strong>s menschlichen Personen<strong>sei</strong>ns<br />

zustan<strong>de</strong> bringe. In <strong>sei</strong>ner Aktivität entfaltet sich <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> real <strong>und</strong> baut sich auf –<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> aber er zerfällt <strong>und</strong> geht moralisch zugr<strong>und</strong>e.<br />

Die Frucht unserer freien <strong>und</strong> verantwortlichen Taten ist also – sagt unser Autor –»die<br />

Sittlichkeit nicht als ein Abstraktum, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als existentielle Wirklichkeit, die auf das<br />

Engste mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Person als ihrem eigentlichen Subjekt verb<strong>und</strong>en ist. Der <strong>Mensch</strong> wird<br />

durch <strong>sei</strong>ne Taten, durch das bewusste Han<strong>de</strong>ln <strong>gut</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> böse im sittlichen Sinn. Sittlich<br />

<strong>gut</strong> <strong>sei</strong>n – das heißt ein <strong>gut</strong>er <strong>Mensch</strong> zu <strong>sei</strong>n, <strong>gut</strong> <strong>sei</strong>n als <strong>Mensch</strong>. Sittlich böse <strong>sei</strong>n – das<br />

heißt ein böser <strong>Mensch</strong> zu <strong>sei</strong>n, böse <strong>sei</strong>n als <strong>Mensch</strong>« – das gilt für Wojtyła als die Gr<strong>und</strong>these<br />

<strong>de</strong>s Personalismus. 6<br />

Wenn man so von <strong>de</strong>m sittlichen Erlebnis ausgeht, verschwin<strong>de</strong>t sofort die von <strong>de</strong>n<br />

neuzeitlichen Philosophen ausgehobene Kluft zwischen Bewusst<strong>sei</strong>n <strong>und</strong> Realität: <strong>de</strong>nn<br />

das sittliche Erlebnis ohne zugehörige Tat ist einfach sinnlos, es ist von dieser Tat einfach<br />

untrennbar.<br />

3. Das Gute <strong>und</strong> das Böse<br />

Der <strong>Mensch</strong> <strong>und</strong> die sittlichen Werte<br />

Gut <strong>und</strong> Böse sind also keine abstrakte Begriffe, die von erfahtungsfrem<strong>de</strong>n Denkern<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> Propheten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sphäre <strong><strong>de</strong>r</strong> reinen, von <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirklichkeit abgeschnittenen I<strong>de</strong>en konzipiert<br />

wären. Sie sind auch keine willkürlichen Konstrukte <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaften o<strong><strong>de</strong>r</strong> individueller<br />

Leute. Im Gegenteil: Das sittliche Gut <strong>und</strong> Böse drückt ein Wachstum, eine Entfaltung<br />

– o<strong><strong>de</strong>r</strong> aber einen Rücktritt <strong>und</strong> einen Zerfall, – in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sphäre »meiner innersten, mir<br />

direkt zugänglichen Wirklichkeit von mir selbst: mir selbst als einer sich entfalten<strong>de</strong>n (o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

sich herabwürdigen<strong>de</strong>n) Person; einer Person, die einen Leib besitzt <strong>und</strong> die als jemand,<br />

5 Op. cit,. S. 82.<br />

6 Person <strong>und</strong> Tat, S. 117 (wo anstatt ›Wirldichkeit‹’ irrtüimlich ›Wirkmacht‹ steht).<br />

54


<strong><strong>de</strong>r</strong> zur Verwirklichung <strong>sei</strong>ner sittlichen Persönlichkeit bestimmt ist«. Sittliches Gut <strong>und</strong><br />

Böse sind also in <strong><strong>de</strong>r</strong> tiefsten Wirklichkeit jie<strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en – je<strong>de</strong>s von uns – eingewurzelt.<br />

Um sich selbst zu vollbringen, müssen wir vor allem fähig <strong>sei</strong>n, über uns selbst zu<br />

verfügen. Darüber hinaus müssen wir aber auch unseren Bemühungen eine bestimmte<br />

Richtung geben: <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff einer Entwicklung o<strong><strong>de</strong>r</strong> eines Fortschritts setzt doch auch die<br />

Möglichkeit eines Rückschritts o<strong><strong>de</strong>r</strong> eines Regresses voraus. Wer geht, geht immer in<br />

irgendwelcher Richtung. Deswegen hat auch die sittliche Norm eine Priorität <strong>de</strong>m Werte<br />

gegenüber. Was die Richtung angibt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> wir gehen sollen, ist hier eben die Norm – sie<br />

ist also für die Teilung <strong><strong>de</strong>r</strong> Sphäre <strong>de</strong>s menschlichen Han<strong>de</strong>ls in das Gute <strong>und</strong> das Böse<br />

verantwortlich. Das fließt von <strong><strong>de</strong>r</strong> dynamischenen Konzeption <strong><strong>de</strong>r</strong> Moral: Das Gute ist mit<br />

einem Wegweisen verb<strong>und</strong>en, das Böse gleicht einem Sich-Verirren.<br />

Die Freiheit <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en<br />

Wir können aber fragen: Wer ist <strong>sei</strong>ner selbst Herr, wer ist wirklich frei? Das Wort<br />

›Freiheit‹ in <strong>sei</strong>nem Gr<strong>und</strong>sinn be<strong>de</strong>utet eben die Möglichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstherrschaft, die<br />

Möglichkeit, darüber zu entschei<strong>de</strong>n, was ich tun wer<strong>de</strong> o<strong><strong>de</strong>r</strong> was ich nicht tun wer<strong>de</strong>.<br />

Wenn wir meinen, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>sei</strong> dazu berechtigt, von einem äußeren Zwang frei zu <strong>sei</strong>n –<br />

dann kann wohl eine kurze Uberlegung genug <strong>sei</strong>n, um uns klar zu machen, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> ganze<br />

Sinn <strong>und</strong> die ganze Möglichkeit einer äußeren Freiheit in <strong><strong>de</strong>r</strong> inneren Freiheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstbestimmung<br />

grün<strong>de</strong>t. Wozu wür<strong>de</strong> die Freiheit von <strong>de</strong>m äußeren Zwang <strong>de</strong>m dienen, wer<br />

sie nicht zur Verfolgung <strong>sei</strong>ner eigenen Ziele zu verwen<strong>de</strong>n wüsste?<br />

Um diesen Gr<strong>und</strong>sinn <strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit als <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstherrschaft besser zu verstehen, führen<br />

wir das Beispiel von Pater Maximilian Kolbe an, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich im KZ Auschwitz an <strong><strong>de</strong>r</strong> Stelle<br />

eines an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Häftlings freiwillig töten ließ. Wenn wir also fragen, welcher von <strong>de</strong>n drei<br />

<strong>Mensch</strong>en, die an diesem Ereignis teilnahmen, (nämlich <strong><strong>de</strong>r</strong> SS-Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Häftling in<br />

die Totenzelle schicken wollte, <strong><strong>de</strong>r</strong> Häftling selbst <strong>und</strong> Pater Kolbe) wirklich frei war? –<br />

dann ist es leicht einzusehen, dass es eben nur Pater Kolbe war. Denn <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Häftling<br />

war ein passives Subjekt <strong><strong>de</strong>r</strong> Ereignisse, <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> SS-Mann gehorchte <strong>sei</strong>ner Wut (verfiel<br />

also einer bloßen Aktivierung!) o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sei</strong>nen Vorgesetzten.<br />

Die Wahrheit von <strong>de</strong>m Guten<br />

In<strong>de</strong>m sie in <strong>de</strong>n tiefsten Schichten <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en verankert sind, entschei<strong>de</strong>n die sittlichen<br />

Werte von Gut <strong>und</strong> Böse darüber, ob sich jemand als <strong>Mensch</strong> realisiert, o<strong><strong>de</strong>r</strong> aber<br />

sich als <strong>Mensch</strong> herabwürdigt; sie erklären auch <strong>de</strong>n Sinn dieser Realisation, dieses<br />

Sich-selbst-Vollbringens o<strong><strong>de</strong>r</strong> Nicht-Vollbringens <strong><strong>de</strong>r</strong> Person. Wenn es aber wahr ist, dass<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> –<br />

erstens, eine Person ist, die sich kraft ihres Han<strong>de</strong>lns in <strong><strong>de</strong>r</strong> realen Welt, <strong>und</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>engesellschaft, vollbringt o<strong><strong>de</strong>r</strong> herabwürdigt,<br />

zweitens, als ein leiblich-geistiges Wesen existiert, <strong>und</strong> <strong>sei</strong>n Leib dabei ein unabtrennbarer<br />

Teil <strong>und</strong> ein unentbehrliches Werkzeug <strong>sei</strong>nes Han<strong>de</strong>lns ist,<br />

drittens, sich sittlich entwickelt o<strong><strong>de</strong>r</strong> zerfällt –<br />

dann, um sich zu entwickeln, um wirklich <strong>gut</strong> zu wer<strong>de</strong>n, muss er im Einklang mit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

objektiven Wahrheit von ihm selbst – von <strong>de</strong>m, wer er ist, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit von <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt,<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> er lebt, <strong>und</strong> mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit von <strong>de</strong>m Guten <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Bösen, die von <strong>sei</strong>ner Entwicklung<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>sei</strong>ner Rückbildung entschei<strong>de</strong>n. Die Erkenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit von <strong>de</strong>m<br />

Guten verdanken wir vor allem unserem Gewissen, diesem charakteristisch menschlichen<br />

Phänomen, das unser Han<strong>de</strong>ln begleitet.<br />

55


4. Gesellschaft <strong>und</strong> Gemeinschaft: die Teilhabe (Teilnahme)<br />

Obwohl <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> eine existieren<strong>de</strong>, lebendige <strong>und</strong> bewusst han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Einheit ist – o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wenigstens <strong>sei</strong>n soll –, kann er nie ganz in sich verschlossen <strong>sei</strong>n. Im Gegenteil – <strong>sei</strong>n<br />

Bewusst<strong>sei</strong>n <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne Selbstbestimmung sind Quellen <strong>sei</strong>nes breiten Sich-Öffnens auf die<br />

ihn umgeben<strong>de</strong> Wirklichkeit <strong>und</strong> vor allem auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en. Sein Bewusst-Sein<br />

macht ihm die Wahrnehmung <strong>und</strong> Erkenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> er lebt, <strong>und</strong> Erkenntnis<br />

<strong>sei</strong>ner selbst möglich. Es macht ihm auch möglich, <strong>de</strong>ssen inne zu <strong>sei</strong>n, was er tut <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne<br />

eigene Handlungen sozusagen von innen her <strong>und</strong> als <strong>sei</strong>ne eigene zu erleben; <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne<br />

Selbst-Bestimmung macht es <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong>en möglich, wirklich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt, die er dank<br />

<strong>sei</strong>nes Bewusst-Seins erkennt, zu han<strong>de</strong>ln.<br />

Das Geöffnet-Sein <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en auf die An<strong><strong>de</strong>r</strong>n ist keineswegs zufällig. Um sich<br />

richtig zu entwickeln, braucht er eine Gesellschaft, <strong>de</strong>nn <strong>sei</strong>ne Selbst-Erffüllung ist ganz<br />

von <strong>sei</strong>nem Verhältnis zu <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en abhängig <strong>und</strong> sich erst dann am vollsten realisiert<br />

wenn er mit <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en han<strong>de</strong>lt.<br />

Die Fähigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Person, zusammen mit <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu han<strong>de</strong>ln – <strong>und</strong><br />

die Handlungen, die sie mit <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en unternimmt, <strong>und</strong> die Ziele, welche die Gesellschaft<br />

realisiert, in <strong><strong>de</strong>r</strong> er lebt, als <strong>sei</strong>ne eigene anzunehmen – nennt Wojtyła »Teilhabe«<br />

(o<strong><strong>de</strong>r</strong>, wie man das Wort auch übersetzte, Teilnahme). Dank <strong><strong>de</strong>r</strong> Teilhabe nimmt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Mensch</strong> an <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong><strong>sei</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> An<strong><strong>de</strong>r</strong>en teil, <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong><strong>sei</strong>n, das hier nicht als ein<br />

abstrakter Begriff, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als die konkrete Existenz je<strong>de</strong>s Mannes <strong>und</strong> je<strong><strong>de</strong>r</strong> Frau verstan<strong>de</strong>n<br />

ist.<br />

Die zwischenmenschlichen Bezugsformen »Ich-Du« <strong>und</strong> »Wir«.<br />

Auf diese Weise entsteht im Laufe unseres Lebens die Bezugsform »Ich-Du«, ein Gefüge<br />

von strikt personellen Verhältnissen zwischen einzelnen <strong>Mensch</strong>en. Auf <strong>de</strong>m Offen<strong>sei</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Person zu an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft gegrün<strong>de</strong>t, verbin<strong>de</strong>t sich dieses Gefüge<br />

mit einem jeweils konkreten an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>Mensch</strong>en.<br />

Während ich mit <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en lebe <strong>und</strong> handle, entsteht in diesem Mitleben <strong>und</strong> Mitwirken<br />

das Gefüge »Wir«, in <strong>de</strong>m eine gewisse <strong>Mensch</strong>enmenge in ihrer gemeinsamen<br />

Tätigkeit verb<strong>und</strong>en ist. Das Ziel einer solchen Tätigkeit heißt »das gemeinsame Gute«<br />

(bonum commune). In <strong>de</strong>m Gefüge »Ich-Du« o<strong><strong>de</strong>r</strong> »Ich – ein An<strong><strong>de</strong>r</strong>er« kommt ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />

Prozess <strong>de</strong>s Gestaltens eines »Ich« durch ein »Du« – o<strong><strong>de</strong>r</strong> durch eine gewisse Gruppe<br />

individueller An<strong><strong>de</strong>r</strong>er – zustan<strong>de</strong>. Dieses Verhältnis zu <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en führt mich einer<strong>sei</strong>ts<br />

zu einer volleren Selbsterkenntnis, an<strong><strong>de</strong>r</strong><strong>sei</strong>ts verstärkt es mich in meiner Persönlichkeit, in<br />

meinem Selbst-Sein. Dieses Relationsgefüge macht mir die Teilhabe an <strong>de</strong>m personellen<br />

<strong>Mensch</strong><strong>sei</strong>n <strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>en dadurch möglich, dass ich <strong>sei</strong>ne persönliche Wirklichkeit <strong>und</strong> ihn<br />

als eine mit mir gleichberechtigte <strong>und</strong> von mir verschie<strong>de</strong>ne Person anerkenne.<br />

Nach <strong>de</strong>m zeitgenössischen <strong>de</strong>utschen Philosophen Robert Spaemann stellt mir <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

An<strong><strong>de</strong>r</strong>e eine berechtigte For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung, ihn als eine mir gleiche Person anzuerkennen. Diese<br />

Anerkennung ist meine freie Entscheidung; wenn ich sie aber ablehne, stelle ich mich freiwillig<br />

außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Personen. Eine solche Anerkennung ist nach Spaemann<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> wahre metaphysische Realismus, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong>engeschlecht eigen ist. 7<br />

7 Robert Spaemann, Personen, Versuche über <strong>de</strong>n Unterschied zwischen »etwas« <strong>und</strong> »jemand«, Klett-Cotta,<br />

Stuttgart 3 2006.<br />

56


Gesellschaft <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />

Mit <strong>de</strong>n eben besprochenen zwischenpersonellen Bezugsformen »Icht Du« <strong>und</strong> »Wir« sind<br />

wir in die gesellschaftliche Dimension <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Wirklichkeit eingetreten. Aber<br />

nicht je<strong>de</strong> Gesellschaft ist schon eine Gemeinschaft. Eine Gesellschaft o<strong><strong>de</strong>r</strong> eine Gesellschaftsgruppe,<br />

sagt Wojtyla, wird erst zu einer echten Gemeinschaft, wenn ihre Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ein gewisses gemeinsames Gutes als ihr eigenes anerkennen. Eine echte Gemeinschaft verdankt<br />

ihre Existenz <strong>und</strong> ihre Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Fähigkeit ihrer Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>, sich selbst in<br />

<strong>de</strong>m Zustan<strong>de</strong>bringen <strong>de</strong>s gemeinsamen Guten im gemeinsamen Leben <strong>und</strong> Han<strong>de</strong>ln zu<br />

vollbringen. Das muss mit einer Anerkennung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong><strong>sei</strong>ns <strong><strong>de</strong>r</strong> An<strong><strong>de</strong>r</strong>en, <strong>sei</strong>ner absoluten,<br />

unübertragbaren Wür<strong>de</strong>, <strong>und</strong> mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Teilhabe an diesem <strong>Mensch</strong><strong>sei</strong>n verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>sei</strong>n.<br />

Die Echtheit <strong>und</strong> die Kraft einer Gemeinschaft sind also von <strong><strong>de</strong>r</strong> Existenz <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Echtheit <strong>de</strong>s gemeinsamen Guten, welches die jeweilige Gesellschaft sich als Ziel setzt, abhängig;<br />

<strong>de</strong>s Guten, <strong>de</strong>m die Güter <strong><strong>de</strong>r</strong> individuellen Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft auf<br />

Gr<strong>und</strong> ihrer eigenen, freien Entschlüsse untergeordnet sind. Dabei sollen aber diese individuellen<br />

Güter – <strong>und</strong> vor allem das unveräußerliche Gr<strong>und</strong><strong>gut</strong>: das persönliche Vollbringen<br />

aller Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft – eine volle Realisation in <strong>de</strong>n Rahmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft<br />

fin<strong>de</strong>n.<br />

Diese Feststellungen scheinen selbstverständlich zu <strong>sei</strong>n, wenn man sich vergegenwärtigt,<br />

dass das Gesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung, nach <strong>de</strong>m das Fehlen eines Fortschritts <strong>de</strong>m Rückzug<br />

gleicht, sowohl im Leben <strong><strong>de</strong>r</strong> Einzelnen als auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaften gelten muss. Die<br />

unveräußerliche Wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en verbietet dabei irgendwelche Ziele <strong>de</strong>n Personen,<br />

die diese Ziele nicht als ihre eigene anerkennen wollen, gewaltig aufzudrängen.<br />

In diesem Kontext kann man leicht einsehen, dass das Subjekt einen absoluten Vorrang<br />

über die Gesellschaft hat. Wojtyła sagt, dass dieser Vorrang sowohl in Wirklichkeit, als<br />

auch methodologisch besteht. Wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> existenziellen Priorität <strong><strong>de</strong>r</strong> Person <strong>und</strong> ihres<br />

Rechts auf Selbsterfüllung darf eine Person nicht als <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft völlig untergeordnet<br />

betrachtet wer<strong>de</strong>n. Der methodologische Vorrang besteht darin, dass wir »von <strong>de</strong>m gemeinschaftlichen<br />

Sein <strong>und</strong> Han<strong>de</strong>ln nichts Wesentliches sagen« können, »wenn wir nicht<br />

von <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong>en als Person ausgehen«. 8<br />

Um sich wirklich zu entwickeln <strong>und</strong> um ihren Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n ein echtes Vollbringen zu<br />

sichern (Das Vollbringen, das das Hauptziel je<strong><strong>de</strong>r</strong> echten Gemeinschaft <strong>sei</strong>n soll <strong>und</strong> das<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptgr<strong>und</strong> ihrer Existenz ist; das also von je<strong>de</strong>m gemeinsamen Guten in Betracht<br />

genommen <strong>sei</strong>n muss, weil dieses Gute nicht mit <strong><strong>de</strong>r</strong> echten sittlichen Selbstrealisation <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft in Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch stehen darf) – sollen die Gesellschaften so<br />

ihr Leben organisieren <strong>und</strong> so han<strong>de</strong>ln, damit dieses Leben <strong>und</strong> Han<strong>de</strong>ln mit <strong><strong>de</strong>r</strong> objektiven<br />

Wahrheit vom <strong>Mensch</strong>en <strong>und</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt in Einklang stehe.<br />

Auf diese Weise dringen sich durch <strong>und</strong> ergänzen sich gegen<strong>sei</strong>tig die Relationsgefüge<br />

»Ich-Du« <strong>und</strong> »Wir«. Das einfachere, allgemeinste <strong>und</strong> tiefste ist dabei das Gefüge »Ich-<br />

Du«. In<strong>de</strong>m es das Verhältnis je<strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en zu <strong>sei</strong>nem Nächsten ausdrückt, liegt es auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ebene, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> sich das höchste Gebot <strong><strong>de</strong>r</strong> Nächstenliebe verwirklichen soll. In dieser<br />

Formulierung kommt es im Evangelium vor, es wird aber auch von vielen weltlichen<br />

Denkern ausgedrückt, die es übrigens auf sehr verschie<strong>de</strong>ne Weise aussprechen. Der<br />

Gehorsam gegen dieses Gebot ist eine Bedingung <strong>de</strong>s richtigen Funktionierens aller an<strong>de</strong>-<br />

8 Karol Wojtyła: »Person: Subjekt <strong>und</strong> Gemeinschaft«, in: Streit um <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en, Kevlaer 1979, Butzon <strong>und</strong><br />

Nercker Verlag. S. 38<br />

57


en, von <strong>de</strong>m »Ich-Du« abgeleiteten Konstellationen <strong><strong>de</strong>r</strong> Personen <strong>und</strong> aller authentischen<br />

Gemeinschaften. An<strong><strong>de</strong>r</strong><strong>sei</strong>ts aber unterstreichen <strong>und</strong> verstärken diese abgeleiten Relationsgefüge<br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> Form »Wir« dieses Gr<strong>und</strong>verhältnis <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en zu <strong>sei</strong>nem Nächsten.<br />

Der Primat <strong>de</strong>s Verhältnisses »Ich-Du« gibt <strong>de</strong>m Gebot <strong><strong>de</strong>r</strong> Nächstenliebe <strong>de</strong>n vorethischen,<br />

personellen, anthropologischen Charakter; er ist nämlich in <strong><strong>de</strong>r</strong> inneren Verfassung<br />

<strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en selbst – als eines freien, gesellschaftlichen, sittlichen Wesens verankert.<br />

Der ethische, normative Sinn <strong>de</strong>s Gebots <strong><strong>de</strong>r</strong> Nächstenliebe – als das Maß, mit <strong>de</strong>m<br />

man die Ziele <strong><strong>de</strong>r</strong> Personen <strong>und</strong> Gesellschaften messen soll –, ist in diesem tiefen Sinn<br />

begrün<strong>de</strong>t, <strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en fließt.<br />

Der Sinn <strong><strong>de</strong>r</strong> Entfrembung (Alienation) <strong>de</strong>s Einzelmenschen<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft<br />

Das hier geschil<strong><strong>de</strong>r</strong>te Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Wirklichkeit macht es auch möglich, die Entfremdung<br />

als das Gegenteil <strong><strong>de</strong>r</strong> Teilhabe besser zu verstehen. Es ist ein vielgebrauchtes<br />

Wort; um aber <strong>sei</strong>nen Sinn <strong>und</strong> die Quellen <strong>sei</strong>nes Gegenstan<strong>de</strong>s wirklich zu verstehen,<br />

müssen wir von <strong><strong>de</strong>r</strong> eben skizzierten Konzeption <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft ausgehen. Entfremdung<br />

fließt nämlich aus einem falschen Verhältnis zum gemeinsamen Guten (o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu <strong>de</strong>m,<br />

was nur als das gemeinsame Gute gilt). Es besteht in einer Begrenzung o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch Vernichtung<br />

all <strong>de</strong>ssen, was mich dazu veranlasst, einen An<strong><strong>de</strong>r</strong>en als eine mit mir gleichberechtigte<br />

Person, die eine absolute, unveräußerliche Wür<strong>de</strong> besitzt – also als ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es »Ich« –<br />

anzusehen. Die Entfremdung ist also eine Verfälschung <strong><strong>de</strong>r</strong> zwischenmenschlichen Relationen,<br />

in<strong>de</strong>m man <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en als einen »Frem<strong>de</strong>n« o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch als einen »Feind«<br />

betrachtet; es ist eine Depersonalisation <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> zwischenmenschlichen<br />

Relationen, eine Gleichsetzung <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>en mit <strong>de</strong>n Dingen.<br />

Uber das echte Wesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Entfremdung kann uns also erst eine personalistische<br />

Betrachtung belehren—eine solche, die auf das Bewusst<strong>sei</strong>n <strong>und</strong> Erleben, also letzten<br />

En<strong>de</strong>s auf freies, moralisch qualifizierbares Tun <strong>und</strong> sittliche Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft Rücksicht nimmt.<br />

Der Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Entfremdung, sagt Wojtyła, ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Philosophie <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en unentbehrlich;<br />

er drückt die wahre Lage <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en in <strong>sei</strong>nem Selbstvollzug – <strong>sei</strong>ne Begrenztheit,<br />

<strong>sei</strong>ne Abhängigkeit von vielen Umstän<strong>de</strong>n – aus. Wohl können wir heute schon<br />

ziemlich klar sehen, dass Entfremdung we<strong><strong>de</strong>r</strong> bloß mit einer Än<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>s Ökonomischen<br />

Systems noch mit einem Umbau <strong><strong>de</strong>r</strong> politischen Mechanismen <strong>de</strong>s Staates eliminiert<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Der Kern <strong>de</strong>s Problems liegt in <strong>de</strong>m <strong>Mensch</strong>en, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Person <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne<br />

Lösung nur in <strong>de</strong>m Streben nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Teilhabe, also in <strong><strong>de</strong>r</strong> moralischen<br />

Entwicklung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en gef<strong>und</strong>en wer<strong>de</strong>n kann. Man muss sich um die Verwirklichung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bedingungen bemühen, welche diese Entwicklung erleichtern <strong>und</strong> för<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Wir müssen<br />

einsehen, dass in <strong>de</strong>m Schema »Ich – <strong><strong>de</strong>r</strong> An<strong><strong>de</strong>r</strong>e« eine dynamische Realität steckt, die<br />

nicht bloß gegeben, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n aufgegeben ist. Sie kann sowohl kultiviert <strong>und</strong> geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t, als<br />

auch negiert <strong>und</strong> vernichtet wer<strong>de</strong>n.<br />

Das soziale Leben verläuft also im Horizont <strong><strong>de</strong>r</strong> Antinomie <strong>und</strong> Dialektik Teilhabe –<br />

Entfremdung, <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Wert einer Gesellschaft wird daran gemessen, inwiefern sie ihren<br />

Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong>de</strong>n Selbstvollzug bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Verwirklichung <strong><strong>de</strong>r</strong> gemeinsamen Ziele, <strong>de</strong>s gemeinsamen<br />

Guten, zustan<strong>de</strong> zu bringen möglich macht; inwiefern sie also eine echte Gemeinschaft<br />

zu <strong>sei</strong>n vermag. Das ist mit <strong>de</strong>m Aufwachsen <strong>de</strong>s »Wir«, <strong><strong>de</strong>r</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en Subjektivität<br />

<strong>und</strong> Solidarität <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemeinschaft verb<strong>und</strong>en, die im Zustan<strong>de</strong>bringen <strong>de</strong>s gemeinsamen<br />

Guten aufwächst. In einem solchen »Wir« soll <strong>und</strong> kann die Teilhabe, d.h. das Erleben<br />

<strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>en »wie mich selbst« wachsen, <strong>und</strong> das menschliche Ich selbst tiefer <strong>und</strong> umfassen<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wer<strong>de</strong>n. Das setzt eine Offenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Gesellschaft auf die <strong>Mensch</strong>heit voraus.<br />

Im einzelnen auszuarbeiten, wie das in <strong><strong>de</strong>r</strong> Praxis einer konkreten Gesellschaft zu verwirklichen<br />

ist: das ist gewiss eine schwierige <strong>und</strong> große Aufgabe. Doch es scheint klar zu<br />

58


<strong>sei</strong>n, dass man sich nur auf diesem Wege einer echten <strong>Mensch</strong>enfamilie <strong>und</strong> <strong>de</strong>m wahren<br />

Frie<strong>de</strong>n nähern kann.<br />

Ehe <strong>und</strong> Familie als die einfachste <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legenste Gemeinschaft<br />

Das beste Beispiel <strong><strong>de</strong>r</strong> zwischenmenschlichen Beziehungen, in <strong>de</strong>nen die Form »Ich-Du«<br />

die Dimension »Wir« zustan<strong>de</strong> bringt, ist die Ehe <strong>und</strong> die Familie als die einfachste <strong>und</strong><br />

gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> menschliche Gemeinschaft. Sie entsteht, wenn die Eheleute das Wertgefüge,<br />

welches das gemeinsame Gute einer Familie ausmacht, als ihr eigenes anerkennen <strong>und</strong> realisieren.<br />

Die Gemeinschaft <strong>de</strong>s Ehepaares erscheint in ihrer Existenz <strong>und</strong> Tätigkeit in<br />

einer neuen gesellschaftlichen Dimension: sie wer<strong>de</strong>n zu einem Ehepaar, zu einem »Wir«;<br />

dabei bleiben sie doch ein »Ich« <strong>und</strong> »Du« füreinan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong>, was mehr ist, die Struktur<br />

»Wir« unterstützt <strong>und</strong> bereichert die einfachere Struktur »Ich-Du«.<br />

Diese neue gesellschaftliche Einheit von Mann <strong>und</strong> Frau legt auf sie neue Verpflichtungen<br />

<strong>und</strong> stellt an sie neue Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, die für dieses eigenartige Verhältnis von<br />

Mann <strong>und</strong> Frau, das zwischen ihnen erwächst <strong>und</strong> das sie bei<strong>de</strong> auf eine eigentümliche<br />

Weise gestalten, charakteristisch sind. Von jetzt an sollen sie sich von <strong>de</strong>m gemeinsamen<br />

Guten ihrer Ehe <strong>und</strong> ihrer Familie leiten lassen. Auf diese Weise fin<strong>de</strong>t die gesellschaftliche<br />

Eigenart <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en in <strong><strong>de</strong>r</strong> Ehe <strong>und</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie ihre primäre Verwirklichung<br />

<strong>und</strong> ihren primären Ausdruck.<br />

Karol Wojtyła – von Anfang <strong>sei</strong>ner Tätigkeit als Priester, Lehrer, Bischof <strong>und</strong> Papst –<br />

hat sich beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s über die Familie als solche primäre Zelle <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Gemeinschaft,<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> die Leute sich einan<strong><strong>de</strong>r</strong> zu lieben lernen, gekümmert. Vor allem hatte er die<br />

menschliche Liebe zwischen Mann <strong>und</strong> Frau auf <strong>sei</strong>nem Herzen. In <strong>sei</strong>ner Lehrtätigkeit<br />

geschah dies zuerst in Form einer Reihe von Vorlesungen in <strong>de</strong>n Jahren 1958-59 an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Katholischen Universität Lublin, die schließlich die Gestalt <strong>de</strong>s Buches Liebe <strong>und</strong> Verantwortung<br />

angenommen haben. 9 Es lag ihm sehr daran, <strong>de</strong>n jungen Leuten das, was er »schöne<br />

Liebe« zwischen Mann <strong>und</strong> Frau nannte – eine Liebe, die auf Bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>und</strong> Zärtlichkeit,<br />

<strong>und</strong> nicht auf Begehrlichkeit aufgebaut ist – zu zeigen. Das Buch hat früh, lange<br />

vor <strong>sei</strong>ner Wahl zum Papst, eine gewisse internationale Anerkennung gef<strong>und</strong>en. Ich möchte<br />

es allen jungen Leuten, die über das Leben in <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie ernst nach<strong>de</strong>nken, herzlich<br />

empfehlen.<br />

Wojtyła bezeichnet <strong>sei</strong>ne Philosophie als Perfektionismus – vom lateinischen »perfector«<br />

– »mehr perfekt«, man hat sie aber auch als eine Philosophie <strong><strong>de</strong>r</strong> Praxis bezeichnet.<br />

Natürlich ist diese Philosophie ein Personalismus.<br />

9 1960, <strong>de</strong>utsch 1979 (Kösel Verl.), Neuauflage St. Pölten 2007, St. Josef Verl.<br />

59


Michael Cullin diskutiert<br />

mit <strong>de</strong>m Minister Henry Tesch<br />

Inger Gulbrandsen<br />

im Gespräch mit<br />

Prof. A. Poltawski<br />

Im intensiven Dialog:<br />

Menachem Kallus <strong>und</strong><br />

Dr. Otto Nübel<br />

61


Begegnungen mit Zeitzeugen<br />

<strong>und</strong> Reflexionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler<br />

Von beson<strong><strong>de</strong>r</strong>er Be<strong>de</strong>utung für alle Teilnehmerinnen <strong>und</strong> Teilnehmer <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool<br />

waren die Begegnungen mit Überleben<strong>de</strong>n von NS-Konzentrationslagern, die noch in<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong>de</strong>s Lagers o<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>de</strong>n Jahren nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Befreiung über das Gute <strong>und</strong> Böse <strong>de</strong>s<br />

<strong>Mensch</strong>en philosophiert haben <strong>und</strong> in Einzelfällen ein Vermächtnis für die nachfolgen<strong>de</strong>n<br />

Generationen aufgeschrieben haben.<br />

Die Gespräche mit Inger Gulbrandsen aus Norwegen sowie <strong>de</strong>n Geschwistern Emmy<br />

Arbel <strong>und</strong> Menachem Kallus aus Israel waren Höhepunkte <strong><strong>de</strong>r</strong> Veranstaltungsreihe.<br />

Inger Gulbrandsen, geb. Jensen<br />

26. Januar 1923 Inger wird in Oslo als zweites Kind einer<br />

Arbeiterfamilie geboren. Sie besucht die<br />

Mittelschule <strong>und</strong> lernt von Anfang an<br />

die <strong>de</strong>utsche Sprache.<br />

1937 Inger ist Gruppenleiterin von Jugendgruppen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeiterbewegung.<br />

Sie hält Kontakt zu Emigranten aus<br />

Deutschland <strong>und</strong> hilft mit, illegale<br />

Zeitungen herauszugeben.<br />

1940 Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Besetzung Norwegens arbeitet Inger in einer Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>standsgruppe.<br />

Sie soll u. a. <strong>de</strong>utsche Soldaten dazu bewegen, ihre Uniformen<br />

<strong>und</strong> Waffen abzulegen, – Deserteure sollen nach Schwe<strong>de</strong>n geschleust<br />

wer<strong>de</strong>n. Dabei hilft sie mit.<br />

1942 besucht Inger die Hauswirtschaftsschule in Oslo. Gemeinsam mit<br />

ihrem Verlobten, Olav Gulbrandsen, ist sie im Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand aktiv.<br />

Olav wird im Mai 1942 verhaftet – Inger arbeitet weiter.<br />

Weihnachten 1942 wird Inger verhaftet <strong>und</strong> nach schweren Verhören ins Gefangenenlager<br />

Grini bei Oslo gebracht. Dort bleibt sie bis zum 6. Oktober 1943.<br />

Im Oktober 1943 wird sie auf Transport nach Ravensbrück geschickt. Dort hat sie<br />

zunächst schwere Arbeiten im Straßenbau zu bewältigen <strong>und</strong> wird<br />

dann zur Arbeit ins SS-Bekleidungswerk kommandiert.<br />

Im April 1945 bringen die Busse <strong>de</strong>s Schwedischen Roten Kreuzes Inger zunächst<br />

nach Dänemark <strong>und</strong> dann nach Schwe<strong>de</strong>n. Hier trifft sie nach drei<br />

Jahren auch Olav wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> 2 Jahre im KZ Sachsenhausen eingesperrt<br />

war. Gemeinsam mit ihren Verlobten kehrt sie im Mai 1945<br />

nach Norwegen zurück.<br />

26. Oktober 1946 Heirat mit Olav Gulbrandsen. Inger <strong>und</strong> Olav haben eine Tochter <strong>und</strong><br />

nehmen immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Pflegekin<strong><strong>de</strong>r</strong> aus Deutschland auf.<br />

Inger arbeitet im Norwegischen <strong>und</strong> Internationalen Ravensbrück-<br />

Komitee.<br />

Heute lebt Inger in Söromsand bei Oslo.<br />

62


Menachem Kallus<br />

My life began in June 11 1932.<br />

I was born the first son of a typical working<br />

class Jewish couple in The Hague, Holland.<br />

The first eight years of my life were quite uneventful.<br />

But then in 1940, Holland was occupied<br />

by the German army and restrictions were placed<br />

on the Dutch people in general and on Jews particular.<br />

In 1942 my entire family was arrested and<br />

placed in a concentration camp in Westerbork,<br />

Holland.<br />

In 1944 my father was sent to Buchenwald<br />

K.Z. in Germany and my mother and the children<br />

were <strong>de</strong>ported to Ravensbruck K.Z. It was then<br />

discovered that a ten year old boy in a woman’s<br />

camp was a very disturbing element and I was<br />

transferred to the male section of Ravensbruck. I<br />

was physically ten years old, but, in or<strong><strong>de</strong>r</strong> to stay<br />

alive, I was forced to attain an <strong>und</strong>efined mental<br />

age of at least twenty five and all this in the inhuman<br />

condition Nazi concentration camp. The<br />

fact that I was able to do this enabled ma to become<br />

a fully grown up person in a very short time. It kept me alive, but at the terrible cost<br />

of my entire youth. The fact that I was an adult at the age of thirteen, ma<strong>de</strong> it impossible to<br />

return to the regime of a pupil, my physical age.<br />

When I got married and became a father, I fo<strong>und</strong> that I was a stranger to my own children<br />

because I was never their age and could not i<strong>de</strong>ntify myself with the terrifying pressures<br />

of a child attaining adulthood.<br />

Only after many years did I grow a second maturity that ma<strong>de</strong> me into a complete person.<br />

After the war, because of my inability to study and behave as a normal incumbent<br />

adult I lost several additional years of my youth. I was sent to different types of schools<br />

and finally wo<strong>und</strong> up working as an uneducated mechanic in a Kibbutz. Finally, I wo<strong>und</strong><br />

up as an apprentice mechanic in a crop spraying company, and from there I entered the<br />

Air Force as an aircraft mechanic. The Air Force enabled me to enrich and complete my<br />

education at my own pace and gave me responsibilities I could not have attained anywhere<br />

else.<br />

I became a technical officer and have assisted in establishing technical and flying<br />

schools in several African countries.<br />

All this ma<strong>de</strong> me feel that in spite of a very difficult beginning, my life was on the right<br />

track.<br />

Except for one thing. The Second World War which has cost the lives of many millions<br />

of humans has left those of us, who survived this terrible upheaval with the awesome responsibility<br />

of trying to prevent this ever happening again. I am speaking here not just as a<br />

Jew, but as a human being, consi<strong><strong>de</strong>r</strong>ing the terrible loss, not only of lives but also the loss of<br />

humanity and the reason of existing in this world.<br />

I have therefore <strong>de</strong>ci<strong>de</strong>d to <strong>de</strong>dicate at least part of the remaining time left to me, to do<br />

what ever I can to prevent this ever happening again.<br />

63


Mein Leben begann am 11. Juni 1932.<br />

Ich wur<strong>de</strong> als erster Sohn eines jüdischen Arbeiters in Den Haag geboren.<br />

Die ersten acht Jahre meines Lebens waren ziemlich ereignislos. Aber 1940 wur<strong>de</strong><br />

Holland von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen Armee besetzt <strong>und</strong> es gab Verbote <strong>und</strong> Verordnungen für die<br />

Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>län<strong><strong>de</strong>r</strong>, im Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en für Ju<strong>de</strong>n.<br />

1942 wur<strong>de</strong> meine gesamte Familie festgenommen <strong>und</strong> in das Konzentrationslager<br />

Westerbork in Holland gebracht.<br />

1944 wur<strong>de</strong> mein Vater ins KZ Buchenwald <strong>und</strong> meine Mutter <strong>und</strong> die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> nach<br />

Ravensbrück <strong>de</strong>portiert. Es wur<strong>de</strong> jedoch festgestellt, dass ein zehn Jahre alter Junge in<br />

einem Frauenkonzentrationslager ein sehr stören<strong>de</strong>s Element war, also wur<strong>de</strong> ich in <strong>de</strong>n<br />

männlichen Teil <strong>de</strong>s Lagers geschickt. Physisch war ich zehn Jahre alt, aber um am Leben<br />

zu bleiben, war ich gezwungen mich mental wie ein 25 Jähriger zu verhalten <strong>und</strong> das alles<br />

unter <strong>de</strong>n inhumanen Bedingungen eines <strong>de</strong>utschen Konzentrationslagers. Ich entwickelte<br />

mich also zu einem Erwachsenen in einer sehr kurzen Zeit. Ich blieb am Leben, jedoch<br />

verlor ich meine gesamte Jugend. Der Fakt, dass ich mit 13 Jahren erwachsen war, machte<br />

es unmöglich zu <strong>de</strong>m Leben eines Kin<strong>de</strong>s zurück zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Als ich heiratete <strong>und</strong> Vater wur<strong>de</strong>, fühlte ich mich wie ein Frem<strong><strong>de</strong>r</strong> gegenüber meinen<br />

eigenen Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, da ich bewusst nie in ihrem Alter gewesen bin <strong>und</strong> mich nicht in ihre<br />

Phase <strong>de</strong>s Erwachsenwer<strong>de</strong>ns hineinversetzen konnte.<br />

Erst nach vielen Jahren entwickelte ich eine »zweite Reife«, die mich zu einem kompletten<br />

<strong>Mensch</strong>en machte.<br />

Nach <strong>de</strong>m Krieg verlor ich weitere Jahre meiner Jugend, da ich nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage war<br />

zu lernen. Ich wur<strong>de</strong> zu verschie<strong>de</strong>nen Schulen geschickt <strong>und</strong> arbeitete letztendlich als<br />

ungelernter Mechaniker in einem Kibbutz. Ich machte eine Ausbildung als Mechaniker bei<br />

einer Fel<strong><strong>de</strong>r</strong>bewässerungsfirma <strong>und</strong> darauf folgend ging ich zur Luftwaffe als Flugzeugmechaniker.<br />

Dort wur<strong>de</strong> mir die Möglichkeit eröffnet meine Ausbildung so schnell, wie es<br />

mir möglich war, abzuschließen. Außer<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong>n mir Pflichten zuteil, die ich nirgendwo<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>s bekommen hätte.<br />

Ich wur<strong>de</strong> technischer Offizier <strong>und</strong> half dabei Technik- <strong>und</strong> Flugschulen in verschie<strong>de</strong>nen<br />

afrikanischen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n aufzubauen.<br />

Mir wur<strong>de</strong> bewusst, dass mein Leben, trotz <strong>de</strong>s sehr schweren Beginns, auf <strong>de</strong>m richtigen<br />

Weg war.<br />

Es gab nur eine Ausnahme. Der Zweite Weltkrieg, <strong><strong>de</strong>r</strong> vielen Millionen <strong>Mensch</strong>en das<br />

Leben kostete, hat diejenigen zurückgelassen, die die hohe Pflicht besitzen, ein solch<br />

schreckliches Szenario nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> geschehen zu lassen. Ich spreche hier nicht nur als Ju<strong>de</strong>,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als <strong>Mensch</strong>, bezüglich <strong>de</strong>s katastrophalen Verlustes nicht nur <strong><strong>de</strong>r</strong> viele Leben,<br />

son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch <strong>de</strong>s Verlustes <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>lichkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Sinn <strong>de</strong>s Lebens.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen habe ich beschlossen die Zeit, die mir noch bleibt, so zu nutzen, dass<br />

so etwas nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> geschieht.<br />

64


Emmie Arbel<br />

Name: Emmie Arbel<br />

Date of birth: 17.11. 1937<br />

I was born in Den-Haag, Holland<br />

1942-1945: was sent to the camps – Westerbork, Ravensbruck, Bergen-Belsen<br />

1945-1946: was treated medically in Swe<strong>de</strong>n<br />

1946: back to Holland, stayed in a foster home with some other orphants.<br />

Started school after one year of healing from an illness.<br />

1949: coming to Israel, staying in kibbutz. Learned there at school till the end<br />

standard 11<br />

1956: stayed in a young Kibbutz to support its establishment<br />

1957-1959: Army serving<br />

1959-1960: Eilat – working in a young Kibbutz<br />

1960-1962: leaving the Kibbutz, living and working in Haifa<br />

1962-1963: sailed to Rio for a tour and stayed there for a year with my future husband<br />

and later married him there.<br />

1963: back to Israel, to a village named Tivon, where I’m staying till today<br />

1963-1970: working at an I.B.M. center<br />

1970-1978: free lancer as a computer card puncher<br />

1978-1991: Secretary in a psychology child gui<strong>de</strong>n’s clinic. Later on; as the adminastration<br />

manager in the same place.<br />

1965: My first child was born<br />

1968: My second child was born<br />

1972: My third child was born<br />

1977: Separated from my husband and divorced<br />

1991: retired from the child gui<strong>de</strong>n’s clinic<br />

Since a few years – involved in a group of Jews and Arabs to find a common <strong>de</strong>nominator.<br />

Involved in a group of immigrants from Holland; Chairman (woman) of an organization of<br />

camp survivors from Ravensbruck.<br />

Name: Emmie Arbel<br />

Geboren am 17.11.1937 in Den Haag<br />

1942-1945: in <strong>de</strong>n KZs Westerbork, Ravensbrück, Bergen-Belsen<br />

1945-1946: medizinisch versorgt in Schwe<strong>de</strong>n<br />

1946: zurück nach Holland, Aufenthalt in Pflegefamilien, mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Waisen zur<br />

Schule, nach einem Jahr Krankheit<br />

1949: nach Israel, Aufenthalt in einem Kibbutz , dort Abschluss <strong><strong>de</strong>r</strong> 11. Klasse<br />

1956: zur Unterstützung in einen neuen Kibbutz<br />

1957-1959: Armeedienst<br />

65


1959-1960: Eilat – Arbeit in neuem Kibbutz<br />

1960-1962: verlässt Kibbutz, lebt <strong>und</strong> arbeitet in Haifa<br />

1962-1963: reist nach Rio, dort Aufenthalt mit zukünftigen Mann für ein Jahr, später<br />

Heirat dort<br />

1963: zurück nach Israel, Dorf Tivon (Wohnort bis heute)<br />

1963-1970: Arbeit in einem I.B.M. Center<br />

1970-1978: freie Arbeit als Computerkartenherstellerin<br />

1978-1991: Sekretärin in einer psychologischen Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>klinik, später Verwaltungsmanagerin<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Klinik<br />

1965: erstes Kind<br />

1968: zweites Kind<br />

1972: drittes Kind<br />

1977: Trennung <strong>und</strong> Scheidung von ihrem Mann<br />

1991: Ruhestand<br />

Heute ist Emmi Arbel in ein Programm eingeb<strong>und</strong>en, um eine Annäherung zwischen Ju<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> Arabern zu erreichen; sie engagiert sich in einer Gruppe von holländischen Einwan<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

<strong>und</strong> ist Vorsitzen<strong>de</strong> einer Organisation von Überleben<strong>de</strong>n aus Ravensbrück.<br />

Mitgestalter <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Summerschool<br />

66


Aufgabenstellung für die Abschlussarbeit<br />

Die zahlreichen Veranstaltungen, Begegnungen sowie Gespräche for<strong><strong>de</strong>r</strong>ten alle Schülerinnen<br />

<strong>und</strong> Schüler dazu heraus, über ihre Eindrücke <strong>und</strong> gewonnenen Erkenntnisse, über<br />

neue Denkanstöße sowie über unbeantwortete Fragen zu reflektieren. Am Abschlusstag<br />

hatte je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> beteiligten Schüler die Gelegenheit, all diese Reflexionen in einem Essay<br />

auf Gr<strong>und</strong>lage folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufgabenstellung zu formulieren:<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>…« (Johann Wolfgang von Goethe)<br />

»Wahrheit erkennen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste thun…«<br />

(Moses Men<strong>de</strong>lssohn)<br />

Schreiben Sie ausgehend von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Zitaten ein Essay, in <strong>de</strong>m Sie Ihre ganz persönlichen<br />

Gedanken zur Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en formulieren.<br />

Nutzen Sie dazu Ihre Eindrücke, Einsichten bzw. Erfahrungen, die Sie im Rahmen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Vorlesungen <strong>und</strong> Seminare gewonnen haben.<br />

Mögliche Ausgangspunkte Ihrer Darlegungen könnten <strong>sei</strong>n:<br />

• <strong>Mensch</strong>lichkeit in Extremsituationen<br />

• moralische Dilemmata<br />

• Zivilcourage<br />

• klassisches <strong>Mensch</strong>heitsi<strong>de</strong>al<br />

• Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Ge<strong>de</strong>nkens<br />

Beschäftigung mit Geschichte in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwart<br />

•<br />

67


Essay Julia Prochor<br />

Mein persönliches Tikkun Olam<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>...«, so<br />

äußert sich Goethe in <strong>sei</strong>nem Gedicht »Das<br />

Göttliche« <strong>und</strong> er reflektiert somit die klassische<br />

Auffassung über <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en. Der<br />

Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Humanität spielte damals wie heute<br />

eine sehr große Rolle. <strong>E<strong>de</strong>l</strong> soll <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong><br />

<strong>sei</strong>n, also an<strong><strong>de</strong>r</strong>en verzeihen können <strong>und</strong> <strong>gut</strong>herzig<br />

<strong>sei</strong>n. Hilfreich soll <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>sei</strong>n – an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

helfen. Gut soll <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>sei</strong>n, das<br />

heißt Gutes wollen, tun <strong>und</strong> so die Welt besser<br />

machen. Das ist meiner Meinung nach die Bestimmung<br />

<strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en. Die Ju<strong>de</strong>n sagen dazu<br />

»Tikkun Olam«, was soviel be<strong>de</strong>utet, wie »die<br />

Welt reparieren« o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch »eine bessere Welt<br />

schaffen« <strong>und</strong> für mich scheint diese, die wichtigste<br />

aller Aufgaben zu <strong>sei</strong>n.<br />

Die Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en ist... Ja, was ist das eigentlich? Noch bis vor kurzem<br />

schien diese Frage für mich hochkompliziert zu <strong>sei</strong>n. Seit ich diverse Vorlesungen <strong>und</strong><br />

Seminare während <strong><strong>de</strong>r</strong> Summer School besucht habe, scheint alles etwas klarer gewor<strong>de</strong>n<br />

zu <strong>sei</strong>n: Es ist unsere Aufgabe als <strong>Mensch</strong>en, diese Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> wir leben, besser zu<br />

machen. Denn diese Welt, so wie sie ist, reflektiert das, was wir sind! Nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es<br />

scheint mir, wollte Men<strong>de</strong>lssohn in <strong>sei</strong>nem Zitat sagen: »Wahrheit erkennen, Schönheit<br />

lieben, Gutes wollen <strong>und</strong> das Beste thun...«<br />

Um Gutes zu tun, müssen wir zuerst wissen, was <strong>gut</strong> ist <strong>und</strong> darauf bezieht sich das<br />

»Wahrheit erkennen«, das ist das Erste, was wir tun müssen. Wir <strong>Mensch</strong>en sind mit Intellekt<br />

gesegnet, <strong>und</strong> wir dürfen nicht davor Angst haben, ihn auch zu benutzen. Je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Mensch</strong> ist zum sittlichen Han<strong>de</strong>ln in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage, <strong>de</strong>nn wir können »wählen, richten <strong>und</strong> unterschei<strong>de</strong>n«,<br />

<strong>und</strong> diese Fähigkeiten helfen uns die richtigen Entscheidungen zu treffen.<br />

Lei<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong>n diese Fähigkeiten zu oft in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit vergessen; viele Nationalsozialisten<br />

haben diese Fähigkeit nicht genutzt, statt<strong>de</strong>ssen nur Befehle eines Einzelnen<br />

ausgeführt <strong>und</strong> sich darauf verlassen, was ein An<strong><strong>de</strong>r</strong>er sagte. Diese <strong>Mensch</strong>en haben die<br />

Wahrheit nicht erkannt <strong>und</strong> ihren eigenen Intellekt ausgeschaltet, weil sie möglicherweise<br />

Angst hatten die Wahrheit zu erkennen <strong>und</strong> somit auch ihre Fehler. Jedoch haben die<br />

jungen <strong>Mensch</strong>en unserer Generation daraus gelernt: Wir versuchen die Wahrheit zu erkennen,<br />

<strong>de</strong>nn das ist <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Schritt auf <strong>de</strong>m Weg <strong><strong>de</strong>r</strong> Weltverbesserung.<br />

Als Nächstes solle man die »Schönheit lieben«, nicht die oberflächliche Schönheit unserer<br />

Zeit, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die Schönheit dieser Welt. Man muss die Schönheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur <strong>und</strong><br />

je<strong>de</strong>s einzelnen <strong>Mensch</strong>en erkennen <strong>und</strong> lieben. Je<strong>de</strong> Pflanze, je<strong>de</strong>s Tier, je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong><br />

trägt Schönheit in sich, wenn wir diese erkennen <strong>und</strong> zu lieben lernen, haben wir diese<br />

Welt schon ein Stückchen besser gemacht. Liebe <strong>und</strong> Hass schließen sich nämlich aus.<br />

»Gutes wollen« bedarf wahrscheinlich keiner weiteren Erklärung. Man solle nur Gutes<br />

wollen, nicht nur für sich, wie es viele heutzutage tun, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch für an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en,<br />

für <strong>sei</strong>ne Umwelt. Ein <strong>Mensch</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> Böses will, wird auch nichts Gutes schaffen können,<br />

<strong>de</strong>swegen ist es wichtig, sich schon in Gedanken richtig zu entschei<strong>de</strong>n. Denn unsere Taten<br />

hängen von unserem Denken ab. Da sind wir auch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> bei <strong>de</strong>n Fähigkeiten <strong>de</strong>s<br />

<strong>Mensch</strong>en, nämlich wählen, richten <strong>und</strong> unterschei<strong>de</strong>n, ohne diese ist ein <strong>Mensch</strong> – kein<br />

<strong>Mensch</strong>.<br />

68


Letztendlich soll <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> nicht nur Gutes wollen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch »das Beste thun«.<br />

Mit unseren Gedanken können wir nämlich keine Dinge auf <strong>de</strong>m Tisch bewegen, so sehr<br />

wir es uns auch wünschen wür<strong>de</strong>n. »Wollen« allein reicht nicht aus, um die Welt wirklich zu<br />

verbessern. Wir müssen han<strong>de</strong>ln! Für mich ist das <strong><strong>de</strong>r</strong> letzte Schritt auf <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>s<br />

Tikkun Olam. Wie komme ich jetzt zu Tikkun Olam, wenn ich doch von Men<strong>de</strong>lssohn<br />

sprach? Meiner Meinung nach ergänzt sich alles sehr <strong>gut</strong>. Goethe ergänzt Men<strong>de</strong>lssohn,<br />

Men<strong>de</strong>lssohn ergänzt Tikkun Olam <strong>und</strong> man könnte diese Kette noch weiter führen. Im<br />

Gr<strong>und</strong>e wer<strong>de</strong>n wir immer auf das Gleiche hinauskommen, die Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en!<br />

Wie soll <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>sei</strong>n? Was soll er tun? Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s menschlichen<br />

Lebens? Diese Fragen schienen mir sehr schwierig zu <strong>sei</strong>n, heute jedoch sind sie für mich<br />

zum größten Teil geklärt. Diese Wendung habe ich unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>em <strong>de</strong>n Seminaren <strong>und</strong><br />

Vorlesungen während <strong><strong>de</strong>r</strong> Summer School zu verdanken. Mein Essay stützt sich vor allem<br />

auf die Aussagen von Dr. Urban, Dr. Freitag <strong>und</strong> Prof. Avi Primor.<br />

Dr. Urban sagte, dass wir <strong>Mensch</strong>en für das verantwortlich sind, was auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong> passiert,<br />

<strong>und</strong> wir müssen auch die Taten <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit verantworten. Meiner Meinung<br />

nach gehört das auch zu unserer Aufgabe, <strong>de</strong>nn wir können nur eine bessere Welt schaffen,<br />

in<strong>de</strong>m wir aus <strong>de</strong>n Fehlern in <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit lernen <strong>und</strong> solche Fehler nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zulassen.<br />

Dabei spielt die Erinnerung eine wichtige Rolle, <strong>de</strong>nn man soll nie vergessen, was<br />

geschehen ist, damit es nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> geschieht, das liegt in unserer Verantwortung.<br />

Das Zitat von Schiller fällt mir dazu ein, es ergänzt in gewisser Weise die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en: »Es<br />

ist nichts als die Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel, was das Leben erträglich macht.«<br />

Wenn es um die Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en geht, ist das Ziel also die Verbesserung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Welt <strong>und</strong> die Tätigkeiten sind die, die Men<strong>de</strong>lssohn so schön aufgelistet hat. Wenn wir uns<br />

in diese Tätigkeiten auch noch verlieben, dann erreichen wir ein Glücksgefühl, nach <strong>de</strong>m<br />

doch je<strong><strong>de</strong>r</strong> von uns strebt. Die Tätigkeit bestimmt <strong>de</strong>n Wert eines <strong>Mensch</strong>en! Die Tätigkeit<br />

<strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille, die Welt zu verbessern, müssten je<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich zu <strong>sei</strong>ner wahren Bestimmung<br />

entschließt, glücklich machen. Jedoch ist das Streben nach Glück schon ein ganz<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Thema …<br />

Der <strong>Mensch</strong> soll e<strong>de</strong>l, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong> <strong>sei</strong>n, er soll »Wahrheit erkennen, Schönheit<br />

lieben, Gutes wollen <strong>und</strong> das Beste thun...«, das sind die Voraussetzungen für mein ganz<br />

persönliches Tikkun Olam – meiner Vorstellung von <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Bestimmung im<br />

Leben.<br />

Essay Henrike Reincke<br />

Millionen <strong>Mensch</strong>en sind in <strong>de</strong>n Konzentrationslagern<br />

ums Leben gekommen. Unermessliches<br />

Leid wur<strong>de</strong> verursacht. Die Gr<strong>und</strong>festen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Gesellschaft sind erschüttert<br />

wor<strong>de</strong>n. Nun muss man auch die Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Verantwortung <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule stellen. Goethe hat<br />

ein anspruchsvolles Ziel gesetzt: »<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>.« Das Problem ist,<br />

dass <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> erst erkennen muss, was das<br />

Gute überhaupt ist. Moses Men<strong>de</strong>lssohn hat es<br />

so formuliert: »Wahrheit erkennen, Schönheit<br />

lieben, Gutes wollen, das Beste thun …«. Die<br />

erste Aufgabe ist die Voraussetzung für die folgen<strong>de</strong>n.<br />

Ich muss wissen, was schön <strong>und</strong> <strong>gut</strong> ist.<br />

69


Dazu fällt mir immer ein Buch von Oscar Wil<strong>de</strong> ein: »The picture of Dorian Gray«. Dorian<br />

altert nicht, <strong>sei</strong>ne Sün<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Verbrechen sind nur auf <strong>sei</strong>nem Abbild, einem Porträt, zu<br />

sehen. Er selbst bleibt umwerfend schön. Und doch kann Men<strong>de</strong>lssohn diese Schönheit<br />

nicht meinen, <strong>de</strong>nn sie ist oberflächlich, verborgen <strong>und</strong> falsch. Vielmehr sucht er nach <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

»wahren« Schönheit <strong>und</strong> genauso verhält es sich mit »<strong>gut</strong>« <strong>und</strong> »besser«. Wie oft hat man<br />

das schon gehört: »Ich will doch nur <strong>de</strong>in Bestes.« Meist ist es etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es, als man selbst<br />

für richtig hält. Entschei<strong>de</strong>nd ist jedoch das »wirklich Beste«. Men<strong>de</strong>lssohns For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung ist<br />

nicht leicht zu erfüllen: Man muss gleichzeitig erkennen <strong>und</strong> han<strong>de</strong>ln können. Aber gera<strong>de</strong><br />

weil <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>Mensch</strong> ist, ist er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage, dies zumin<strong>de</strong>st zu versuchen. Laut Karol<br />

Woityła ist für das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en kennzeichnend, dass er die Erkenntnisfähigkeit<br />

<strong>und</strong> die Fähigkeit zur Selbstbestimmung besitzt. Dadurch kann er Verantwortung übernehmen<br />

<strong>und</strong> Gutes tun. Wichtig ist jedoch, dass er erst einmal in die Lage versetzt wird,<br />

selbst zu entschei<strong>de</strong>n. Erkenntnis braucht Anleitung/Hilfe. An dieser Stelle kommt die<br />

Erziehung, die Schule, ins Spiel. Sie hat die Aufgabe, <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en zum selbstständigen<br />

Denken anzuregen. Man könnte es so formulieren: Schule soll je<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Weg <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erkenntnis führen, um ihn dann allein weiter gehen zu lassen. Sein Ziel, die Wahrheit, muss<br />

je<strong><strong>de</strong>r</strong> für sich selbst fin<strong>de</strong>n. Wenn Schule alles vorschreibt, hat <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorgang <strong>de</strong>s Lernens<br />

nichts mehr mit Erkenntnis zu tun. Dann weiß man vielleicht, was man tun sollte, ist aber<br />

nicht überzeugt davon. Und in je<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit sind doch Überzeugungen wichtig, I<strong>de</strong>ale.<br />

Gera<strong>de</strong> anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> Schoah wird <strong>de</strong>utlich, dass die Erziehung versagt hat. Millionen<br />

<strong>Mensch</strong>en sind Hitler gefolgt, haben für ihn getötet <strong>und</strong> sich töten lassen, vollgestopft mit<br />

rassistischen Vorurteilen, verführt von falschen Hel<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Wo blieb da die<br />

Vernunft <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufklärung, die I<strong>de</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichheit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>en? Es war nicht gelungen,<br />

selbstständig Denken<strong>de</strong> heranzubil<strong>de</strong>n. Die Erziehung hatte versagt. Es blieb eine einzige<br />

braune Masse. Wenn man nach Woityla geht, waren sie nicht einmal Personen im eigentlichen<br />

Sinne: we<strong><strong>de</strong>r</strong> zur Erkenntnis noch zur Selbstbestimmung fähig. Die meisten waren<br />

nicht »e<strong>de</strong>l, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>«. Einige hatten vielleicht erkannt, was »Wahrheit« <strong>und</strong> das<br />

»Gute« ist, scheiterten aber am letzten Schritt, <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln, hatten nicht genug (Zivil-)<br />

Courage. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e jedoch halfen, waren also im wirklichen Sinne <strong>Mensch</strong>en. Warum aber so<br />

wenige? Hatte die Erziehung ihre Aufgabe letztendlich einfach nicht erkannt? Man <strong>de</strong>nke<br />

nur an »Unterm Rad« von Hesse. Dabei hatte doch schon Her<strong><strong>de</strong>r</strong> die Wichtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Erziehung zur Selbstständigkeit bedacht. Trotz<strong>de</strong>m war es misslungen. Am En<strong>de</strong> hätten<br />

»edle, <strong>hilfreich</strong>e <strong>und</strong> <strong>gut</strong>e« <strong>Mensch</strong>en dastehen müssen, <strong>und</strong> was gab es tatsächlich: verblen<strong>de</strong>te<br />

Duckmäuser.<br />

Allerdings darf man nicht vergessen, dass sowohl Goethe als auch Men<strong>de</strong>lssohn ein<br />

I<strong>de</strong>albild <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en entwerfen. Es liegt eben auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en, dass er<br />

fehlerbehaftet ist <strong>und</strong> folglich nicht alle Ziele erreichen kann. Und doch muss es unser Ziel<br />

<strong>sei</strong>n, diesem I<strong>de</strong>al möglichst nahe zu kommen. Wie Goethe meint: Der Blick muss nach<br />

oben gerichtet <strong>sei</strong>n, nicht nach unten. Wer will schon <strong>de</strong>m Tier gleich <strong>sei</strong>n? Und doch ist es<br />

gera<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, »das vernunftbegabte Wesen«, <strong><strong>de</strong>r</strong> für Auschwitz verantwortlich ist. In<br />

<strong>de</strong>n letzten Tagen haben wir von so viel Grausamkeit gehört, nicht nur in Bezug auf <strong>de</strong>n<br />

Nationalsozialismus, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch auf <strong>de</strong>n Völkermord in Darfur, dass man sich fragt,<br />

warum man all das nicht verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann <strong>und</strong> konnte. Adorno sagte, nach Auschwitz müsse<br />

die Erziehung eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>sei</strong>n. Eigentlich müsste die ganze Welt eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>sei</strong>n <strong>und</strong><br />

ist es doch nicht. Je<strong>de</strong>nfalls muss es endlich, nach all <strong>de</strong>m unbeschreiblichen Lei<strong>de</strong>n, gelingen,<br />

<strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en »zum <strong>Mensch</strong>en zu machen«. In Hinblick auf <strong>sei</strong>ne Fehler, aber auch<br />

auf <strong>sei</strong>ne Möglichkeiten.<br />

70


Essay Claudia Schöwe<br />

Seid <strong>Mensch</strong>en – zeigt Zivilcourage – wer<strong>de</strong>t Hel<strong>de</strong>n<br />

Die Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en stellt man<br />

sich <strong>sei</strong>t vielen Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten. Johann Wolfgang von<br />

Goethe äußerte sich zu dieser Thematik <strong>und</strong> war <strong><strong>de</strong>r</strong> Ansicht:<br />

» <strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>...« <strong>und</strong> auch<br />

Moses Men<strong>de</strong>lsohn war <strong><strong>de</strong>r</strong> Meinung, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> müsse<br />

»Wahrheit erkennen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das<br />

Beste thun…«.<br />

Doch was wollten diese bei<strong>de</strong>n Männer damit zum Ausdruck<br />

bringen, <strong>und</strong> ist es noch aktuell, <strong>de</strong>nn schließlich sind<br />

bei<strong>de</strong> <strong>sei</strong>t etlichen Jahren nicht mehr am Leben. Noch vor<br />

ein paar Tagen hätte ich nicht gewusst, was diese bei<strong>de</strong>n<br />

Herren uns damit sagen wollten, doch heute verstehe ich es.<br />

Die <strong>Mensch</strong>en, also Sie <strong>und</strong> ich, sollen die Augen nicht vor <strong>de</strong>m verschließen, was auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Welt passiert <strong>und</strong> passiert ist. Wir sollen für Gerechtigkeit sorgen, helfen <strong>und</strong> das Bestmögliche<br />

versuchen. Jedoch was ist das Bestmöglich, <strong>und</strong> kann ich allein etwas verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n?<br />

Die Antwort darauf lautet ja, <strong>de</strong>nn man muss nur in die Geschichte sehen <strong>und</strong> dann erkennt<br />

man, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> viel verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n kann zum Beispiel durch Zivilcourage. <strong>Mensch</strong>en,<br />

die in schwierigen Situationen Zivilcourage zeigten <strong>und</strong> das Leben von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

über ihr eigenes stellten, sind Hel<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong> daher unvergessen. Durch<br />

ihre Taten wur<strong>de</strong> das Land ein wenig glücklicher, <strong>de</strong>nn wie Bertolt Brecht schon sagte:<br />

»Unglücklich ist das Land, das Hel<strong>de</strong>n nötig hat.«<br />

Für mich ist einer <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zivilcourage gezeigt hat, Moses. Er befreite die Ju<strong>de</strong>n<br />

aus Ägypten <strong>und</strong> führte sie in das Gelobte Land. Es gibt natürlich noch weitere Hel<strong>de</strong>n,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Taten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel beschrieben wer<strong>de</strong>n, doch will ich darauf nicht weiter eingehen,<br />

<strong>de</strong>nn was mich viel mehr beeindruckte, war die Zivilcourage im Zweiten Weltkrieg.<br />

Früher wusste ich nicht viel darüber, doch heute, nach all <strong>de</strong>n Eindrücken <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten<br />

Tage, habe ich neue Erfahrungen erlangt. Es bewegte mich zutiefst zu hören, dass Leute<br />

Ju<strong>de</strong>n versteckten <strong>und</strong> dadurch ihr Leben riskierten, obwohl sie wussten, dass sie getötet<br />

wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n, wenn das herauskommt. Mir schossen die Gedanken nur so durch <strong>de</strong>n<br />

Kopf, <strong>und</strong> ich stellte mir immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Frage: Was bewegte sie zu diesen Taten?<br />

Ich fand eine Antwort <strong>und</strong> sie lautete Zivilcourage! Sie taten es, weil sie <strong>Mensch</strong>en waren<br />

<strong>und</strong> dadurch wur<strong>de</strong>n sie zu <strong>de</strong>n eigentlichen großen Hel<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Zweiten Weltkrieges.<br />

Jedoch ist es tragisch, dass sie nicht Hel<strong>de</strong>n genannt wer<strong>de</strong>n wollten, weil sie Angst hatten<br />

vor <strong>de</strong>n Nachbarn, <strong>de</strong>m Regime <strong>und</strong> ja sogar vor ihrer Familie. Dennoch machten sie weiter,<br />

weil sie die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en irgendwann überzeugen wollten <strong>und</strong> Professor Avi Primor sagte<br />

treffend: »Zivilcourage ist schwerer, als auf <strong>de</strong>m Schlachtfeld zu kämpfen.«<br />

Meiner Meinung nach kann je<strong><strong>de</strong>r</strong> jeman<strong>de</strong>n töten, doch jeman<strong>de</strong>n zu retten <strong>und</strong> <strong>sei</strong>n<br />

eigenes Leben riskieren, erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t viel mehr Mut. Ich fin<strong>de</strong> es nicht hel<strong>de</strong>nhaft jeman<strong>de</strong>n<br />

zu töten, <strong>und</strong> mir kommen immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Gedanken, dass die Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>standskämpfer <strong>und</strong><br />

Deserteure damals <strong>und</strong> heute wahre Hel<strong>de</strong>n sind. Sie zeigten Zivilcourage <strong>und</strong> wollten etwas<br />

Gutes tun <strong>und</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>Mensch</strong>en helfen. Durch ihr Engagement machen <strong>und</strong> machten sie<br />

die Welt ein wenig schöner <strong>und</strong> sie zeigten, dass <strong>Mensch</strong>en nicht machtlos sind <strong>und</strong><br />

etwas Positives bewirken können. Sie betreiben nicht nur Zivilcourage, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n üben<br />

bewusst o<strong><strong>de</strong>r</strong> unbewusst <strong>de</strong>n Tikkun Olam aus. Das be<strong>de</strong>utet, sie »reparieren die Welt«.<br />

Doch nun ist unsere Zeit gekommen <strong>und</strong> wir sind daran etwas zu tun, um die Welt<br />

schöner zu machen für die nachfolgen<strong>de</strong>n Generationen. Wir müssen Zivilcourage zeigen,<br />

71


<strong>und</strong> es fängt schon damit an, ein fre<strong>und</strong>liches Wort für jeman<strong>de</strong>n zu haben o<strong><strong>de</strong>r</strong> ihn zu<br />

trösten. Der <strong>Mensch</strong> muss selber gerecht <strong>sei</strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt, <strong>de</strong>nn wenn je<strong><strong>de</strong>r</strong> nur an sich<br />

<strong>de</strong>nkt, wird die Welt grausam <strong>sei</strong>n <strong>und</strong> wer weiß, vielleicht bricht irgendwann <strong><strong>de</strong>r</strong> Dritte<br />

Weltkrieg aus.<br />

Wahrscheinlich fragen Sie sich gera<strong>de</strong>, wie sie Zivilcourage zeigen sollen <strong>und</strong> auch<br />

ich hätte mir vor kurzem <strong>de</strong>n Kopf darüber zerbrochen. Sie brauchen natürlich keine<br />

<strong>Mensch</strong>en in ihrem Keller verstecken. Man braucht nur mit offenen Augen durch die Welt<br />

laufen <strong>und</strong> dann erkennt man schon, wie viel Unheil es auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt noch gibt. Ich <strong>de</strong>nke<br />

da an <strong>de</strong>n Genozid in Darfur, <strong>de</strong>n Irakkrieg, <strong>de</strong>n Streit <strong><strong>de</strong>r</strong> Palästinenser <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Israelis<br />

<strong>und</strong> natürlich an <strong>de</strong>n Rechtsextremismus, <strong><strong>de</strong>r</strong> immer noch sehr verbreitet ist <strong>und</strong> immer<br />

stärker wird.<br />

Sie <strong>und</strong> ich müssen han<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> nicht nur immer darüber re<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn wie Dr. Susanne<br />

Urban meinte: »Worte dürfen nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> eine leere Hülle <strong>sei</strong>n.«<br />

Auch bei diesen Aspekten steht die Zivilcourage für mich an höchster Stelle. Natürlich<br />

kann man nicht als einzelner <strong>Mensch</strong> beziehungsweise mit einer kleinen Gruppe <strong>de</strong>n Genozid<br />

stoppen <strong>und</strong> auch die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Geschehnisse wer<strong>de</strong>n nicht einfach en<strong>de</strong>n, nur weil<br />

wir es so wollen. Doch man kann helfen, darauf aufmerksam zu machen <strong>und</strong> versuchen an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Leute aufzuklären. Ich fin<strong>de</strong>, die Konfrontation ist ein wichtiges Mittel, um <strong>Mensch</strong>en<br />

die Augen zu öffnen. Wir müssen ja nicht gleich die ganze Welt retten <strong>und</strong> versuchen schöner<br />

zu machen, <strong>de</strong>nn es reicht schon, wenn wir bei uns in unserer Heimat Mecklenburg-<br />

Vorpommern anfangen. Bei uns im Land wird die Zahl rechtsradikaler <strong>Mensch</strong>en immer<br />

größer <strong>und</strong> auch die Gewaltbereitschaft nimmt drastisch zu. Wenn ich darüber nach<strong>de</strong>nke,<br />

dass sechs Männer <strong><strong>de</strong>r</strong> NPD bei uns im Landtag sitzen, wird mir einfach nur noch schlecht.<br />

Helfen Sie mit, dass Mecklenburg-Vorpommern nicht braun wird!<br />

Durch die einfachsten Dinge wie Aktionstage, Demonstrationen, Pressearbeit <strong>und</strong> Unterschriftensammlungen<br />

können Sie Zivilcourage <strong>und</strong> wirkliches Engagement für Ihre<br />

Mitmenschen zeigen. Des Weiteren kann man Organisationen beitreten <strong>und</strong> eben eine von<br />

diesen hat mal ein Banner, am Ran<strong>de</strong> einer »Nazi-Demo«, aufgehängt, wo drauf stand:<br />

»Kein Sex mit Nazis!«. Auch das ist Zivilcourage - sich engagieren kann je<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Ich for<strong><strong>de</strong>r</strong>e Sie hiermit auf ein <strong>Mensch</strong> zu <strong>sei</strong>n, Zivilcourage zu zeigen <strong>und</strong> ein Held zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Dadurch, dass ich über die Zitate von Goethe <strong>und</strong> Men<strong>de</strong>lsohn nachgedacht habe<br />

<strong>und</strong> auch viele Informationen darüber erfahren habe, bin ich zum Entschluss gekommen,<br />

dass <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> die Bestimmung hat Zivilcourage zu zeigen. Er muss an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>Mensch</strong>en<br />

helfen, e<strong>de</strong>l <strong>sei</strong>n <strong>und</strong> das bestmögliche Gute tun. Nur wir haben die Möglichkeit, die Welt<br />

zu verbessern <strong>und</strong> sie zu schützen.<br />

Die Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Bestimmung <strong>de</strong>s <strong>Mensch</strong>en <strong>und</strong> somit danach Zivilcourage zu zeigen,<br />

ist eine aktuelle Frage <strong>und</strong> sie wird es wohl immer bleiben.<br />

Ich für meinen Teil bin zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung gelangt, meiner Bestimmung zu folgen<br />

<strong>und</strong> will mich nun mehr für meine Mitmenschen einsetzen.<br />

Treffen Sie nun Ihre Entscheidung! Wollen nicht auch Sie Ihrer Bestimmung folgen<br />

72


Essay Anna Warncke<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>...«<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>...«,<br />

»Wahrheit erkennen, Schönheit lieben, Gutes<br />

wollen, das Beste thun...« Mit ihren Zitaten haben<br />

uns Goethe <strong>und</strong> Men<strong>de</strong>lssohn kurz <strong>und</strong>, wie<br />

ich fin<strong>de</strong>, sehr <strong>gut</strong> gesagt, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>sei</strong>n<br />

sollte. Wenn alle <strong>Mensch</strong>en nach diesen, ich<br />

wür<strong>de</strong> sie sogar Gebote nennen, gehan<strong>de</strong>lt hätten<br />

<strong>und</strong> han<strong>de</strong>ln wür<strong>de</strong>n, wäre die Welt in Ordnung.<br />

Alle <strong>Mensch</strong>en wür<strong>de</strong>n in Frie<strong>de</strong>n leben,<br />

keiner müsste Hunger lei<strong>de</strong>n <strong>und</strong> alle <strong>Mensch</strong>en<br />

wären eine große glückliche Gemeinschaft.<br />

Wäre es aber tatsächlich so? Ich <strong>de</strong>nke wohl<br />

eher nicht, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> verlangt immer zu<br />

viel, »er nimmt sich immer zu viel heraus«. Der<br />

<strong>Mensch</strong> ist oft viel zu egoistisch.<br />

Außer<strong>de</strong>m hat uns die Vergangenheit gezeigt,<br />

dass viele Leute sehr viel Leid durch die Nazis erfahren mussten.<br />

Aber haben sie nicht auch vielleicht ihr Bestes getan? Ich will Hitler, Himmler, Goebbels<br />

<strong>und</strong> alle diese überzeugten »Untiere«, wie Inger Gulbrandson sie in einem Seminar<br />

nannte, nicht in Schutz nehmen – niemals –, aber was ist mit <strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en, z. B. <strong>de</strong>n<br />

SS-Männern, die wie viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e auch anfangs nichts von diesem Schrecken wussten?!<br />

Hatten sie nicht auch Angst? Sie waren unter psychischen Druck, in Not <strong>und</strong> wussten nicht<br />

mehr, wie sie aus <strong>de</strong>m Dilemma rauskommen sollten. Sie hatten Familien <strong>und</strong> wussten,<br />

dass sie selber ihr Leben o<strong><strong>de</strong>r</strong> das ihrer Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> lassen müssten, wenn sie aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Partei<br />

ausgetreten wären. Denn sie wussten ja Bescheid!<br />

Das ist die eine Seite, die ich minimal auf eine gewisse Art <strong>und</strong> Weise verstehen kann.<br />

Aber wie kann es dann <strong>sei</strong>n, dass sie auf <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Seite frem<strong>de</strong> kleine Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> von ihren<br />

Müttern <strong>und</strong> Vätern trennten, sie vor <strong>de</strong>n Augen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleinen ermor<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong> sogar selbst<br />

in Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>augen sehen <strong>und</strong> einfach abdrücken? Das ist etwas Unmögliches, <strong>und</strong> ich wer<strong>de</strong><br />

es nie, in keinster Weise nachvollziehen können!<br />

Wenn nun diese nicht überzeugten Nationalsozialisten sich wirklich in dieser Situation,<br />

in diesem moralischen Dilemma befan<strong>de</strong>n, warum sind dann trotz<strong>de</strong>m so viele »Ja-Sager«<br />

geblieben? Ich an ihrer Stelle hätte meine Familie in Sicherheit gebracht <strong>und</strong> alles dafür<br />

getan, diesem Elend, diesen Demütigungen, dieser krankhaften I<strong>de</strong>ologie ein En<strong>de</strong> zu<br />

bereiten.<br />

Bloß wie?<br />

Mein erster Gedanke wäre, sich Verbün<strong>de</strong>te zu suchen <strong>und</strong> im Konzentrationslager mit<br />

<strong>de</strong>n Häftlingen einen Ausbruch zu planen (Waffen beschaffen, Fluchtwege planen etc.).<br />

Und wenn es soweit ist, wür<strong>de</strong> ich so viele Nazis, wie es nur geht, die Spaß daran haben<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en zu quälen, zu töten, aus <strong>de</strong>m Weg räumen – im Bewusst<strong>sei</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefahr<br />

<strong>und</strong> Wahrscheinlichkeit, selbst »ins Gras beißen zu müssen«, aber um ein Zeichen zu<br />

setzen!<br />

Das wäre ein erster <strong>gut</strong>er, hilfsbereiter Schritt im Sinne <strong><strong>de</strong>r</strong> erkannten Wahrheit gewesen.<br />

Trotz alle <strong>de</strong>m bleibt die Ermordung von <strong>Mensch</strong>en natürlich falsch! Ich <strong>de</strong>nke, solche<br />

Aktionen waren schwer umsetzbar, aber sie waren möglich, davon bin ich überzeugt.<br />

Was mich am meisten während <strong><strong>de</strong>r</strong> Summer School beschäftigte <strong>und</strong> beeindruckte, war das<br />

Zeitzeugengespräch mit Inger Gulbrandson. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> – nein ein paar Unaufgeklärte <strong>und</strong><br />

73


»Hirnverbrannte«, die an die schönen Taten <strong><strong>de</strong>r</strong> Nazis <strong>und</strong> Hitlers glauben, gibt es lei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

heute noch – weiß wie schrecklich es in <strong>de</strong>n Konzentrationslagern zuging, aber was sie erzählte,<br />

schnürte mir die Luft zum Atmen ab <strong>und</strong> ich musste mich sehr zusammenreißen<br />

nicht anzufangen zu weinen o<strong><strong>de</strong>r</strong> auf die Toilette zu laufen, um mich zu übergeben.<br />

Ärzte, die eigentlich ja Ärzte sind um an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu helfen, wer<strong>de</strong>n von <strong><strong>de</strong>r</strong> KZ- Führung belobigt,<br />

weil sie elf Babys über Nacht vor das offene Fenster gelegt haben, damit sie<br />

sterben. Warum die Belobigung? Weil sie keine Spritzen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Gas o<strong><strong>de</strong>r</strong> Sonstiges für ihre<br />

Ermordung verschwen<strong>de</strong>ten. Wow! Was für eine Leistung! SS-Männer, die sich Stehlampen<br />

<strong>und</strong> Tabakbüchsen aus beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s schönen Schä<strong>de</strong>ln von Häftlingen machen. Wie<br />

krank kann <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> bloß <strong>sei</strong>n?<br />

Für mich ist es unvorstellbar, wie man so besessen, barbarisch <strong>und</strong> abartig <strong>sei</strong>n kann!<br />

Und diese Inger Gulbrandsen ist so stark <strong>und</strong> erzählt diese wahren Geschichten mit Humor<br />

<strong>und</strong> kann sogar noch lächeln zwischendurch?!<br />

Wie <strong>gut</strong>, dass es diese Frau gibt.<br />

Noch mehr überraschte mich als sie eine, ich sage mal »Anbän<strong>de</strong>lung« mit einem SS-<br />

Mann hatte. Sie lebt in einem Konzentrationslager, erlebt Tag für Tag die schrecklichsten<br />

Dinge durch diese Männer, aber lässt sich auf einen ein …<br />

Es ist für mich sehr schwer nachvollziehbar, dass sie scheinbar nach <strong>de</strong>m Gedanken:<br />

»Man kann nicht alle <strong>Mensch</strong>en über einen Kamm scheren.« han<strong>de</strong>lte.<br />

Sie ist ein <strong>Mensch</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en sagen kann o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie ich fin<strong>de</strong>, gebieten könnte: »<strong>E<strong>de</strong>l</strong><br />

<strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong> …«, <strong>de</strong>nn das war sie <strong>und</strong> ist sie für mich auch heute, da<br />

sie <strong>de</strong>n Mut <strong>und</strong> die Kraft hat, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e über alles aufzuklären. Außer<strong>de</strong>m zeigt sie so, wie<br />

wichtig es ist die Geschehnisse zu behan<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> sich an diese zu erinnern.<br />

All diese Erlebnisse, die ich mit Inger hatte <strong>und</strong> auch das Seminar mit Frau Margit<br />

Wunsch haben mir gezeigt, dass wirklich allein <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, wie auch Herr Dr. Egon Freitag<br />

in <strong>sei</strong>ner Vorlesung schil<strong><strong>de</strong>r</strong>te, es ermöglichen kann, das Unmögliche zu tun.<br />

Der <strong>Mensch</strong> ist dazu fähig, unmögliche Grausamkeiten an<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong>Mensch</strong>en zuzufügen.<br />

Gott <strong>sei</strong> Dank gibt es aber auch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e tapfere <strong>und</strong> edle <strong>Mensch</strong>en, wie in Dänemark, die<br />

trotz großer Angst bereit waren, <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n während <strong><strong>de</strong>r</strong> Nazi-Zeit zu helfen. Nicht nur das<br />

kleine Land hätte Angst haben müssen vor <strong>de</strong>m Weltreich Deutschland, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch die<br />

<strong>Mensch</strong>en. Aber dieses Volk hat sich nicht beirren lassen <strong>und</strong> hat <strong>sei</strong>ne Augen nicht verschlossen.<br />

Sie haben die Wahrheit erkannt, wollten Gutes <strong>und</strong> haben das Beste getan. Sie<br />

haben wirklich Zivilcourage bewiesen. Ich möchte noch ein paar Beispiele nennen um<br />

mein Fazit zu ver<strong>de</strong>utlichen. Die Ju<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n in dänischen Krankenhäusern zum<br />

Beispiel unter falschen Namen eingeliefert, damit die Deutschen sie nicht i<strong>de</strong>ntifizieren<br />

<strong>und</strong> fin<strong>de</strong>n konnten. Das war sehr riskant, aber sie haben es getan. Außer<strong>de</strong>m hat sich die<br />

dänische Flotte selbst versenkt, damit man die Deportationen auf ihren Schiffen (durch<br />

die Deutschen) verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n konnte.<br />

Ich kann also Herrn Dr. Egon Freitag nur zustimmen, dass allein <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> zum<br />

Unmöglichen fähig ist. Das ist wohl <strong>sei</strong>ne Bestimmung …<br />

74


Essay Max Alexandrin<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong> <strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>…«<br />

Goethe formuliert mit diesen Worten ein<br />

universales Konzept, welches für je<strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en<br />

gelten sollte, welches eine gesellschaftliche<br />

Norm <strong>de</strong>s Verhaltens eines Je<strong>de</strong>n im Leben<br />

ein<strong>de</strong>utig beschreibt. Eine I<strong>de</strong>alvorstellung, die<br />

<strong>sei</strong>nen Wunsch <strong>de</strong>s »Strebens nach <strong>de</strong>m Höchsten«<br />

wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spiegelt. Diese normative Wertevorstellung<br />

entwickelte sich über die Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />

mehr <strong>und</strong> mehr über die Renaissance <strong>und</strong> Aufklärung<br />

bis in die heutige Zeit, doch befand sie<br />

sich meiner Meinung nach immer im Herzen<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>en.<br />

Doch ist diese Wertevorstellung, die in<br />

mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Manifesten <strong>und</strong> Gedanken immer<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zum Ausdruck kommt, voll erfüllbar?<br />

Nun, ich <strong>de</strong>nke, dass sie ein positives, man kann sogar sagen ein perfektes <strong>Mensch</strong>enbild<br />

kennzeichnet, aber nur eine Richtlinie darstellt, die uns allen zu verfolgen, erstrebenswert<br />

erscheinen sollte. Um das Höchste, das Beste, das Perfekte zu erreichen, dazu war <strong>und</strong> ist<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> einfach gesagt zu menschlich. Doch irgendwo, tief in <strong>sei</strong>nem Innersten strebt<br />

wohl, ich möchte heutzutage nicht sagen je<strong><strong>de</strong>r</strong>, doch zumin<strong>de</strong>st <strong><strong>de</strong>r</strong> große Teil <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>Mensch</strong>en eine Verwirklichung <strong>sei</strong>ner Selbst in hohem Maße an. Diese Verwirklichung<br />

geschieht jedoch keinesfalls alleine, automatisch <strong>und</strong> singulär durch die eigene Person. Ich<br />

<strong>de</strong>nke, um <strong>sei</strong>nen Weg zu fin<strong>de</strong>n, um <strong>sei</strong>n eigenes Leben in Bahnen zu lenken, welche <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

persönlichen Zufrie<strong>de</strong>nheit positiv zuträglich sind, muss ein Je<strong><strong>de</strong>r</strong> vorrangig selbst dafür<br />

sorgen, dieses Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstbestimmung, jedoch nicht immer ohne Hilfe, zu erreichen.<br />

Aber wür<strong>de</strong> ein <strong>Mensch</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> selbst unglücklich ist, fähig <strong>sei</strong>n, sich aus <strong>sei</strong>nem »Jammertal«<br />

zu erheben, einen Schritt nach vorn zu wagen, in das Risikoreiche, das Unbekannte?<br />

Viele <strong>Mensch</strong>en scheuen sich davor, Neues zu beginnen, obwohl es ihr innigster Wunsch<br />

ist. Ein großer Teil von ihnen lebt sogar in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kontroverse <strong><strong>de</strong>r</strong> Halbzufrie<strong>de</strong>nheit. Es wäre<br />

schön, ja erstrebenswert etwas Neues zu tun, sich weiterzuentwickeln.<br />

Schaue ich in die Geschichte, in die Zeit <strong>de</strong>s Mittelalters, wo Hörige, Leibeigene, selbst<br />

Bauern, bedingt durch ihre Umstän<strong>de</strong> sich Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te lang <strong><strong>de</strong>r</strong> Obrigkeit unterwarfen<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> betrachte ich, wie die <strong>Mensch</strong>en sich am Anfang <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts in Deutschland<br />

verhielten <strong>und</strong> eine so genannte »Bie<strong><strong>de</strong>r</strong>meierkultur« herausbil<strong>de</strong>ten, so frage ich mich:<br />

Wo war damals das Streben nach <strong>de</strong>m Höchsten, <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Selbstverwirklichung?<br />

War es abhan<strong>de</strong>n gekommen, einfach zwischenzeitig verschw<strong>und</strong>en?<br />

Ich glaube, dieser Wunsch, diese Sehnsucht wur<strong>de</strong> gekonnt ignoriert <strong>und</strong> nicht betrachtet.<br />

Aus Angst, aus Bequemlichkeit, selbst aus einer Scheinzufrie<strong>de</strong>nheit heraus gelang es <strong>de</strong>n<br />

<strong>Mensch</strong>en, dieses wichtige Leitbild zu unterdrücken o<strong><strong>de</strong>r</strong> zumin<strong>de</strong>st so weit zu verstümmeln,<br />

bis man glaubte, <strong>sei</strong>n Ziel bereits erreicht, <strong>sei</strong>ne Verwirklichung bereits gef<strong>und</strong>en zu<br />

haben.<br />

Dass dies nicht so bleiben konnte, ja, dass es sogar eine Verneinung <strong>de</strong>s menschlichen<br />

Wesens darstellt, wird klar <strong>und</strong> <strong>de</strong>utlich, betrachtet man Ereignisse, wie die Französische<br />

Revolution, während <strong><strong>de</strong>r</strong> die <strong>Mensch</strong>en sich aus ihren alten Umstän<strong>de</strong>n erhoben, es ihnen<br />

nicht mehr genug erschien, unterdrückt, kontrolliert <strong>und</strong> beschränkt in ihrer Freiheit zu<br />

leben.<br />

75


»Habe Mut dich <strong>de</strong>ines eigenen Verstan<strong>de</strong>s zu bedienen!« Diese Worte Immanuel<br />

Kants beschreiben, dass eigentlich je<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> die Möglichkeit hat, sich <strong>sei</strong>nen Intellekt<br />

zunutze zu machen, es aber doch nicht immer zu tun wagte. Goethe, <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Französischen Revolution zu blutig erschien, beschrieb trotz<strong>de</strong>m ganz richtig mit <strong>de</strong>n<br />

Worten »Den Tüchtigen ist die Welt nicht stumm.«, dass es mehr braucht, als <strong>gut</strong>e Veranlagungen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Willen um etwas zu vollbringen, um etwas Höheres zu erreichen. Ohne<br />

die Tat bleibt <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>gut</strong>e Vorsatz erfolglos <strong>und</strong> wür<strong>de</strong> somit verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, dass die<br />

<strong>Mensch</strong>en jemals schöpferisch tätig wer<strong>de</strong>n.<br />

Herr Dr. Egon Freitag sprach vollkommen berechtigt <strong>de</strong>n Satz: »The being of creativity<br />

is in love with what one is doing.« aus, <strong>de</strong>nn ohne das eine kann das an<strong><strong>de</strong>r</strong>e nicht zur persönlichen<br />

Selbstverwirklichung führen. Ist <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> nun bereit, kreativ tätig zu wer<strong>de</strong>n,<br />

Höheres anzustreben, neue Ebenen zu erreichen, so muss er nur noch damit beginnen.<br />

Doch zu welchem Zweck? Wofür? – könnte man fragen. Ist es im En<strong>de</strong>ffekt nötig, um e<strong>de</strong>l<br />

<strong>und</strong> <strong>gut</strong> zu <strong>sei</strong>n? Ich <strong>de</strong>nke, man kann dies auf eine einfache Weise beantworten, mit Worten,<br />

die Her<strong><strong>de</strong>r</strong> wie folgt formuliert hat: »Frie<strong>de</strong> ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Naturzustand <strong>de</strong>s unberührten<br />

menschlichen Geschlechts.«<br />

Es wäre nun wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um möglich, die Richtigkeit dieser Aussage in Frage zu stellen,<br />

<strong>de</strong>nn geschieht nicht genug Leid, immer irgendwo ein Verbrechen o<strong><strong>de</strong>r</strong> wird nicht dauernd<br />

irgen<strong>de</strong>in Krieg geführt? Da Her<strong><strong>de</strong>r</strong> vom »unberührten« menschlichen Geschlecht spricht,<br />

kann ich aus persönlicher Sicht nur mit einem »Nein« auf die erste Frage antworten.<br />

Meiner Überzeugung nach ist <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong> durchaus von Anfang an ein <strong>gut</strong>es Wesen,<br />

hat das Bestreben, die Veranlagung Edles zu tun, <strong>hilfreich</strong> zu <strong>sei</strong>n. Dass äußere Einflüsse,<br />

falsche I<strong>de</strong>ale o<strong><strong>de</strong>r</strong> bewusste Manipulation <strong>de</strong>m entgegenwirken <strong>und</strong> dieses »Geschenk«<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Natur verkümmern lassen könne, kommt immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong> immer zu oft vor. »Warlords«,<br />

welche in afrikanischen Gegen<strong>de</strong>n wie Darfur tausen<strong>de</strong> von <strong>Mensch</strong>en töten lassen,<br />

Drogenhändler, welche ihre Opfer bewusst auswählen <strong>und</strong> abhängig machen, sowie<br />

Terroristen <strong>und</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e gewalttätige Fanatiker; solche Beispiele gibt es viele. Doch zur gleichen<br />

Zeit folgen <strong>Mensch</strong>en, <strong>und</strong> ich spreche hier vom Großteil eben dieser, einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Richtlinie. Sie folgen <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>s Helfens o<strong><strong>de</strong>r</strong> zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>s Nichtunterstützens<br />

solch negativer Einflüsse <strong>und</strong> haben bewusst, ebenso wie unbewusst »Ehrfurcht vor<br />

<strong>de</strong>m Leben«, wie Albert Schweitzer so treffend formulierte.<br />

Sie geben sich nicht damit zufrie<strong>de</strong>n, ihr eigenes Leben zu leben, ignorant, vielleicht<br />

auch auf eine, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>Mensch</strong>en verletzen<strong>de</strong> Art <strong>und</strong> Weise. Ihre Gefühle beinhalten<br />

Mitgefühl <strong>und</strong> Trauer <strong>und</strong> dadurch setzen sie sich für An<strong><strong>de</strong>r</strong>e ein, helfen um <strong>de</strong>s Helfens<br />

Willen. Aus meiner Sicht han<strong>de</strong>ln <strong>Mensch</strong>en, die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Geschöpfe unterstützen, in<strong>de</strong>m<br />

sie unterrichten, Kleidung <strong>und</strong> Essen spen<strong>de</strong>n, aber auch die Natur schützen o<strong><strong>de</strong>r</strong> ihnen<br />

Spaß <strong>und</strong> echte Zufrie<strong>de</strong>nheit verschaffen, e<strong>de</strong>l. UNICEF, Brot für die Welt, hun<strong><strong>de</strong>r</strong>te<br />

privater Organisationen weltweit, ja selbst in einer kleinen Lerngemeinschaft beweisen<br />

Mitmenschen Courage, Hilfsbereitschaft <strong>und</strong> Nächstenliebe, fin<strong>de</strong>n ihr höchstes Ziel, ihre<br />

Selbstbestimmung o<strong><strong>de</strong>r</strong> persönliche Zufrie<strong>de</strong>nheit im positiven Zusammenwirken mit<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Personen. Sie sind Jene, welche <strong>de</strong>n Mut haben, unsere Welt in eine bessere,<br />

schönere zu verwan<strong>de</strong>ln. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass die <strong>Mensch</strong>en sich niemals<br />

vollends zu einer Unterdrückung ihrer edlen, hilfsbereiten <strong>und</strong> positiven Seite hinreißen<br />

lassen <strong>und</strong> dass auch in Zukunft das Streben nach <strong>de</strong>m Höchsten zusammen mit <strong>de</strong>m, von<br />

Goethe formulierten I<strong>de</strong>al <strong>sei</strong>nen Wert <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne Wichtigkeit niemals verlieren wird.<br />

76


Abschlussworte <strong>de</strong>s Schülers Max Alexandrin<br />

Ich wur<strong>de</strong> gebeten, ein paar Worte aus meiner<br />

Sicht <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Sicht <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Schüler über<br />

die letzten Tage k<strong>und</strong>zutun. Bei ein paar<br />

Worten soll es somit auch bleiben.<br />

Zu allererst möchte ich mich bei unseren<br />

Referenten <strong>und</strong> Zeitzeugen bedanken, ohne<br />

die diese Veranstaltung überhaupt nicht<br />

durchführbar gewesen wäre.<br />

Meiner Meinung nach ist uns in dieser<br />

Woche eine unglaubliche Menge an Informationen<br />

offenbart wor<strong>de</strong>n, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Informationen,<br />

vor allem aber auch neue, solche, welche<br />

man auch im Schulunterricht noch nicht vermittelt<br />

bekommen hatte. Somit empfand<br />

ich die vergangenen Tage als interessante<br />

Abwechslung zum normalen Alltag in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schule.<br />

Manchmal braucht man als Schüler einen<br />

langen Atem, <strong>und</strong> auch diesmal saßen wir in<br />

Vorlesungen, welche unsere Aufmerksamkeit<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>s als im gewohnten Maße beanspruchten.<br />

Doch ich <strong>de</strong>nke, die Energie, welche wir<br />

dafür verwen<strong>de</strong>t haben, <strong>de</strong>n Rednern hier zu lauschen, war <strong>gut</strong> investiert, ich will sagen:<br />

Das war es wert.<br />

Durch die vielen vermittelten Erfahrungswerte <strong>und</strong> Einblicke in persönliche Schicksale<br />

haben wir sehr <strong>gut</strong> mitbekommen, was wirklich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte passiert ist <strong>und</strong> was<br />

auch im Augenblick noch vonstatten geht.<br />

Ausnahmen wird es immer geben, <strong>und</strong> solche gab es auch bei dieser Veranstaltung.<br />

Jedoch kann ich mit Sicherheit sagen, dass es <strong>de</strong>n Schülern insgesamt sehr <strong>gut</strong> gefallen hat<br />

<strong>und</strong> dass ich viel positive Resonanz bekommen habe. Als ich mich nämlich mit einigen<br />

Schülern unterhielt, sagte einer von ihnen: »Ich habe so viele Informationen vermittelt<br />

bekommen, dass ich sie überhaupt nicht alle auf einmal verarbeiten konnte.«<br />

Und so ging es auch mir, da ich ebenso nach <strong>de</strong>n Vorlesungen in meine Aufzeichnungen<br />

schauen <strong>und</strong> alles erst mal sacken lassen musste.<br />

Ich bin auch dankbar für diese Veranstaltung, da man dadurch einen weiteren Einblick<br />

in die Welt <strong>de</strong>s professionellen Studiums bekommen hat. Da uns an <strong>de</strong>n Universitäten<br />

sicherlich teilweise noch längere <strong>und</strong> weitaus strapazieren<strong><strong>de</strong>r</strong>e Vorlesungen erwarten<br />

wer<strong>de</strong>n, bin ich davon überzeugt, dass, wenn man nicht alle gewonnen Informationen<br />

gleich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>sei</strong>te schiebt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n noch einmal darüber reflektiert, was für ein Prozess<br />

genau in dieser Woche hier abgelaufen ist, dann <strong>de</strong>nke ich, konnte man viel für sich dabei<br />

gewinnen.<br />

Durch all diese Erfahrungen habe ich <strong>de</strong>n Eindruck gewonnen, dass trotz <strong>de</strong>s Abiturstresses<br />

die „Summerschool“ <strong>gut</strong> angekommen ist <strong>und</strong> auf je<strong>de</strong>n Fall wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt wer<strong>de</strong>n<br />

sollte.<br />

Darum glaube ich, dass auch die nächste Veranstaltung ein ebenso großer Erfolg wird;<br />

das nächste Mal dann mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Erfahrungen <strong>und</strong> neuen Informationen.<br />

77


Auszüge aus <strong>de</strong>m Evaluationsbrief <strong><strong>de</strong>r</strong> dänischen<br />

Teilnehmerschule, <strong>de</strong>s Støvring Gymnasiums<br />

Die teilnehmen<strong>de</strong> Lehrerin, Annette Nielsen, schreibt für ihre Schule:<br />

… möchten uns ganz herzlich für die Summerschool, für unsere Schüler als auch für<br />

<strong>de</strong>n schönen Empfang von uns Lehrern bedanken.<br />

Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Evaluierung haben die Schüler große Begeisterung ausgedrückt; vor allem<br />

fan<strong>de</strong>n sie es lehrreich, r<strong>und</strong> um die Uhr Deutsch zu hören. Der Besuch in Ravensbrück<br />

machte (natürlich) einen großen Eindruck.<br />

Die englischsprachigen Seminare, wo es auch Gelegenheit gab, die Problemstellungen<br />

mit Jugendlichen aus <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu diskutieren, fan<strong>de</strong>n sie prima. Wie ihr<br />

bemerkt habt, fan<strong>de</strong>n unsere Schüler es schwierig, die aka<strong>de</strong>mischen, <strong>de</strong>utschsprachigen<br />

Vorträge zu verstehen, -teils wegen <strong>de</strong>s Inhalts, teils wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprache. Es for<strong><strong>de</strong>r</strong>t große<br />

Konzentration, täglich viele St<strong>und</strong>en in einer Fremdsprache zu kommunizieren.<br />

Alles in allem fan<strong>de</strong>n sie die Teilnahme an <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool beeindruckend. Sie<br />

drücken die Hoffnung aus, dass ihre Nachfolger im Leistungskurs Deutsch das Angebot<br />

bekommen, an <strong><strong>de</strong>r</strong> 2. Summerschool teilzunehmen.<br />

79


Resümee <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. Internationalen Summerschool<br />

am Gymnasium Carolinum Neustrelitz<br />

3. bis 6. September 2007<br />

Das Mo<strong>de</strong>ll <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool ist ein<strong>de</strong>utig eines <strong><strong>de</strong>r</strong> Zukunft. Die Lernbereitschaft<br />

<strong>und</strong> Begeisterung <strong>sei</strong>tens <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler für Themen, die unter normalen Umstän<strong>de</strong>n nicht<br />

unbedingt Teil <strong>de</strong>s Unterrichts sind, beweisen ein reges Interesse. Vor allem für Abiturienten<br />

ist die Selbstständigkeit, die in Seminaren verlangt <strong>und</strong> vorausgesetzt wird, ansprechend<br />

<strong>und</strong> motivierend. Das vorhan<strong>de</strong>ne Gr<strong>und</strong>wissen ermöglichte rege Diskussionen<br />

nach <strong>de</strong>n Vorträgen.<br />

Den Aufbau <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool<br />

kann man durchaus als ein Mo<strong>de</strong>ll für<br />

zukünftigen Schulunterricht anwen<strong>de</strong>n.<br />

Lehrer erarbeiten im Vorfeld die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen eines bestimmten Fachgebietes,<br />

welches am En<strong>de</strong> einer thematischen<br />

Einheit mit einer Vorlesung <strong>und</strong><br />

einem Seminar abgeschlossen wird.<br />

Durch das Einbeziehen eines außen stehen<strong>de</strong>n<br />

Experten wird <strong>de</strong>n Schülern ein<br />

neuer Einblick in das Thema gewährt.<br />

Durch diese Methodik kann man<br />

Schüler motivieren, regelmäßig aktiv an<br />

Diskussionen teilzunehmen. Gleichzeitig<br />

wird ihnen ermöglicht, weit über<br />

eventuelle Begrenzungen, die u. a. durch<br />

ein begrenztes Fachwissen eines Lehrers<br />

vorhan<strong>de</strong>n sind, zu schreiten.<br />

Reaktionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schüler<br />

An <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufmerksamkeit, welche die Schüler während <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorlesungen <strong>und</strong> Seminare aufbrachten,<br />

bemerkte man, wie begeistert sie von <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool waren. Für viele waren<br />

allerdings die Vorlesungen <strong>und</strong> intensiven Seminare nach zwei Tagen eine »Reizüberflutung«,<br />

wie sie berichteten.<br />

Eine Möglichkeit, diesem Phänomen zuvor zu kommen, wäre, Gesprächskreise unmittelbar<br />

nach <strong>de</strong>n Vorlesungen zu veranstalten. In einem entspannten Kreise könnten die<br />

Schüler mit ihren Lehrern die Themen <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorlesung diskutieren. So könnte das Ergebnis<br />

<strong>und</strong> gewissermaßen die Erleuchtung aller Teilnehmer optimiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Auf die Frage, ob sie in Zukunft die I<strong>de</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool weiterführen <strong>und</strong> verinnerlichen<br />

wer<strong>de</strong>n, antworteten viele Schüler einstimmig. Sie waren <strong><strong>de</strong>r</strong> Meinung, dass die<br />

Gr<strong>und</strong>werte »e<strong>de</strong>l, <strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong> <strong>gut</strong>« ihnen schon durch ihre Erziehung mitgegeben wor<strong>de</strong>n<br />

<strong>sei</strong>en. Die Summerschool hat ihnen dabei interessante Denkanstöße <strong>und</strong> I<strong>de</strong>en gegeben,<br />

die sie jedoch sicherlich nach Abschluss <strong>de</strong>s Themas vergessen wür<strong>de</strong>n. Auf das<br />

Argument, dass man nicht immer eine sofortige Lebenswandlung erwarten müsse <strong>und</strong> es<br />

bei einer solchen Lernveranstaltung darum ginge, Denkanstöße zu geben, die reifen<br />

können <strong>und</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zukunft eine Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung erzielen wür<strong>de</strong>n, stimmten alle Schüler zu.<br />

Margit Wunsch<br />

Stu<strong>de</strong>ntin für Weltliteratur <strong>und</strong> mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Geschichte an <strong><strong>de</strong>r</strong> University of Plymouth in England<br />

80


Hello Mrs. Arbel,<br />

Dienstag, 16. Oktober 2007 14:51:51<br />

How are you doing? My name is Julia, I atten<strong>de</strong>d your seminar at the Gymnasium<br />

Carolinum in Neustrelitz in September. I don’t know if you remember me, there were many<br />

people, but I still remember you. I was there with my friend Alexandra from Bulgaria.<br />

I am sorry for not writing you for so long, I remember I told you to write emails,<br />

but I just got your email address today, so I couldn’t write you earlier. I am trying to notify<br />

people and give them you email address so they can write you, but it’s not that easy in such<br />

a big school.<br />

Well, what I actually wanted to say is THANK YOU … thank you for telling us, stu<strong>de</strong>nts<br />

who you don’t even know, about your life. I can imagine that it was not that easy for<br />

you. I personally am always very nervous, when I have to talk in front of many people and<br />

you in addition to that had to talk about a very difficult subject, for that you have my admiration...<br />

Even though not many people have talked or asked you questions, I think there<br />

are different reasons for this. Some were too shy to ask something, some didn’t know were<br />

to start, some were maybe shocked and and and... Just one more thing, I think what you<br />

did on that day was very important for all who atten<strong>de</strong>d the seminar. It was good for you to<br />

overcome and it was good for all the stu<strong>de</strong>nts, so that they could un<strong><strong>de</strong>r</strong>stand that what has<br />

happened then should never happen again. Of course, we always read about it in the history<br />

books, but it is so much more intense when somebody, like you, who survived tells us<br />

about those terrible times...<br />

Thank you again for visiting us and letting us be a little part of your life.<br />

Your sincerely,<br />

Julia Prochor<br />

81


82<br />

Dear Julia,<br />

Donnerstag, 18. Oktober 2007 09:19:16<br />

I was very glad to get an an e-mail from you and from Alex. When I got back home, I was<br />

a bit disappointed, because there was no mail from anybody and that ma<strong>de</strong> me thinking<br />

that perhaps my lecture was not so good.<br />

Of course I remember you, because you and your friend were the only stu<strong>de</strong>nts who had the<br />

courage to ask me questions, I only don’t know if you are the one who asked more questions,<br />

or if it was Alex.<br />

First of all I want to ask you not to call me Mrs Arbel, but just Emmie, that’s more simple,<br />

o.k.?<br />

You’re right, it was in<strong>de</strong>ed very difficult for me to <strong>de</strong>ci<strong>de</strong> to speak for a class. I come at<br />

least once in a year, always with Menachem because it’s difficult for him to come alone,<br />

and always I said that I can’t speak, but i’m a “big girl” now and I felt that it’s time to<br />

overcome this barrier.<br />

Because of this “heavy” subject, I know that it’s difficult to ask questions. I felt as if you all<br />

were in shock and there must always be the one who begins to ask, but this time it didn’t<br />

help so much. You explained yourself very good and as a girl who was born in another<br />

country, it must have been not easy for you to get used to another life and other people.<br />

I know it, because I was born in Holland and also came to another country, to Israel and<br />

the first time was very difficult for me.<br />

Tell me more about yourself and about Kazakhstan, how was the life there, how did you<br />

come to Germany, how does you family feel in Germany?<br />

I got a letter from the school that they want us to come again next year to the second Summer<br />

School, so probably we’ll be there again, but then you’ll be finished already the school.<br />

And before that, may be that we will be in January in Ravensbruck for a few days.<br />

If it is easier for you to write in German, you can do it because I un<strong><strong>de</strong>r</strong>stand everything,<br />

but I can’t write in German, so I’ll write you back in English. I’m not so good in writing<br />

immediately back, but I promise always to answer you.<br />

I have to go now. Please, tell Alex that I’ll write her soon.<br />

Yours,<br />

Emmie


Hallo Frau Arbel,<br />

Dienstag, 16 Oktober 2007<br />

Wie geht es Ihnen? Ich heiße Julia, ich habe an Ihrem Seminar in September am Gymnasium<br />

Carolinum teil genommen. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber ich erinnere<br />

mich an Sie. Ich war dort mit meiner Fre<strong>und</strong>in Alexandra aus Bulgarien.<br />

Entschuldigen Sie, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Ich erinnere mich, ich habe<br />

versprochen, Ihnen E-Mails zu schreiben, aber ich habe heute erst Ihre Adresse gekriegt,<br />

also konnte ich nicht früher schreiben. Ich versuche alle Leute zu benachrichtigen <strong>und</strong><br />

ihnen Ihre E-Mailadresse zu geben, aber es ist schwierig, in so einer großen Schule<br />

alle zu erreichen.<br />

Was ich eigentlich sagen wollte, ist DANKE … danke, dass Sie uns – Schülern,<br />

die Sie nicht mal kennen – über Ihr Leben erzählt haben. Ich kann mir vorstellen,<br />

dass das nicht leicht für Sie war. Ich selbst bin immer sehr nervös, wenn ich vor vielen<br />

<strong>Mensch</strong>en re<strong>de</strong>n muss <strong>und</strong> Sie mussten dazu auch noch über ein sehr schwieriges Thema<br />

sprechen <strong>und</strong> dafür bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>e ich Sie…<br />

Nicht viele Leute haben gesprochen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ihnen Fragen gestellt, dafür gibt es verschie<strong>de</strong>ne<br />

Grün<strong>de</strong>. Manche waren zu schüchtern, um zu fragen, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e wussten nicht, wie sie<br />

anfangen sollten, viele waren vielleicht auch geschockt <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> … Nur noch eins,<br />

ich glaube, was Sie an diesem Tag gemacht haben, war sehr wichtig für alle, die an diesen<br />

Seminar teilgenommen haben. Es war <strong>gut</strong> für Sie, sich zu überwin<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> es war<br />

<strong>gut</strong> für die Schüler, sie haben verstan<strong>de</strong>n, dass das, was damals passiert ist, nie wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

passieren darf.<br />

Natürlich habe ich immer in Geschichtsbücher darüber gelesen, aber es ist viel<br />

einprägsamer, wenn jemand, <strong><strong>de</strong>r</strong> überlebt hat wie Sie, uns über die schreckliche Zeit<br />

erzählt …<br />

Danke noch mal, dass Sie uns besucht haben, <strong>und</strong> wir ein kleiner Teil Ihres Lebens <strong>sei</strong>n<br />

durften.<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Julia Prochor<br />

83


84<br />

Liebe Julia,<br />

Donnerstag, 18. Oktober 2007<br />

Ich war sehr froh eine E-Mail von Dir <strong>und</strong> von Alex zu bekommen. Als ich zu Hause<br />

war, war ich etwas enttäuscht, weil ich von keinem Post bekam <strong>und</strong> <strong>de</strong>swegen dachte<br />

ich, dass mein Vortrag nicht so <strong>gut</strong> war. Natürlich erinnere ich mich an Dich,<br />

weil du <strong>und</strong> <strong>de</strong>ine Fre<strong>und</strong>in, die einzigen Schüler waren, die Courage hatten,<br />

mir Fragen zu stellen. Ich weiß nur nicht, ob du die jenige warst, die mehr gefragt hat,<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> ob es Alex war.<br />

Als erstes möchte ich Dich bitten, mich nicht Frau Arbel zu nennen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n einfach nur<br />

Emmie, das ist einfacher, ok?<br />

Du hast Recht, es ist wirklich sehr schwer für mich vor einer Klasse zu sprechen.<br />

Ich komme immer einmal im Jahr (nach Deutschland), immer mit Menachem,<br />

weil es für ihn schwierig ist, allein zu kommen. Ich habe immer gesagt,<br />

dass ich nicht sprechen kann, aber ich bin jetzt ein „großes Mädchen“ <strong>und</strong> ich<br />

dachte, es wäre an <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit, diese Hür<strong>de</strong> zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

Wegen <strong>de</strong>s schwierigen Themas weiß ich, dass es schwer ist Fragen zu stellen.<br />

Ich habe gesehen, dass ihr geschockt wart, <strong>und</strong> es muss immer jemand geben,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> mit <strong>de</strong>n Fragen beginnt, lei<strong><strong>de</strong>r</strong> hat es diesmal nicht viel gebracht.<br />

Ich habe einen Brief von <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule erhalten, sie wollen, dass wir nächstes Jahr<br />

auch zur Summer School kommen, also wer<strong>de</strong>n wir wahrscheinlich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> da<br />

<strong>sei</strong>n, aber du wirst schon fertig mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule <strong>sei</strong>n. Und davor wer<strong>de</strong>n wir vielleicht<br />

für ein paar Tage in Ravensbrück <strong>sei</strong>n.<br />

Falls es für dich leichter ist in Deutsch zu schreiben, kannst du das machen,<br />

<strong>de</strong>nn ich verstehe alles, aber ich kann nicht auf Deutsch schreiben,<br />

also wer<strong>de</strong> ich dir auf Englisch zurück schreiben. Ich schreibe nicht immer<br />

sofort zurück, aber ich verspreche dir zu antworten.<br />

Ich muss jetzt gehen. Bitte sag Alex, dass ich ihr bald schreiben wer<strong>de</strong>.<br />

Deine Emmie


Im Rahmen <strong>de</strong>s Projekts<br />

»Gesegnet <strong>sei</strong> die Phantasie – verflucht <strong>sei</strong> sie!«<br />

israelische <strong>und</strong> <strong>de</strong>utsche Jugendliche<br />

wer<strong>de</strong>n Teil <strong>de</strong>s Lebens von Zeitzeugen<br />

Basierend auf <strong>de</strong>n im Metropol-Verlag im Jahre 2005 erschienenen autobiografischen<br />

Büchern »Gesegnet <strong>sei</strong> die Phantasie – verflucht <strong>sei</strong> sie! Erinnerungen von ›Dort‹.« von<br />

Batsheva Dagan (Israel) <strong>und</strong> »Als Junge im KZ Ravensbrück« von Menachem Kallus<br />

(Israel) lernten die Schüler <strong><strong>de</strong>r</strong> Partnergruppen diese bei<strong>de</strong>n mutigen Persönlichkeiten <strong>de</strong>s<br />

20. <strong>und</strong> 21. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts persönlich kennen, setzten sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong>de</strong>s Nationalsozialismus<br />

au<strong>sei</strong>nan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong> drückten ihre Erkenntnisse <strong>und</strong> Gefühle individuell-differenziert<br />

aus.<br />

Nach<strong>de</strong>m die <strong>de</strong>utsche Gruppe im Februar 2007 zur Projektarbeit in Israel weilte, fand<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenbesuch im September 2007 in Deutschland statt. Der September war von <strong>de</strong>n<br />

Verantwortlichen bewusst gewählt wor<strong>de</strong>n, da es immer <strong><strong>de</strong>r</strong> Monat <strong>de</strong>s Schulfestes <strong>und</strong> –<br />

<strong>sei</strong>t 2007 – die Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Summer School am Carolinum ist. Somit konnten bei<strong>de</strong> Gruppen<br />

im Kontext <strong>de</strong>s Projektes an einigen Veranstaltungen <strong><strong>de</strong>r</strong> 1. Summer School teilnehmen.<br />

Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Aufenthalts wur<strong>de</strong>n die Projektergebnisse auf einer Abschlussveranstaltung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Jury vorgestellt. Die Reflexionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugendlichen waren, wie erwartet, vielfältig sowie<br />

sehr persönlich: eigene Musikstücke, Gedichte <strong>und</strong> Gedichtadaptionen bzw. – Übersetzungen,<br />

Skulpturen, Object-Art, Essays, Briefe an die Überleben<strong>de</strong>n u. a. m.<br />

Die Schulpatenschaft besteht weiterhin <strong>und</strong> wird auch für das nächste Projekt die<br />

Rahmenbedingungen bil<strong>de</strong>n.<br />

Heiko Benzin<br />

Elisa Wehser<br />

Die »lebendige« Geschichte<br />

fasziniert<br />

Lernen: Ihren Teilnehmern brachte die »1. International<br />

Summerschool« Abwechslung <strong>und</strong> neue<br />

Erfahrungen.<br />

Neustrelitz. Weiteratmen heißt es. Denn die erste<br />

»International Summerschool« im Carolinum Neustrelitz<br />

ist zu En<strong>de</strong>. Sie war Anfang September<br />

eine Atempause im Abiturstress <strong><strong>de</strong>r</strong> Dreizehnten.<br />

Doch zum Luftholen kamen die Schüler kaum.<br />

85


Avi Primor spricht über Zivilcourage Inger Gulbrandsen berichtet <strong>de</strong>n aufmerksamen<br />

Schülern über ihre Zeit im KZ<br />

Hochkarätige Referenten, KZ-Überleben<strong>de</strong> <strong>und</strong> Gastschüler aus fünf Nationen boten die<br />

Gr<strong>und</strong>lage für einen Erfahrungsaustausch zur »<strong>Mensch</strong>bildung«, weit über Generationen.<br />

Dabei hatten die Schüler anfänglich nur sehr vage Vorstellungen, was diesen Auftakt<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> »International Summerschool« betraf. So meinte Julia Wernicke: »Zu Beginn habe ich<br />

das Projekt eher skeptisch betrachtet.« Eine »gewöhnliche Projektwoche«, darauf hatte sie<br />

keine Lust. Doch die Befürchtungen waren gr<strong>und</strong>los, wie sich herausstellte: Das Carolinum<br />

organisierte »tolle Leute«. Wie zum Beispiel <strong>de</strong>n israelischen Professor Avi Primor, mit<br />

einer O<strong>de</strong> an »hel<strong>de</strong>nhafte« Zivilcourage o<strong><strong>de</strong>r</strong> Professor Dr. Mechel Cullin aus Frankreich,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> zum Thema »Gerechtigkeit <strong>de</strong>n Gerechten« sprach.<br />

Interesse zeigten die Schüler vor allem an <strong>de</strong>n Debatten in <strong>de</strong>n zahlreichen Seminaren.<br />

Wie auch in „Islam – Islamismus – Terrorismus“, geführt von Kinan Jaeger aus Bonn. Von<br />

<strong>de</strong>m gewaltigen Unterschied zwischen Religion <strong>und</strong> Fanatismus wusste dieser zu berichten.<br />

Seminarteilnehmer Tom Götze reflektiert: »Uns wur<strong>de</strong>n die unterschiedlichen Motive<br />

<strong>und</strong> Ursachen für Terrorismus erklärt, darunter ebenfalls die islamische Sicht.« In <strong>de</strong>n sich<br />

anschließen<strong>de</strong>n Diskussionen waren auch religiöse Fanatiker <strong>und</strong> ihr Hass auf die westliche<br />

Welt ein reges Thema.<br />

Toleranz entsteht erst durch Verständnis, so die Philosophie <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool. Verständnis<br />

von Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart. Nicht verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>lich also, dass die Gespräche<br />

mit Zeitzeugen bei <strong>de</strong>n Schülern auf beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s starke Resonanz stießen. Diese waren<br />

lebendiger als normaler Unterricht, hieß es von einigen Gymnasiasten. Erfahrungsberichte<br />

»live«, das war schon etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als Bücherlesen. »Summerschüler« Tom Götze meinte:<br />

»Eine St<strong>und</strong>e Menachem Kallus, das macht ein ganzes Jahr Geschichte aus.« Kein Wun<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

also, dass die Seminare <strong><strong>de</strong>r</strong> KZ-Überleben<strong>de</strong>n zuweilen mehr als 30 Minuten überzogen<br />

wur<strong>de</strong>n. »Niemand kann mir erzählen«, sagte Julia Wernicke, »dass er von <strong><strong>de</strong>r</strong> Summerschool<br />

nicht etwas mitgenommen hat.«<br />

Steffi Tesch for<strong><strong>de</strong>r</strong>te sogar: »Was wir hier erfahren, dass müssen wir verinnerlichen.<br />

Denn unsere Generation ist die letzte, die die älter wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Zeitzeugen noch direkt<br />

erlebt.« So ging eine ereignisreiche Woche zu En<strong>de</strong>. In einer Abschlussre<strong>de</strong> an die Schüler<br />

meinte Max Alexandrin abschließend: »Die Informationen, die auf uns hereinprasselten,<br />

die gilt es jetzt erst einmal zu verarbeiten.«<br />

86


Die Ausstellung »Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s Lebens?« begleitete die<br />

1. Internationale Summerschool am Gymnasium Carolinum Neustrelitz<br />

vom 3. bis 6. September 2007.<br />

Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Veröffentlichung von Antwort-Briefen einiger Schriftsteller<br />

auf die Frage »Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s Lebens?« in <strong><strong>de</strong>r</strong> Wochenzeitung<br />

›DIE ZEIT‹ vom 7. April.<br />

2004 entstand die I<strong>de</strong>e zu einem Konfirmationsgeschenk an einen Schüler <strong>de</strong>s<br />

Gymnasiums Carolinum. Sie war zugleich Gr<strong>und</strong>lage für diese<br />

Ausstellung, die zm ersten Mal gezeigt wur<strong>de</strong>.<br />

Impressum<br />

I<strong>de</strong>e <strong>und</strong> Lektorat für das Büchlein »Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s Lebens?« als Konfirmationsgeschenk:<br />

Dorit Wehling<br />

I<strong>de</strong>e, Gestaltung <strong>und</strong> Realisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung: Norbert Günther<br />

Fotos: Norbert Günther<br />

Die Porträtfotos sind <strong>de</strong>m Metzler Autorenlexikon, Stuttgart/Weimar 1997, entnommen.<br />

Das Foto am Einführungstext ist von einer Postkarte <strong>de</strong>s Suhrkamp Verlages Frankfurt am Main<br />

2003 übernommen.<br />

Herstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausstellung: Graphische Werkstatt Neustrelitz<br />

Wir danken Frau Stéphanie Stephan für die fre<strong>und</strong>liche Genehmigung zu dieser Ausstellung.<br />

Die Ausstellung »Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s Lebens?« wur<strong>de</strong> durch die För<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong><strong>de</strong>r</strong> ERTOMIS Stiftung<br />

ermöglicht.<br />

87


88<br />

Wir schreiben das Jahr 1962.<br />

Den 24-jährigen Psychologiestu<strong>de</strong>nten Dietmar Gottschall,<br />

später Redakteur beim Manager Magazin, <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne Fre<strong>und</strong>in<br />

Silke Siegel, 17, treibt die größte aller Fragen um:<br />

in einem Brief bitten Sie Schriftsteller um Antworten.<br />

Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn <strong>de</strong>s Lebens?<br />

Das Konvolut mit <strong>de</strong>n Stellungnahmen von r<strong>und</strong> 20 Autoren geht später<br />

verloren; erst jetzt haben es Gottschalls Sohn Juri <strong>und</strong> <strong>sei</strong>ne Mutter,<br />

die Jorurnalistin Stéphanie Stephan, auf <strong>de</strong>m Speicher ihres Hauses ent<strong>de</strong>ckt.<br />

Die Frage bleibt so aktuell wie die Antworten.<br />

Anschreiben aus <strong>de</strong>m Jahr 1962<br />

Sie begegnen einem <strong>Mensch</strong>en auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße <strong>und</strong> lesen in <strong>sei</strong>nen Augen<br />

eine große, bohren<strong>de</strong> Frage. Wür<strong>de</strong>n Sie stehenbleiben um ihm<br />

eine Antwort zu geben, obwohl Sie sehr wenig Zeit haben?<br />

Ich glaube fest daran. Denn Sie sind jemand, <strong><strong>de</strong>r</strong> durch <strong>sei</strong>ne Gedanken<br />

vielen <strong>Mensch</strong>en eine Mitteilung macht. Ich bin auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße,<br />

ich bin jung <strong>und</strong> meine Frage lebt in je<strong><strong>de</strong>r</strong> meiner Handlungen.<br />

Glauben Sie, dass das Leben einen Sinn hat? Und wenn ja, welchen?<br />

Ich weiß, dass Sie nicht an mir vorübergehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Wahrheit scheint noch unerreichbar, sie ist <strong>gut</strong> <strong>und</strong> ich will sie suchen.<br />

Wollen Sie mir ein wenig helfen? Vielleicht verlange ich zuviel von Ihnen<br />

<strong>und</strong> bin anmaßend, wenn ich Sie um eine kurze Antwort bitte.<br />

Aber ich wer<strong>de</strong> sehr traurig <strong>sei</strong>n, wenn Sie mich vergessen.<br />

DIE ZEIT, 7. April 2004


90<br />

Liebes Fräulein Siegel,<br />

Sie überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>n mich mit Ihren Fragen.<br />

Natürlich ist es eine Frage, die wir uns alle einmal stellen, <strong>und</strong> es gibt viele<br />

Antworten darauf, aber die Antworten sind nicht so einfach wie die Fragen.<br />

Nehmen Sie einmal an, das Leben habe einen Sinn, <strong>und</strong> dann suchen Sie ihn,<br />

in<strong>de</strong>m Sie leben. O<strong><strong>de</strong>r</strong> schauen Sie sich das Leben an<strong><strong>de</strong>r</strong>er <strong>Mensch</strong>en an.<br />

Sie wer<strong>de</strong>n <strong>Mensch</strong>en fin<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Leben sich lohnt <strong>und</strong> ich meine damit<br />

nicht berühmte <strong>Mensch</strong>en.<br />

Seien Sie getrost, dass Sie immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Dinge erleben wer<strong>de</strong>n,<br />

wo die Frage sich einbringt, wo das Leben sich selbst genug ist <strong>und</strong> nicht ein<br />

Ziel hat. Ich glaube, mehr kann ich Ihnen nicht helfen.<br />

Ich begrüße Sie mit fre<strong>und</strong>lichen Wünschen.<br />

Ihr Max Frisch<br />

Ein Jahr vor diesem Brief veröffentlichte Max Frisch, 1911 bis 1991,<br />

<strong>sei</strong>n Lehrstück »Andorra«.


Bitte entschuldigen Sie, dass ich erst heute schreibe;<br />

Ihr Brief ist mir lange nachgereist <strong>und</strong> hat mich<br />

öfters verfehlt. Ihre Frage (ob das Leben einen Sinn<br />

habe <strong>und</strong>, wenn ja, welchen) beantworte ich mit einiger<br />

Verlegenheit.<br />

Denn einmal bin ich zu jung für die Manieren von<br />

Weisheit, mit <strong>de</strong>nen <strong><strong>de</strong>r</strong>maßen große Auskünfte zu<br />

erteilen sind, zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en bin ich gar nicht zuständig,<br />

<strong>und</strong> drittens, ich kann mich irren. Das Leben auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong> scheint mir ein<br />

Gegenstand, <strong><strong>de</strong>r</strong> über <strong>sei</strong>n Da<strong>sei</strong>n hinaus we<strong><strong>de</strong>r</strong> einer Rechtfertigung noch<br />

einer Ausre<strong>de</strong> bedarf, er umfasst alles <strong>und</strong> mehr, als die Betroffenen von ihm<br />

lernen können.<br />

Das kann, wenn Sie wollen, auch für das Leben einer Person gelten: mehr<br />

Sinn als <strong>de</strong>n Tod am En<strong>de</strong> braucht es nicht. Die Zeit bis dahin ist zur Verfügung<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Person, nach einigen Versuchen stellt sich heraus: zu welcher, <strong>und</strong><br />

wieviel Teile davon unabän<strong><strong>de</strong>r</strong>lich sind <strong>und</strong> welche beeinflussbar.<br />

Bei einem solchen Sachverhalt kommt mir die Frage nach einem Sinn<br />

ungeschickt vor; die mag ein Kranker stellen, o<strong><strong>de</strong>r</strong> jemand in schwieriger<br />

Situation.<br />

Einem Kranken bleibt <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausweg sich vorzubereiten auf <strong>de</strong>n Tod <strong>und</strong> so das<br />

Gelebthaben zurückzubekommen; schwierige Situationen än<strong><strong>de</strong>r</strong>n sich <strong>und</strong><br />

lassen sich än<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Was immer aber einer darüber sagt, es stellt <strong>sei</strong>nen persönlichen<br />

Entwurf dar; <strong>de</strong>swegen kann ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>er <strong>de</strong>n nicht<br />

übernehmen, <strong>de</strong>swegen kann <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>de</strong>m einen darauf nicht <strong>gut</strong><br />

antworten.<br />

Halten Sie diese Bemerkung also, bitte, für was Sie wollen; am liebsten wäre<br />

mir Sie sagten: dummes Zeug.<br />

Ihr sehr ergebener Uwe Johnson<br />

1961 erschien Uwe Johnsons, 1934 bis 1984, »Das dritte Buch über Achim«;<br />

<strong>sei</strong>n Hauptwerk „Jahrestage“ vollen<strong>de</strong>te er kurz vor <strong>sei</strong>nem Tod.<br />

91


92<br />

Sehr geehrtes Fräulein Siegel,<br />

ich habe die Angewohnheit, alle Briefe gleich zu beantworten, das ist<br />

in <strong>de</strong>n meisten Fällen auch nicht beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s schwierig.<br />

Um aber postwen<strong>de</strong>nd zu erklären, ob das Leben einen Sinn hat,<br />

Sie geben zu, das ist viel verlangt.<br />

Manchmal scheint es einen zu haben, manchmal nicht. Ich müsste sehr lügen,<br />

wenn ich zu Ihrer Frage eine volle Antwort erfin<strong>de</strong>n müsste.<br />

Vielleicht sind Sie so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> gewähren mir einen Aufschub.<br />

Sobald sich mir dieser gesuchte Sinn auftut, schreibe ich Ihnen.<br />

Momentan bin ich da ganz unsicher.<br />

Also keine richtige Antwort, eher eine Vertröstung.<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />

Ihr Martin Walser<br />

Martin Walser, geboren 1927, veröffentlichte 2005 »Leben <strong>und</strong> Schreiben -<br />

Tagebücher 1951-1962«.


94<br />

Vorlesungen<br />

<strong>und</strong> Diskussionen<br />

Montag 3. September 2007<br />

18.00 Uhr Eröffnung<br />

PD Dr. Otto Nübel<br />

Vorsitzen<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s IFK Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

Ravensbrück e.V.<br />

Henry Tesch<br />

Minister für Bildung, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Kultur, Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Dr. Harald Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>mann<br />

<strong>de</strong>utscher Botschafter in Israel<br />

Prof. Dr. Sigrid Jacobeit<br />

Präsi<strong>de</strong>ntin Summerschool<br />

Prof. Dr. Michel Cullin<br />

ehem. stellv. Generalsekretär<br />

<strong>de</strong>s Deutsch-Französischen Jugendwerkes,<br />

Diplomatische Aka<strong>de</strong>mie<br />

Wien<br />

Dienstag 4. September 2007<br />

8.30 bis 10.00 Uhr Vorlesung<br />

Dr. Egon Freitag<br />

Klassik Stiftung Weimar<br />

„Es ist nichts als Tätigkeit nach einem<br />

bestimmten Ziel, was das Leben<br />

erträglich macht”<br />

18.30 bis 20.30 Uhr Vorlesung<br />

Prof. Avi Primor<br />

israelischer Botschafter in<br />

Deutschland a.D.<br />

„Zivilcourage als höchste Wür<strong>de</strong>”<br />

Mittwoch 5. September<br />

14.00 bis 15.30 Uhr Vorlesung<br />

Prof. Dr. Andrzej Poltawski<br />

Polen<br />

„Die philosophische Konzeption<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Person von Karol<br />

Woityla (Papst Johannes Paul II.)”<br />

norbert-guenther@gmx.net<br />

© 2007<br />

Plakat zur Ausstellung<br />

Goethe: Komponierte Landschaft<br />

(Spätsommer 1787?)<br />

1. International<br />

Summerschool<br />

3. bis 6. September 2007 am<br />

Gymnasium Carolinum Neustrelitz<br />

»<strong>E<strong>de</strong>l</strong><br />

<strong>sei</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Mensch</strong>,<br />

<strong>hilfreich</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>gut</strong>...«<br />

www.summer-school-carolinum.<strong>de</strong>


Strelitzer Zeitung, 25. September 2007<br />

Pressespiegel<br />

95


Strelitzer Zeitung, 7. September 2007<br />

96


Strelitzer Zeitung, 3. September 2007<br />

97


Nordkurier, 5. September 2007<br />

98


Nordkurier, 5. September 2007<br />

99


Nordkurier, 5. September 2007<br />

100


Strelitzer Zeitung, 4. September 2007<br />

101


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