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<strong>Сахалинский</strong> государственный университет<br />

<strong>Практикум</strong> <strong>по</strong> <strong>домашнему</strong> <strong>чтению</strong><br />

<strong>по</strong> роману Эриха Кестнера<br />

«Das doppelte Lottchen»<br />

(немецкий язык, продолжающийся этап)<br />

Учебное <strong>по</strong>собие<br />

Южно-Сахалинск<br />

2011


УДК 811.112.2(076)<br />

ББК 81.2(Нем)<br />

П 69<br />

Печатается <strong>по</strong> решению учебно-методического совета<br />

Сахалинского государственного университета, 2011 г.<br />

П 69<br />

<strong>Практикум</strong> <strong>по</strong> <strong>домашнему</strong> <strong>чтению</strong> <strong>по</strong> роману Эриха Кестнера<br />

«Das doppelte Lottchen» (немецкий язык, продолжающийся<br />

этап): учебное <strong>по</strong>собие / Сост. Л. И. Бердникова. – Южно-<br />

Сахалинск: СахГУ, 2011. – 96 с.<br />

ISBN 978-5-88811-350-9<br />

Данный практикум <strong>по</strong> немецкому языку предназначен для<br />

студентов, обучающихся <strong>по</strong> специальностям 031202.65 «Перевод<br />

и переводоведение», 031100.62 «Лингвистика», 050300.62 «Филологическое<br />

образование».<br />

Цель <strong>по</strong>собия – дальнейшее развитие и совершенствование навыков<br />

и умений в области чтения и речевого общения обучаемых.<br />

Пособие может быть ис<strong>по</strong>льзовано студентами, изучающими<br />

немецкий язык в качестве второго иностранного языка.<br />

Рецензенты:<br />

В. И. Скибина, канд. филол. наук, доц. кафедры<br />

теории и практики перевода СахГУ;<br />

М. Г. Маловичко, канд. филол. наук, доц.,<br />

зав. кафедрой английского языка ЮСИЭПИ<br />

9 785888 113509<br />

© <strong>Сахалинский</strong> государственный<br />

университет, 2011<br />

СОДЕРЖАНИЕ<br />

Введение ........................................................................4<br />

Erstes Kapitel ..................................................................5<br />

Zweites Kapitel ..............................................................13<br />

Drittes Kapitel ...............................................................21<br />

Viertes Kapitel ...............................................................26<br />

Fünftes Kapitel ..............................................................31<br />

Sechstes Kapitel ............................................................39<br />

Siebentes Kapitel ...........................................................47<br />

Achtes Kapitel ................................................................53<br />

Neuntes Kapitel .............................................................68<br />

Zehntes Kapitel ..............................................................74<br />

Elftes Kapitel .................................................................83<br />

Zwölftes Kapitel .............................................................87<br />

Список литературы ......................................................95


ВВЕДЕНИЕ<br />

Настоящий практикум <strong>по</strong> <strong>домашнему</strong> <strong>чтению</strong> предназначен<br />

для обучения немецкому языку на продолжающемся<br />

этапе, а именно для студентов второго года обучения<br />

немецкому языку в качестве второго иностранного языка<br />

специальностей 031202.62 «Перевод и переводоведение» и<br />

031100.62 «Лингвистика», а также может быть рекомендован<br />

для чтения всем изучающим немецкий язык как до<strong>по</strong>лнительную<br />

образовательную программу.<br />

<strong>Практикум</strong> разработан на основе сокращенного варианта<br />

романа немецкого писателя Э. Кестнера «Das doppelte<br />

Lottchen» (Обработка В. В. Савельева. – М.: «Просвещение»,<br />

1972) и может быть ис<strong>по</strong>льзован на занятиях <strong>по</strong> практике<br />

устной и письменной речи дисциплины «Практический<br />

курс второго иностранного языка». В качестве основной<br />

цели здесь выступает <strong>по</strong>дготовка обучаемых к <strong>чтению</strong> художественных<br />

текстов, не адаптированных, а немного сокращенных.<br />

Это <strong>по</strong>вышает их трудность, но обеспечивает<br />

обширный словарный запас, с<strong>по</strong>собствует развитию навыков<br />

разговорной речи и <strong>по</strong>зволяет перейти к беспереводному<br />

<strong>чтению</strong> оригинальной литературы.<br />

Формирование коммуникативной компетенции осуществляется<br />

в процессе вы<strong>по</strong>лнения комплекса упражнений,<br />

представленных в конце каждой главы. Задания носят разносторонний<br />

характер:<br />

– система разнообразных упражнений <strong>по</strong> обработке словаря,<br />

пред<strong>по</strong>лагающая выход в речь;<br />

– упражнения для самостоятельной работы студентов,<br />

направленные на развитие навыков монологической и диалогической<br />

речи.<br />

Послетекстовые задания направлены на обогащение словарного<br />

запаса студентов, закрепление лексики, развитие и<br />

совершенствование языковых навыков, творческих и аналитических<br />

с<strong>по</strong>собностей на продолжающемся этапе обучения<br />

немецкому языку.<br />

ERSTES KAPITEL<br />

Die Geschichte, die hier erzählt wird, beginnt in Seebühl am<br />

See. Seebühl ist ein Gebirgsdorf, und dort liegt ein bekanntes<br />

Ferienheim für kleine Mädchen.<br />

Ferienheime ähneln einander: Wer eines kennt, kennt sie<br />

alle. Sie sind wie riesengroße Bienenstöcke. Wenn man an ihnen<br />

vorüber spaziert, hört man Gelächter, Geschrei und Gekicher.<br />

Solche Ferienheime sind Bienenstöcke des Kinderglücks und<br />

der Freude.<br />

Freilich abends, da bekommen manche von den kleinen<br />

Mädchen Heimweh, einige von ihnen weinen sogar, wenn sie<br />

Briefe an ihre lieben Muttis schreiben.<br />

Aber am Morgen sind sie dann wieder ganz fröhlich. Dann<br />

klappern die Milchtassen, dann plappern die kleinen Münder<br />

um die Wette. In aller Eile essen sie ihr Frühstück. Dann<br />

rennen die Bademätze in den grünen See hinein und planschen,<br />

kreischen und schwimmen oder tun doch wenigstens, als<br />

schwämmen sie.<br />

So ist’s auch in Seebühl, wo unsere Geschichte anfängt. Es<br />

ist eine etwas verzwickte Geschichte. Ihr müsst beim Lesen immer<br />

genau aufpassen, damit ihr alles richtig versteht.<br />

Zu Beginn geht zwar alles noch ganz glatt. Verwickelt wird<br />

es erst in den späteren Kapiteln. Verwickelt und ziemlich spannend.<br />

Vorläufig baden alle Mädchen im See, und am wildesten ist,<br />

wie immer, ein kleines neunjähriges Mädchen mit lockigem<br />

Haar. Sie heißt Luise, Luise Palfy. Aus Wien.<br />

Da ertönt vom Hause her ein Gongschlag. Dann noch einer<br />

und ein dritter. Die Kinder unddie Helferinnen, die noch baden,<br />

klettern ans Ufer.<br />

«Der Gong gilt für alle!» ruft Fräulein Ulrike. «Sogar für Luise!»<br />

«Ich komme ja schon!» schreit Luise. Und dann kommt sie<br />

wirklich.<br />

Punkt zwölf Uhr wird zu Mittag gegessen.<br />

Und dann warten alle neugierig auf den heutigen Nachmittag.<br />

Warum?<br />

Am Nachmittag werden zwanzig «Neue» erwartet. Zwanzig<br />

kleine Mädchen aus Süddeutschland. Werden ein paar Zieraf-<br />

4 5


fen dabei sein? Ein paar Plaudertaschen? Womöglich «uralte<br />

Damen» von dreizehn oder vierzehn Jahren? Werden sie interessante<br />

Spielsachen mitbringen? Hoffentlich ist ein großer<br />

Gummiball darunter! Trudes Ball hat keine Luft mehr. Und<br />

Brigitte gibt ihren Ball niemand. Sie hat ihn im Schrank eingeschlossen,<br />

ganz fest, damit ihm nichts passiert. Das gibt’s<br />

auch.<br />

***<br />

Nun, am Nachmittag stehen also Luise, Trude, Brigitteund<br />

die anderen Kinder an dem großen, weitgeöffneten Tor und warten<br />

gespannt auf den Autobus, der die Neuen von der nächsten<br />

Bahnstation abholen soll. Wenn der Zug pünktlich eingetroffen<br />

ist, müssten sie eigentlich…<br />

Da hupt es! «Sie kommen!» Der Omnibus rollt die Straße<br />

entlang, biegt vorsichtig in die Einfahrt und hält. Der Schofför<br />

steigt aus und hebt fleißig ein kleines Mädchen nach dem<br />

anderen aus dem Wagen. Er hebt aber nicht nur die kleinen<br />

Mädchen heraus, sondern auch ihre Koffer und Taschen und<br />

Puppen und Körbe und Tüten und Stoffhunde und Roller und<br />

Schirmchen und Thermosflaschen und Regenmäntel und<br />

Rucksäcke und Bilderbücher, und Schmetterlingsnetze! Eine<br />

kunterbunte Fracht!<br />

Zum Schluss taucht im Rahmen der Wagentür das zwanzigste<br />

kleine Mädchen auf. Der Schofför streckt bereitwillig die Arme<br />

hoch. Die Kleine schüttelt aber energisch den Kopf. «Danke,<br />

nein!» sagt sie höflich und klettert, ruhig und sicher, aus dem<br />

Autobus. Unten blickt sie verlegen lächelnd in die Runde.<br />

Plötzlich macht sie erstaunte Augen. Sie starrt Luise an! Nun<br />

reißt auch Luise die Augen auf. Erschrocken blickt sie der<br />

Neuen ins Gesicht!<br />

Die anderen Kinder und Fräulein Ulrike schauen ebenfalls<br />

erstaunt von einer zur anderen. Der Schofför kratzt sich am<br />

Hinterkopf. Weswegen denn?<br />

Luise und die Neue sehen einander zum Verwechseln<br />

ähnlich! Zwar, Luise hat lange Locken, und die Neue hat geflochtene<br />

Zöpfe – aber das ist auch wirklich der einzige Unterschied!<br />

Da dreht sich Luise um und rennt, als werde sie von Löwen<br />

und Tigern verfolgt, in den Garten.<br />

«Luise!» ruft Fräulein Ulrike. «Luise!» Dann zuckt sie die<br />

Achseln und bringt die zwanzig Neulinge ins Haus. Als Letzte<br />

spaziert das kleine Zopfmädchen.<br />

6 7<br />

***<br />

Frau Holzmann, die Lehrerin des Kinderheims, sitzt in ihrem<br />

Büro und berät mit der alten Köchin den Speisezettel für<br />

die nächsten Tage.<br />

Da klopf es. «Herein!» Fräulein Ulrike tritt ein und meldet,<br />

dass die Neuen gesund, munter und vollzählig eingetroffen<br />

seien.<br />

«Freut mich. Danke schön!»<br />

«Ich möchte Ihnen noch etwas sagen…»<br />

«Ja?» Die vielbeschäftigte Heimleiterin schaut auf.<br />

«Es handelt sich um Luise Palfy», beginnt Fräulein Ulrike<br />

etwas zögernd. «Sie wartet vor der Tür…»<br />

«Was hat sie denn wieder angestellt?»<br />

«Diesmal nichts», sagt die Helferin. «Es ist nur…»<br />

Sie öffnet die Tür und ruft: «Kommt herein, ihr beiden! Nur<br />

keine Angst!»<br />

Nun treten die zwei kleinen Mädchen ins Zimmer.<br />

Während Frau Holzmann erstaunt auf die Kinder schaut,<br />

sagt Fräulein Ulrike: «Die Neue heißt Lotte Körner und kommt<br />

aus München.»<br />

«Seid ihr miteinander verwandt?» fragt die Heimleiterin.<br />

Beide Mädchen schütteln energisch die Köpfe.<br />

«Sie haben einander bis zum heutigen Tage noch nie gesehen!»<br />

sagt Fräulein Ulrike. «Seltsam, nicht wahr?»<br />

«Wieso seltsam?» fragt die Köchin. «Wie kann es anders sein?<br />

Die eine ist doch aus München, und die andere aus Wien!»<br />

Frau Holzmann sagt freundlich: «Zwei Mädchen, die einander<br />

so ähnlich sind, werden sicher gute Freundinnen sein. Kommt,<br />

Kinder, gebt euch die Hand!»<br />

«Nein!» ruft Luise und versteckt die Hände hinter dem<br />

Rücken.<br />

Frau Holzmann zuckt die Achseln, denkt nach und sagt<br />

schließlich: «Ihr könnt gehen.»<br />

Luise rennt zur Tür, reißt sie auf und stürmt hinaus. Lotte<br />

macht einen Knicks und will langsam das Zimmer verlassen.<br />

«Noch einen Augenblick, Lottchen», meint die Leiterin. Sie<br />

schlägt ein großes Buch auf. «Ich kann gleich deinen Namen<br />

eintragen. Und wann und wo du geboren bist. Und wie deine<br />

Eltern heißen.»<br />

«Ich habe nur noch eine Mutti», flüstert Lotte. Frau Holzmann<br />

taucht den Federhalter ins Tintenfass.<br />

«Zuerst also dein Geburtstag!»


***<br />

Lotte geht den Korridor entlang, steigt die Treppen hinauf,<br />

öffnet eine Tür und steht im Schrankzimmer. Sie fängt an, ihre<br />

Kleider, Hemden, Schürzen und Strümpfe in den Schrank zu<br />

legen. Durchs offene Fenster dringt fernes Kinderlachen.<br />

Lotte hält die Fotografie einer jungen Frau in der Hand. Sie<br />

schaut das Bild zärtlich an und versteckt es dann sorgfältig<br />

unter den Schürzen. Als sie den Schrank schließen will, fällt<br />

ihr Blick auf einen Spiegel an der Innenwand der Schranktür.<br />

Ernst und aufmerksam betrachtet sie sich. Dann wirft sie die<br />

Zöpfe weit nach hinten und kämmt sich das Haar so, dass es<br />

dem Haar von Luise Palfy ähnlich wird.<br />

***<br />

Luise sitzt mit ihren Freundinnen auf der Gartenmauer.<br />

«Ich ließe mir das nicht gefallen», sagt Trude, ihre Wiener<br />

Klassenkameradin, «dass da so ein fremdes Mädchen mit<br />

deinem Gesicht herumläuft!»<br />

«Was soll ich denn machen?» fragt Luise böse.<br />

«Zerkratz es ihr!» schlägt Monika vor.<br />

«Das beste wird sein, du beißt ihr die Nase ab!» rät Christine.<br />

Dabei baumelt sie gemütlich mit den Beinen.<br />

«Sie hat mir die ganzen Ferien verdorben!» murmelt Luise<br />

böse.<br />

«Sie kann doch nichts dafür», erklärt Steffie.<br />

Da ertönt der Gong.<br />

Und die Mädchen springen von der Mauer herunter.<br />

***<br />

Frau Holzmann sagt im Speisesaal zu Fräulein Ulrike. «Wir<br />

wollen unsere kleinen Doppelgängerinnen nebeneinander<br />

setzen. Vielleicht hilft das!»<br />

Die Kinder strömen lärmend in den Saal uns suchen ihre Plätze<br />

auf. Die Mädchen, die Dienst haben, schleppen die Schüsseln<br />

mit der heißen Suppe zu den Tischen. Andere füllen die Teller.<br />

Fräulein Ulrike tritt hinter Luise und Trude, tippt Trude auf<br />

die Schulter und sagt: «Du setzt dich neben Hilde Sturm.»<br />

Trude dreht sich um und will etwas antworten. «Aber…»<br />

«Kein Aber!»<br />

Trude zuckt die Achseln und gehorcht.<br />

Die Löffel klappern. Der Platz neben Luise ist leer. Es ist erstaunlich,<br />

wie viele Blicke ein leerer Platz auf sich lenken kann.<br />

Dann wenden sich, wie auf Kommando, alle Blicke zur Tür.<br />

Lotte ist eingetreten.<br />

«Da bist du ja endlich», sagt Fräulein Ulrike. «Kommt,<br />

ich will dir deinen Platz zeigen.» Sie bringt das stille, ernste<br />

Zopfmädchen zum Tisch. Luise blickt nicht hoch, sondern isst<br />

wütend ihre Suppe. Lotte setzt sich gehorsam neben Luise und<br />

beginnt auch ihre Suppe zu essen, obwohl ihr der Hals wie<br />

zugeschnürt ist.<br />

Die anderen kleinen Mädchen schielen gespannt zu dem<br />

merkwürdigen Paar hinüber. Ein Kalb mit zwei bis drei Köpfen<br />

könnte nicht interessanter sein.<br />

Die dicke Steffie sitzt mit offenem Munde da.<br />

Luise kann sich nicht länger beherrschen. Und sie will es<br />

auch gar nicht. Mit aller Kraft tritt sie unter dem Tisch Lotte<br />

auf den Fuß.<br />

Lotte zuckt vor Schmerz zusammen und presst die Lippen<br />

fest aufeinander.<br />

Am Tisch der Erwachsenen sagt die Helferin Gerda<br />

kopfschüttelnd: «Es ist unglaublich. Zwei wildfremde Mädchen<br />

und solche Ähnlichkeit.»<br />

Frau Holzmann schaut nachdenklich zu dem Tisch hinüber,<br />

an dem die beiden Mädchen sitzen. Dann sagt sie: «Lotte Körner<br />

bekommt das Bett neben Luise Palfy! Sie müssen sich aneinander<br />

gewöhnen.»<br />

Es ist Nacht. Und alle Kinder schlafen. Bis auf zwei tun, als<br />

schliefen sie fest, liegen aber mit offenen Augen da und starren<br />

in die Dunkelheit.<br />

Luise blickt böse auf die silbernen Kreise, die der Mond<br />

auf ihr Bett malt. Plötzlich spitzt sie die Ohren. Sie hört leise<br />

unterdrücktes Weinen.<br />

Lotte presst die Hände auf den Mund. Was hatte ihr die<br />

Mutter beim Abschied gesagt? «Ich freue mich so, dass du<br />

ein paar Woche mit vielen fröhlichen Kindern zusammen sein<br />

wirst! Du bist zu viel allein. Ich bin den ganzen Tag auf der<br />

Arbeit, und wenn ich nach Hause komme, bin ich müde. Und<br />

du hast inzwischen nicht gespielt wie andere Kinder, sondern<br />

die Teller gewaschen, gekocht, den Tisch gedeckt. Komm aus<br />

dem Ferienheim als fröhliches Mädchen zurück!» Und nun liegt<br />

sie hier neben einem bösen Mädchen, das sie hasst, weil sie<br />

ihm ähnlich ist.<br />

Lotte seufzt leise und weint wieder.<br />

Plötzlich streichelt eine kleine fremde Hand über ihr Haar!<br />

8 9


Lottchen wird stocksteif vor Schreck. Vor Schreck? Luises<br />

Hand streichelt schüchtern weiter.<br />

Der Mond schaut durchs große Schlafsaalfenster und<br />

wundert sich. Da liegen zwei kleine Mädchen nebeneinander.<br />

Sie wagen nicht, sich anzusehen. Die eine, die eben noch weinte,<br />

tastet jetzt mit ihrer Hand ganz langsam nach der streichelnden<br />

Hand der anderen.<br />

«Na, gut», denkt der alte silberne Mond. «Da kann ich beruhigt<br />

untergehen!» Und das tut er denn auch.<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 1. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, schreiben Sie die<br />

Sätze aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie<br />

diese Sätze ins Russische:<br />

1) Heimweh bekommen<br />

2) der Gongschlag<br />

3) ähnlich einander zum Verwechseln sehen<br />

4) der Unterschied (ant. die Ähnlichkeit)<br />

5) melden Akk.<br />

6) die Hand geben Dat.<br />

7) einen Knicks machen<br />

8) neben einander setzen<br />

9) den Namen eintragen<br />

10) sich das Haar kämmen<br />

11) verstecken Akk.<br />

12) Dat. die Ferien verderben<br />

13) die Doppelgängerin, -nen<br />

14) Dienst haben<br />

15) auf den Fuß treten<br />

16) die Ohren spitzen<br />

17) streicheln über Akk.<br />

18) beim Abschied sagen<br />

19) weinen<br />

20) hassen Akk.<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

застыть от страха, сдержанный плач, лежать с открытыми<br />

глазами, уставиться в темноту, вздрогнуть от боли, со всей<br />

силой, болтать наперебой, <strong>по</strong>чесать затылок, <strong>по</strong>жать плечами,<br />

речь идет о, в горле стоит ком, за исключением двух, никаких<br />

возражений (!), быть воображалой, болтушкой, чего только там<br />

нет (!), <strong>по</strong>вернуться как <strong>по</strong> команде.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren<br />

Sie sie:<br />

1. Seebühl ist ein großes Dorf, und dort liegt ein bekanntes<br />

Hotel für Touristen.<br />

2. Die Geschichte beginnt in Seebühl am See.<br />

3. Am Morgen essen alle ihr Frühstück ruhig.<br />

4. Am Nachmittag werden zwanzig «Neue» aus Norddeutschland<br />

erwartet.<br />

5. Der Schofför steigt aus und hebt ein kleines Mädchen<br />

nach dem anderen aus dem Wagen.<br />

6. Luise hat kurze Locken, und die Neue hat lange.<br />

7. Frau Holzmann berät mit der Köchin die neuen<br />

Mädchen.<br />

8. Lotte Körner und Luise Palfy waren aus Wien.<br />

9. Lotte setzt sich im Speisesaal neben Luise.<br />

10. Lottchen wird stocksteif vor Freude, denn Luises Hand<br />

streichelt schüchtern weiter.<br />

IV. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Wo spielt die Handlung dieser Geschichte? Beschreiben<br />

Sie das und merken Sie sich möglichst viele Details.<br />

2. Wie heißen alle handelnden Personen des Kapitels?<br />

Machen Sie ihr Porträt.<br />

3. Wie ist der Tagesablauf in diesem Ferienheim? Warum<br />

bekommen die Mädchen hier Heimweh?<br />

4. Warum warten alle neugierig auf «Neue»? Worauf kommen<br />

sie?<br />

5. Warum waren alle Kinder erstaunt bei Lottas Erscheinung?<br />

Wie reagiert Luise darauf ? Die Erwachsene? Finden Sie<br />

Unterschiede zwischen zwei Mädchen. (beim Äußeres, Benehmen)<br />

6. Was war im Speisesaal geschehen?<br />

7. Warum weinte Lotte in der Nacht? Woran errinerte sie<br />

sich im Bett?<br />

V. Der Text war in inhaltlich abgeschlossene Teile gegliedert.<br />

Betiteln Sie jeden Teil und formulieren Sie den<br />

10 11


Grundgedanken des Teils. Geben Sie den Inhalt mit den<br />

folgenden Wörter und Ausdrücke:<br />

1) ein Gebirgsdorf, ein bekanntes Ferienheim, wie riesengroße<br />

Bienenstöcke, Heimweh bekommen, Gelächter und Geschrei<br />

hören, um die Wette plaudern, in aller Eile essen, vorläufig baden,<br />

gelten für alle, zwanzig «Neue» erwarten, mitbringen;<br />

2) von der Bahnstation abholen, der Schofför, aus dem<br />

Wagen heben, im Rahmen der Wagentur, den Kopf schütteln,<br />

erstaunte Augen machen, sich am Hinterkopf kratzen, der<br />

einzige Unterschied, geflochtene Zöpfe haben;<br />

3) den Speisezettel beraten, vollzählig eintreffen, munter<br />

und gesund sein, vor der Tür warten, erstaunt schauen, verwandt<br />

sein, ähnlich sein, einen Knicks machen, das Zimmer<br />

verlassen, den Namen eintragen;<br />

4) den Korridor entlang gehen, auf die Treppen steigen, in<br />

den Schrank legen, in der Hand halten, zärtlich anschauen,<br />

unter den Schürzen verstecken, ernst und aufmerksam betrachten,<br />

sich kämmen;<br />

5) auf der Gartenmauer sitzen, mit dem Gesicht herumlaufen,<br />

zerkratzen, vorschlagen, die Nase abbeißen, mit den Beinen<br />

baumeln, die Ferien verderben, der Gong;<br />

6) kleine Doppelgängerinnen, nebeneinander setzen, Dienst<br />

haben, sich wie auf Kommando wenden, eintreten, zum Tisch<br />

bringen, mit offenem Mund sitzen, mit aller Kraft, die Lippen<br />

fest aufeinander pressen, sich gewöhnen;<br />

7) bis auf zwei, in die Dunkelheit starren, die Ohren spitzen,<br />

beim Abschied sagen, auf der Arbeit sein, leise weinen,<br />

schüchtern streicheln, stocksteif vor Schreck werden, beruhigt<br />

untergehen.<br />

ZWEITES KAPITEL<br />

Lotte und Luise wagten einander nicht anzusehen, als sie<br />

nächsten Morgen aufwachten, als sie dann in ihren langen weiβen<br />

Nachthemden in den Waschsaal liefen, als sie sich anzogen,<br />

als sie beim Frühstück saβen. Sie wagten auch noch nicht sich<br />

anzusehen, als sie nebeneinander am See entlang liefen und später<br />

Lieder sangen, Reigen tanzten und Blumenkränze flochten. Einmal<br />

kreuzten sich ihre raschen Blicke, aber nur ein einziges Mal.<br />

12 13<br />

***<br />

Jetzt sitzt Fräulein Ulrike auf der Wiese und liest einen wunderbaren<br />

Roman, in dem auf der Seite von Liebe die Rede ist.<br />

Luise spielt indessen mit ihren Freundinnen Ball. Aber sie<br />

ist sehr zerstreut. Oft schaut sie sich um, als suche sie jemanden<br />

und könne ihn nicht finden.<br />

Trude fragt: «Wann beiβt du denn nun endlich der Neuen die<br />

Nase ab, hm?»<br />

«Sei nicht so dumm!» sagt Luise.<br />

Christine blickt sie überrascht an. «Nanu! Ich denke, du<br />

hast eine Wut auf sie.»<br />

«Ich kann doch nicht jedem, auf den ich eine Wut habe,<br />

die Nase abbeiβen», erklärt Luise kühl. Und sie setzt hinzu:<br />

«Auβerdem hab’ ich gar keine Wut auf sie.»<br />

«Aber gestern hattest du doch eine Wut!» sagt nun Steffie.<br />

«Und was für eine Wut!» ergänzt Monika. «Beim Abendbrot<br />

hast du ihr unter dem Tisch so auf den Fuβ getreten, dass sie<br />

beinahe aufschrie!»<br />

«Na also!» stellt Trude fest.<br />

«Wenn ihr nicht gleich aufhört», ruft Luise böse, «zerkratze ich<br />

euch die Gesichter!» Dann wendet sie sich um und geht weg.<br />

«Die weiβ nicht, was sie will», meint Christine und zuckt die<br />

Achseln.<br />

***<br />

Lotte setzt, ein Blumenkränzchen auf den Zöpfen, allein auf<br />

der Wiese und flicht einen zweiten Kranz. Da fällt ein Schatten<br />

über ihre Schürze. Sie blickt auf.


Luise steht vor ihr und tritt verlegen von einem Bein aufs<br />

andere. Lotte lächelt, aber so, dass man es kaum merkt. Luise<br />

lächelt erleichtert zurück. Lotte hält den Kranz hoch und fragt<br />

schüchtern: «Willst du ihn?»<br />

Luise sagt leidenschaftlich: «Ja, aber nur, wenn du ihn mir<br />

aufsetzt!»<br />

Lotte drückt ihr den Kranz in die Locken. Dann nickt sie<br />

und fügt leidenschaftlich hinzu: «Schön!»<br />

Nun sitzen also die beiden ähnlichen Mädchen nebeneinander<br />

auf der Wiese, schweigen und lächeln sich schüchtern an.<br />

Dann atmet Luise schwer und fragt: «Bist du mir noch böse?»<br />

Lotte schüttelt den Kopf.<br />

Luise blickt zu Boden und sagt: «Es kann so plötzlich! Der<br />

Autobus! Und dann du! So ein Schreck!»<br />

Lotte nickt. «So ein Schreck!» wiederholt sie.<br />

Luise beugt sich vor: «Eigentlich ist es furchtbar lustig, ja?»<br />

Lotte blickt ihr erstaunt in die Augen: «Lustig?» Dann fragt<br />

sie leise: «Hast du Geschwister?»<br />

«Nein!»<br />

«Ich auch nicht», sagt Lotte.<br />

***<br />

Beide haben sich in den Waschsaal geschlichen und stehen<br />

vor einem groβen Spiegel. Lotte brennt vor Ungeduld, Luises<br />

Locken mit Kamm und Bürste zu bearbeiten.<br />

Luise schreit: «Au!» und «Oh!»<br />

«Willst du endlich ruhig sein?» schimpft Lotte und macht ein<br />

strenges Gesicht. «Wenn dir deine Mutti Zöpfe flicht, schreist<br />

du doch nicht!»<br />

«Ich habe doch gar keine Mutti», murrt Luise. «Deswegen –<br />

au! – deswegen bin ich ja auch so ein lautes Kind, sagt mein<br />

Vater.»<br />

«Ist dein Vater sehr streng? Straft er dich? erkundigt sich<br />

Lotte, während sie mit dem Zopfflechten beginnt.»<br />

«Ach, nein! Er hat mich zu lieb! Und auβerdem hat er den<br />

Kopf voll.»<br />

Dann sind Luises Zöpfe fertig, und nun schauen die Kinder<br />

neugierig in den Spiegel. Ihre Gesichter strahlen.<br />

Zwei völlig gleiche Mädchen blicken aus dem Spiegel heraus.<br />

«Wie zwei Schwestern!» flüstert Lotte begeistert.<br />

Der Mittagsgong ertönt.<br />

«Das wird ein Spaβ!» ruft Luise. «Komm!»<br />

Sie rennen aus dem Waschsaal und halten sich an den<br />

Händen.<br />

14 15<br />

***<br />

Die anderen Kinder sitzen längst. Nur Luises und Lottes<br />

Stühle sind noch leer.<br />

Da öffnet sich die Tür, und Lotte erscheint. Sie setzt sich<br />

sofort auf Luises Stuhl.<br />

«Du!» warnt Monika. «Das ist Luises Platz! Paβ auf! Denkt an<br />

deinen Fuβ!»<br />

Das Mädchen zuckt die Achseln und beginnt zu essen. Die<br />

Tür öffnet sich wieder, und – ja, zum Donnerwetter! – Lotte<br />

kommt noch einmal herein! Sie geht, ohne eine Miene zu<br />

verziehen, auf den letzten leeren Platz zu und setzt sich.<br />

Die anderen Mädchen am Tisch sperren Mund und Nase auf.<br />

Jetzt schauen auch die Kinder von den Nebentischen herüber.<br />

Sie stehen auf und umringen die beiden Lotten.<br />

Die Spannung löst sich erst, als die beiden zu lachen anfangen.<br />

Es dauert keine Minute, da ertönt im Saal ein vielstimmiges<br />

Kindergelächter.<br />

Frau Holzmann runzelt die Stirn. «Was ist geschehen?» Sie<br />

steht auf und tritt näher. Als sie aber die zwei Zopfmädchen<br />

entdeckt, schmilzt ihr Zorn wie Schnee in der Sonne dahin. Sie<br />

fragt die beiden Mädchen: «Also, welche von euch ist nun Luise<br />

Palfy und welche Lotte Körner?»<br />

«Das sagen wir nicht!» rufen die Mädchen, und wieder<br />

erklingt helles Gelächter.<br />

«Mein Gott!» ruft Frau Holzmann. «Was sollen wir denn nun<br />

machen?»<br />

«Vielleicht», schlägt die eine Lotte vergnügt vor, «vielleicht<br />

errät es doch jemand?»<br />

«Ich weiß etwas!» ruft Steffie. «Trude geht doch mit Luise in<br />

dieselbe Klasse! Trude muss raten!»<br />

Trude blickt aufmerksam von der einen Lotte zur anderen<br />

und schüttelt ratlos den Kopf. Dann aber huscht ein Lächeln<br />

über ihr Gesicht. Sie zieht die ihr näher stehende Lotte am<br />

Zopf – und im nächsten Augenblick klatscht eine Ohrfeige!<br />

Trude hält die Hand an die Backe und ruft begeistert: «Das<br />

war Luise!» Die allgemeine Heiterkeit erreicht damit ihren<br />

Höhepunkt.


***<br />

Luise und Lotte haben die Erlaubnis erhalten, in das nahgelegene<br />

Dorf zu gehen. Die beiden Mädchen wollten sich unbedingt<br />

fotografieren lassen, um Fotos nach Hause zu schicken!<br />

Da werden sich zu Hause alle wundern!<br />

Der Fotograf, ein gewisser Herr Kramer, hat, nach der ersten<br />

Verblüffung, sechs verschiedene Aufnahmen gemacht. In zehn<br />

Tagen sollen die Bilder fertig sein.<br />

Zu seiner Frau sagte er, als die Mädchen fortgegangen sind:<br />

«Weißt du was, ich schicke ein paar Bilder an eine illustrierte<br />

Zeitschrift! Die Redakteure interessieren sich manchmal für<br />

solche Bilder!»<br />

Draußen vor dem Fotogeschäft löst Luise ihre «dummen»<br />

Zöpfe wieder auf. Und als sie ihre Locken wieder schütteln<br />

kann, kehrt auch ihr Temperament wieder zurück. Sie lädt<br />

Lotte zu einem Glas Limonade ein. Lotte sträubt sich. Luise<br />

sagt energisch: «Sag nicht nein! Mein Vater hat mir vorgestern<br />

Taschengeld geschickt. Also, los!»<br />

Sie spazieren also zum Waldcafé hinaus, sitzen sich in den<br />

Garten, trinken Limonade und plaudern. Es gibt ja so viel zu<br />

erzählen, zu fragen, und zu beantworten, wenn zwei kleine<br />

Mädchen Freundinnen geworden sind!<br />

Die Hühner laufen gackernd zwischen den Gasthaustischen<br />

hin und her. Ein alter Jagdhund beschnuppert die beiden<br />

kleinen Gäste.<br />

«Ist dein Vater schon lange tot?» fragt Luise.<br />

«Ich weiß es nicht», sagt Lotte. «Mutti spricht niemals von<br />

ihm, und fragen möchte ich nicht gern.»<br />

Luise nickt. «Ich kann mich an meine Mutti gar nicht mehr<br />

erinnern. Früher stand auf Vaters Flügel ein großes Bild von<br />

ihr. Einmal kam er ins Zimmer, als ich es mir gerade ansah.<br />

Und am nächsten Tag war das Bild fort. Er hat es wahrscheinlich<br />

im Schreibtisch eingeschlossen.»<br />

Die Hühner gackern. Der Jagdhund döst. Ein kleines<br />

Mädchen, das keinen Vater, und ein kleines Mädchen, das<br />

keine Mutter mehr hat, trinken Limonade.<br />

«Du bist doch auch neun Jahre alt?» fragt Luise.<br />

«Ja.» Lotte nickt. «Am 14. Oktober werde ich zehn.»<br />

Luise zuckt zusammen. «Am 14. Oktober?»<br />

«Am 14. Oktober.»<br />

Luise beugt sich vor und flüstert: «Ich auch!» Lotte wird stocksteif<br />

wie eine Puppe.<br />

Hintern Haus kräht ein Hahn. Der Jagdhund schnappt<br />

nach einer Biene, die in seiner Nähe summt. Aus dem offenen<br />

Küchenfenster hört man, wie die Wirtin ein Lied singt.<br />

Die beiden Kinder schauen sich wie hypnotisiert in die Augen.<br />

Lotte fragt aufgeregt: «Und – wo bist geboren?»<br />

Luise erwidert leise und zögernd: «In Linz an der Donau!»<br />

Lotte fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.<br />

«Ich auch!»<br />

Es ist ganz still im Garten. Nur die Baumwipfel bewegen<br />

sich.<br />

Lotte sagt langsam: «Ich habe ein Foto von… meiner Mutti<br />

im Schrank.» Luise springt auf. «Zeig mir’s!» Sie zieht Lotte vom<br />

Stuhl herunter, und sie gehen aus dem Garten.<br />

«Nanu!» ruft da jemand empört. «Was sind denn das für neue<br />

Moden?» Es ist die Wirtin. «Limonade trinken und nicht zahlen?»<br />

Luise erschrickt. Sie sucht mit zitternden Fingern in ihrem<br />

kleinen Geldbeutel, drückt der Frau einen Schein in die Hand<br />

und läuft zu Lotte zurück.<br />

«Ihr kriegt etwas heraus!» schreit die Frau. Aber die Kinder<br />

hören sie nicht. Sie rennen davon.<br />

Lotte sucht im Kinderheim, eifrig in ihrem Schrank. Unter<br />

dem Wäschestapel holt sie eine Fotografie hervor und reicht sie<br />

Luise, die am ganzen Körper zittert. Luise schaut ängstlich auf<br />

das Bild. Dann verklärt sich ihr Blick. Lotte schaut erwartungsvoll<br />

auf die andere. Luise lässt das Bild sinken. Dann presst<br />

sie es an sich und flüstert: «Meine Mutti!»<br />

Lotte legt den Arm um Luises Hals. «Unsere Mutti!» Zwei<br />

kleine Mädchen umarmen sich. Nach diesem Geheimnis warten<br />

neue Rätsel, andere Geheimnisse auf sie.<br />

Der Gong dröhnt durchs Haus. Kinder rennen lachend und<br />

lärmend die Treppe hinunter. Luise will das Bild in den Schrank<br />

zurücklegen. Lotte sagt: «Ich schenke dir’s!»<br />

16 17<br />

***<br />

Fräulein Ulrike steht im Büro vor dem Schreibtisch der<br />

Heimleiterin und hat vor Aufregung rote, kreisrunde Flecken<br />

auf beiden Backen.<br />

«Ich kann nicht schweigen!» stößt sie hervor. «Ich muss mich<br />

Ihnen anvertrauen. Wenn ich nur wüsste, was wir tun sollen!»<br />

«Na, na», sagt Frau Holzmann, «warum sind Sie denn so<br />

aufgeregt, meine Liebe?»


«Wegen Luise Palfy und Lotte Körner! Ich habe im Aufnahmebuch<br />

nachgeschlagen! Sie sind beide am selben Tag in Linz<br />

geboren! Das kann Zufall sein kein!»<br />

«Wahrscheinlich ist es kein Zufall, meine Liebe. Ich habe<br />

auch schon daran gedacht.»<br />

«Sie wissen es also?» fragt Fräulein Ulrike und schnappt<br />

nach Luft.<br />

«Natürlich! Als ich die kleine Lotte, nachdem sie angekommen<br />

war, nach ihren Daten fragte und alles eintrug, verglich<br />

ich diese Angaben mit Luises Geburtstag und Geburtsort. Das<br />

fiel zusammen.»<br />

«Ja, ja. Und was geschieht nun?»<br />

«Nichts.»<br />

«Nichts?»<br />

«Aber …»<br />

«Kein Aber! Die Kinder ahnen nichts. Sie haben sich heute<br />

fotografieren lassen und werden die Bildchen nach Hause<br />

schicken. Wollen wir sehen, was daraus wird. Ich danke Ihnen<br />

für alles, meine Liebe. Und jetzt schicken Sie mir, bitte, die<br />

Köchin.»<br />

Fräulein Ulrike kann nichts verstehen, als sie das Büro<br />

verlässt.<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 2. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, schreiben Sie die<br />

Sätze aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie<br />

diese Sätze ins Russische:<br />

1) sich anziehen<br />

2) Reigen tanzen<br />

3) Blumenkränze flechten<br />

4) auf der Wiese sitzen<br />

5) zerstreut sein<br />

6) aufhören Akk.<br />

7) streng sein<br />

8) strafen Akk.<br />

9) zum Donnerwetter<br />

10) eine Miene verziehen<br />

11) die Spannung<br />

12) eine Ohrfeige klatschen<br />

13) den Höhepunkt erreichen<br />

14) die Erlaubnis erhalten<br />

15) nach der ersten Verblüffung<br />

16) Aufnahmen machen<br />

17) sich sträuben<br />

18) Taschengeld haben<br />

19) sich erinnern an Akk.<br />

20) empört sein<br />

21) einen Geldbeutel haben<br />

22) sich umarmen<br />

23) das Geheimnis<br />

24) sich anvertrauen Dat<br />

25) im Aufnahmebuch nachschlagen<br />

26) kein Zufall sein<br />

II. Suchen Sie Äquivalente im Russischen und bilden die<br />

Situationen mit diesen idiomatischen Wendungen:<br />

eine Wut auf Akk. haben –<br />

vor Ungeduld brennen –<br />

den Kopf voll haben –<br />

Mund und Nase aufsperren –<br />

wie Schnee in der Sonne schmelzen –<br />

wie eine Puppe stocksteif sein –<br />

III. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

отважиться на что-либо, время от времени, думать о комлибо,<br />

снимать комнату, удивленно взглянуть, дергать за косу,<br />

дрожащими руками, дрожать всем телом, родиться в один и<br />

тот же день, быть взволнованным, <strong>по</strong>краснеть от волнения,<br />

ничего не <strong>по</strong>дозревать, перевести дыхание с трудом.<br />

IV. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren<br />

Sie sie:<br />

1. Auf dem Kinderplatz hat Fräulein Ulrike mit den Mädchen<br />

Ball gespielt.<br />

2. Luise hat auf alle Kinder eine Wut gehabt.<br />

3. Lotte war allein auf der Wiese und hat den dritten Kranz<br />

geflochten.<br />

4. Luise drückte sich den Kranz in die Locken.<br />

5. Im Waschsaal hat Lotteihrer Schwester Zöpfe geflochten.<br />

6. Luise war ein ruhiges Kind, denn sie hatte eine Mutter.<br />

7. Lotte hat sich auf Luises Stuhl gesetzt.<br />

18 19


8. Trude geht mit Luise in dieselbe Klasse und kann raten,<br />

welche von zwei Zopfmädchen Luise Palfy ist.<br />

9. Steffie zieht Luise am Zopf und bekommt eine Ohrfeige.<br />

10. Die Mädchen wollten ins Dorf gehen, um sichdort zu<br />

fotografieren und Fotos nach Hause zu schicken.<br />

11. Lotte sagte nein ins Waldcafé zu gehen, denn sie hatte<br />

kein Geld.<br />

12. Die Mädchen sind am selben Tag in Linz geboren.<br />

13. Luise hat Lotte Muttis Foto geschenkt.<br />

14. Frau Holzmann war wegen Luise und Lotte aufgeregt. Sie<br />

hatte vor Aufregung kreisrunde Flecken auf beiden Backen.<br />

V. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Wie benahmen sich Lotte und Luise am nächsten Morgen?<br />

2. Warum war Luise sehr zerstreut? Hatte sie Wut auf Lotte?<br />

3. Womit waren die Mädchen auf der Wiese beschäftigt?<br />

4. Warum konnte Luise vor dem Spiegel nicht ruhig stehen?<br />

5. Was ist in der Speisehalle geschehen?<br />

6. Wer und wie erkannte Luise?<br />

7. Wozu gingen die Mädchen ins Dorf?<br />

8. Worüber haben Lotte und Luise im Café gesprochen?<br />

9. Was hat Lotte ihrer Schwester geschenkt?<br />

10. Warum war Fräulein Ulrike so aufgeregt?<br />

VI. Der Text war in inhaltlich abgeschlossene Teile gegliedert.<br />

Geben Sie den Inhalt des Kapitels nach dieser<br />

Gliederung wieder:<br />

1. Auf der Wiese.<br />

2. Im Waschsaal.<br />

3. Beim Mittagessen<br />

4. Im Fotogeschäft.<br />

5. Im Waldcafé.<br />

6. Im Büro von Frau Holzmann.<br />

DRITTES KAPITEL<br />

Die Zeit vergeht.<br />

Haben die zwei kleinen Mädchen ihre Fotos beim Herrn<br />

Kramer im Dorf abgeholt? Schon längst! Hat sich Fräulein Ulrike<br />

neugierig erkundigt, ob sie die Fotos nach Hause geschickt<br />

haben? Schon längst! Haben Luise und Lotte auf diese Frage ja<br />

gesagt? Schon längst!<br />

Und schon ebenso lange liegen dieselben Fotos, in kleine Fetzen<br />

zerrissen, auf dem Grunde des grünen Sees bei Seebühl.<br />

Die Kinder haben Fräulein Ulrike angelogen! Sie wollen ihr Geheimnis<br />

für sich behalten! Und wer die Mädchen auszufragen<br />

versucht, den beschwindeln sie. Sogar Lottchen hat keine Gewissensbisse.<br />

Es geht nicht anders.<br />

Die beiden Mädchen hängen nun wie die Kletten zusammen.<br />

Trude, Steffie, Monika, Christine un d die anderen sind<br />

manchmal böse auf Luise, eifersüchtig auf Lotte. Was hilft es?<br />

Gar nichts hilft es! Wo mögen sie jetzt wieder stecken?<br />

Sie stecken im Schrankzimmer. Lotte holt zwei gleiche<br />

Schürzen aus ihrem Schrank, gibt der Schwester eine und<br />

sagt: «die Schürzen hat Mutti beim Krause gekauft.»<br />

«Aha», meint Luise, «das ist das Kaufhaus beim… wie heißt<br />

das Tor?»<br />

«Karlstor.»<br />

«Richtig, beim Karlstor!»<br />

Jedes Mädchen weiß schon vieles über die Gewohnheiten,<br />

über die Schulkameradinnen, die Nachbarn, die Lehrerinnen<br />

und die Wohnung der anderen! Für Luise ist ja alles, was mit<br />

der Mutter zusammenhängt, so sehr wichtig! Und Lotte will alles<br />

über den Vater erfahren, was die Schwester weiß. Tag für<br />

Tag sprechen sie von nichts anderem, und noch abends flüstern<br />

sie stundenlang in ihren Betten.Ein Geheimnis gibt ihnen keine<br />

Ruhe: Warum sind die Eltern nicht mehr zusammen?<br />

«Erst haben sie natürlich geheiratet», erklärt Luise zum<br />

hundertsten Male. «Dann sind zwei kleine Mädchen geboren.<br />

Und weil Mutti Luiselotte heißt, haben sie das eine Kind Luise<br />

und das andere Lotte genannt. Das ist doch sehr nett! Damals<br />

haben sie sich noch geliebt, nicht wahr?»<br />

«Bestimmt!» sagt Lotte. «Aber später haben sie sich sicher<br />

gezankt. Und sind voneinander fortgegangen. Und sie haben<br />

20 21


uns so geteilt, wie sie vorher Muttis Vornamen geteilt haben!»<br />

«Eigentlich hätten sie uns erst fragen müssen, ob wir einverstanden<br />

sind!»<br />

«Damals konnten wir ja gar nicht sprechen!»<br />

Die beiden Schwestern lächeln hilflos. Dann unarmen sie<br />

sich und gehen in den Garten.<br />

***<br />

Es ist Post gekommen. Überall, im Gras und auf der Mauer<br />

und auf den Gartenbänken, hocken kleine Mädchen und studieren<br />

Briefe.<br />

Lotte hält die Fotografie eines Mannes von etwa fünfunddreißig<br />

Jahren in den Händen und blickt zärtlich auf ihren<br />

Vater. So sieht er also aus! Es ist so schön, einen wirklichen,<br />

lebendigen Vater zu haben!<br />

Luise liest vor. Was er ihr schreibt: «Mein liebes, einziges<br />

Kind!» – «So ein Schwindler!» sagt sie hochblickend.<br />

«Er weiß doch ganz genau, dass er Zwillinge hat!» Dann liest sie<br />

weiter: «Hast Du denn ganz vergessen, wie Dein Vater aussieht,<br />

dass Du unbedingt noch zum Ferienschluß eine Fotografie<br />

von ihm haben willst? Erst wollte ich Dir ja ein Kinderbild von<br />

mir schicken. Aber Du schreibst, dass es unbedingt ein ganz<br />

neues Bild sein muss! Na, da bin ich gleich zum Fotografen<br />

gerannt, obwohl ich eigentlich gar keine Zeit hatte, und habe<br />

ihm erklärt, warum ich das Bild so eilig brauche. Ich habe ihm<br />

gesagt, dass Du mich sonst nicht wieder erkennst, wenn ich<br />

Dich vom Bahnhof abhole. Das hat er zum Glück verstanden.<br />

Und so bekommst Du das Bild noch rechzeitig.<br />

Es grüßt und küsst Dich tausendmal Dein Vater»<br />

«Schön!» sagt Lotte. «Und lustig ist er! Dabei sieht er auf dem<br />

Bild so ernst aus!»<br />

«Wahrscheinlich hat er sich vor dem Fotografen geniert zu<br />

lachen», erwidert Luise. «Vor anderen Leuten macht er immer<br />

ein strenges Gesicht. Aber wenn wir allein sind, kann er sehr<br />

lustig sein.»<br />

Lotte hält das Bild ganz fest. «Und ich darf es wirklich<br />

behalten?»<br />

«Natürlich», sagt Luise, «deswegen habe ich doch den Vater<br />

gebeten, das Bild zu schicken.»<br />

22 23<br />

***<br />

Die pausbäckige Steffie sitzt auf einer Bank, hält einen Brief<br />

in der Hand und weint. Sie weint lautlos. Die Tränen rollen<br />

unaufhörlich über das runde Kindergesicht. Trude spaziert<br />

vorbei, bleibt neugierig stehen, setzt sich daneben und schaut<br />

Steffie an. Christine kommt hinzu und setzt sich auf die andere<br />

Seite. Luise und Lotte nähern sich und bleiben stehen.<br />

«Was ist mit dir?» fragt Luise.<br />

Steffie weint lautlos weiter. Plötzlich senkt sie die Augen und<br />

sagt leise: «Meine Eltern lassen sich scheiden.»<br />

«So eine Gemeinheit!» ruft Trude. «Da schicken sie dich<br />

erst in die Ferien, und dann tun sie so etwas! Hinter deinem<br />

Rücken!»<br />

«Der Papa liebt, glaube ich, eine andere Frau», sagt Steffie.<br />

Luise und Lotte gehen rasch weiter. Was sie eben gehört<br />

haben, bewegt sie aufs heftigste.<br />

«Unser Vater», fragt Lotte, «hat doch aber keine neue Frau?»<br />

«Nein», erwidert Luise. «Das wüsste ich.»<br />

«Vielleicht eine, mit der er nicht verheiratet ist?» fragt Lotte<br />

zögernd.<br />

Luise schüttelt den Lockenkopf. «Bekannte hat er natürlich.<br />

Auch Frauen. Aber du sagt er zu keiner! Aber wie ist das mit<br />

Mutti? Hat Mutti einen – einen guten Freund?»<br />

«Nein», sagt Lotte. «Mutti hat mich und ihre Arbeit, und sonst<br />

will sie nichts vom Leben, so sagt sie.»<br />

Luise blickt die Schwester ziemlich ratlos an.<br />

«Ja, aber warum sind sie denn dann geschieden?»<br />

Lotte denkt nach. «Vielleicht waren sie gar nicht auf dem<br />

Gericht? So wie Steffies Eltern das wollen?»<br />

«Warum ist Vater in Wien und Mutti in München?» fragt<br />

Luise. «Warum haben sie uns getrennt?»<br />

«Warum», fährt Lotte fort, «warum haben sie uns nie erzählt,<br />

dass wir gar nicht allein, sondern eigentlich Zwillinge sind? Und<br />

warum hat Vater dir nichts davon erzählt, dass Mutti lebt?»<br />

«Und Mutti hat dir nicht gesagt, dass Vati lebt!» Luise ist<br />

empört. «Schöne Eltern haben wir! Na warte, wenn wir den beiden<br />

einmal unsere Meinung sagen! Sie werden staunen!»<br />

«Das dürfen wir doch gar nicht», sagt Lotte schüchtern. «Wir<br />

sind ja nur Kinder!»<br />

«Nur?» fragt Luise und wirft den Kopf zurück.


TEXTAUFGABEN ZUM 3. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, schreiben Sie die<br />

Sätze aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie<br />

diese Sätze ins Russische:<br />

1) anlügen<br />

2) das Geheimnis behalten für Akk.<br />

3) die Gewissensbisse haben / gewissenhaft ≠ gewissenlos/<br />

4) wie die Kletten zusammenhängen<br />

5) die Gewohnheiten haben / aus Gewohnheit/<br />

6) etw. keine Ruhe geben Dat.<br />

7) hocken<br />

8) ein Schwindler<br />

9) unbedingt sein<br />

10) vom Bahnhof abholen<br />

11) ernst sein<br />

12) sch genieren<br />

13) sich scheiden<br />

14) empört sein<br />

15) Meinung sagen<br />

16) nennen Akk. Akk.<br />

17) die Gemeinheit, -en<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

разорванные на мелкие кусочки, ничего другого не остается,<br />

долго шептаться, быть связанным с кем-либо или чемлибо,<br />

куда же они снова запропастились (?), быть строгим<br />

с людьми, быть толстощекой, слезы катятся беспрерывно,<br />

беззвучно плакать, волновать до глубины души, остановиться.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie<br />

sie:<br />

1. Die zwei kleinen Mädchen haben keine Fotos beim Herrn<br />

Kramer im Dorf abgeholt?<br />

2. Die Kinder haben Fräulein Ulrike gesagt, dass sie ihre<br />

Fotos nach Hause geschickt haben.<br />

3. Die anderen Kinder sind manchmal böse auf Luise,<br />

eifersüchtig auf Lotte.<br />

4. Luise gab der Schwester eine Schürze und sagte, dass die<br />

Mutter sie beim Müller gekauft.<br />

5. Jedes Mädchen wusste nichts über Gewohnheiten.<br />

6. Die Kinder wussten, warum ihre Eltern nicht mehr zusammen<br />

waren.<br />

7. Luises Vater war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren,<br />

nett, lebendig.<br />

8. Der Vater konnte das Foto nicht schicken, denn er hatte<br />

keine Zeit.<br />

9. Steffie hielt einen Brief in der Hand und weinte, denn ihre<br />

Eltern lassen sich scheiden.<br />

10. Lotte und Luise stellten sich die Fragen, aber sie fanden<br />

keine Antworten.<br />

IV. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Warum haben Lotte und Luise die Fotos nach Hause nicht<br />

geschickt?<br />

2. Was haben sie mit Fotos gemacht?<br />

3. Warum waren die anderen Mädchen auf Luise und Lotte<br />

böse?<br />

4. Was für ein Geheimnis hat den Zwillingen keine Ruhe<br />

gegeben?<br />

5. Warum brachte Luises Vater ein ganz neues Bild? Wie<br />

erklärte er dem Fotografen?<br />

6. Warum weinte Steffie und wie reagierten die anderen<br />

Mädchen?<br />

7. Hatte Trude Recht? Sind Sie mit ihr einverstanden?<br />

8. Warum machte die Scheidung der Eltern von Steffie auf<br />

Luise und Lotte einen großen Eindruck?<br />

V. Der Text war in inhaltlich abgeschlossene Teile<br />

gegliedert. Geben Sie den Inhalt des Kapitels nach dieser<br />

Gliederung wieder:<br />

1. Das große Geheimnis der Zwillingen.<br />

2. Der Brief des Vaters.<br />

3. Die traurige Steffie.<br />

24 25


VIERTES KAPITEL<br />

Die Ferien gehen zu Ende. Die Mädchen sind betrübt, dass<br />

sie das Kinderheim verlassen müssen, und gleichzeitig freuen<br />

sie sich schon, dass sie nun ihre Eltern und Geschwister bald<br />

wieder sehen.<br />

Frau Holzmann plant ein kleines Abschiedsfest. Der Vater<br />

eines Mädchens, dem ein Kaufhaus gehört, hat eine große Kiste<br />

Lampions, Girlanden und viele andere Dinge geschickt. Nun<br />

bemühen sich die Helferinnen und die Kinder, die Veranda und<br />

den Garten schön zu schmücken. Sie schleppen Küchenleiterin<br />

von Baum zu Baum, hängen bunte Laternen ins Laub, schlingen<br />

Girlanden von Zweig zu Zweig und bereiten auf einem langen<br />

Tisch eine Tombola vor. Andere schreiben auf kleine Zettel<br />

Losnummern. Der erste Hauptgewinn: ein Paar Rollschuhe.<br />

«Wo sind eigentlich die ‚Locken und Zöpfe’?» fragt Fräulein<br />

Ulrike. (So nennt man Luise und Lotte in der letzten Zeit!)<br />

«Ach die!» meint Monika verächtlich. «Die sitzen wieder<br />

irgendwo im Gras und halten sich an den Händen, damit der<br />

Wind sie nicht auseinanderweht!»<br />

***<br />

Die Zwillinge sitzen nicht irgendwo im Gras, sondern im<br />

Garten des Waldcafes. Sie halten sich auch nicht an den<br />

Händen – dazu haben sie keine Zeit – sondern sie haben kleine<br />

Heftchen vor sich liegen, halten Bleistifte in der Hand, und im<br />

Augenblick diktiert Lotte, und Luise schreibt folgendes: «Am<br />

liebsten isst Mutti Nudelsuppe mit Rindfleisch. Das Rindfleisch<br />

holst du beim Metzger Huber.»<br />

Luise hebt den Kopf. «Metzger Huber, Max-Emanuelstraße»,<br />

sagt sie.<br />

Lotte nickt befriedigt. «Das Kochbuch liegt im Küchenschrank,<br />

in der untersten Schublade, ganz links. Und in dem Buch liegen<br />

alle Rezepte von Speisen, die ich kochen kann.»<br />

Luise notiert: «Kochbuch… Küchenschrank… unterste Schublade…<br />

ganz links…» Dann meint sie: «Vor dem Kochen habe ich<br />

eine Heidenangst. Aber wenn es in den ersten Tagen nicht gut geht,<br />

kann ich vielleicht sagen, dass ich es in den Ferien verlernt habe.»<br />

Lotte nickt zögernd. «Außerdem kannst du mir ja gleich<br />

schreiben, wenn etwas nicht so geht. Ich gehe jeden Tag<br />

aufs Postamt und frage, ob ein Brief angekommen ist!»<br />

«Ich auch», meint Luise. «Schreib nur recht oft! Und iß<br />

tüchtig im Restaurant Imperial! Vati freut sich immer so, wenn<br />

mir’s schmeckt!»<br />

«Schade, dass gerade Eierkuchen deine Lieblingsspeise ist!»<br />

murrt Lottchen. «Kalbsschnitzel und Gulasch wären mir lieber!»<br />

«Wenn du gleich am ersten Tag drei Eierkuchen isst, oder<br />

vier oder fünf, kannst du nachher sagen, dass du Eierkuchen<br />

überhaupt nicht mehr sehen kannst.»<br />

«Das geht!» antwortet die Schwester, obwohl sich ihr bei dem<br />

Gedanken an fünf Eierkuchen der Magen umdreht.<br />

Dann beugen sich beide wieder über ihre Heftchen und<br />

fragen einander gegenseitig die Namen der Mitschülerinnen, die<br />

Gewohnheiten der Lehrerin und den genauen Schulweg ab.<br />

«Mit dem Schulweg ist es für dich leichter als für mich», meint<br />

Luise. «Du sagst Trude ganz einfach, sie soll dich am ersten Tag<br />

abholen! Das macht sie manchmal. Na, und dann läufst du<br />

ganz ruhig neben ihr her und merkst dir die Straßen!»<br />

Lotte nickt. Plötzlich erschrickt sie. «Das hab dir noch gar<br />

nicht gesagt, – vergiß ja nicht, – Mutti wenn sie dich zu Bett<br />

bringt, einen Gutenachtkuss zu geben!»<br />

Luise blickt vor sich hin. «Das brauche ich mir nicht aufzuschreiben.<br />

Das vergesse ich bestimmt nicht!»<br />

26 27<br />

***<br />

Merkt ihr, was hier geschieht? Die Zwillinge wollen den<br />

Eltern nicht erzählen, dass sie alles wissen. Sie wollen<br />

Vater und Mutter nicht zwingen, Entschlüsse zu fassen. Sie<br />

fühlen, dass sie kein Recht dazu haben. Und sie fürchten,<br />

dass die Entschlüsse der Eltern ihr Geschwisterglück sofort<br />

und endgültig wieder zerstören könnten. Das darf aber nicht<br />

geschehen! Nein! Sie wollen nicht wieder getrennt leben! Kurz<br />

und gut, eine Verschwörung ist im Gange! Der Plan, voll Fantasie<br />

und Abenteuerlust, sieht so aus: Die beiden wollen die Kleider,<br />

die Frisuren, die Wohnung und das ganze Dasein tauschen!<br />

Luise will, – mit Zöpfen, ganz sei sie Lotte, – zur Mutter, von der<br />

sie nichts als eine Fotografie kennt, «heimkehren». Und Lotte<br />

wird, – mit Locken und so lustig und lebhaft wie Luise, – zum<br />

Vater nach Wien fahren!<br />

Die Vorbereitungen auf die zukünftigen Abenteuer waren<br />

gründlich. Die Heftchen der Schwestern sind voll von Notizen.<br />

Man wird einander postlagernd schreiben, wenn wichtige<br />

unvorhergesehene Ereignisse eintreten.


Vielleicht gelingt es den beiden zu erraten, warum die Eltern getrennt<br />

leben, und vielleicht werden sie dann eines schönen, eines<br />

wunderschönen Tages miteinander und mit beiden Eltern… doch<br />

daran wagen sie kaum zu denken, geschweige denn, darüber zu<br />

sprechen.<br />

***<br />

Das Gartenfest am Vorabend der Abreise soll die Generalprobe<br />

sein.<br />

Lotte kommt als lockige lustige Luise.<br />

Luise erscheint als brave, bezopfte Lotte.<br />

Und beide spielen ihre Rollen ausgezeichnet. Niemand merkt<br />

etwas! Nicht einmal Trude, Luises Schulkameradin aus Wien!<br />

Es macht beiden einen Mordsspaß, einander laut beim eigenen<br />

Vornamen zu rufen. Lotte schlägt vor Übermut Purzelbäume.<br />

Und Luise benimmt sich so sanft und still, als könne sie<br />

kein Wässerchen trüben.<br />

Die Lampions schimmern in den Bäumen. Die Girlanden<br />

schaukeln im Abendwind. Das Fest und die Ferien gehen zu<br />

Ende. An der Tombola verteilt man die Gewinne. Steffie gewinnt<br />

den ersten Preis, die Rollschuhe. (Besser ein schwacher Trost<br />

als gar keiner!)<br />

Die Schwestern schlafen schließlich ihren Rollen getreu,<br />

in den vertauschten Betten und träumen vor Aufregung<br />

wilde Dinge. Lotte zum Beispiel träumt, dass in Wien auf<br />

dem Bahnsteig eine kolossale Fotografie ihres Vaters auf sie<br />

zukommt, und daneben steht ein Hotelkoch in weißer Mütze<br />

mit einem Schubkarren voll dampfender Eierkuchen – brrr!<br />

***<br />

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, fahren in der<br />

Bahnstation zwei Züge ein. Sie kommen aus entgegengesetzten<br />

Richtungen. Dutzende kleiner Mädchen klettern in die Abteile.<br />

Lotte beugt sich aus dem Fenster. Aus einem Fenster des<br />

anderen Zuges winkt Luise. Sie lächeln einander Mut zu. Die<br />

Aufregung wächst. Wer weiß? Vielleicht wollen die kleinen<br />

Mädchen im letzten Moment doch noch – …<br />

Aber nein, der Fahrplan hat das Wort. Der Stationsvorsteher<br />

hebt sein Szepter. Die Züge setzen sich gleichzeitig in Bewegung.<br />

Kinderhände winken.<br />

Lotte fährt als Luise nach Wien.<br />

Und Luise als Lotte nach München.<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 4. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, schreiben Sie die<br />

Sätze aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie<br />

diese Sätze ins Russische:<br />

1) betrübt sein<br />

2) das Abschiedsfest planen (te,t)<br />

3) sich bemühen zu+Inf.<br />

4) der Hauptgewinn<br />

5) vor dem Kochen eine Heidenangst haben<br />

6) verlernen (te,t)<br />

7) einen Gutenachtkuss geben (a,e)<br />

8) einen Entschluss fassen (te,t)<br />

9) Geschwisterglück zerstören (te,t)<br />

10) das ganze Dasein tauschen (te,t)<br />

11) heimkehren (te,t)<br />

12) postlagernd schreiben (ie,i)<br />

13) unvorhergesehene Ereignisse<br />

14) den ersten Preis gewinnen (a,o)<br />

15) aus einem Fenster des Zuges winken (te,t)<br />

16) der Fahrplan<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

стать не <strong>по</strong> себе при одной мысли, принуждать что-либо сделать,<br />

жить <strong>по</strong>рознь, короче говоря, здесь затевается заговор,<br />

генеральная репетиция, превосходно играть роль, доставлять<br />

огромное наслаждение, кувыркаться от избытка чувств, не замутить<br />

воды, чуть свет, отправляться одновременно.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie sie:<br />

1. Die Mädchen waren traurig, dass sie nun ihre Eltern bald<br />

wieder sehen.<br />

2. De Vater eines der Mädchen schickte eine große Kiste<br />

Lampions, Girlanden und viele andere Dinge.<br />

3. Luise und Lotte bemühen sich die Veranda und den Garten<br />

schon zu schmücken.<br />

4. Die Kinder dachten, dass die Zwillinge wieder irgendwo<br />

im Gras saßen und sich an den Händen hielten.<br />

5. Die Mutter aß Nudelsuppe mit Rindfleisch am liebsten.<br />

Lotte muss das Rindfleisch beim Metzger Huber kaufen.<br />

28 29


6. Luise hatte vor dem Kochen eine Heidenangst.<br />

7. Lieblingsspeise von Luise war Eierkuchen.<br />

8. Wenn die Mutter von Lotte sie zu Bett bringt, gibt sie Lotte<br />

einen Gutenachtkuss.<br />

9. Die Zwillinge wollten nicht wieder getrennt leben, deshalb<br />

hatten sie den Plan.<br />

10. Luise träumte, dass in Wien auf dem Bahnsteig eine<br />

enorme Foto des Vaters auf sie zukommt und daneben stand<br />

ein Hotelkoch in weißer Mütze mit einem Schubkarren voll<br />

dampfender Eierkuchen.<br />

IV. Spielen Sie den Dialog zwischen Lotte und Luise ein.<br />

Wonach fragten sie einander im Garten des Waldcafes.<br />

V. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Warum waren alle Kinder betrübt und worauf freuten sie<br />

sich?<br />

2. Was wollte Frau Holzmann veranstalten und wer half ihr<br />

dabei?<br />

3. Womit war der Garten geschmückt?<br />

4. Warum nahmen die Zwillinge an der Vorbereitungen nicht<br />

teil? Womit waren sie beschäftigt?<br />

5. Wovor hatte Luise Angst und warum?<br />

6. Wie sah ihren Plan aus?<br />

7. Wie benahmen sich die Zwillinge während des Abschiedsfestes?<br />

8. Wer gewann den ersten Preis? Was war ein Hauptgewinn?<br />

9. Was träumte Lotte? Und Luise?<br />

10. Wie nahmen die Mädchen auf der Bahnstation von Abschied?<br />

11. Wohin fuhr Lotte? Und Luise?<br />

VI. Der Text war in inhaltlich abgeschlossene Teile gegliedert.<br />

Geben Sie den Inhalt des Kapitels nach dieser<br />

Gliederung wieder:<br />

1. Die Vorbereitungen aufs Abschiedsfest.<br />

2. Im Garten des Waldcafes.<br />

3. Die Generalprobe.<br />

4. Auf dem Bahnhof.<br />

FÜNFTES KAPITEL<br />

München. Hauptbahnhof, Bahnsteig 16. die Lokomotive<br />

steht still. Im Strom der Reisenden bilden sich Inseln. Kleine<br />

Mädchen umarmen ihre strahlenden Eltern. Man vergisst sogar,<br />

dass man erst auf dem Bahnhof und noch gar nicht zu<br />

Hause ist!<br />

Allmählich wird der Bahnsteig aber doch leer. Und zum<br />

Schluss steht nur noch einziges Kind da, ein Kind mit Zöpfen<br />

und Zopfschleifen. Bis gestern trug es Locken. Bis gestern hieß<br />

es Luise Palfy.<br />

Das kleine Mädchen setzt sich schließlich auf den Koffer und<br />

beißt die Zähne fest zusammen. Im Bahnhof einer fremden Stadt<br />

auf seine Mutter zu warten, die man nur von einer Fotografie<br />

her kennt und die nicht kommt, – das ist kein Kinderspiel!<br />

Frau Luiselotte Palfy, geborene Körner, nennt sich seit sechseinhalb<br />

Jahren (seit ihrer Scheidung) wieder Luiselotte<br />

Körner.<br />

Sie arbeitet als Bildredakteur im Verlag der Zeitschrift «Illustrierte<br />

Woche». Gerade heute musste sie sich etwas länger im<br />

Verlag aufhalten, da im letzten Augenblick noch neues, wichtiges<br />

Material eingetroffen ist.<br />

Endlich hat sie ein Taxi gefunden. Endlich hat sie eine<br />

Bahnsteigkarte gelöst. Endlich hat sie in schnellem Lauf den<br />

Bahnsteig 16 erreicht.<br />

Der Bahnsteig ist leer!<br />

Nein! Ganz hinten sitzt ein Kind auf einem Koffer! Die junge<br />

Frau rast wie die Feuerwehr den Bahnsteig entlang! Dem<br />

kleinen Mädchen, das auf seinem Koffer hockt, zittern die Knie.<br />

Ein ungeahntes Gefühl ergreift das Kinderherz. Diese junge,<br />

strahlende, diese wirklich lebendige Frau ist ja die Mutter!<br />

«Mutti!»<br />

Luise stürzt der Frau entgegen und springt ihr an den<br />

Hals.<br />

«Meine Liebling», flüstert die junge Frau unter Tränen.<br />

«Endlich, endlich hab’ich dich wieder!»<br />

Der kleine Kindermund küsst leidenschaftlich ihr Gesicht,<br />

ihre zärtlichen Augen, ihre Lippen, ihr Haar, ihr Hütchen. Ja,<br />

das Hütchen auch!<br />

30 31


***<br />

Sowohl im Restaurant als auch in der Küche des Wiener<br />

Hotels «Imperial» herrscht fröhliche Aufregung. Der Liebling der<br />

Stammgäste und der Angestellten, die Tochter des Opernkappelmeisters<br />

Palfy, ist wieder da!<br />

Lotte, – Verzeihung! – Luise sitzt wieder wie gewöhnlich auf<br />

ihrem Stuhl mit den zwei hohen Kissen und isst mit größter<br />

Überwindung gefüllte Eierkuchen.<br />

Die Stammgäste kommen, einer nach dem andern, zum<br />

Tisch, streicheln dem kleinen Mädchen über die Locken,<br />

klopfen ihm zärtlich auf die Schultern und fragen, wie es ihm<br />

im Ferienheim gefallen hat. Sie legen verschiedene Geschenke<br />

auf den Tisch: Schokolade, Pralinen, Buntstifte – dann nicken<br />

sie dem Kappelmeister zu und gehen an ihre Tische zurück.<br />

Heute wird ihnen das Essen endlich wieder richtig schmecken,<br />

den einsamen Onkels!<br />

Am besten schmeckt’s freilich dem Herrn Kappelmeister<br />

selbst. Er denkt zwar, dass eine «wahre Künstlernatur» im Leben<br />

einsam bleiben muss und dass seine Ehe ein Fehltritt war. Als<br />

aber nun die Tochter schüchtern seine Hand streichelt, da wird<br />

ihm ganz warm ums Herz.<br />

Ach, da kommt der Kellner Franz schon wieder mit einem<br />

neuen Eierkuchen! Lotte schüttelt die Locken. «Ich kann nicht<br />

mehr!»<br />

«Aber Luise!» meint der Kellner vorwurfsvoll. «Es ist doch<br />

erst der fünfte!»<br />

Nachdem der Herr Franz den Eierkuchen betrübt in die<br />

Küche zurückgetragen hat, sagt Lotte: «Weiß du was, Vati, – ab<br />

morgen esse ich immer das, was du isst!»<br />

«Nanu!» ruft der Herr Kapellmeister erstaunt. «Was ist denn<br />

geschehen?»<br />

Und dann erscheint der Hofrat Strobl mit Peperl. Peperl ist<br />

sein Hund. «Schau, Peperl», sagt Herr Hofrat lächelnd, «wie<br />

wieder da ist! Geh hin und sag Luise guten Tag!»<br />

Peperl wedelt mit dem Schwanz und läuft an Palfys Tisch,<br />

um Luise, seiner alten Freundin, guten Tag zu sagen.<br />

Als Peperl am Tisch angekommen ist, beschnuppert er das<br />

kleine Mädchen und zieht sich, ohne guten Tag zu sagen, eiligst<br />

zum Herrn Hofrat zurück. «Was ist denn los?» bemerkt<br />

dieser ungnädig. «Erkennst du deine beste Freundin nicht wieder!<br />

Bloß weil sie ein paar Wochen auf dem Lande war! Und da<br />

reden die Leute immer vom untrüglichen Instinkt der Tiere!»<br />

Lottchen aber denkt bei sich: ,Ein Glück, dass die Hofräte<br />

nicht so gescheit wie der Peperl sind!’<br />

32 33<br />

***<br />

Der Herr Kapellmeister und seine Tochter sind, mit den Geschenken<br />

der Stammgäste, dem Koffer und der Puppe beladen,<br />

zu Hause in der Rotenturmstraße eingetroffen. Und Resi, Palfys<br />

Haushälterin, ist außer sich vor Freude.<br />

Aber Lotte weiß von Luise, dass Resi falsch ist. Vater merkt<br />

natürlich nichts. Männer merken nie etwas!<br />

Er fischt eine Theaterkarte aus der Brieftasche, gibt es der<br />

Tochter und sagt: «Heute Abend dirigiere ich Humperdincks<br />

«Hänsel und Gretel». Resi bringt dich ins Theater und holt dich<br />

nach Schluss wieder ab.»<br />

«Oh!» Lotte strahlt. «Kann ich dich von meinem Platz aus<br />

sehen?»<br />

«Natürlich.»<br />

«Und guckst du manchmal zu mir hin?»<br />

«Na selbstverständlich!»<br />

«Und darf ich ein bisschen winken, wenn du guckst?»<br />

«Ich werde sogar zurückwinken, Luise!»<br />

Dann klingelt das Telefon. Am anderen Ende redet eine<br />

weibliche Stimme. Der Vater antwortet ziemlich einsilbig.<br />

Dann legt er den Hörer auf, und auf einmal hat er es ziemlich<br />

eilig. Er muss noch ein paar Stunden allein sein, sagt er, und<br />

komponieren. Denn schließlich ist er nicht nur Kapellmeister,<br />

sondern auch Komponist. Und komponieren kann er nicht zu<br />

Hause. Nein, dafür hat er sein Atelier in der Ringstraße. Also…<br />

«Morgen Mittag treffen wir uns im ,Imperial’!»<br />

«Und ich darf dir in der Oper zuwinken, Vati?»<br />

«Natürlich, Kind. Warum denn nicht?»<br />

Der Vater küsst eilig die Tochter auf die Stirn, setzt seinen<br />

Hut auf und schlägt die Tür zu.<br />

Das kleine Mädchen geht langsam zum Fenster und denkt<br />

bekümmert über das Leben nach. Die Mutter darf nicht zu<br />

Hause arbeiten. Der Vater kann nicht zu Hause arbeiten. Man<br />

hat’s schwer mit den Eltern!<br />

Aber da Lotte, dank der mütterlichen Erziehung, ein energisches<br />

und praktisches Persönchen ist, gibt sie diese Gedanken<br />

bald auf, nimmt ihr Heftchen mit Notizen und beginnt, Zimmer<br />

für Zimmer, die schöne Wohnung für sich zu entdecken.<br />

Dann setzt sie sich nach alter Gewohnheit an den


Küchentisch und rechnet in dem Haushaltsbuch, das dort liegt,<br />

die Ausgabenspalten nach. Dabei fällt ihr folgendes auf. Erstens<br />

hat sich Resi, die Haushälterin, fast auf jeder Seite verrechnet.<br />

Und zweitens hat sie das jedes Mal zu ihren Gunsten getan.<br />

«Ja, was soll denn das heißen?» Resi steht in der Küchentür.<br />

«Ich habe in deinem Buch nachgerechnet», sagt Lotte leise, aber<br />

bestimmt.<br />

«Was sind denn das für neue Moden?» fragt Resi böse.<br />

«Rechne du in der Schule, wo es hingehört.»<br />

«Ich werde jetzt immer bei dir nachrechnen», erklärt das<br />

Kind sanft und hüpft vom Küchenstuhl. «Wir lernen in der<br />

Schule, aber nicht für die Schule, hat die Lehrerin gesagt.»<br />

Damit stolziert sie aus der Tür. Resi starrt ihr erstaunt nach.<br />

***<br />

Jetzt ist es Zeit, von Luises und Lottes Eltern zu berichten,<br />

vor allem darüber, wie es seinerzeit zu der Scheidung zwischen<br />

ihnen kam.<br />

Wenn dieses Buch zufällig in die Hände eines Erwachsenen<br />

gelangt, ruft er vielleicht: «Oh, dieser Autor! Wie kann er nur<br />

solche Sachen den Kindern erzählen!» dann lest ihm, bitte, das<br />

Folgende vor:<br />

«Als Shirley Temple ein kleines Mädchen von sieben, acht<br />

Jahren war, war sie doch schon ein in ganz Amerika berühmter<br />

Filmstar, und die Firmen verdienten Millionen Dollars mit ihr.<br />

Wenn Sherley aber mit ihrer Mutter in ein Kino gehen wollte, um<br />

sich einen Film anzuschauen, in dem sie selbst spielte, ließ man<br />

sie nicht hinein. Sie war noch zu jung. Es war verboten. Sie durfte<br />

nur Filme drehen. Das war erlaubt. Dafür war sie nicht zu jung.»<br />

Vielleicht hat der Erwachsene, der dieses Buch liest (das Buch<br />

ist eigentlich nicht für Erwachsene, sondern für Kinder bestimmt),<br />

das Beispiel von Shirley Temple und den Zusammenhang mit<br />

Luises und Lottes Eltern und ihrer Scheidung nicht verstanden.<br />

Dann richtet ihm einen schönen Gruß von mir aus und sagt<br />

ihm, dass es leider auf der Welt viele geschiedene Eltern gibt<br />

und sehr viele Kinder, die darunter leiden. Es gibt auch viele<br />

andere Kinder, die darunter leiden, dass die Eltern sich nicht<br />

scheiden ließen. Ich als Autor finde, dass es am besten ist,<br />

wenn man in solchen Fällen mit den Kindern in verständiger<br />

und verständlicher Form über diese Dinge spricht!<br />

Also, der Herr Kapellmeister Ludwig Palfy ist ein Künstler,<br />

und Künstler sind bekanntlich seltsame Lebewesen. Er trägt<br />

zwar keine Hüte mit breitem Rand und keine wehenden<br />

Krawatten, im Gegenteil, er ist ganz manierlich gekleidet,<br />

sauber und beinahe elegant.<br />

Aber sein Innenleben! Das ist kompliziert! Wenn er einen<br />

musikalischen Einfall hat, muss er ganz allein sein, um die Melodie<br />

sofort niederzuschreiben. Den Einfall hat er sogar manchmal<br />

in einer großen Gesellschaft! «Wo ist denn Palfy hin?» fragt<br />

der Hausherr. Und irgendjemand antwortet: «Er hat wohl wieder<br />

einen musikalischen Einfall gehabt!» Der Hausherr lächelt<br />

sauersüß, bei sich aber denkt er: ,So eine Flegelei! Man kann<br />

doch nicht bei jedem Einfall weglaufen!’ Doch der Kapellmeister<br />

Palfy, der kann es!<br />

Der lief auch aus der eigenen Wohnung fort, als er noch verheiratet<br />

war, damals, blutjung, verliebt, ehrgeizig und verrückt<br />

in einem!<br />

Und als dann die kleinen Zwillinge in der Wohnung Tag<br />

und Nacht schrieen und die Wiener Philharmonie sein erstes<br />

Klavierkonzert uraufführte, da ließ er seinen Flügel abholen<br />

und in ein Atelier in der Ringstraße bringen.<br />

Und da er nun ganz in der Welt der Musik lebte, kam er nun<br />

noch sehr selten zu seiner jungen Frau und den schreienden<br />

Zwillingen.<br />

Luiselotte Palfy, geborene Körner, kaum 20 Jahre alt fand<br />

das nicht sehr schön. Und als ihr zu Ohren kam, dass der Herr<br />

Gemahl in seinem Atelier nicht nur Noten malte, sondern auch<br />

mit Opernsängerinnen Gesangsrollen studierte, da reichte sie<br />

empört die Scheidung ein.<br />

Nun konnte der Kapellmeister soviel allein sein, wie er<br />

wollte. Für Luise sorgte ein tüchtiges Kindermädchen. Um ihn<br />

selbst, im Atelier in der Ringstraße, kümmerte sich, wie er sich<br />

so sehnlich gewünscht hatte, kein Mensch. Damit war er nun<br />

aber auch nicht ganz zufrieden.<br />

O diese Künstler! Sie wissen wirklich nicht, was sie wollen!<br />

Immerhin, er komponierte und dirigierte fleißig und wurde von<br />

Jahr zu Jahr berühmter. Und wenn er eine schlechte Stimmung<br />

hatte, konnte er in seine andere Wohnung gehen und mit<br />

seinem Töchterchen Luise spielen.<br />

Sooft in München ein Konzert war, bei dem neue Werke von<br />

Ludwig Palfy aufgeführt wurden, kaufte sich Luiselotte Körner<br />

eine Eintrittskarte. Sie saß dann mit gesenktem Kopf in einer<br />

der letzten, billigen Reihen, hörte die Musik ihres geschiedenen<br />

Mannes und verstand, dass er nicht glücklich war. Trotz seiner<br />

Erfolge und seiner Einsamkeit.<br />

34 35


TEXTAUFGABEN ZUM 5. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, schreiben Sie die<br />

Sätze aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie<br />

diese Sätze ins Russische:<br />

1) beschnuppern (te,t)<br />

2) außer sich vor Freude sein<br />

3) nach Schluss, zum Schluss<br />

4) eilig haben<br />

5) sich treffen (a,o)<br />

6) bekümmert<br />

7) dank der mütterlichen Erziehung<br />

8) für sich entdecken (te,t)<br />

9) auffallen Dat (i,a)<br />

10) verrechnen, nachrechnen (te,t)<br />

11) zu ihren Gunsten tun (a,a)<br />

12) ein berühmter Filmstar<br />

13) Filme drehen (te,t)<br />

14) leiden (i,i)<br />

15) sein Innenleben haben<br />

16) einen musikalischen Einfall haben<br />

17) ein Klavierkonzert uraufführen (te,t)<br />

18) die Scheidung einreichen<br />

19) die Zähne fest zusammen beißen (i,i)<br />

20) die Einsamkeit<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

на вокзале, урожденная, до вчерашнего дня, работать в издательстве,<br />

задержаться, вдоль перрона, неизвестное чувство,<br />

в слезах, с невероятным усилием, завсегдатай, озабоченный,<br />

благодаря материнскому воспитанию, удивленно<br />

<strong>по</strong>смотреть вслед, мчаться как на <strong>по</strong>жар, говорить о чемлибо<br />

в разумной и доступной форме, быть честолюбивым и<br />

очень молодым, кричать день и ночь, отвечать односложно,<br />

быть ошибкой, бросаться в глаза.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie sie:<br />

1. Frau Palfy, geborene Körner, konnte ihre Tochter vom Bahnhof<br />

rechtzeitig nicht abholen.<br />

2. Lotte raste wie die Feuerwehr den Bahnsteig entlang und<br />

suchte ihre Mutter.<br />

3. Herr Kapellmeister dachte, dass seine Ehe ein Fehltritt<br />

war.<br />

4. Die Stammgäste haben verschiedene Geschenke auf den<br />

Tisch gelegt.<br />

5. Da kam der Kellner Franz mit dem fünften Eierkuchen<br />

und Luise aß ihn mit großemVergnügend.<br />

6. Peperl lief um Luise, ohne guten Tag zu sagen. Er erkannte<br />

seine beste Freundin nicht.<br />

7. Resi verrechnete sich im Haushaltsbuch und tat zu ihren<br />

Gunsten, deshalb beschloss Luisebei Resi nachzurechnen.<br />

8. Wenn Herr Kapellmeister einen musikalischen Einfall<br />

hatte, fuhr er nach Hause zu seiner Frau.<br />

9. Wegen der kleinen Zwillingen ließ Herr Kapellmeister<br />

seinen Flügel in ein Atelier bringen.<br />

10. Während des Konzertes horte Luiselotte die Musik ihres<br />

Mannes und verstand, dass er glücklich war.<br />

IV. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Warum hat sich Frau Palfy zum Bahnhof verspätet?<br />

2. Wie hat Luise ihre Mutter getroffen?<br />

3. Welche Athmospfäre herrschte im Hotel «Imperial»?<br />

4. Warum trug Franz betrübt Eierkuchen in die Küche<br />

zurück?<br />

5. Warum erkannte Peperl Luise nicht? Wie benahm sich<br />

der Hund?<br />

6. Warum war Rosi mit Luise unzufrieden?<br />

7. Wo musste sich das Mädchen mit dem Vater treffen? Worum<br />

bat sie ihrem Vater?<br />

8. Warum reichte Luiselotte sich die Scheidung ein? War sie<br />

glücklich? Und Herr Kapellmeister?<br />

V. Der Text war in inhaltlich abgeschlossene Teile<br />

gegliedert. Geben Sie den Inhalt des Kapitels nach dieser<br />

Gliederung wieder:<br />

1. Auf dem Bahnhof: обнимать родных, узнать только <strong>по</strong><br />

фото, задержаться в издательстве, в <strong>по</strong>следний момент, сидеть<br />

на чемодане, быть безлюдным, страстно целовать, броситься<br />

на шею.<br />

2. Im Hotel «Imperial»: быть любимицей, фарширован-<br />

36 37


ный омлет, быть ошибкой, тепло на душе, говорить с упреком,<br />

вилять хвостом, обнюхивать, не признать свою <strong>по</strong>дружку.<br />

3. Zu Hause: быть вне себя от радости, билет в оперу, разрешить<br />

дать знак, сочинять музыку, <strong>по</strong>целовать в лоб, размышлять<br />

о жизни, отказаться от мысли, открыть для себя,<br />

бросаться в глаза, делать в свою <strong>по</strong>льзу.<br />

4. Die Geschichte der Scheidung: быть артистом, странное<br />

существо, тщательно одеваться, находить вдохновение,<br />

давать первый свой концерт, дойти до ушей, <strong>по</strong>дать на развод,<br />

несмотря на успех и уединенность.<br />

SECHSTES KAPITEL<br />

Frau Körner hat ihre Tochter in die kleine Wohnung in der<br />

Max-Emanuel-Straße gebracht, und dann musste sie, sehr<br />

ungern und sehr schnell, wieder in den Verlag fahren. Arbeit<br />

wartet auf sie. Und die Arbeit darf nicht warten.<br />

Luise – ach nein! – Lotte hat sich zuerst in der Wohnung<br />

umgesehen. Dann hat sie die Schlüssel, den Geldbeutel und<br />

ein Netz genommen. Und nun macht sie Einkäufe. Beim<br />

Metzger Huber kauft sie ein halbes Pfund Rindfleisch. Und jetzt<br />

sucht sie das Lebensmittelgeschäft der Frau Wagenthaller, um<br />

Gemüse, Nudeln und Salz zu kaufen.<br />

Und Anni Habersetzer wundert sich nicht wenig, dass ihre<br />

Mitschülerin Lotte Körner mitten auf der Straße steht und in<br />

einem Heftchen blättert.<br />

«Machst du auf der Straße Schulaufgaben?» fragt sie<br />

neugierig. «Heute sind doch noch Ferien!»<br />

Luise starrt das andere Mädchen verdutzt an. Es ist ja auch<br />

zu dumm, wenn dich ihn noch nie im Leben gesehen hast.<br />

Schließlich nimmt sie sich zusammen und sagt vergnügt:<br />

«Guten Tag! Kommst du mit? Ich muss zur Frau Wagenthaller,<br />

Gemüse kaufen.» Dann nimmt «Lotte» das Mädchen bei der<br />

Hand – wenn sie wenigstens wüsste, wie das sommersprossige<br />

Mädchen mit dem Vornamen heißt! – und so gehen sie<br />

zusammen zum Laden der Frau Wagenthaller. Dabei merkt das<br />

Mädchen gar nicht, dass «Lotte» den Weg nicht kennt.<br />

Die Frau Wagwntheller freut sich natürlich, dass Lottchen<br />

Körner aus den Ferien zurück ist, und so rote Backen gekriegt<br />

hat! Als der Einkauf gemacht ist, erhalten die Mädchen von<br />

Bonbons und außerdem den Auftrag, der Frau Körner und der<br />

Frau Habersetzer einen schönen Gruß auszurichten.<br />

Da fällt der Luise ein Stein vom Herzen. Endlich weiß sie,<br />

dass die andere die Anni Habersetzer sein muss! (Im Heftchen<br />

steht: «Anni Habersetzer: Ich war dreimal mit ihr böse, sie<br />

schlagt kleinere Kinder, besonders die Ilse Merck, die kleinste<br />

in der Klasse.») Nun, damit kann man schon etwas anfangen!<br />

Beim Abschied vor der Haustür sagt also Luise: «Ehe ich es<br />

vergesse, Anni: Dreimal war ich mit dir böse, wegen der Ilse<br />

Merck und so, du weißt schon. Das nächste Mal bin ich dir<br />

nicht bloß böse, sondern…» Dabei macht sie eine drohende<br />

Handbewegung und läuft davon.<br />

38 39


,Das werden wir ja sehen, denkt Anni wütend’. Gleich morgen<br />

werden wir das sehen! Die ist wohl in den Ferien verrückt<br />

geworden?’<br />

***<br />

Luise kocht. Sie hat eine Schürze von Mutti umgebunden<br />

und rennt zwischen dem Gasherd, wo Töpfe stehen, und<br />

dem Tisch, auf dem das Kochbuch liegt, hin und her. Jeden<br />

Augenblick hebt sie die Topfdeckel hoch. Wenn kochendes<br />

Wasser überläuft, zuckt sie zusammen. Wie viel Salz sollte ins<br />

Nudelwasser?» Ein halber Esslöffel!»<br />

Und dann: «Muskatnuss reiben!» Wo steckt die Muskatnuss?<br />

Wo ist das Reibeisen?<br />

Das kleine Mädchen wühlt in Schubfächern, klettert auf<br />

Stühle, schaut in alle Behältnisse, start auf die Uhr an der<br />

Wand, springt vom Stuhl herunter, ergreift eine Gabel, hebt<br />

einen Deckel auf, verbrennt sich die Finger, stich mit der Gabel<br />

in dem Rindfleisch herum – nein, es ist noch nicht weich!<br />

Mit der Gabel in der Hand bleibt sie auf einmal stehen.<br />

Was wollte sie suchen? Ach richtig! Die Muskatnuss und<br />

das Reibeisen! Nanu, was liegt denn da friedlich neben dem<br />

Kochbuch! Das Suppengrün! Das muss man doch putzen! Das<br />

muss doch in die Suppe hinein! Also, Gabel weg, Messer her!<br />

Ob das Fleisch jetzt weich ist? Das Suppengrün muss man erst<br />

unter der Wasserleitung waschen. Und die Möhre muss man<br />

schaben. Au, man darf sich dabei natürlich nicht in den Finger<br />

schneiden! Und wenn das Fleisch weich ist, muss man es aus<br />

dem Topf herausnehmen. Und einer halben Stunde kommt<br />

Mutti! Und zwanzig Minuten vorher muss man die Nudeln in das<br />

kochende Wasser werfen! Und wie es in der Küche aussieht! Und<br />

die Muskatnuss! Und das Reibeisen! Und … Und … Und …<br />

Luise sinkt auf dem Küchenstuhl zusammen. Ach Lottchen!<br />

Es ist nicht leicht, deine Schwester zu sein! Hotel «Imperial» …<br />

Hofrat Strobl … Peperl … Herr Franz … Und Vati … Vati …<br />

Und die Uhr tickt.<br />

In neunundzwanzig Minuten kommt Mutti! – In achtundzwanzig<br />

und einer halben Minute! – In achtundzwanzig! Entschlossen<br />

erhebt sich Luise und tritt wieder an den Herd.<br />

Doch mit dem Kuchen ist das eine besondere Sache.<br />

Entschlossenheit genügt vielleicht, um von einem hohen Turm<br />

zu springen. Aber um Nudeln mit Rindfleisch zu kochen, dazu<br />

braucht man mehr.<br />

Und als Frau Körner, müde von der Tagesarbeit, heimkehrt,<br />

findet sie kein lächelndes Gesichtchen vor, sondern ein völlig<br />

erschöpftes Mädchen: Schimpf nicht, Mutti! Ich glaube, ich<br />

kann nicht mehr kochen!<br />

«Aber Lottchen, Kochen verlernt man doch nicht!» ruft die<br />

Mutter verwundert. Doch zum Wundern ist wenig Zeit. Sie<br />

muss Kindertränen trocknen, die Suppe abschmecken, Teller<br />

und Bestecke aus dem Schrank holen und vieles mehr.<br />

Als sie endlich im Wohnzimmer unter der Lampe sitzen und<br />

Nudelsuppe löffeln, will die Mutter das kleine Mädchen trösten<br />

und sagt: «Es schmeckt doch eigentlich sehr gut, nicht wahr?»<br />

«Ja?» ein schüchternes Lächeln erscheint auf dem Kindergesicht.<br />

«Wirklich?»<br />

Die Mutter nickt und lächelt still zurück. Luise atmet auf,<br />

und nun schmeckt es ihr selber auf einmal so gut wie noch nie<br />

im Leben! Trotz Hotel «Imperial» und Eierkuchen.<br />

«Die nächsten Tage werde ich selber kochen», sagt die Mutter.<br />

«Du wirst dabei schon aufpassen. Dann kannst du es bald<br />

wieder wie vor den Ferien.»<br />

Die Kleine nickt eifrig. «Vielleicht sogar noch besser!» sagt sie.<br />

Nach dem Essen waschen sie zusammen das Geschirr ab.<br />

Und Luise erzählt, wie schön es im Ferienheim war. (Allerdings,<br />

von dem Mädchen, das ihr zum Verwechseln ähnlich war, eine<br />

Schürze von Mutti umgebunden)<br />

40 41<br />

***<br />

Lottchen sitzt indessen, in Luises schönstem Kleid, in der<br />

Wiener Staatsoper und schaut mit brennenden Augen zum<br />

Orchester hinunter, wo Kapellmeister Palfy die Ouvertüre von<br />

«Hänsel und Gretel» dirigiert. Sie ist zum ersten Mal in ihrem<br />

Leben in einem Operntheater und denkt:<br />

,Wie wundervoll Vati im Frack aussieht! Und wie die Musiker<br />

ihm gehorchen, obwohl ganz alle Herren darunter sind! Wenn<br />

er ihnen mit dem Stock droht, spielen sie, so laut sie können.<br />

Und wenn er will, dass sie leiser sein sollen, dann säuseln sie<br />

wie der Abendwind. Müssen sie vor ihm eine Angst haben. Aber<br />

mir hat er vorhin so vergnügt gewinkt’.<br />

Die Logentür geht. Eine elegante junge Dame kommt herein,<br />

setzt sich an die Brüstung und lächelt dem Kind zu.<br />

Lotte wendet sich schüchtern ab und schaut wieder zu, wie<br />

Vati die Musiker dressiert.<br />

Die junge Dame holt ein Opernglas hervor. Und eine


Konfektschachtel. Und ein Programm. Und eine Puderdose. Sie hört<br />

nicht auf, bis die Samtbrüstung wie ein Schaufenster aussieht.<br />

Als die Ouvertüre zu Ende ist, klatscht das Publikum laut<br />

Beifall. Der Herr Kapellmeister Palfy verbeugt sich einige Male.<br />

Und dann sieht er, wahrend er wieder den Dirigentenstab hebt,<br />

zur Loge empor.<br />

Lotte winkt schüchtern mit der Hand. Vati lächelt noch<br />

zärtlicher als vorhin. Da merkt Lotte, dass nicht nur sie mit der<br />

Hand winkt, sondern auch die Dame neben ihr!<br />

Die Dame winkt Vati zu? Vati hat vielleicht ihretwegen so<br />

zärtlich gelächelt? Und gar nicht wegen seiner Tochter? Ja, und<br />

wieso hat Luise nichts von der fremden Frau erzählt? Kennt Vati<br />

sie noch nicht lange? Aber wie darf sie ihm dann so vertraulich<br />

zuwinken? Das Kind notiert im Gedächtnis: ,Heute noch an<br />

Luise schreiben. Ob sie etwas weiß. Morgen vor der Schule<br />

zum Postamt gehen. Postlagernd aufgeben: Vergissmeinnicht<br />

München 18’.<br />

Lottchen ist aufgeregt. Es interessiert sie jetzt schon wenig,<br />

was auf der Bühne vorgeht. Sie ist in ihre Gedanken vertieft.<br />

Als sich später Fräulein Irene Gerlach (so heißt die elegante<br />

Dame) zu dem Kind hinüberbeugt und ihm die Konfektschachtel<br />

zuschiebt, zuckt Lottchen zusammen. Sie blickt auf, sieht das<br />

Frauengesicht vor sich und macht eine wildabwehrende Geste.<br />

Dabei stößt sie leider die Konfektschachtel von der Brüstung,<br />

und unten im Parket regnet es plötzlich Pralinen! Köpfe wenden<br />

sich nach oben. Gedämpftes Lachen mischt sich in die Musik.<br />

Fräulein Gerlach lächelt halb verlegen, halb ärgerlich.<br />

Das Kind wird ganz steif vor Schreck.<br />

«Entschuldigen Sie vielmals», flüstert Lottchen.<br />

Die Dame lächelt verzeihend. «Oh, das macht nichts, Luise.»<br />

***<br />

Luise liegt zum ersten Mal in München im Bett. Die Mutter<br />

sitzt auf der Bettkante und sagt: «So, mein Lottchen, nun schlaf<br />

gut! Und träum was Schönes!»<br />

«Gehst du auch bald zu Bett, Mutti?» fragt das Kind.<br />

An der Wand gegenüber steht ein größeres Bett. Auf der Decke<br />

liegt Muttis Nachthemd.<br />

«Gleich», sagt die Mutter. «Sobald du eingeschlafen bist.»<br />

Das Kind umarmt sie und gibt ihr einen Kuss. Dann noch<br />

einen. Und einen dritten. «Gute Nacht!»<br />

Die junge Frau drückt das kleine Mädchen an sich. «Ich<br />

habe ja nur noch dich.» Der Kopf des Kindes sinkt schlaftrunken<br />

aufs Kissen.<br />

Luiselotte Palfy, geborene Körner, stopft das Deckbett<br />

zurecht und lauscht eine Zeitlang auf die Atemzüge ihrer<br />

Tochter. Dann steht sie vorsichtig auf. Und auf Zehenspitzen<br />

geht sie ins Wohnzimmer zurück.<br />

Unter der Stehlampe liegt die Aktenmappe. Es gibt noch soviel<br />

zu tun.<br />

42 43<br />

***<br />

Auch Lotte ist schlafengegangen. Die mürrische Haushälterin<br />

Resi hat sie ins Bett gebracht.<br />

Dann ist aber Lotte heimlich wieder aufgestanden und hat<br />

de Brief geschrieben, den sie morgen früh zum Postamt bringen<br />

will. Danach hat sie sich leise in Luises Bett zurückgeschlichen<br />

und, bevor sie das Licht ausschaltete, das Kinderzimmer noch<br />

einmal ruhig betrachtet.<br />

Es ist ein geräumiger, hübscher Raum mit Märchenbildern<br />

an den Wänden, mit einem Spielzeugschrank, mit einem<br />

Bücherständer, einem Schreibpult für die Schularbeiten, einem<br />

Puppenwagen, einem Puppenbett – nichts fehlt in diesem<br />

Zimmer, bis auf die Hauptsache!<br />

Hat sie sich nicht manchmal (ganz heimlich, damit Mutti es<br />

nur ja nicht merkte) so ein schönes Zimmer gewünscht? Jetzt<br />

hat sie so ein Zimmer.Und doch fühlt sie sich nicht glücklich.<br />

Sie sehnt sich nach dem kleinen, bescheidenen Schlafzimmer,<br />

wo jetzt die Schwester liegt, nach Muttis Gutenachtkuss, nach<br />

dem Lichtschein, der aus dem Wohnzimmer herüberdringt, wo<br />

Mutti noch arbeitet. Sie sehnt sich danach, dass dann leise<br />

die Tür geht, dass sie hört, wie Mutti am Kinderbett stehen<br />

bleibt, auf Zehenspitzen zum eigenen Bett hinübergeht, ins<br />

Nachthemd schlüpft und sich schlafen legt.<br />

Warum steht hier nicht wenigstens im Nebenzimmer Vatis<br />

Bett? Das wäre schon! Da wüsste man, dass er ganz in der<br />

Nähe ist! Aber er schläft nicht in der Nähe, sondern in einem<br />

anderen Haus. Vielleicht schläft er überhaupt noch nicht, sondern<br />

sitzt mit dem eleganten Fräulein in einem großen, hellen<br />

Saal, trinkt Wein, lacht, tanzt mit ihr, nickt ihr zärtlich zu, wie<br />

heute Abend in der Oper, ihr, nicht dem kleinen Mädchen, das<br />

ihm ais der Loge gewinkt hat.<br />

Lotte schläft ein.


TEXTAUFGABEN ZUM 6. KAPITEL<br />

I. Wortschatz zum Auswendiglernen:<br />

1) das Lebensmittelgeschäft<br />

2) sich zusammen nehmen (a,o)<br />

3) sommersprossig sein<br />

4) beim Abschied<br />

5) eine drohende Handbewegung machen<br />

6) verrückt werden (u,o)<br />

7) eine Schürze umbinden (a,u)<br />

8) reiben, schaben<br />

9) sich die Finger verbrennen, den Finger schneiden<br />

10) das Reibeisen<br />

11) unter der Wasserleitung waschen<br />

12) die Entschlossenheit<br />

13) schimpfen<br />

14) das Besteck holen<br />

15) das Geschirr abwaschen<br />

16) zum Verwechseln ähnlich sein<br />

17) Beifall klatschen<br />

18) in ihre Gedanken vertiefen<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

<strong>по</strong>лфунта говядины, смущенный, быть в неле<strong>по</strong>м <strong>по</strong>ложении,<br />

камень с души свалился, рассвирепевший, туда-сюда,<br />

спрыгнуть с высокой башни, робкая улыбка, в первый раз<br />

в жизни, балюстрада, театральный бинокль, дать знак, фамильярный,<br />

до востребования, застыть от страха, засыпать,<br />

осторожно, быть <strong>по</strong>близости, решительно, рыться в шкафах,<br />

на цы<strong>по</strong>чках, так хорошо как никогда еще в жизни.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren<br />

Sie sie:<br />

1. Nach dem Bahnhof musste Frau Körner in den Verlag<br />

fahren.<br />

2. Luise sah zuerst in der Wohnung um, dann ging sie<br />

spazieren.<br />

3. Anni Habersetzer wunderte sich, dass ihre Mitschülerin<br />

den Weg nicht kannte.<br />

4. Für Luise war leichter, von einem hohen Turm zu springen,<br />

als Nudeln mit Ringfleisch zu kochen.<br />

5. Die Suppe schmeckte der Mutter, deshalb kochte Luise<br />

die nächsten Tage selber.<br />

6. Lotte war zum ersten Mal in ihrem Leben in einem<br />

Operntheater.<br />

7. Als die Ouvertüre zu Ende war, sah Herr Kapellmeister<br />

zur Loge empor und lächelte Irene Gerlach.<br />

8. Lotte stößte die Konfektschachtel, um sich Irene Gerlach<br />

zu ärgern.<br />

9. Lotte lag im Bett in einem geräumigen, hübscher Kinderzimmer<br />

und sehnte sich nach dem kleinen, bescheidenen Schlafzimmer,<br />

wo die Schwester liegt, nach Muttis Gutenachtkuss.<br />

IV. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Bei wem kaufte Luise ein? Was nahm sie mit?<br />

2. Wem begegnete Luise? Warum dachte Anni, dass Luise<br />

wohl verrückt wurde?<br />

3. Welche Schwierigkeiten hatte Luise beim Kochen?<br />

4. Schmeckte das Abendbrot der Mutter? Warum musste sie<br />

selbst kochen?<br />

5. Mit wem saß Lotte in der Loge? Wie sah diese Person<br />

aus?<br />

6. Was ist in der Loge geschehen? Machte Lotte mit der Konfektschachtel<br />

zufällig?<br />

7. Wer undwie brachte Lotte ins Bett? Und Luise?<br />

8. Wonach sehnte sich Lotte? Warum fühlte sie sich in Luises<br />

Zimmer unglücklich?<br />

V. Übersetzen Sie ins Deutsche. Geben Sie den Inhalt<br />

des Kapitels nach dieser Gliederung wieder, gebrauchen dabei<br />

die nachstehenden Wörter und Wendungen:<br />

1. Luise geht einkaufen: осмотреться, искать продуктовый<br />

магазин, не удивиться, листать страницы, быть озабоченным,<br />

<strong>по</strong>ручение, отлегло от сердца, <strong>по</strong>грозить рукой,<br />

спятить.<br />

2. Die Zubereitung des Abendbrotes: <strong>по</strong>вязать фартук,<br />

бегать туда-сюда, <strong>по</strong>днимать крышку, бросать в кипящую<br />

воду, столовая ложка, вилка, нож, чистить зелень, тереть,<br />

терка, обжечь пальцы рук, скоблить морковь, <strong>по</strong>резать палец,<br />

<strong>по</strong>дняться решительно, совершенно изнеможенный.<br />

3. Das erste Abendessen mit der Mutter: быть уставшим<br />

44 45


<strong>по</strong>сле работы, принести тарелки и приборы, разучиться варить,<br />

утешать, быть внимательным, вымыть <strong>по</strong>суду, быть<br />

<strong>по</strong>разительно <strong>по</strong>хожим, не сказать ни слова.<br />

4. Der Abend in der Staatsoper: впервые в жизни, Венская<br />

опера, с горящими глазами, чудесно выглядеть, грозить<br />

дирижерской палочкой, шелестеть как вечерний ветер,<br />

достать бинокль, как витрина, громко аплодировать, кланяться,<br />

<strong>по</strong>махать рукой, нежно улыбнуться, <strong>по</strong>йти на <strong>по</strong>чту,<br />

незабудка, быть взволнованным, на сцене.<br />

5. Eine Unbekannte: войти в ложу, достать бинокль, как<br />

витрина, придвинуть коробку конфет, резко отпрянуть,<br />

конфетный дождь, смех, <strong>по</strong>лусмущенно, <strong>по</strong>лусердито, замереть<br />

от ужаса, ничего.<br />

6. Die erste Nacht: слушать дыхание, осторожно, выйти<br />

на цы<strong>по</strong>чках, написать письмо, выключить свет, кроме<br />

главного, тосковать <strong>по</strong>, останавливаться у детской кроватки,<br />

быть <strong>по</strong>близости, заснуть.<br />

SIEBENTES KAPITEL<br />

Wochen sind seit jenem ersten Tag und jener ersten Nacht<br />

in der fremden Welt und unter fremden Menschen vergangen.<br />

Wochen, in denen jeder Augenblick, jeder Zufall und jede Begegnung<br />

Gefahr und Entdeckung mit sich bringen konnten.<br />

Wochen mit sehr viel Aufregung und mit postlagernden Briefen,<br />

in denen die Schwestern einander um neue Auskünfte<br />

baten.<br />

Es ist alles gut abgelaufen. Ein bisschen Glück war auch<br />

dabei. Luise hat das Kochen «wieder» gelernt. Die Lehrerinnen<br />

in München haben sich daran gewöhnt, dass die kleine Körner<br />

aus’den Ferien weniger fleißig und aufmerksam, dafür aber um<br />

so lebhafter zurückgekehrt ist.<br />

Und ihre Wiener Kolleginnen haben gar nichts dagegen,<br />

dass die Tochter des Kapellmeisters Palfy besser aufpasst und<br />

besser rechnen kann.<br />

Sogar Peperl, der Hund des Hofrats Strobl, hat seit einiger<br />

Zeit sein Benehmen verändert und sagt jetzt dem kleinen<br />

Mädchen am Tisch des Herrn Kapellmeisters wieder guten Tag.<br />

Er hat sich damit abgefunden, dass diese Luise nicht mehr<br />

so wie früher riecht. Bei den Menschen ist so vieles möglich,<br />

warum nicht auch das? Außerdem isst jetzt die liebe Kleine<br />

nicht mehr so oft Eierkuchen, dafür aber mit großem Vergnügen<br />

Fleischspeisen. Eierkuchen haben bekanntlich keine Knochen,<br />

Fleisch dagegen sehr viele, und so kann man leicht verstehen,<br />

dass der Hund seine Zurückhaltung überwunden hat.<br />

Wenn Luises Lehrerinnen schon finden, dass Luise sich sehr<br />

verändert hat, – was sollten sie über Resi sagen, wenn sie Resi,<br />

die Haushälterin, näher kennten. Denn Resi ist tatsächlich ein<br />

völlig anderer Mensch geworden. Sie war vielleicht gar nicht<br />

von Grund auf betrügerisch und faul. Sondern nur, weil das<br />

scharfe Auge fehlte, das alles überwacht und sieht?<br />

Seit Lotte im Haus ist und alles prüft, alles entdeckt. Alles<br />

weiß, was über Küche und Haus wissen kann, ist Resi ganz<br />

anders geworden.<br />

Lotte hat den Vater überredet, ihr das Geld auszuhändigen.<br />

Und dem Vater ist es aufgefallen, dass der Haushalt früher<br />

mehr Geld gekostet hat. Obgleich Palfy jetzt weniger Geld gibt,<br />

stehen immer frische Blumen auf dem Tisch, nicht nur hier in<br />

46 47


der Wohnung, sondern auch in seinem Atelier. Sehr gemütlich<br />

ist es geworden.<br />

Dass er jetzt mehr Zeit zu Hause verbringt, ist nun wieder<br />

Fräulein Irene Gerlach aufgefallen. Uns sie hat den Herrn<br />

Kapellmeister deswegen zur Rede gestellt. Sehr vorsichtig<br />

natürlich, denn Künstler sind empfindlich!<br />

«Ja, weiß du», hat er gesagt, «neulich komme ich nach<br />

Hause und sehe, wie Luise am Klavier sitzt und auf den Tasten<br />

klimpert. Und dazu singt sie ein kleines Liedchen, einfach<br />

herzig! Früher wollte sie nie ans Klavier gehen!»<br />

«Und?» hat Fräulein Gerlach gefragt.<br />

«Und?!» Herr Palfy hat verlegen gelacht. «Seitdem gebe ich ihr<br />

Klavierunterricht! Es macht ihr großen Spaß. Mir übrigens auch.»<br />

Fräulein Gerlach hat sehr verächtlich geblickt. Dann hat sie<br />

spöttisch erklärt: «Ich dachte, du wärest Komponist und nicht<br />

Klavierlehrer für kleine Mädchen!» Ludwig Palfy hat darauf gelacht<br />

und gerufen: «Aber ich habe ja noch nie im Leben soviel<br />

komponiert wie gerade jetzt! Und noch nie so etwas Gutes!»<br />

«Was wird’s denn werden?»<br />

«Eine Kinderoper», hat er geantwortet.<br />

***<br />

In den Augen der Lehrerinnen hat sich also Luise verändert. In<br />

den Augen des Kindes haben sich Resi und Peperl verändert. In den<br />

Augen des Vaters hat sich die Wohnung in der Rotenturmstraße<br />

verändert. So vieles hat sich in Wien verändert!<br />

Und in München hat sich natürlich auch manches verändert.<br />

Als die Mutter gemerkt hat, dass Lottchen nicht mehr so<br />

häuslich und in der Schule nicht mehr so fleißig ist, dafür aber<br />

viel lebhafter als früher, da hat sie zu sich selber gesprochen:<br />

«Luiselotte, du hast aus einem kleinen Wesen eine Haushälterin<br />

gemacht, aber kein Kind! Kaum war sie ein paar Wochen mit<br />

Gleichaltrigen zusammen, im Gebirge, an einem See – schon ist<br />

sie ganz andres geworden: ein lustiges, von allen Sorgen freies<br />

kleines Mädchen. Du bist viel zu egoistisch gewesen! Freu dich,<br />

dass Lottchen heiter und glücklich ist! Mag sie getrost beim<br />

Abwaschen einen Teller zerschmettern. Mag sie sogar von der<br />

Lehrerin einen Brief heimbringen: ,Lottes Aufmerksamkeit und<br />

Fleiß haben nachgelassen. Die Mitschülerin Anni Habersetzer<br />

hat von ihr gestern schon wieder vier Ohrfeigen erhalten.’ Eine<br />

Mutter muss vor allem dafür sorgen, dass ihr Kind nicht zu<br />

früh das Paradies der Kindheit verlässt.»<br />

So hat Frau Körner zu sich selber gesprochen, und eines<br />

Tages schließlich auch zu Fräulein Linnekogel, Lottes Klassenlehrerin.<br />

«Mein Kind», hat sie gesagt, «soll ein Kind und nicht<br />

ein kleiner Erwachsener sein! Ich ziehe es vor, dass Lotte ein<br />

lebhaftes, fröhliches Mädchen wird, als dass sie um jeden Preis<br />

Ihre beste Schülerin bleibt!»<br />

«Aber früher konnte sie doch beides vereinen», hat Fräulein<br />

Linnekogel erklärt.<br />

Warum sie das jetzt nicht mehr kann, weiß ich nicht.<br />

Irgendwie muss es mit den Sommerferien zusammenhängen.<br />

Aber eines weiß und sehe ich: «Dass sie es mehr kann! Und das<br />

ist entscheidend!»<br />

Fräulein Linnekogel hat energisch an ihrer Brille gerückt.<br />

«Ich, als Erzieherin und Lehrerin Ihrer Tochter, habe andere<br />

Ziele. Ich muss und werde versuchen, die innere Harmonie des<br />

Kindes wieder herzustellen.»<br />

«Finden Sie wirklich, dass ein bisschen Unaufmerksamkeit in<br />

der Rechenstunde und ein paar Tintenkleckse im Schreibheft …»<br />

«Ein gutes Beispiel, Frau Körner! Das Schreibheft! Gerade<br />

Lottes Schrift zeigt, wie sehr das Kind die seelische Balance<br />

verloren hat. Aber lassen wir die Schrift beiseite! Finden Sie es<br />

richtig, dass Lotte ihre Mitschulerinnen prügelt?»<br />

«Mitschulerinnen?» Frau Körner hat die Endung absichtlich<br />

sehr betont. «Meines Wissens hat sie nur die Anni Habersetzer<br />

geschlagen.»<br />

«Nur?»<br />

«Und diese Anni Habersetzer hat die Ohrfeigen verdient! Von<br />

irgendwem muss sie diese Ohrfeigen ja schließlich kriegen!»<br />

«Aber Frau Körner!»<br />

«Diese große, dicke Anni schlägt heimlich die Kleinsten in<br />

der Klasse.»<br />

«Wie bitte? Wirklich? Davon weiß ich ja gar nichts!»<br />

«Dann fragen Sie nur die arme kleine Ilse Merck! Vielleicht<br />

erzählt die Ihnen einiges!»<br />

«Und warum hat mir Lotte nichts gesagt, als ich sie bestraft<br />

habe?»<br />

Darauf hat Frau Körner nichts geantwortet und ist in den Verlag<br />

gesaust. Um zurechtzukommen, musste sie ein Taxi nehmen.<br />

48 49<br />

***<br />

Am Sonnabendmittag hat Mutti plötzlich den Rucksack gepackt<br />

und gesagt: «Ziehe die festen Schuhe an! Wir fahren nach


Garnisch und kommen erst morgen Abend zurück!»<br />

Luise hat ein bisschen ängstlich gefragt: «Mutti, wird’ das<br />

nicht zu teuer?»<br />

Der Frau Körner hat es einen kleinen Stich gegeben. Dann<br />

hat sie gelacht. «Wenn das Geld nicht reicht, verkaufe ich dich<br />

unterwegs!»<br />

Das Kind hat vor Freude getanzt. «Fein! Wenn du dann das<br />

Geld hast, laufe ich den Leuten wieder weg! Und wenn du mich<br />

drei – bis viermal verkauft hast, haben wir soviel, dass du einen<br />

Monat nicht zu arbeiten brauchst!»<br />

«So teuer bist du?»<br />

«Dreitausend Mark und elf Pfennige! Und die Mundharmonika<br />

nehme ich auch mit!»<br />

Das war ein herrliches Wochenende! Sie wanderten über<br />

Berg und Tal mit Mundharmonika und fröhlichem Gesang.<br />

Dann gingen sie durch hohe Wälder bergab. Walderdbeeren<br />

fanden sie und schöne, geheimnisvolle Blumen. Luise pflückte<br />

einen Strauß Alpenveilchen, die süß dufteten.<br />

Abends gerieten sie in ein Dorf namens Gries. Dort nahmen<br />

sie ein Zimmer mit einem Bett, da sie wenig Geld hatten. Nach<br />

dem Abendbrot schliefen sie zusammen in dem Bett! Draußen<br />

auf den Wiesen geigten die Grillen eine kleine Nachtmusik.<br />

Am Sonntagmontag zogen sie weiter. Auf einer Wiese neben einer<br />

Pferdeweide, inmitten Millionen von Feldblumen, aßen sie gekochte<br />

Eier und Käsebrote. Und dann schliefen sie süß im Grase.<br />

Später stiegen sie zu einem See hinunter. Im See badeten sie<br />

natürlich. Auf der Hotelterrasse spendierte Mutti Kaffee und Kuchen.<br />

Und dann wurde es höchste Zeit, zurückzumarschieren.<br />

Vergnügt und braungebrannt saßen sie im Zug. Und der<br />

nette Herr gegenüber wollte unter gar keinen Umständen glauben,<br />

dass das junge Fräulein neben Luise die Mutti und noch<br />

dazu eine berufstätige Frau war.<br />

Zu Hause fielen sie müde in ihre Betten. Das Letzte, was das<br />

Kind sagte, war: «Mutti, heute war es so schön – so schön wie<br />

nichts auf der Welt!»<br />

Die Mutti lag noch eine Weile wach. Soviel Freude hatte sie<br />

bis jetzt ihrem kleinen Mädchen entzogen. Nun, es war noch<br />

nicht zu spät. Noch ließ sich alles nachholen.<br />

Dann schlief auch Frau Körner ein. Ein Lächeln huschte<br />

über ihre Wangen, wie der Wind über den See.<br />

Das Kind war verändert. Und nun begann sich also auch die<br />

junge Frau zu verändern.<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 7. KAPITEL<br />

I. Wortschatz zum Auswendiglernen:<br />

1) um neue Auskünfte bitten (a,e)<br />

2) sich gewöhnen (te,t) an Dat.<br />

3) lebhaft sein<br />

4) sein Benehmen verändern (te,t)<br />

5) tatsächlich<br />

6) betrügerisch sein<br />

7) überreden (te,t)<br />

8) das Geld aushändigen Dat.<br />

9) nicht nur.., sondern auch…<br />

10) empfindlich sein<br />

11) auf den Tasten klimpern (te,t)<br />

12) Klavierunterricht geben Dat. (a,e)<br />

13) der Gleichaltrige (-n)<br />

14) vorziehen (o,o)<br />

15) zusammenhängen (i,a)<br />

16) versuchen zu +Inf.<br />

17) die seelische Balance verlieren (o,o)<br />

18) prügeln (te,t)<br />

19) zurechtkommen (a,o)<br />

20) den Rucksack packen (te,t)<br />

21) einen kleinen Stich geben (a,e)<br />

22) unterwegs<br />

23) die höchste Zeit<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

среди чужих людей, не иметь ничего против, с большим<br />

удовольствием, изменить свое отношение, <strong>по</strong> натуре, стать<br />

совершенно другим человеком, требовать объяснения, измениться,<br />

<strong>по</strong>лучить оплеуху, любой ценой, внутренняя гармония,<br />

заслужить, наказать, насколько мне известно, танцевать<br />

от радости, земляника, ночной концерт, кузнечики,<br />

сладко пахнуть, <strong>по</strong>левые цветы, ни за что.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie sie:<br />

1. Luise lernte das Kochen «wieder», aber sie war weniger<br />

fleißig und aufmerksam.<br />

2. Peperl hat sich nicht abgefunden, dass Luise nicht so wie<br />

früher riecht.<br />

50 51


3. Resi war von Grund auf faul und betrügerisch.<br />

4. Seit Lotte im Hause war, ist Resi ganz anders geworden.<br />

5. Obgleich Palfy weniger Geld gab, standen immer frische Blumen<br />

nicht nur in der Wohnung, sondern auch in seinem Atelier.<br />

6. Im Atelier wurde so gemütlich und Herr Kapellmeister<br />

verbrachte jetzt hier mehr Zeit.<br />

7. Seitdem gab Kapellmeister seiner Tochter Klavierunterricht,<br />

machte es ihm großen Spaß.<br />

8. Die Mutter merkte, dass Lottchen nicht mehr so häuslich<br />

und in der Schule nicht mehr so fleißig war.<br />

9. Lottes Klassenlehrerin meinte, Lotte soll um jeden Preis<br />

die beste Schülerin bleiben.<br />

10. Anni Habersetzer schlug heimlich die Kleinsten, deshalb<br />

prügelte Lotte sie.<br />

11. Am Wochenende wanderten die Mutter mit ihrer Tochter<br />

über die Berg und See.<br />

12. Im Dorf nahmen sie kein Zimmer, denn sie hatten wenig<br />

Geld und schliefen auf der Wiese im Grase.<br />

13. Luise und ihre Mutter saßen im Zug vergnügt und<br />

braungebrannt, und niemand konnte glauben, dass die junge<br />

Fräulein neben Luise eine berufstätige Frau war.<br />

IV. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Wie veränderten Luise und Lotte in den Augen Lehrerinnen?<br />

2. Warum veränderte Peperl sein Benehmen?<br />

3. Warum wurde Resi ganz anders?<br />

4. Warum verbrachte der Vaterzu Hause mehr Zeit?<br />

5. Was bemerkte Luiselotte nach den Ferien ihrer Tochter?<br />

6. Warum meinte Fräulein Linnekogel, dass Lotte die seelische<br />

Balance verloren hat?<br />

7. Warum wurde Lotte von der Klassenlehrerin bestraft?<br />

Hatte sie Recht?<br />

8. Wie reagierte Luise auf den Vorschlag der Mutter das Wochenende<br />

ins Grüne verbringen?<br />

9. Wie verbrachten sie das Wochenende? Welchen Eindruck<br />

machte diese Erholung auf Luise?<br />

V. Der Text war in inhaltlich abgeschlossene Teile gegliedert.<br />

Betiteln Sie diese Teile und geben Sie den Inhalt des<br />

Kapitels nach Ihrer Gliederung wieder:<br />

1. …<br />

2. …<br />

3. …<br />

ACHTES KAPITEL<br />

Lottchen kommt mit dem Klavierspiel nur langsam voran.<br />

Ihre Schuld ist es nicht. Aber der Vater hat in den letzten Wochen<br />

wenig Zeit fürs Stundengeben. Vielleicht ist er so viel mit<br />

der Kinderoper beschäftigt? Das ist schon möglich. Oder? Nun,<br />

kleine Mädchen spüren, wenn etwas nicht stimmt. Wenn Väter<br />

von Kinderopern reden und über Fräulein Gerlach schweigen…<br />

Kinder wittern wie kleine Tiere, woher Gefahr droht.<br />

52 53<br />

***<br />

Lotte tritt in der Rotenturmstraße aus der Wohnung und<br />

klingelt an der gegenüberliegenden Tür. Dort wohntein Maler<br />

namens Gabele, ein netter, freundlicher Herr, der Lotte gern<br />

einmal zeichnen möchte, wenn sie Zeit hat.<br />

Herr Gabele öffnet: «Oh, die Luise!»<br />

«Heute hab’ich Zeit», sagt sie.<br />

«Einen Augenblick», ruft er, rennt in sein Arbeitszimmer,<br />

nimmt ein großes Tuch vom Sofa und hängt damit ein Bild zu,<br />

das auf der Staffelei steht. Er malt gerade eine Szene aus der<br />

Antike. Solche Bilder eignen sich nicht immer für Kinder.<br />

Dann führt er die Kleine herein, setzt sie in einen Sessel,<br />

nimmt einen Zeichenblock und beginnt zu skizzieren. «Du<br />

spielst ja gar nicht mehr so oft Klavier!» meint er dabei.<br />

«Hat es Sie sehr gestört?»<br />

«Gar nicht! Im Gegenteil! Dein Spiel fehlt mir geradezu!»<br />

«Vati hat nicht mehr so viel Zeit», sagt sie ernst. «Er komponiert<br />

eine Oper. Es wird eine Kinderoper.»<br />

Herr Gabele freut sich, das zu hören. Dann wird er ärgerlich.<br />

«Diese Fenster!» schimpft er. «Man kann gar nichts sehen. Ein<br />

Atelier müsste man haben!»<br />

«Warum mieten Sie sich denn dann kein Atelier, Herr Gabele?»<br />

«Weil’s keine freien Ateliers gibt. Ateliers sind selten!»<br />

Nach einer Pause sagt das Kind: «Vati hat ein Atelier. Mit<br />

großen Fenstern. Und Licht von oben.»<br />

Herr Gabele brummt.<br />

«In der Ringstraße», erklärt Lotte. Und nach einer neuen<br />

Pause: «Zum Komponieren braucht man doch gar nicht so viel<br />

Licht wie zum Malen, nicht wahr?»


«Nein», antwortet Herr Gabele.<br />

Lotte denkt nach. Dann sagt sie: «Eigentlich kann doch Vati<br />

mit Ihnen tauschen! Dann hätten Sie größere Fenster und<br />

mehr Licht zum Malen. Und Vati hätte seine Wohnung, wo er<br />

komponiert, hier, neben der anderen Wohnung! Wäre das nicht<br />

sehr praktisch?»<br />

Herr Gabele könnte manches gegen Lottes Pläne einwenden.<br />

Er kann aber mit dem Kind nicht über alles sprechen, darum<br />

erklärt er lächelnd: «Ja, das wäre wirklich praktisch. Es ist aber<br />

noch eine Frage, ob dein Papa ebenso denkt.»<br />

Lotte nickt. «Ich werde ihn fragen! Sofort!»<br />

***<br />

Herr Palfy sitzt in seinem Atelier. Er hat Besuch. Fräulein<br />

Irene Gerlach musste «zufällig» ganz in der Nähe Einkäufe<br />

machen, und da hat sie sich gedacht: ,Ich will mal schnell zu<br />

Ludwig hinaufgehen…’<br />

Der Ludwig hat die Partiturseiten, an denen er kritzelt,<br />

beiseite gelegt und plaudert mit der Irene. Erst ärgert er sich<br />

ein bisschen, denn er kann es nicht leiden, wenn man ihn<br />

unangemeldet besucht und bei der Arbeit stört. Aber allmählich<br />

glättet sich seine Stirn. Es ist ja doch so angenehm, mit dieser<br />

schönen Dame zusammenzusitzen.<br />

Irene Gerlach weiß, was sie will. Sie will Herrn Palfy heiraten. Er<br />

ist berühmt. Er gefällt ihr. Sie gefällt ihm. Große Schwierigkeiten<br />

stehen also nicht im Wege. Zwar weiß er noch nichts von seinem<br />

künftigen Glück. Aber sie wird ihm diesen Gedanken schonend<br />

beibringen. Schließlich wird er sich einbilden, dass er selbst auf<br />

die Idee mit der Heirat gekommen ist.<br />

Ein Hindernis ist allerdings noch da: das Kind! Aber wenn<br />

Irene ihrem Ludwig erst ein, zwei Kinder geschenkt hat, dann<br />

wird alles gut werden. Irene Gerlach wird doch mit diesem<br />

ernsten scheuen Mädchen fertigwerden!<br />

Es klingelt.<br />

Ludwig öffnet.<br />

Und wer steht an der Tür! Das ernste, scheue Mädchen! Es<br />

hat einen Strauß in der Hand, knickst und sagt: «Guten Tag,<br />

Vati! Ich bringe dir frische Blumen!» dann spaziert es ins Atelier,<br />

knickst vor der Dame, nimmt eine Vase und verschwinde in der<br />

Küche.<br />

Irene lächelt ironisch. «Wenn man dich und deine Tochter sieht,<br />

hat man den Eindruck, dass du unter ihrem Pantoffel stehst.»<br />

Der Herr Kapellmeister lacht verlegen. «Sie ist in der letzten<br />

Zeit so energisch, und außerdem ist das, was sie tut, so richtig –<br />

da kann man nichts machen!»<br />

Fräulein Gerlach zuckt mit den schönen Schultern.<br />

Lotte erscheint wieder. Erst stellt sie die frischen Blumen<br />

auf den Tisch. Dann bringt sie Geschirr herbei und sagt,<br />

während sie die Tassen auf den Tisch stellt, zu Vati: «Ich koche<br />

nur rasch einen Kaffee. Wir müssen doch deinem Gast<br />

etwas anbieten.»<br />

Vati und sein Gast sitzen erstaunt da. ,Und ich habe dieses<br />

Mädchen für scheu gehalten’, denkt Fräulein Gerlach. ,O wie<br />

dumm war ich!’<br />

Nach kurzer Zeit taucht Lotte mit Kaffee, Zucker und Sahne<br />

auf, schenkt ein, schiebt dem Gast die Sahne und den Zucker<br />

hin, setzt sich dann neben ihren Vati und meint freundlich:<br />

«Ich trinke zur Gesellschaft einen Schluck mit.»<br />

Der Papa schenkt ihr Kaffee ein und fragt lächelnd: «Wie viel<br />

Sahne, meine Dame!»<br />

«Vielen Dank, mein Herr!»<br />

Man trinkt. Man schweigt. Schließlich sagt Lotte: «Ich war<br />

eben bei Herrn Gabele.»<br />

«Hat er dich gezeichnet?» fragt der Vater.<br />

«Nur ein bisschen», meint Lotte. Noch einen Schluck Kaffee,<br />

dann fügt sie hinzu: «Er hat zu wenig Licht. Vor allem braucht<br />

er Licht von oben. So wie hier…»<br />

«Dann soll er sich ein Atelier mit Oberlicht mieten», bemerkt<br />

der Herr Kapellmeister sehr treffend und ahnt nicht, dass er<br />

dahin steuert, wohin Lotte ihn haben will.<br />

«Das habe ich ihm auch schon gesagt», erklärt sie ruhig.<br />

«Aber sie sind alle vermietet, die Ateliers.»<br />

,So ein kleines Biest!’, denkt Fräulein Gerlach. Denn sie weiß<br />

nun schon, was das Kind So ein kleines Biest! Und wirklich…<br />

«Zum Komponieren braucht man eigentlich kein Oberlicht,<br />

Vati. Nicht?»<br />

«Nein, eigentlich nicht.»<br />

Das Kind atmet tief, blickt lange auf seine Schurze und fragt,<br />

als fiele ihm diese Frage eben ein: «Willst du nicht mit Herrn<br />

Gabele tauschen, Vati?» Gott sei Dank, fetzt ist es heraus! Lotte<br />

blickt den Papa an. Ihre Augen bitten furchtsam.<br />

Der Vater schaut halb ärgerlich, halb belustigt von dem<br />

kleinen Mädchen zu der eleganten Dame, die wieder ironisch<br />

lächelt.<br />

«Dann wird der Herr Gabele ein Atelier haben», sagt das<br />

54 55


Kind, und die Stimme zittert ein wenig. «Mit soviel Licht, wie<br />

er braucht. Und du wohnst direkt neben uns. Neben Resi<br />

und mir. Dann bist du allein, genau wie hier. Und wenn du<br />

nicht allein sein willst, kommst du bloß über den Flur und<br />

bist da. Du brauchst nicht einmal einen Hut aufzusetzen.<br />

Und mittags können wir zu Hause essen. Wenn das Essen<br />

fertig ist, klingeln wir dreimal an deiner Tür. – Wir kochen<br />

immer, was du willst. – und wenn du Klavier spielst, hören<br />

wir’s durch die Wand…» Die Kinderstimme klingt immer<br />

zögernder…<br />

Fräulein Gerlach steht rasch auf. Sie muss schnellstens<br />

nach Hause. Wie die Zeit vergeht! Es waren ja aber auch sooo<br />

interessante Gespräche!<br />

Herr Kapellmeister begleitet seinen Gast hinaus. Er küsst<br />

die duftende Frauenhand. «Auf heute Abend also!» sagt er.<br />

«Vielleicht hast du keine Zeit?»<br />

«Wieso, meine Liebe?»<br />

Sie lächelt. «Vielleicht ziehst du gerade um!»<br />

Er lacht.<br />

«Lache nicht zu früh! Soviel ich deine Tochter kenne, hat<br />

sie bereits die Möbelpacker bestellt!» Wütend eilt die Dame die<br />

Treppe hinunter.<br />

Als der Kapellmeister ins Atelier zurückkommt, hat Lotte<br />

schon begonnen, das Kaffeegeschirr abzuwaschen. Er schlägt<br />

ein paar Takte auf dem Flügel an. Er geht mit großen Schritten<br />

in dem Raum auf und ab. Er starrt auf die Partiturseiten…<br />

Lotte bemüht sich, nicht mit den Tellern und Tassen<br />

zu klappern. Als sie alles abgetrocknet und in den Schrank<br />

zurückgestellt hat, setzt sie ihr Hüttchen auf und betritt leise<br />

das Atelier.<br />

«Auf Wiedersehen, Vati… Kommst du zum Abendessen?»<br />

«Nein, heute nicht.»<br />

Das Kind nickt langsam und streckt ihm zum Abschied<br />

schüchtern die Hand hin.<br />

«Hör, Luise, – ich hab’s nicht gern, wenn sich andere Leute<br />

für mich den zerbrechen, auch meine Tochter nicht! Ich weiß<br />

selber, was ich brauche!»<br />

«Natürlich, Vati», sagt sie ruhig und leise. Noch immer hält<br />

sie die Hand zum Abschied ausgestreckt.<br />

Er drückt sie schließlich doch und sieht dabei, dass dem<br />

Kind Tränen in den Augen stehen. Ein Vater muss streng sein.<br />

Also tut er, als sähe er nichts, sondern nickt kurz und setzt<br />

sich an den Flügel.<br />

Lotte geht schnell zur Tür, öffnet sie leise – und ist verschwunden.<br />

Der Herr Kapellmeister fährt sich übers Haar.<br />

Kindertränen, das fehlte noch! Dabei soll man nun eine<br />

Kinderoper komponieren! Es ist schrecklich, wenn so einem<br />

kleinen Geschöpf Tränen in den Augen stehen…<br />

Seine Hände schlagen einige Tone an. Er neigt lauschend den<br />

Kopf. Er spielt die Tonfolge noch einmal. Es ist die Mollvariation<br />

eines fröhlichen Kinderliedes aus seiner Oper. Er ändert den<br />

Rhythmus. Er arbeitet.<br />

O diese Künstler! Gleich wird er Notenpapier nehmen und<br />

Noten malen. Und schließlich wird er sich hochbefriedigt<br />

zurücklehnen und die Hände reiben, weil ihm ein so wunderbar<br />

trauriges Lied in c-moll gelungen ist.<br />

56 57<br />

***<br />

Wieder sind Wochen vergangen. Fräulein Irene Gerlach<br />

hat die Szene im Atelier nicht vergessen. Sie hat den<br />

Vorschlag des Kindes, die Wohnung in der Ringstrasse<br />

gegen die Wohnung des Malers Gabele zu tauschen, richtig<br />

verstanden: Es war eine Kampfansage. Eine richtige Frau –<br />

und Irene Gerlach ist (obwohl Lotte sie nicht leiden mag) eine<br />

richtige Frau, – die lässt sich nicht lange bitten. Sie kennt<br />

ihre Waffen und weiß, sie zu gebrauchen. Alle ihre Pfeile hat<br />

sie auf die Zielscheibe, das Künstlerherz des Kapellmeisters,<br />

abgeschossen. Alle Pfeile haben ins Schwarze getroffen. Jetzt<br />

sitzen sie im Herzen des geliebten Mannes fest. Er kann sich<br />

nicht mehr wehren.<br />

«Ich will, dass du meine Frau wirst», sagt er. Es klingt wie<br />

ein zorniger Befehl.<br />

Sie streichelt sein Haar, lächelt und meint spöttisch: «Dann<br />

werde ich morgen mein bestes Kleid anziehen, Liebling, und bei<br />

deiner Tochter um deine Hand bitten.»<br />

Wieder sitzt ein Pfeil in seinem Herzen. Und diesmal ist der<br />

Pfeil vergiftet.<br />

***<br />

Herr Gabele zeichnet Lotte. Plötzlich legt er den Bleistift hin<br />

und sagt: «Was hast du denn heute, Luise? Du siehst ja aus wie<br />

sechs Tage Regenwetter!»<br />

Das Kind atmet schwer. «Ach, es ist nichts Besonderes!»


«Hängt’s mit der Schule zusammen?»<br />

Sie schüttelt den Kopf. «Das war’s nicht so schlimm.»<br />

Herr Gabele legt den Block weg. «Weißt du was? Wir wollen<br />

heute Schluss machen!» Er steht auf. «Geh spazieren. Das<br />

bringt den Menschen auf andere Gedanken!»<br />

«Oder vielleicht spiele ich ein bisschen auf dem Klavier!»<br />

«Noch besser!» sagt er. «Das höre ich durch die Wand. Da<br />

hab’ich auch was davon.»<br />

Sie gibt ihm die Hand, knickt und geht.<br />

Er schaut gedankenvoll hinter der kleinen Person her. Er<br />

weiß, wie schwer Kummerauf ein Kinderherz drücken kann.<br />

Er war selber einmal ein Kind und hat es (im Gegensatz zu den<br />

meisten Erwachsenen!) nicht vergessen.<br />

Als aus der Nachbarwohnung Klavierspiel ertönt, nickt er<br />

zufrieden und beginnt, die Melodie mitzupfeifen. Dann zieht<br />

er mit einem Ruck die Decke von der Staffelei, nimmt Palette<br />

und Pinsel zur Hand, betrachtet das Bild und beginnt zu arbeiten.<br />

***<br />

Herr Ludwig Palfy kommt in die Rotenturmstraße. Er hängt<br />

den Mantel und den Hut an einen Garderobehaken. Luise spielt<br />

Klavier? Nun, sie muss eben jetzt ihr Spiel unterbrechen und<br />

ihm eine Weile zuhören. Er zieht das Jackett straff, dann öffnet<br />

er die Zimmertür.<br />

Das Kind schaut von den Tasten hoch und lächelt ihn an.<br />

«Vati? Wie schon!» Sie springt vom Klavierstuhl. «Soll ich dir<br />

einen Kaffee machen?» Sie will sofort in die Küche laufen. Er<br />

hält sie fest. «Danke, nein!» sagt er. «Ich muss mit dir sprechen.<br />

Setz dich!»<br />

Sie setzt sich in den großen Sessel, in dem sie klein wie eine<br />

Puppe aussieht, und blickt erwartungsvoll zu ihm hoch.<br />

Er räuspert sich nervös, geht ein paar Schritte auf und ab<br />

und bleibt vor dem Sessel stehen.<br />

«Also, Luise», fängt er an, «es handelt sich um eine wichtige<br />

und ernste Angelegenheit. Seit deine Mutter nicht mehr – nicht<br />

mehr da ist, bin ich allein gewesen. Sieben Jahre lang. Natürlich<br />

nicht ganz allein, ich hab’ ja dich gehabt. Und ich hab; dich ja<br />

noch!»<br />

Das Kind schaut ihn mit großen Augen an.<br />

,Wie dumm ich rede’ denkt der Mann. Er hat eine Wut auf<br />

sich «Kurz und gut» sagt er. «Ich will nicht langer allein sein.<br />

Es wird sich etwas ändern. In meinem und dadurch auch in<br />

deinem Leben.»<br />

Ganz still ist’s im Zimmer.<br />

Eine Fliege summt, sie versucht durch die geschlossene<br />

Fensterscheibe ins Freie zu fliegen.<br />

«Ich habe mich entschlossen, wieder zu heiraten!»<br />

«Nein!» sagt das Kind laut. Es klingelt wie ein Schrei. Dann<br />

wiederholt es leise: «Bitte nein, Vati, bitte nein, bitte, bitte nein!»<br />

«Du kennst Fräulein Gerlach bereits. Sie hat dich sehr gern.<br />

Und sie wird dir eine gute Mutter sein.»<br />

Lotte schüttelt in einem fort den Kopf und bewegt dabei<br />

lautlos die Lippen. Wie ein Automat, der keine Ruhe findet. Es<br />

sieht beängstigend aus.<br />

Deshalb blickt der Vater wieder weg und sagt: «Du wirst dich<br />

schneller, als du glaubst, an die neue Lage gewöhnen. Böse<br />

Stiefmütter kommen nur noch in Märchen vor. Also, Luise,<br />

ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Du bist der<br />

vernünftigste kleine Kerl, den es gibt.» Und schon ist er aus der<br />

Tür.<br />

Das Kind sitzt wie betäubt.<br />

Herr Palfy drückt sich an der Garderobe den Hut aufs<br />

Künstlerhaupt. Da schreit das Kind im Zimmer, «Vati!» Es klingelt,<br />

als ob jemand ertränke.<br />

,In einem Wohnzimmer ertrinkt man nicht’, denkt Herr Palfy<br />

und geht. Er hat es sehr eilig. Denn er muss ja mit dem Sänger<br />

Luser arbeiten!<br />

Lotte ist aus ihrer Betäubung erwacht. Sie zwingt sich ruhig<br />

zu überlegen. Was ist zu tun? Denn dass man etwas tun muss,<br />

ist klar. Niemand darf Vati eine andere Frau heiraten, niemals.<br />

Er hat ja eine Frau! Auch wenn sie nicht mehr bei ihm ist.<br />

Niemals wird Lotte eine neue Mutter dulden, niemals! Sie hat<br />

ja ihre Mutter, ihre über alles geliebte Mutti!<br />

Mutti darf es nicht wissen. Sie darf das ganze große Geheimnis<br />

der beiden Kinder nicht wissen, und vor allem nicht, dass der<br />

Vater dieses Fräulein Gerlach zur Frau nehmen will!<br />

So bleibt nur noch ein Weg. Und diesen Weg muss Lottchen<br />

selber gehen.<br />

Sie holt das Telefonbuch. Sie blättert mit zittrigen Fingern.<br />

«Gerlach». Es gibt nicht sehr viele Gerlachs. «Gerlach, Stefan.<br />

Generaldirektor. Koblenzallee 43». Vati hat neulich erzählt,<br />

dass Fräulein GerlachsVater Restaurants und Hotels gehören,<br />

auch das Hotel «Imperial», wo sie täglich zu Mittag essen.<br />

«Koblenzallee 43».<br />

58 59


Nachdem Resi erklärt hat, wie man zur Koblenzallee fahren<br />

muss. Setzt sich das Kind den Hut auf, zieht den Mantel an<br />

und sagt: «Ich gehe jetzt weg.»<br />

«Was willst du denn in der Koblenzallee?» fragt Resi neugierig.<br />

«Ich muss jemanden sprechen.»<br />

«Komm aber bald wieder!»<br />

Das Kind nickt und macht sich auf den Weg.<br />

***<br />

Ein Stubenmädchen tritt in Irene Gerlachs elegantes Zimmer<br />

und lächelt. «Ein Kind möchte Sie sprechen, Ein Stubenmädchen<br />

Fräulein. Ein kleines Mädchen.»<br />

Das gnädige Fräulein hat sich gerade die Fingernägel frisch<br />

gelackt. Sie schwenkt die Hände durch die Luft, damit der Lack<br />

schneller trocknet. «Ein kleines Mädchen?»<br />

«Luise Palfy heißt’s.»<br />

«Ah!» sagt das gnädige Fräulein. «Führe sie herauf!»<br />

Das Stubenmädchen verschwindet. Die junge Dame erhebt sich<br />

und wirft einen Blick in den Spiegel. Sie ist mit sich zufrieden.<br />

Als das Kind ins Zimmer tritt, befiehlt Fräulein Gerlach dem<br />

Stubenmädchen: «Mach’ uns Schokolade! Und bringe Waffeln!»<br />

Dann wendet sie sich freundlich an ihren Gast: «Wie nett, dass<br />

du mich besuchen kommst! Da sieht man es, wie unaufmerksam<br />

ich bin. Ich hätte dich längst schon einmal einladen sollen!<br />

Willst du nicht ablegen?»<br />

«Danke», sagt das Kind. «Ich will nicht lange bleiben.»<br />

«So?» Irene Gerlach verliert ihre gönnerhafte Miene keineswegs.<br />

«Aber zum Hinsetzen wirst du hoffentlich Zeit haben?»<br />

Das Kind setzt sich auf den Rand eines Stuhles und wendet<br />

kein Auge von der Dame.<br />

Die Dame findet, dass die Situation allmählich lächerlich<br />

wird. Doch sie beherrscht sich. Es steht immerhin einiges auf<br />

dem Spiel. Auf dem Spiel, das sie gewinnen will und gewinnen<br />

wird. «Bist du hier zufällig vorbeikommen?»<br />

«Nein, ich muss Ihnen etwas sagen!»<br />

Irene Gerlach lächelt bezaubernd. «Ich bin ganz Ohr. Was<br />

ist es denn?»<br />

Das Kind rutscht vom Stuhl, steht nun mitten im Zimmer<br />

und erklärt: «Vati hat gesagt, dass Sie ihn heiraten wollen.»<br />

«Hat er das wirklich gesagt?» Fräulein Gerlach lacht auf. «Hat er<br />

nicht vielmehr gesagt, dass er mich heiraten will? Aber das ist wohl<br />

Nebensache. Also: Ja, Luise, dein Papa und ich, wir wollen uns hei-<br />

raten. Und du und ich, wir werden gewiss sehr gut miteinander<br />

auskommen. Davon bin ich fest überzeugt. Du nicht? Pass auf,<br />

wenn wir erst einige Zeit zusammenwohnen, werden wir die besten<br />

Freundinnen sein. Wir wollen uns beide Mühe geben. Nicht wahr?»<br />

Das Kind weicht zurück und sagt ernst: «Sie dürfen Vati<br />

nicht heiraten!»<br />

«Und warum nicht?»<br />

«Weil Sie es nicht dürfen!»<br />

«Das ist keine sehr befriedigende Erklärung», meint das<br />

Fräulein scharf. «Du willst mir verbieten, die Frau deines Vaters<br />

zu werden?»<br />

«Ja!»<br />

«Das ist wirklich allerhand!» Die junge Dame ist aufgebracht.<br />

«Ich muss dich bitten, jetzt nach Hause zu gehen. Ob ich deinem<br />

Vater von diesem merkwürdigen Besuch erzähle, werde ich mir<br />

noch überlegen. Auf Wiedersehen!»<br />

An der Tür wendet sich das Kind noch einmal um und sagt:<br />

«Lassen Sie uns so, wie wir sind! Bitte, bitte…»<br />

Dann ist Fräulein Gerlach allein.<br />

Sie denkt nach. Die Heirat muss man beschleunigen. Und<br />

dann muss man dieses Kind in ein Internat stecken! Sofort!<br />

Hier kann nur die strengste Erziehung noch helfen.<br />

«Was wollen Sie denn?» Das Stubenmädchen steht mit einem<br />

Tablett da. «Ich bringe Schokolade und die Waffeln. Wo ist<br />

denn das kleine Mädchen?»<br />

«Scheren Sie sich zum Teufel!»<br />

60 61<br />

***<br />

Der Herr Kapellmeister kommt, da er in der Oper dirigieren<br />

muss, nicht zum Abendbrot. Resi sitzt, wie in solchen Fällen<br />

immer, mit dem Kind am Tisch.<br />

«Du isst ja heute gar nichts», bemerkt Resi vorwurfsvoll.<br />

«Was hast du denn?»<br />

Lotte schüttelt den Kopf und schweigt.<br />

Die Haushälterin ergreift die Kinderhand. «Du hast ja Fieber!<br />

Gleich gehst du ins Bett!» dann trägt sie das völlig apathische<br />

Geschöpf ins Kinderzimmer, zieht es aus und legt es ins Bett.<br />

«Nichts dem Vati erzählen!» murmelt die Kleine. Ihre Zähne<br />

klappern. Resi türmt Kissen und Decken übereinander. Dann<br />

rennt sie zum Telefon und ruft den Hofrat Strobl an.<br />

Der alte Herr verspricht, sofort zu kommen. Er ist genau so<br />

aufgeregt wie die Resi.


Sie ruft in der Staatsoper an. «Gut!» antwortet man ihr. «In<br />

der Pause werden wir es dem Kapellmeister ausrichten.»<br />

Resi rennt wieder ins Schlafzimmer. Das Kind schlägt um<br />

sich und stammelt unverständliche Worte. Die Decken und Kissen<br />

liegen am Boden.<br />

Wenn bloß der Herr Doktor käme! Was soll man machen? Kompressen?<br />

Aber was für? Welche? Kalte? Heiße? Nasse? Trockene?<br />

***<br />

In der Pause sitzt der Kapellmeister Palfy in der Garderobe<br />

der Sopranistin. Sie trinken einen Schluck Wien und reden<br />

vom Theater. Die Leute vom Theater reden immer vom Theater.<br />

Das ist nun einmal so. Da klopft es. «Herein!»<br />

Ein Angestellter tritt ein. «Endlich finde ich Sie, Herr<br />

Kapellmeister!» ruft der Alte Mann aufgeregt. «Man hat uns<br />

aus der Rotenturmstraße angerufen. Das Fräulein Tochter ist<br />

plötzlich krank geworden. Der Herr Hofrat Strobl ist schon bei<br />

dem Kind.»<br />

Der Herr Kapellmeister sieht blass aus. «Danke schön», sagt<br />

er leise. Der Angestellte geht.<br />

«Hoffentlich ist es nichts Schlimmes», meint die Sängerin.<br />

«Hat die Kleine schon die Masern gehabt?»<br />

«Nein», sagt er und steht auf. «Entschuldige!» Als sich die<br />

Tür hinter ihm geschlossen hat, rennt er aus allen Kräften. Wo<br />

ist ein Telefon? Er telefoniert: «Hallo, Irene!»<br />

«Ja, Liebling? Ist denn schon Schluss? Ich bin noch nicht<br />

fertig zum Ausgehen.»<br />

Er berichtet hastig, was er eben gehört hat. Dann sagt er:<br />

«Ich fürchte, wir können uns heute nicht sehen!»<br />

«Natürlich nicht. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes. Hat<br />

die Kleine schon Masern gehabt?»<br />

«Nein», antwortet er ungeduldig. «Ich rufe dich morgen früh<br />

wieder an.» Dann legt er den Hörer auf.<br />

Ein Signal ertönt. Die Pause ist zu Ende. Die Oper und das<br />

Leben gehen weiter.<br />

***<br />

Endlich ist die Oper aus! Der Kapellmeister rast in der Rotenturmstrasse<br />

die Treppe hinauf. Resi öffnet ihm. Sie hat noch<br />

den Hut auf, weil sie in der Nachtapotheke war.<br />

Der Hofrat sitzt am Bett.<br />

«Wie geht’s ihr denn?» fragt der Vater flüsternd.<br />

«Nicht gut», antwortet der Hofrat. «Aber Sie können ruhig<br />

laut sprechen. Ich habe ihr eine Spritze gegeben.»<br />

Lottchen liegt im Bett. Ihr Gesicht glüht, sie atmet schwer.<br />

Sie hat das Gesicht verzogen, als tue ihr der künstliche Schlaf<br />

sehr weh.<br />

«Masern?»<br />

«Keine Spur», brummt der Hofrat.<br />

Resi kommt ins Zimmer und schluchzt leise.<br />

«Nun nehmen Sie endlich den Hut ab!» sagt der Kapellmeister<br />

nervös.<br />

«Ach ja! Entschuldigen Sie!» Resi nimmt den Hut ab und<br />

behält ihn in der Hand.<br />

Der Hofrat schaut die beiden fragend an. «Das Kind macht<br />

offenbar eine schwere seelische Krise durch», meint er. «Wissen<br />

Sie davon? Nein? Haben Sie wenigstens eine Vermutung?»<br />

Resi sagt: «Ich weiß freilich nicht, ob das damit verbunden<br />

ist, aber… Heute Nachmittag ist sie ausgegangen. Weil sie jemanden<br />

sprechen musste! Und ehe sie ging, hat sie gefragt, wie<br />

sie am besten zur Koblenzallee kommt.»<br />

«Zur Koblenzallee?» fragt der Hofrat und schaut zu dem Kapellmeister<br />

hin.<br />

Palfy geht rasch zum Apparat und telefoniert. «War Luise<br />

heute Nachmittag bei dir?»<br />

«Ja», sagt eine Frauenstimme. «Aber wieso erzählt sie dir das?»<br />

Er gibt darauf keine Antwort, sondern fragt weiter: «Und was<br />

wollte sie?»<br />

Fräulein Gerlach lacht ärgerlich. «Sie kann dir das selbst<br />

erzählen!»<br />

«Antworte, bitte!»<br />

Ein Glück, dass sie sein Gesicht nicht sehen kann!<br />

«Sie kam, um mir zu verbieten, deine Frau zu werden!» erwidert<br />

sie gereizt.<br />

Er murmelt etwas und legt den Hörer auf.<br />

«Was fehlt ihr denn?» fragt Fräulein Gerlach. Dann merkt sie,<br />

dass das Gespräch getrennt ist. «So ein kleines Biest», sagt sie halblaut,<br />

«kämpft mit allen Mitteln! Legt sich hin und spielt krank.»<br />

62 63<br />

***<br />

Der Hofrat verabschiedet sich und gibt noch einige<br />

Anweisungen. Der Kapellmeister hält ihn an der Tür zurück.<br />

«Was fehlt dem Kind?»


«Nervenfieber. Ich komme morgen früh wieder. Gute Nacht<br />

wünsche ich.»<br />

Der Kapellmeister geht ins Kinderzimmer, setzt sich neben<br />

das Bett und sagt zu Resi: «Ich brauche Sie nicht mehr. Schlafen<br />

Sie gut!»<br />

«Aber es ist doch besser…»<br />

Er schaut sie an.<br />

Sie geht. Sie hat den Hut noch immer in der Hand.<br />

Er streichelt das kleine, heiße Gesicht. Das Kind erschrickt<br />

im Fieberschlaf und wirft sich wild zur Seite.<br />

Der Vater sieht sich im Zimmer um. Der Schulranzen liegt<br />

fertiggepackt auf dem Pult. Daneben sitzt Christl, die Puppe.<br />

Er steht leise auf, holt die Puppe, löscht das Licht aus und<br />

setzt sich wieder ans Bett.<br />

Nun sitzt er im Dunkeln und streichelt die Puppe, als<br />

wäre sie das Kind. Ein Kind, das vor seiner Hand nicht<br />

erschrickt.<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 8. KAPITEL<br />

I. Wortschatz zum Auswendiglernen:<br />

1) gegen Pläne einwenden<br />

2) kritzeln (te,t)<br />

3) im Wege stehen (a,a)<br />

4) scheu sein<br />

5) einen Hut aufsetzen (te,t)<br />

6) gelingen (a,u)<br />

7) eine Kampfansage<br />

8) sich wehren (te,t)<br />

9) um die Hand bitten (a,e) bei Dat<br />

10) einen Schluss machen<br />

11) es handelt sich um Akk<br />

12) die Stiefmutter sein<br />

13) an die neue Lage gewöhnen (te,t)<br />

14) ein Stubenmädchen<br />

15) gut auskommen mit Dat<br />

16) sich Mühe geben (a,e)<br />

17) verbieten (o,o)<br />

18) die strengste Erziehung<br />

19) die Masern<br />

20) eine Spritze geben<br />

II. Suchen Sie Äquivalente im Russischen und bilden die<br />

Situationen mit diesen idiomatischen Wendungen:<br />

1) wittern wie kleine Tiere, woher Gefahr droht<br />

2) unter dem Pantoffel stehen<br />

3) sich zerbrechen für Akk.<br />

4) ins Schwarze treffen<br />

5) wie ein zorniger Befehl klingen<br />

6) wie sechs Tage Regenwetter aussehen<br />

7) eine Wut auf sich haben<br />

8) wie ein Schrei klingeln<br />

9) wie betäubt sitzen<br />

10) die Miene keineswegs verlieren<br />

11) sich zum Teufel scheren<br />

III. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

«Одну минуту!», стоять у мольберта, верхний свет, прийти<br />

без предварительной договоренности, болтать с кем-либо,<br />

разозлиться, справиться с чем-либо или кем-либо, пить вместе,<br />

маленькая бестия, слезы в глазах, выстрелить в мишень,<br />

отравить, <strong>по</strong>ложиться на кого-либо, листать дрожащими руками,<br />

красит ногти, <strong>по</strong>местить в интернат, ничего <strong>по</strong>добного,<br />

дать указание, в темноте, бороться всеми средствами,<br />

проститься, разыгрывать больную.<br />

IV. Sagen Sie, ob die folgen den Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie sie:<br />

1. Maler Herr Gabele wohnte nebenan und Lotte kam zu<br />

ihm, wenn sie Zeit hatte.<br />

2. Herr Palfy war mit Besuch von Irene Gerlach unzufrieden,<br />

denn er ärgerte sich, wenn man ihn unangemeldet besuchte<br />

und bei der Arbeit störte.<br />

3. Herr Palfy und Irene Gerlach hatten keine Hindernisse,<br />

um zu heiraten.<br />

4. Man hatte den Eindruck, dass Herr Palfy unter Pantoffel<br />

von Irene stand.<br />

5. Herr Palfy war einverstanden mit Herrn Gabelezu tauschen<br />

und jetzt ist er neben Resi und seiner Tochter.<br />

6. Lotte war zerstreut, denn der Vater zum Abendessen nicht<br />

kommt. Er war sehr beschäftigt.<br />

64 65


7. Herr Palfy bemerkte keine Tränen in den Augen des Kinds.<br />

Er setzte an den Flügel und begann zu arbeiten.<br />

8. Irene Gerlach verstand den Vorschlag des Mädchens und<br />

das war eine Kampfansage.<br />

9. Die meisten Erwachsenen wussten, wie schwer Kummer<br />

auf ein Kinderherz drücken konnte.<br />

10. Herr Palfy hat entschlossen, wieder zu heiraten. Er meinte,<br />

Fräulein Gerlach wird seiner Tochter eine gute Mutter sein.<br />

11. Nach dem Gespräch mit ihrem Vater kam Lotte zu Irene<br />

Gerlach. Sie wollte mit ihr gut auskommen.<br />

12. Irene Gerlach wollte die Heirat beschleunigen und das<br />

Kind in ein Internat stecken. Sie meinte, Lotte brauchte die<br />

strengste Erziehung.<br />

13. Resi ruft den Kapellmeister an und äsagte, dass Lotte<br />

plötzlich krank wurde.<br />

14. Der Hofrat untersuchte das Mädchen und sagte, dass<br />

das Kind eine schwere seelische Krise durchmacht.<br />

15. Die ganze Nacht verbrachte der Kapellmeister neben<br />

seiner Tochter.<br />

V. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Was machte Lotte in der Wohnung von Maler Gabele? Wie<br />

wollte Lotte dem Maler helfen?<br />

2. Was war Irene Gerlach und welche Pläne hatte sie gegen<br />

den Kapellmeister?<br />

3. Warum war das Kind als Hindernis im Wege von Irene<br />

Gerlach?<br />

4. Was ist im Atelier passiert? Warum war Irene unzufrieden?<br />

5. Warum wollte Ludwig Palfy sein Leben andern? Warum<br />

war Lotte dagegen?<br />

6. Wozu kam Lotte Fräulein Gerlach zu Besuch? Worüber<br />

sprachen sie?<br />

7. Was ist mit Lotte am Abend geschehen? Spielte Lotte<br />

krank?<br />

8. Warum verbrachte der Vater die ganze Nacht neben der<br />

Tochter?<br />

VI. Übersetzen Sie ins Deutsche, dabei gebrauchen Sie<br />

den aktiven Wortschatz:<br />

Отец решил <strong>по</strong>говорить с дочерью. Дело касается важного<br />

и серьезного вопроса. Он нервничал, ходил взад и вперед и<br />

злился на себя. Короче говоря, он собирается изменить свою<br />

жизнь. Он решил снова жениться, а дочь быстро привыкнет<br />

к новому <strong>по</strong>ложению. Он <strong>по</strong>лагал, что его дочь – самый разумный<br />

ребенок на свете. Ирена убеждена, что они <strong>по</strong>ладят<br />

друг с другом и должны приложить к этому старание. Лотта<br />

очнулась от своего оцепенения. Что делать? Она принесла<br />

телефонный справочник и дрожащими руками листала. Ей<br />

нужно <strong>по</strong>говорить с Иреной Герлах. Она не должна выходить<br />

замуж за ее отца. Это уж слишком! Эта маленькая бестия<br />

запрещает стать женой ее отца. Необходимо ускорить замужество.<br />

А затем сразу нужно отправить ребенка в интернат!<br />

Здесь может <strong>по</strong>мочь только строжайшее воспитание.<br />

VII. Diskutieren Sie!<br />

1. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.<br />

2. Alte Liebe rostet nicht.<br />

3. Liebe macht blind.<br />

4. Vor der Hochzeit pflückt sie Rosen, nach der Hochzeit<br />

flickt sie Hosen.<br />

66 67


NEUNTES KAPITEL<br />

Der Chefredakteur der illustrierten Zeitschrift, Herr Bernau,<br />

stöhnt laut. «Schwere Zeit, meine Liebe! Wo sollen wir ein aktuelles<br />

Titelbild hernehmen?»<br />

Frau Körner, die an seinem Schreibtisch steht, sagt: «Man<br />

hat uns Fotos von der neuen Meisterin im Brustschwimmen<br />

geschickt.»<br />

«Ist sie hübsch?»<br />

Die junge Frau lächelt. «Fürs Schwimmen reicht es!»<br />

Herr Bernau kramt auf dem Tisch. «Ich habe neulich von<br />

einem Dorffotografen mehrere Fotos gekriegt. Zwillinge waren<br />

darauf!» Er wählt zwischen Mappen und Zeitungen. «Zwei reizende<br />

kleine Mädchen! Zum Schließen ähnlich! He, wo seid ihr<br />

denn, ihr kleinen Mädchen? So etwas gefällt dem Publikum<br />

immer. Eine nette Unterschrift dazu. Wenn wir schon nichts<br />

Aktuelles für das Titelbild finden können, dann sollen es eben<br />

diese hübschen Zwillinge sein! Na endlich!» Er hat das Kuvert<br />

mit den Fotos entdeckt, schaut die Bilder an und nickt zufrieden.<br />

Dann reicht er Frau Körner die Fotos.<br />

Nach einiger Zeit blickt er schließlich hoch, weil seine Mitarbeiterin<br />

nichts sagt. «Nanu!» ruft er. «Körner! Was ist mit Ihnen?<br />

Vielleicht ist Ihnen schlecht geworden?»<br />

«Ein bisschen, Herr Bernau!» Ihre Stimme schwankt. «Es<br />

geht schon wieder.» Sie starrt auf die Fotos. Sie liest die Absenderanschrift:<br />

«Josef Kramer, Fotograf, Seebühl am See.»<br />

In ihrem Kopf dreht sich alles.<br />

«Vielleicht sollen wir das Foto doch nicht bringen», sagt sie.<br />

«Und warum nicht, hochgeschätzte Kollegin?»<br />

«Ich denke, die Aufnahmen sind nicht echt.»<br />

«Zusammenkopiert, was?» Herr Bernau lacht. «Da tun Sie<br />

dem Herrn Kramer zu viel Ehre an. So geschickt ist er nicht.<br />

Also, rasch ans Werk! Dichten Sie eine nette Unterschrift bismorgen.»<br />

Er nickt und beugt sich über neue Arbeit.<br />

Sie tastet sich hin über in ihr Zimmer, sinkt in ihren Sessel,<br />

legt die Fotos vor sich hin und presst die Hände an die<br />

Schläfen.<br />

Die Gedanken fahren in ihrem Kopfe Karussell. Ihre beiden<br />

Kinder! Das Kinderheim! Die Ferien! Natürlich! Aber, warum<br />

hat Lottchen nichts davon erzählt? Warum hat Lottchen die<br />

Bilder nicht mitgebracht? Oh, die beiden haben entdeckt, dass<br />

sie Geschwister sind! Und dann haben sie beschlossen, nichts<br />

darüber zu sagen. Mein Gott, wie sie einander ähnlich sind!<br />

Nicht einmal das vielgespriesene Mutterauge… Oh, ihr meine<br />

beiden, beiden Lieblinge!<br />

Über ihr Gesicht strömen Tränen, Tränen des Glückes und<br />

Tränen des Schmerzes. Wie gut, dass Herr Bernau in diesem<br />

Augenblick den Kopf nicht durch die Tür steckt.<br />

Frau Körner reißt sich zusammen. Gerade jetzt heißt es,<br />

den Kopf oben zu behalten. Was soll geschehen? Was wird,<br />

was muss geschehen? ,Ich werde mit Lottchen reden!’ denkt<br />

sie.<br />

Eiskalt durchfährt es die Mutter! Ein Gedanke schüttelt wie<br />

eine unsichtbare Hand ihren Körper hin und her: Ist es denn<br />

Lotte, mit der sie sprechen will?<br />

68 69<br />

***<br />

Frau Körner hat Fräulein Linnekogel, die Lehrerin, in der<br />

Wohnung aufgesucht.<br />

«Das ist eine mehr als merkwürdige Frage, die Sie an mich<br />

stellen», sagt Fräulein Linnekogel. «Ob ich für möglich halte,<br />

dass Ihre Tochter nicht Ihre Tochter, sondern ein anderes<br />

Mädchen ist? Erlauben Sie, aber…»<br />

«Nein, ich bin nicht verrückt», sagt Frau Körner und legt<br />

eine Fotografie auf den Tisch.<br />

Fräulein Linnekogel schaut das Bild an. Dann die Besucherin.<br />

Dann wieder das Bild.<br />

«Ich habe zwei Töchter», sagt die Besucherin leise. «Die zweite<br />

lebt bei meinem ehemaligen Mann in Wien. Das Bild kam mir<br />

vor einigen Stunden durch einen Zufall in die Hände. Ich wusste<br />

nicht, dass sich die Kinder in den Ferien begegnet sind.»<br />

Fräulein Linnekogel macht den Mund auf und zu wie ein<br />

Karpfen auf dem Ladentisch. Kopfschüttelnd schiebt sie die Fotografie<br />

von sich weg. Endlich fragt sie: «Und die beiden haben<br />

bis dahin nichts voneinander gewusst?»<br />

Die junge Frau schüttelt den Kopf. «Nein. Mein Mann und<br />

ich haben es damals so beschlossen. Wir dachten, dass es so<br />

am besten ist.»<br />

«Und auch Sie haben von Ihrem Mann und Ihrem anderen<br />

Kind nie wieder gehört?»<br />

«Nie.»<br />

«Hat er wieder geheiratet?»


«Ich weiß es nicht. Ich glaube kaum. Er meinte, dass er sich<br />

nicht fürs Familienleben eignet.»<br />

«So eine Geschichte», sagt die Lehrerin. «Sind die Kinder wirklich<br />

auf die Idee gekommen, einander auszutauschen? Wenn<br />

ich an Lottchens charakteristische Wandlung denke… Und<br />

dann die Schrift, Frau Körner, die Schrift! Das erklärt manches.»<br />

Die Mutter nickt und schaut starr vor sich hin.<br />

«Nehmen Sie mir meine Offenheit nicht übel!», meint Fräulein<br />

Linnekogel. «Ich war nie verheiratet, ich bin Erzieherin und<br />

habe keine eigene Kinder, aber ich meine immer: Die verheirateten<br />

Frauen nehmen ihre Männer zu wichtig! Dabei ist nur<br />

eines wichtig: das Glück der Kinder!»<br />

Frau Körner lächelt schmerzlich. «Glauben Sie, dass meine<br />

Kinder glücklicher geworden wären, wenn ihre Eltern sich nicht<br />

getrennt hätten?»<br />

Fräulein Linnekogel sagt nachdenklich: «Ich mache Ihnen<br />

keinen Vorwurf. Sie sind noch heute sehr jung. Sie waren, als<br />

Sie heirateten, fast ein Kind. Sie werden Ihr Leben lang jünger<br />

sein, als ich jemals gewesen bin. Was für den einen richtig<br />

wäre, kann für den anderen falsch sein.»<br />

Frau Körner steht auf.<br />

«Und was werden Sie tun?» meint die Lehrerin.<br />

«Wenn ich das wüsste!» sagt die junge Frau.<br />

***<br />

Frau Körner kommt nach Hause. Brennende Neugier und<br />

kalte Angst streiten in ihrem Herzen, dass es ihr fast den Atem<br />

nimmt.<br />

Das Kind ist in der Küche. Topfdeckel klappern.<br />

«Heute riecht’s aber gut!» sagt die Mutter. «Was gibt’s<br />

denn?»<br />

«Schweinebraten mit Sauerkraut und Kartoffeln», ruft die<br />

Tochter stolz.<br />

«Wie schnell du das Kochen gelernt hast!» sagt die Mutter,<br />

scheinbar ganz harmlos.<br />

«Nicht wahr?» antwortet die Kleine fröhlich. «Ich hatte nie<br />

gedacht, dass ich…» Sie bricht entsetzt ab und beißt sich auf<br />

die Lippen. Jetzt nur die Mutter nicht ansehen!<br />

Die Mutter lehnt sich an die Tür und ist bleich. Bleich wie<br />

die Wand.<br />

Das Kind steht am offenen Küchenschrank und nimmt Ge-<br />

schirr heraus. Die Teller klappern wie bei einem Erdbeben.<br />

Da öffnet die Mutter mühsam den Mund und sagt: «Luise!»<br />

Krach!<br />

Die Teller liegen in Scherben auf dem Boden. Luise dreht<br />

sich um. Ihre Augen sind vor Schreck geweitet.<br />

«Luise!» wiederholt die Frau sanft und öffnet die Arme weit.<br />

«Mutter!»<br />

Das Kind hängt der Mutter am Halse und schluchzt leidenschaftlich.<br />

Die Mutter sinkt in die Knie und streichelt Luise mit zitternden<br />

Händen. «Mein Kind, mein liebes Kind!»<br />

Sie knien zwischen zerbrochenen Tellern. Auf dem Herd<br />

brennt der Schweinebraten an. Wasser läuft zischend aus den<br />

Töpfen in die Gasflammen.<br />

Die Frau und das kleine Mädchen merken von alledem<br />

nichts.<br />

70 71<br />

***<br />

Stunden sind vergangen. Luise hat geredet, und die Mutter<br />

ihr zugehört. Es war eine lange, wortreiche Geschichte, und es<br />

war eine kurze, wortlose Freisprechung – ein Blick, ein Kuss,<br />

mehr war nicht nötig.<br />

Jetzt sitzen sie auf dem Sofa. Da Kind hat sich eng, ganz eng<br />

an die Mutter geschmiegt, ach, ist das schön, endlich darf man<br />

die Wahrheit sagen!<br />

So leicht ist einem zumute! Man muss sich an der Mutter<br />

festklammern, damit man nicht plötzlich davonfliegt!<br />

«Ihr seid zwei schlaue kleine Mädchen!» meint die Mutter.<br />

Luise kichert vor lauter Stolz. (Ein Geheimnis hat sie<br />

allerdings immer noch nicht verraten: dass es da in Wien,<br />

wie Lotte ängstlich geschrieben hat, neuerdings ein gewisses<br />

Fräulein Gerlach gibt!)<br />

Die Mutter seufzt.<br />

Luise schaut sie besorgt an.<br />

«Nun ja», sagt die Mutter. «Aber was soll jetzt werden?<br />

Können wir tun, als sei nichts geschehen?»<br />

Luise schüttelt entschieden den Kopf. «Lottchen sehnt sich<br />

sicher sehr nach dir. Und du sehnst dich doch auch nach ihr,<br />

nicht wahr, Mutti?»<br />

Die Mutter nickt.<br />

«Und ich ja auch», gesteht das Kind. «Nach Lottchen und…»<br />

«Und nach deinem Vater?»


Luise nickt. Eifrig und schüchtern zugleich. «Und wenn ich<br />

nur wüsste, warum Lottchen nicht mehr schreibt?»<br />

«Ja», murmelt die Mutter. «Ich bin recht in Sorge.»<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 9. KAPITEL<br />

I. Wortschatz zum Auswendiglernen:<br />

1) das Titelbild<br />

2) zu viel Ehre antun (a,a) Dat.<br />

3) die Absenderanschrift<br />

4) echt sein<br />

5) die Unterschrift dichten (te,t)<br />

6) sich zusammen reißen<br />

7) den Kopf oben behalten (i,i)<br />

8) verrückt sein<br />

9) durch einen Zufall in die Hände kommen (a,o)<br />

10) die Offenheit<br />

11) keinen Vorwurf machen Dat.<br />

12) entsetzt abbrechen (a,o)<br />

13) in Scherben sein<br />

14) leidenschaftlich schluchzen (te,t)<br />

15) wortreich, wortlos<br />

16) die Wahrheit sagen<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

<strong>по</strong>лучить фотографии, вскрыть конверт, снимки, быть <strong>по</strong>разительно<br />

<strong>по</strong>хожими, бросать в дрожь, бывший муж, не годится<br />

для семейной жизни, носиться с кем-либо, с чем-либо,<br />

если бы я могла знать (!), служащий, быть внешне совершенно<br />

с<strong>по</strong>койной, прикусить губы, белая как стена, как во время<br />

землетрясения, расширились от страха, опуститься на<br />

колени, оправдание, облегчить душу, быть обес<strong>по</strong>коенной,<br />

тосковать <strong>по</strong> ком-либо или чем-либо.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie sie:<br />

1. Herr Bernau, der Chefredakteur der illustrierten Zeitschrift,<br />

hat von einem Dorffotografen mehrere Fotos gekriegt. Fotos von<br />

der neuen Meisterin im Brustschwimmen.<br />

2. Frau Körner dachte, die Aufnahmen von diesen Zwillingen<br />

zusammenkopiert war.<br />

3. Fräulein Linnekogel machte Frau Körner einen Vorwurf.<br />

Sie dachte, dass die verheirateten Frauen ihre Männer zu<br />

wichtig nehmen.<br />

4. Die Teller klappern wie bei einem Erdbeben und jetzt liegen<br />

sie in Scherben auf dem Boden.<br />

5. Auf dem Herd brennt der Schweinebraten an, aber die<br />

Frau und das kleine Mädchen sitzen auf dem Sofa. Luise<br />

erzählte und die Mutter hörte ihr zu.<br />

6. Lotte schrieb nicht und Luise war recht in Sorge.<br />

IV. Wer hat das gemacht? Wer hat…<br />

1. … das Kuvert mit den Fotos entdeckt, schaut die Bilder<br />

an und nickt zufrieden.<br />

2. … sich hinüber in Ihr Zimmer getastet, in Ihren Sessel<br />

gesunken, die Fotos vor sich gelegt und die Hände an die<br />

Schlafen gepresst.<br />

3. … entdeckt, dass sie Geschwister sind.<br />

4. … den Mut aufgemacht und zu wie ein Karpfen auf dem<br />

Ladentisch.<br />

5. … sich nicht fürs Familienleben geeignet.<br />

6.… schnell das Kochen gelernt.<br />

7. … in die Knie gesunken und Luise mit zitternden Händen<br />

gestreichelt.<br />

V. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Wessen Fotos wollte der Chefredakteur für das Titelbild<br />

bringen?<br />

2. Warum wurde Frau Körner schlecht?<br />

3. Worüber erzählte Frau Körner der Lehrerin Fräulein Linnekogel?<br />

4. Wie scherzte der Beamte für die postlagernden Sendungen?<br />

5. Womit war Luise zu Hause beschäftigt? Was ist in der<br />

Küche passiert?<br />

6. Was meinen Sie, worüber die Mutter und die Tochter<br />

sprachen?<br />

7. Warum war die Mutter in Sorge?<br />

72 73


ZEHNTES KAPITEL<br />

Lottchen liegt apathisch im Bett. Sie schläft. Sie schläft<br />

viel. «Schwäche», hat Hofrat Strobl heute Mittag gesagt. Der<br />

Herr Kapellmeister sitzt am Kinderbett und blickt ernst auf<br />

das kleine, schmale Gesicht hinunter. Er kommt seit mehreren<br />

Tagen nicht mehr aus dem Zimmer. In der Oper vertritt ihn ein<br />

anderer Dirigent. Man hat im Zimmer für ihn ein zweites Bett<br />

aufgestellt.<br />

Nebenan läutet das Telefon.<br />

Resi kommt auf Zehenspitzen ins Zimmer. «Ein Ferngespräch<br />

aus München!» flüstert sie.<br />

Er steht leise auf und befiehlt ihr, bei dem Kind zu bleiben.<br />

Dann schleicht er ins Nebenzimmer. München? Wer kann das<br />

sein? Wahrscheinlich die Konzertdirektion. Ach, sie sollen ihn<br />

gefälligst in Ruhe lassen!<br />

Er nimmt den Höher und meldet sich. «Herr Palfy!»<br />

«Hier Körner!» ruft eine Frauenstimme aus München.<br />

«Was?» fragt er verblüfft. «Wer? Luiselotte?»<br />

«Ja!» sagt die ferne Stimme. «Entschuldige, dass ich dich anrufe.<br />

Doch ich bin wegen des Kindes in Sorge. Ich hoffe, es ist<br />

nicht krank?»<br />

«Doch.» Er spricht leise. «Es ist krank!»<br />

«Oh!» die ferne Stimme klingt sehr erschrocken.<br />

Herr Palfy runzelt die Stirn: «Aber ich verstehe nicht, wieso<br />

du…»<br />

«Wir hatten so eine Ahnung, ich und… Luise!»<br />

«Luise?» Er lacht nervös. Dann lauscht er verwirrt und<br />

schüttelt den Kopf. Fährt sich aufgeregt durchs Haar.<br />

Die ferne Frauenstimme berichtet hastig, was man in solch<br />

einer Hast sagen kann.<br />

«Sprechen Sie noch?» erkundigt sich das Fräulein vom Amt.<br />

«Ja, zum Donnerwetter!» Der Kapellmeister schreit es. Man<br />

kann sich seinen Zustand einigermaßen vorstellen.<br />

«Was fehlt denn dem Kind?» fragt die besorgte Stimme seiner<br />

geschriebenen Frau.<br />

«Nervenfieber», antwortet er. «Die Krise ist vorbei, sagt der<br />

Arzt, aber die körperliche und seelische Erschöpfung sind sehr<br />

groß.»<br />

«Ein tüchtiger Arzt?»<br />

«Aber gewiss! Hofrat Strobl. Er kennt Luise schon von klein<br />

auf. Ach, entschuldige, es ist ja Lotte! Er kennt sie also nicht!»<br />

Er seufzt.<br />

Drüben in München seufzt eine Frau. Zwei Erwachsene sind<br />

ratlos. Ihre Zungen sind gelähmt. Und ihre Gehirne, scheint es,<br />

ihre Gehirne auch.<br />

In dieses gefährliche Schweigen hinein klingt eine wilde<br />

Kinderstimme. «Vati! Lieber, lieber Vati!» hallt es aus der Ferne.<br />

«Hier ist Luise! Vati, sollen wir nach Wien kommen? Ganz<br />

schnell?»<br />

Das erlösende Wort ist gesprochen. Die eisige Beklemmung<br />

der beiden Erwachsenen schmilzt. «Mein Liebling! Guten Tag!»<br />

ruft der Vater. «Das ist ein guter Gedanke!»<br />

«Nicht wahr?» Das Kind lacht glücklich.<br />

«Wann könnt ihr denn hier sein?» fragt er.<br />

Nun ertönt wieder die Stimme der jungen Frau. «Ich werde<br />

mich gleich erkundigen, wann morgen früh der erste Zug<br />

fährt.»<br />

«Nehmt doch ein Flugzeug!» schreit er. «Dann seid ihr schneller<br />

hier!» – ,Wie kann ich nur so schreien!’ denkt er. , Das Kind<br />

soll doch schlafen!’<br />

Als er ins Kinderzimmer zurückkommt, steht Resi von ihrem<br />

Platz am Bett auf und will weggehen.<br />

«Resi!» flüstert er.<br />

Sie bleiben beide stehen.<br />

«Morgen kommt meine Frau.»<br />

«Ihre Frau?»<br />

«Pst! Nicht so laut! Meine ehemalige Frau! Lottchens Mutter!»<br />

«Lottchens?»<br />

Er winkt lächelnd ab. Woher soll sie’s denn wissen? «Luise<br />

kommt auch mit!»<br />

«Wieso? Da liegt sie doch, die Luise!»<br />

Er schüttelt den Kopf. «Nein, das ist der Zwilling.»<br />

«Zwilling?» Die Familienverhältnisse des Herrn Kapellmeisters<br />

wachsen der armen Frau über den Kopf.<br />

«Sorgen Sie dafür, dass wir etwas zu essen haben! Über andere<br />

Fragen sprechen wir noch.»<br />

Der Vater betrachtet das schlafende Kind. Er trocknet ihm<br />

die feuchte Stirn mit einem Tuch ab.<br />

Das ist nun also die andere kleine Tochter! Sein Lottchen!<br />

Welche Tapferkeit und welche Willenskraft erfüllten dieses<br />

Kind, bevor Krankheit und Verzweiflung es niederwarfen! Vom<br />

Vater hat es diesen Heldenmut wohl nicht. Von wem?<br />

74 75


Von der Mutter?<br />

Wieder läutet das Telefon.<br />

Resi steckt den Kopf ins Zimmer. «Fräulein Gerlach!»<br />

Herr Palfy schüttelt den Kopf, ohne sich umzuwenden.<br />

***<br />

Frau Körner erhält vom Herrn Bernau wegen «dringender<br />

Familienangelegenheiten» Urlaub. Sie telefoniert mit dem<br />

Flugplatz und bekommt für morgen früh zwei Flugplätze. Dann<br />

packt sie einen Koffer. Sie nimmt nur das Notwendigste mit.<br />

Die Nacht scheint endlos. Aber auch Nächte, die endlos<br />

scheinen, vergehen.<br />

***<br />

Als am nächsten Morgen der Herr Hofrat Strobl, von Peperl<br />

begleitet, vor dem Haus in der Rotenturmstraße ankommt, fährt<br />

gerade ein Taxi vor.<br />

Ein kleines Mädchen steigt aus dem Auto – und schon springt<br />

Peperl wie besessen an dem Kind hoch. Er bellt, er dreht sich<br />

wie ein Kreisel, er springt wieder hoch.<br />

«Guten Tag, Peperl! Guten Tag, Herr Hofrat!»<br />

Der Herr Hofrat vergisst vor Verwunderung, den Gruß zu<br />

erwidern. Plötzlich läuft er auf das Kind zu und schreit:<br />

«Bist du denn völlig verrückt? Marsch ins Bett!»<br />

Luise und der Hund sausen ins Haustor.<br />

Eine junge Frau steigt aus dem Auto.<br />

«Das Kind kann sich ja den Tod holen!» schreit der Herr Hofrat<br />

empört.<br />

«Es ist nicht das Kind, das Sie meinen», sagt die junge Dame<br />

freundlich. «Es ist die Schwester.»<br />

***<br />

Resi öffnet die Korridortür. Draußen steht Peperl mit einem<br />

Kind.<br />

«Guten Tag, Resi!» ruft das Kind und stürzt mit dem Hund<br />

ins Kinderzimmer. Die Haushälterin steht wie angewurzelt da<br />

und schlägt ein Kreuz.<br />

Dann kommt der alte Hofrat die Stufen empor. Er kommt<br />

mit einer bildhübschen Frau, die einen Reisekoffer trägt.<br />

«Wie geht es Lottchen?» fragt die junge Dame hastig.<br />

«Etwas besser, glaub’ ich», meint die Resi. «Darf ich Ihnen<br />

den Weg zeigen?»<br />

«Danke. Ich kenne den Weg!» Und schon ist die Fremde im<br />

Kinderzimmer verschwunden.<br />

«Mutti!» flüstert Lotte. Sie kann ihre Augen von der Mutter<br />

nicht abwenden. Die junge Frau streichelt wortlos die heiße<br />

Kinderhand. Sie kniet am Bett nieder und nimmt das zitternde<br />

Geschöpf in die Arme.<br />

Luise schaut blitzschnell zum Vater hinüber, der am Fenster<br />

steht. Dann tritt sie an Lottchens Bett, klopft die Kissen,<br />

wendet sie um. Jetzt ist sie die kleine Hausfrau. Sie hat’s ja<br />

inzwischen gelernt!<br />

Der Herr Kapellmeister mustert die drei mit einem verstohlenen<br />

Seitenblick. Die Mutter mit ihren Kindern. Seine Kinder<br />

sind es ja natürlich auch! Und die junge Mutter war vor Jahren<br />

sogar einmal seine Frau! Versunkene Tage, vergessene Stunden<br />

tauchen vor ihm auf. Lang, lang ist’s her.<br />

Peperrl liegt wie vom Donner gerührt am Fußende des Bettes<br />

und blickt immer wieder von dem kleinen Mädchen zum<br />

anderen. Da klopft es.<br />

Die vier Menschen im Zimmer erwachen wie aus einem seltsamen<br />

Schlaf. Der Herr Hofrat tritt ein. Am Bett macht er halt.<br />

«Wie geht’s dem Patienten?»<br />

«Gu-ut», sagt Lottchen und lächelt müde.<br />

«Haben wir heute endlich Appetit?» brummt er.<br />

«Wenn Mutti kocht», flüstert Lottchen.<br />

Mutti nickt und geht ans Fenster. «Entschuldige, Ludwig,<br />

dass ich dir erst jetzt guten Tag sage!»<br />

Der Kapellmeister drückt ihr die Hand. «Ich danke dir<br />

vielmals, dass du gekommen bist.»<br />

«Aber ich bitte dich! Das war doch selbstverständlich! Das<br />

Kind…»<br />

«Freilich, das Kind», erwidert er. «Trotzdem!»<br />

«Du siehst aus, als hättest du seit Tagen nicht geschlafen»,<br />

meint sie.<br />

«Ich werde es nachholen. Ich hatte Angst um… um das Kind!»<br />

«Es wird bald wieder gesund sein», sagt die junge Frau. «Ich<br />

fühle es.»<br />

Am Bett wispern die Kinder. Luise beugt sich dicht an<br />

Lottchens Ohr. «Mutti weiß nichts von Fräulein Gerlach. Wir<br />

dürfen’s ihr auch nie sagen!» Lottchen nickt ängstlich.<br />

Der Herr Hofrat kann das Gespräch nicht hören, weil er das<br />

Thermometer prüft.<br />

76 77


«Die Temperatur ist fast normal», sagt er. «Du bist überm<br />

Berg! Herzlichen Glückwunsch, Luise!»<br />

«Danke schön, Herr Hofrat», antwortet die richtige Luise.<br />

«Oder meinen Sie mich?» fragt Lottchen und lacht vorsichtig.<br />

Der Kopf tut dabei noch weh.<br />

«Ihr seid mir ein Paar Intriganten!» knurrt er. «Sogar meinen<br />

Peperl habt ihr an der Nase herumgeführt!» Er hustet energisch,<br />

steht auf und sagt: «Komm, Peperl, reiß dich von den beiden<br />

Mädchen los!»<br />

Peperl wedelt mit dem Schwanz. Dann schmiegt er sich an<br />

den Hofrat, der soeben dem Herrn Kapellmeister Palfy erklärt:<br />

«Eine Mutter, das ist eine Medizin! Die kann man nicht in der<br />

Apotheke holen!» Er wendet sich an die junge Frau: «Werden Sie<br />

solange wieder können, bis Luise – Verzeihung! – bis Lottchen<br />

wieder völlig gesund ist?»<br />

«Wahrscheinlich, Herr Hofrat, und ich möchte es auch.»<br />

«Na, also», meint der alte Herr. «Der Exgemahl wird sich damit<br />

schon abfinden.»<br />

Palfy öffnet den Mund.<br />

«Lassen Sie nur», sagt der Hofrat spöttisch. «Das Künstlerherz<br />

wird Ihnen natürlich bluten. Soviel Leute in der Wohnung! Aber<br />

nur Geduld, bald werden Sie wieder ganz allein sein.»<br />

Er hat’s heute in sich, der Hofrat! Die Tür öffnet er so rasch,<br />

dass Resi, die draußen horcht, am Kopf eine Beule kriegt.<br />

«Mit einem sauberen Messer drücken!» empfiehlt er.<br />

«Ist schon gut. Der Ratschlag kostet nichts», antwortet<br />

Resi.<br />

***<br />

Der Abend hat sich auf die Erde herabgesenkt. In Wien wie<br />

anderswo auch. Im Kinderzimmer ist es still. Luise schläft. Lotte<br />

schläft auch.<br />

Frau Körner und der Kapellmeister haben bis vor wenigen<br />

Minuten im Wohnzimmer gegessen. Sie haben manches<br />

besprochen, und sie haben noch mehr «beschwiegen». Dann ist<br />

Palfy aufgestanden und hat gesagt: «So! Nun muss ich gehen!»<br />

Dabei ist er sich etwas komisch erschienen. Er flieht ja aus der<br />

eigenen Wohnung!<br />

Sie bringt ihn bis zur Korridortür.<br />

Er zögert. «Wenn es wieder schlimmer wird – ich bin im Atelier.»<br />

«Mach dir keine Sorgen!» sagt sie zuversichtlich. «Vergiß lieber<br />

nicht, dass du viel Schlaf nachzuholen hast.»<br />

Er nickt. «Gute Nacht!»<br />

«Gute Nacht!»<br />

Während er langsam die Treppe hinabsteigt, ruft sie leise:<br />

«Ludwig!» Er dreht sich fragend um.<br />

«Kommst du morgen zum Frühstück?»<br />

«Ich komme!»<br />

Als sie die Tür verschlossen und die Kette vorgehängt hat,<br />

bleibt sie noch eine Weile stehen. Er ist älter geworden. Fast sieht<br />

er schon wie ein richtiger Mann aus, ihr ehemaliger Mann!<br />

Dann wirft sie den Kopf zurück und geht, den Schlaf ihrer<br />

und seiner Kinder mütterlich zu bewachen.<br />

78 79<br />

***<br />

Eine Stunde später steigt, vor einem Haus in der<br />

Kärtnerstraße, eine junge, elegante Dame aus dem Auto. Sie<br />

spricht mit dem mürrischen Portier.<br />

«Der Herr Kapellmeister?» brummet er. «Ich weiß nicht, ob<br />

er im Atelier ist.»<br />

«Im Atelier ist aber Licht», sagt sie. «Also ist er da! Hier!» Sie<br />

drückt ihm Geld in die Hand und eilt, an ihm vorbei, zur Treppe.<br />

Er betrachtet den Geldschein und geht in seine Wohnung<br />

zurück.<br />

«Du?» fragt Ludwig Palfy oben an der Tür.<br />

«Erraten!» bemerkt Irene Gerlach böse und tritt ins Atelier.<br />

Sie setzt sich, zündet sich eine Zigarette an und betrachtet den<br />

Mann prüfend. Er sagt nichts.<br />

«Warum kommst du nicht zum Telefon?» fragt sie. «Findest<br />

du das sehr geschmackvoll?»<br />

«Ich war nicht fähig, mit dir zu sprechen. Mir war nicht danach<br />

zumute. Das Kind war schwer krank.»<br />

«Aber jetzt geht es ihm wohl besser. Sonst warst du doch in<br />

der Rotenturmstrasse.»<br />

Er nickt. «Ja, es geht ihm besser. Außerdem ist meine Frau<br />

dort.»<br />

«Wer?»<br />

«Meine Frau. Meine ehemalige Frau. Sie kam heute Morgen<br />

mit dem anderen Kind.»<br />

«Mit dem anderen Kind?» fragt die junge, elegante Frau.<br />

«Ja, es sind Zwillinge. Erst war Luise bei mir. Seit Ferienschluss<br />

dann das andere Mädchen. Doch das hab’ ich gar nicht bemerkt.<br />

Ich weiß es erstä seit gestern.»


Die Dame lacht böse. «Deine Geschiedene hat das lustig organisiert.»<br />

«Sie weiß es auch erst seit gestern», sagt er ungeduldig.<br />

Irene Gerlach verzieht ironisch die Lippen. «Die Situation<br />

ist pikant, nicht wahr? In der einen Wohnung sitzt eine Frau,<br />

mit der du nicht mehr verheiratet bist, und in der anderen<br />

Wohnung – eine Frau, mit der du noch nicht verheiratet bist.»<br />

Ihn packt der Ärger. «Es gibt viel mehr Wohnungen, wo Frauen<br />

sitzen, mit denen ich noch nicht verheiratet bin!»<br />

«Oh!» Sie erhebt sich. «Witzig kannst du auch sein?»<br />

«Entschuldige, Irene, ich bin nervös!»<br />

«Entschuldige, Ludwig, ich auch!»<br />

Bums! Die Tür ist zu, und Fräulein Gerlach ist gegangen.<br />

Nachdem Herr Palfy einige Zeit auf die Tür gestarrt hat,<br />

wandert er zum Flügel, blättert die Noten zu seiner Kinderoper<br />

durch und setzt sich vor die Tasten.<br />

Eine Weile spielt er vom Blatt. Dann moduliert er. Und<br />

langsam, ganz langsam entsteht eine Melodie. Eine Melodie, so<br />

einfach und herzgewinnend!<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 10. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, schreiben Sie die<br />

Sätze aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie<br />

diese Sätze ins Russische:<br />

1) verblüfft sein<br />

2) eine Ahnung haben<br />

3) die Hast, hastig<br />

4) von klein auf<br />

5) ratlossein<br />

6) die Tapferkeit<br />

7) die Willenskraft<br />

8) das Notwendigste mitnehmen<br />

9) sich wie ein Kreisel drehen<br />

10) vor Verwunderung vergessen<br />

11) sich den Tod holen<br />

12) ein Kreuzschlagen<br />

13) die Kissenklopfen<br />

14) mustern (te,t)<br />

15) auftauschen vor Dat.<br />

16) überm Berg sein<br />

17) der Exgemahl<br />

18) die Kette vorhangen (te,t)<br />

19) witzigsein<br />

20) modulieren (te,t)<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

морщить лоб, звучать испуганно, да черт возьми (!), ледяная<br />

скованность, семейные дела, не терпящим отлагательства,<br />

душевное истощение, как одержимый, стоять как вкопанный,<br />

словно <strong>по</strong>раженный громом, вилять хвостом, на голове<br />

шишка, шептаться, <strong>по</strong>коряя сердца, провести кого-либо,<br />

быть в ударе.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie<br />

sie:<br />

1. Hofrat Strobl kam seit mehreren Tagen nicht mehr aus<br />

dem Kinderzimmer.<br />

2. Das Telefon läutete, aber der Herr Kapellmeister blieb am<br />

Kinderbett. Resi nahm den Hörer.<br />

3. Die Krise war vorbei, aber die körperliche und seelische<br />

Erschöpfung waren sehr groß.<br />

4. Als der Kapellmeister ins Kinderzimmer zurückkam, saß<br />

Resi am Bett.<br />

5. Die Familienverhältnisse des Herrn Kapellmeisters wuchsen<br />

Resi über den Kopf.<br />

6. Frau Körner erhielt vom Herrn Bernau Urlaub und bekam<br />

für abends spät zwei Flugplätze.<br />

7. Aus dem Taxi stieg Lotte und der Herr Hofrat sagte, dass<br />

sie ins Bett gehen sollte.<br />

8. Herr Hofrat kam mit einer bildhübschen Frau und trug<br />

ihren Reisekoffer.<br />

9. Peperl lag wie vom Donner gerührt am Fußende des Bettes<br />

und blickte immer wieder von dem einen kleinen Mädchen<br />

zum anderen.<br />

10. Der Herr Palfywollte sich mit Irene Gerlach am Abend<br />

treffen, deshalb kam er ins Atelier.<br />

11. Nachdem Fräulein Gerlach gegangen ist, wanderte Herr<br />

Palfy zum Flügel, blätterte die Noten zu seiner Kinderoper<br />

durch.<br />

80 81


IV. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Warum vertrat ein anderer Dirigent in der Oper Herrn<br />

Palfy?<br />

2. Worüber erfuhr Herr Palfy aus dem Ferngespräch?<br />

3. Warum wuchsen die Familienverhältnisse des Herrn Kapellmeisters<br />

Resi über den Kopf?<br />

4. Wie benahm sich Peperl bei Luises Erscheinung? Warum<br />

war der Herr Hofrat empört?<br />

5. Wie reagierte Resi an Luise?<br />

6. Wie beeinflusste der Ankunft der Mutter auf Lottes<br />

Zustand?<br />

7. Was meinen Sie, worüber die Schwestern am Bett wisperten?<br />

8. Womit wurde sich der Herr Palfy abfinden?<br />

9. Was für einen Ratschlag gab der Herr Hofrat der<br />

Haushalterin? Warum?<br />

10. Warum war Herr Palfy im Atelier nervös?<br />

ELFTES KAPITEL<br />

Die Zeit, die, wie man weiß, Wunden heilt, heilt auch<br />

Krankheiten. Lottchen ist wieder gesund. Sie trägt auch wieder<br />

ihre Zöpfe und Zopfschleifen. Und Luise hat wie einst ihre<br />

Locken, und sie schüttelt sie nach Herzenslust.<br />

Sie helfen der Mutter und Resi beim Einkaufen und in der<br />

Küche. Sie spielen gemeinsam im Kinderzimmer. Sie singen<br />

zusammen, während Lottchen oder Vati am Klavier sitzt. Sie<br />

besuchen Herrn Gabele in der Nachbarwohnung. Oder sie<br />

führen Peperl aus, wenn der Herr Doktor Sprechstunde hat.<br />

Und manchmal, ja da schauen sich die Schwestern ängstlich<br />

in die Augen. Was wird werden?<br />

82 83<br />

***<br />

Am 14. Oktober haben die beiden Madchen Geburtstag. Sie<br />

sitzen mit den Eltern im Kinderzimmer. Zwei Geburtstagskuchen<br />

stehen da, jeder mit zehn brennenden Lichtern. Vati hat<br />

einen wunderschönen «Geburtstagsmarsch für Zwillinge» gespielt.<br />

Nun dreht er sich auf dem Klavierschemel herum und<br />

fragt: «Warum dürfen wir euch eigentlich nichts schenken?»<br />

Lottchen holt tief Atem und sagt: «Weil wir uns etwas<br />

wünschen wollen, was man nicht kaufen kann!»<br />

«Was wünscht ihr euch denn?» fragt die Mutti.<br />

Nun ist Luise an der Reihe, tief Atem zu holen. Dann erklärt<br />

sie, aufgeregt: «Lotte und ich wünschen uns von euch zum<br />

Geourtstag, dass wir von jetzt ab immer zusammenbleiben<br />

dürfen!» Endlich hat sie das ausgesprochen.<br />

Die Eltern schweigen.<br />

Lotte sagt ganz leise: «Dann braucht ihr uns auch nie im Leben<br />

wieder etwas zu schenken! Zu keinem Geburtstag mehr.»<br />

Die Eltern schweigen noch immer.<br />

«Ihr könnt es doch wenigstens versuchen!» Luise hat Tränen<br />

in den Augen. «Wir werden bestimmt gut folgen. Noch viel mehr<br />

als jetzt. Und es wird überhaupt alles viel, viel schöner werden!»<br />

Lotte nickt. «Das versprechen wir euch!»<br />

«Unser Ehrenwort», fügt Luise hastig hinzu.<br />

Der Vater steht vom Klaviersessel auf. «Hast du nichts


dagegen, Luiselotte, wenn wir ein paar Worte miteinander<br />

sprechen?»<br />

«Nein, Ludwig», erwidert seine ehemalige Frau. Und nun gehen<br />

die zwei ins Nebenzimmer. Die Tür schließt sich hinter<br />

ihnen.<br />

«Daumen drücken!» flüstert Luise aufgeregt. Vier kleine Daumen<br />

werden von vier kleinen Händchen fest gedrückt.<br />

«Wir dürfen nicht an uns denken, sondern an die Kinder».<br />

Sagt jetzt Palfy nebenan und schaut dabei auf den Fußboden.<br />

«Zweifellos wäre es besser, die Kinder nicht zu trennen.»<br />

«Bestimmt», meint die junge Frau.<br />

Er schaut noch immer auf den Fußboden. «Wir haben<br />

vieles gutzumachen.» Er räuspert sich. «Ich bin also damit<br />

einverstanden, dass du… dass du beide Kinder zu dir nach<br />

München nimmst.»<br />

Sie greift sich ans Herz.<br />

«Vielleicht», fährt er fort, «erlaubst du, dass sie mich im Jahr<br />

vier Wochen besuchen?» Als sie nicht erwidert, meint er: «Oder<br />

drei Wochen? Oder vierzehn Tage wenigstens? Denn obwohl du<br />

es nicht glauben wirst, ich habe die beiden sehr lieb.»<br />

«Warum soll ich dir denn das nicht glauben?» sagt sie.<br />

Er zuckt die Achseln. «Ich habe es zu wenig bewiesen!»<br />

«Doch! An Lottchens Krankenbett!» sagt sie. «Und woher<br />

willst du wissen, dass die beiden glücklich wurden, wenn sie<br />

ohne Vater aufwachsen?»<br />

«Ohne dich ginge es doch erst recht nicht!»<br />

«Ach, Ludwig, hast du wirklich nicht gemerkt, wonach sich<br />

die Kinder sehnen und was sie nur nicht aussprechen?»<br />

«Natürlich hab ich’s gemerkt!» Er tritt ans Fenster.<br />

«Natürlich weiß ich, was sie wollen! Sie wollen, dass auch du<br />

und ich zusammenbleiben!»<br />

«Vater und Mutter wollen sie haben, unsere Kinder! Ist das<br />

unbescheiden?» fragt die junge Frau forschend.<br />

«Nein! Aber es gibt auch bescheidene Wünsche, die nicht<br />

erfüllbar sind!»<br />

Er steht am Fenster wie ein Junge, der in die Ecke gestellt<br />

wurde und der aus Trotz nicht wieder hervorkommen will.<br />

«Warum nicht erfüllbar?»<br />

Überrascht wendet er sich um! «Das fragst du mich? Nach<br />

allem, was war?»<br />

Sie schaut ihn ernst an und nickt, kaum merklich. Dann<br />

sagt sie: «Ja! Nach allem, was war!»<br />

Luise steht an der Tür und presst ein Auge ans Schlüsselloch.<br />

Lotte steht daneben und halt beide kleinen Fäuste weit von<br />

sich.<br />

«Oh, oh, oh!» murmelt Luise. «Vati gibt Mutti einen Kuss!»<br />

Lottchen schiebt, ganz gegen ihre Gewohnheit, die Schwester<br />

unsanft beiseite und starrt selbst durchs Schlüsselloch.<br />

«Nun?» fragt Luise. «Nun immer?»<br />

«Nein», flüstert Lottchen und richtet sich strahlend hoch.<br />

«Jetzt gibt Mutti Vati einen Kuss!»<br />

Da fallen sich die Zwillinge jauchzend in die Arme.<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 11. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, lesen Sie die Sätze<br />

aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie diese<br />

Sätze ins Russische:<br />

1) die Wunde heilen (te,t)<br />

2) nach Herzenslust machen Akk.<br />

3) die Sprechstunde haben<br />

4) sich in die Augen schauen (te,t)<br />

5) Atem tief holen (te,t)<br />

6) aussprechen (a,o), versprechen Dat.<br />

7) das Ehrenwort geben (a,e)<br />

8) die Daumen drücken (te,t)<br />

9) zweifellos sein<br />

10) sich ans Herz greifen (i,i)<br />

11) erlauben (te,t)<br />

12) die Achseln zucken (te,t)<br />

13) (un)bescheiden sein<br />

14) (nicht) erfüllbarsein<br />

15) in die Ecke stellen (te,t)<br />

16) das Schlüsselloch<br />

17) einen Kuss geben (a,e)<br />

II. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Kapitels entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie<br />

sie:<br />

1. Frau Körner kam mit Lotte nach München zurück, denn<br />

ihr Urlaub war zu Ende.<br />

2. Die Zwillinge halfen der Mutti und Resi beim Einkaufen<br />

und in der Küche.<br />

84 85


3. Die beiden Mädchen führten Peperl aus, wenn der Herr<br />

Doktor Sprechstunden hatte.<br />

4. Am 13. Oktober hatten die beiden Mädchen Geburtstag<br />

und saßen mit den Eltern im Hotel «Imperial».<br />

5. Die Zwillinge wünschten sich von den Eltern zum<br />

Geburtstag immer zusammenzubleiben.<br />

6. Die Mädchen gaben den Eltern das Ehrenwort, bestimmt<br />

gut zu folgen und alles viel und viel schöner zu werden.<br />

7. Herr Palfy war einverstanden, dass Frau Körner die beide<br />

Kinder zu ihr nach München nahm.<br />

8. Die Kinder pressten ans Schlüsselloch, wie der Vater ihre<br />

Mutter einen Kuss gab und sich in die Arme fielen.<br />

III. Stellen Sie mehrere Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich.<br />

IV. Beantworten Sie die Fragen und diskutieren Sie.<br />

1. Welche Vorstellungen haben Sie von einer guten Familie?<br />

2. Wie stellen Sie sich eine harmonische Ehe?<br />

3. Was versteht man unter der offenen Ehe?<br />

4. Ist das Beispiel der Eltern wichtig?<br />

ZWÖLFTES KAPITEL<br />

Herr Benno Grawunder, ein alter erfahrener Beamter im<br />

Standesamt Wiens, nimmt eine Trauung vor. Diese Trauung<br />

bringt ihn ein bisschen aus der Fassung. Die Braut ist die<br />

ehemalige Frau des Bräutigams. Die beiden zum Verwechseln<br />

ähnlichen zehnjährigen Mädchen sind die Kinder des<br />

Brautpaars. Der eine Trauzeuge, ein Kunstmaler namens<br />

Anton Gabele, hat keinen Schlips um. Dafür hat der andere<br />

Zeuge, Doktor Strobl, einen Hund! Und der Hund hat im<br />

Vorzimmer, wo er eigentlich bleiben sollte, einen solchen Lärm<br />

gemacht, dass man ihn hereinholen musste. Und so nahm<br />

auch er an der standesamtlichen Trauung teil. Ein Hund als<br />

Trauzeuge! Nein, so was!<br />

Lottchen und Luise sitzen auf ihren Stühlen und sind<br />

glücklich wie die Schneekönige. Und sie sind nur glücklich,<br />

sondern auch stolz! Denn sie selber sind ja an dem herrlichen,<br />

unfassbaren Glück schuld! Es war gar nicht leicht, dieses Glück<br />

zu erkämpfen. Abenteuer, Tränen, Angst, Lügen, Verzweiflung,<br />

Krankheit – alles war gewesen!<br />

Nach der Zeremonie flüstert Herr Gabele mit Herrn Palfy.<br />

Dabei zwinkern die beiden einander geheimnisvoll zu. Aber warum<br />

sie flüstern und zwinkern, weiß außer ihnen niemand.<br />

Palfy wendet sich an seine Frau und sagt: «Ich habe eine<br />

gute Idee! Weißt du was? Wir fahren zunächst in die Schule<br />

und melden Lotte an!»<br />

86 87<br />

***<br />

Herr Kilian, der Direktor der Mädchenschule, ist sehr erstaunt,<br />

als Kapellmeister Palfy und seine Frau eine zweite Tochter<br />

anmelden, die der ersten aufs Haar gleich. Aber er hat als alter<br />

Schulmann manches erlebt, was nicht weniger merkwürdig<br />

war.<br />

Er hat die neue Schülerin ordnungsgemäß in ein großes Buch<br />

eingetragen, dann lehnt er sich gemütlich im Schreibtischsessel<br />

zurück und sagt: «Als ich ein junger Lehrer war, passierte mir<br />

einmal eine interessante Geschichte. Ich muss Ihnen und den<br />

beiden Mädchen das erzählen! Da kam im Frühling ein neuer<br />

Bub in meine Klasse. Ein Bub aus einer armen Familie, aber


litzsauber und, wie ich bald merkte, sehr fleißig. Er hat gut<br />

gelernt. Im Rechnen war er sogar in kurzer Zeit der Beste von<br />

allen. Das heißt: nicht immer! Erst dachte ich bei mir: ,Wer<br />

weiß, woran’s liegen mag!’ Dann dachte ich: ,Da ist doch<br />

seltsam! Manchmal rechnet er wie am Schnürchen und macht<br />

keinen einzigen Fehler, andere Male geht es viel langsamer bei<br />

ihm.’»<br />

Herr Kilian macht eine Pause und zwinkert Luise und Lotte<br />

wohlwollend zu. «Endlich verfiel ich auf eine seltsame Methode.<br />

Ich merkte mir in einem Notizbuch an, wann der Bub gut und<br />

wann er schlecht gerechnet hatte. Und da stellte sich ja nun<br />

etwas ganz Verrücktes heraus. montags, mittwochs und freitags<br />

rechnete er gut. – dienstags, donnerstags und sonnabends<br />

rechnete er schlecht.»<br />

«Nein, so was!» sagt Herr Palfy.Und die zwei kleinen Mädchen<br />

rutschen neugierig auf den Stühlen.<br />

«Sechs Wochen beobachtete ich das», fährt der alte Herr<br />

fort. «Es änderte sich nie! Montags, mittwochs, freitags –<br />

gut! Dienstags, donnerstags, sonnabends – schlecht! Eines<br />

schönen Abends ging ich in die Wohnung der Eltern und<br />

teilte ihnen meine rätselhafte Beobachtung mit. Sie schauten<br />

einander halb verlegen, halb belustig an, und dann meinte<br />

der Mann: ,Das, was Sie, Herr Lehrer, bemerkt haben, ist<br />

richtig!’ Dann pfiff er auf zwei Fingern. Und schon kamen<br />

aus dem Nebenzimmer zwei Jungen. Zwei, gleich groß und<br />

auch sonst vollkommen ähnlich! ,Es sind Zwillinge’, meinte<br />

die Frau. ,Der Sepp ist der gute Rechner, der Toni – ist der<br />

andere.’ Nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, fragte<br />

ich: ,Ja, liebe Leute, warum schickt ihr denn nicht alle beide<br />

in die Schule?’ Und der Vater antwortete mir: ,Wir sind arm,<br />

Herr Lehrer. Die zwei Buben haben zusammen nur einen<br />

guten Anzug!’»<br />

Das Ehepaar Palfy lacht. Herr Kilian schmunzelt. Luise<br />

ruft:<br />

«Das ist eine Idee! Das machen wir auch!»<br />

Herr Kilian droht mit dem Finger.<br />

***<br />

Als das Ehepaar mit den Zwillingen durch den Schulhof<br />

geht, ist gerade Frühstückspause. Hunderte kleiner Mädchen<br />

drangen sich heran. Man bestaunt Luise und Lotte.<br />

Endlich gelingt es Trude, sich bis zu den Zwillingen<br />

durchzuboxen. Schwer atmend blickt sie von einer zur anderen.<br />

«Nanu!» sagt sie. Dann wendet sie sich gekränkt an Luise:<br />

«Erst verbietest du mir, hier in der Schule drüber zu reden, und<br />

nun kommt ihr so einfach hierher.»<br />

«Ich hab’s dir verboten», berichtigt Lotte.<br />

«Jetzt kannst du’s ruhig allen erzählen», erklärt Luise. «Von<br />

morgen an kommen wir nämlich beide!»<br />

Dann schiebt sich Herr Palfy wie ein Eisbrecher durch die<br />

Menge und führt seine Familie durchs Schultor. Trude wird<br />

inzwischen das Opfer der allgemeinen Neugierde. Sie teilt der<br />

lauschenden Mädchenmenge alles mit, was sie weiß.<br />

Es läutet. Die Pause ist zu Ende.<br />

Die Lehrerinnen betreten die Klassenzimmer. Die<br />

Klassenzimmer sind aber leer. Die Lehrerinnen treten an die<br />

Fenster und starren empört auf den Schulhof hinunter. Der<br />

Schulhof ist überfüllt. Die Lehrerinnen dringen ins Zimmer des<br />

Direktors, um im Chor sich zu beklagen.<br />

«Nehmen Sie Platz, meine Damen!» sagt er. «Der Schuldiener<br />

hat mir soeben die neue Nummer der illustrierten Zeitschrift<br />

gebracht. Das Titelblatt ist für unsere Schule recht interessant.<br />

Darf ich bitten?» er reicht ihnen die Zeitschrift.<br />

Und nun vergessen auch die Lehrerinnen, genau wie im<br />

Schulhof die kleinen Mädchen, dass die Pause längst vorüber<br />

ist.<br />

88 89<br />

***<br />

Fräulein Irene Gerlach steht, elegant wie immer, in der Nähe<br />

der Oper und starrt betroffen auf das Titelblatt, wo zwei kleine<br />

bezopfte Mädchen abgebildet sind. Als sie hochblickt, starrt sie<br />

noch mehr. Denn an der Verkehrskreuzung hält ein Taxi, und<br />

in dem Taxi sitzen zwei kleine Mädchen mit einem Herrn, den<br />

sie gut gekannt hat, und einer Frau, die sie nie kennen lernen<br />

möchte.<br />

Lotte zwickt die Schwester. «Du, dort drüben!»<br />

«Aua! Was denn?»<br />

Lotte flüstert, dass es kaum zu hören ist: «Fräulein<br />

Gerlach!»<br />

«Wo?»<br />

«Rechts! Die mit dem Hut! Und mit der Zeitschrift in<br />

der Hand!» Luise schielt zu der eleganten Dame hinüber.<br />

Am liebsten möchte sie ihr triumphierend die Zunge<br />

herausstrecken.


«Was habt ihr denn?»<br />

Verflixt! Nun hat die Mutti wohl doch etwas gemerkt.<br />

Da beugt sich, zum Glück, aus dem Auto, das neben dem<br />

Taxi wartet, eine alte Dame herüber. Sie hält der Mutti eine illustrierte<br />

Zeitschrift hin und sagt lächelnd: «Darf ich Ihnen ein<br />

passendes Geschenk machen?»<br />

Frau Palfy nimmt die Zeitschrift, sieht das Titelbild, dankt<br />

lächelnd und gibt die Zeitschrift ihrem Mann.<br />

Die Autos setzen sich in Bewegung. Die alte Dame nickt zum<br />

Abschied.<br />

Die Kinder klettern neben Vati auf den Wagensitz und<br />

bestaunen das Titelbild.<br />

«Dieser Herr Kramer!» sagt Luise. «Uns so hineinzulegen!»<br />

«Wir dachten doch, dass wir alle Fotos zerrissen haben!»<br />

sagt Lotte.<br />

«Er hat ja die Platten!» erklärt die Mutti. «Da kann er noch<br />

Hunderte von Bildern abziehen!»<br />

«Wie gut, dass er euch angeschmiert hat», stellt der Vater<br />

fest. «Ohne ihn wäre Mutti nicht hinter euer Geheimnis gekommen.<br />

Und ohne ihn wäre heute keine Hochzeit gewesen.»<br />

Luise dreht sich plötzlich um und schaut zur Oper zurück.<br />

Aber von Fräulein Gerlach ist weit und breit nichts mehr zu<br />

sehen.<br />

Lotte sagt zur Mutti: «Wir werden dem Herrn Kramer einen<br />

Brief schreiben, und bei ihm bedanken!»<br />

***<br />

Das Ehepaar klettert in der Rotenturmstraße mit den Zwillingen<br />

die Treppe hinauf. In der offenen Tür wartet schon Resi<br />

in ihrem sonntäglichen Kleid und überreicht der jungen Frau<br />

einen großmächtigen Blumenstrauß.<br />

«Ich danke Ihnen schön, Resi», sagt die junge Frau. «Und ich<br />

freue mich, dass Sie bei uns bleiben wollen!»<br />

«Bitte schön!» Resi reißt die Tür auf.<br />

«Moment!» sagt der Herr Kapellmeister. «Ich muss erst wieder<br />

in die andere Wohnung!»<br />

Alle außer ihm erstarren. Schon am Hochzeitstag will er wieder<br />

ins Atelier in die Kärtnerstraße?<br />

(Nein, Resi erstartet ganz und gar nicht! Sie lacht vielmehr<br />

lautlos in sich hinein.)<br />

Herr Palfy geht zu Herrn Gabeles Wohnungstür, holt einen<br />

Schlüssel aus der Tasche und schließt ganz ruhig auf!<br />

Lottchen rennt zu ihm. An der Tür ist ein neues Schild<br />

angebracht, und auf dem neuen Schild steht der Name «Palfy!»<br />

«O Vati!» ruft sie überglücklich.<br />

Da steht auch schon Luise neben ihr, liest das Schild und<br />

begann mit der Schwester zu tanzen.<br />

«Nun ist’s genug!» ruft schließlich der Herr Kapellmeister.<br />

«Jetzt geht ihr mit Resi in die Küche und helft ihr!» Er schaut<br />

auf die Uhr. «Ich zeig’ der Mutti inzwischen meine Wohnung.<br />

Und in einer halben Stunde essen wir. Dann klingelt ihr!» Er<br />

nimmt die junge Frau an der Hand.<br />

An der gegenüberliegenden Tür macht Luise einen Knicks<br />

und sagt: «Auf gute Nachbarschaft, Herr Kapellmeister!»<br />

90 91<br />

***<br />

Die junge Frau legt Hut und Mantel ab.<br />

«Was für eine «Überraschung!» meint sie leise.<br />

«Eine angenehme Überraschung?» fragt er.<br />

Sie nickt.<br />

«Es war schon lange Lottchens Wunsch. Dann wurde es<br />

auch mein Wunsch», erzählt er zögernd. «Gabele hat den Feldzugsplan<br />

bis ins kleinste ausgearbeitet.»<br />

«Deswegen also mussten wir erst noch in die Schule?»<br />

Sie treten ins Arbeitszimmer. Auf dem Flügel steht die<br />

Fotografie einer Frau aus einer vergangenen, unvergessenen<br />

Zeit. Er legt den Arm um sie. «Im dritten Stock links werden<br />

wir zu viert glücklich sein, und im dritten Stockwerk rechts ich<br />

allein, aber mit euch Wand an Wand.»<br />

«Soviel Glück!» Sie schmiegt sich an ihn.<br />

«Jedenfalls mehr, als wir verdienen», sagt er ernst.<br />

«Aber nicht mehr, als wir ertragen können.»<br />

«Ich hätte nie geglaubt, dass es das gibt!»<br />

«Was?»<br />

«Dass man verlorenes Glück nachholen kann.»<br />

Er deutet auf ein Bild an der Wand. Aus dem Rahmen schaut,<br />

von Gabele gezeichnet, ein kleines, ernstes Kindergesicht auf<br />

die Eltern herab. «Jede Sekunde unseres neuen Glücks», sagt<br />

er, «erdanken wir unseren Kindern.»<br />

***<br />

Luise steht mit einer Küchenschürze auf einem Stuhl und<br />

heftet das Titelbild der illustrierten Zeitschrift an die Wand.


«Schön», sagt Resi andächtig. Lottchen, gleichfalls in einer<br />

Küchenschürze, arbeitet am Herd.<br />

Resi tupft sich eine Träne aus dem Augenwinkel und fragt<br />

dann, noch immer vor der Fotografie stehend: «Welche von<br />

euch beiden ist denn nun eigentlich welche?»<br />

Die kleinen Mädchen schauen einander betroffen an. Dann<br />

starren sie auf die Fotografie. Dann blicken sie erneut einander<br />

an.<br />

«Also…» sagt Lottchen zögernd.<br />

«Ich saß, als uns der Herr knipste, – glaubt ich, – links»,<br />

meint Luise nachdenklich.<br />

Lotte schüttelt den Kopf. «Nein, ich saß links. Oder?»<br />

«Ja, wenn ihr’s selber nicht wisst, welche ist!» schreit Resi<br />

außer sich und beginnt zu lachen.<br />

«Nein, wir wissen’s wirklich selber nicht!» ruft Luise begeistert.<br />

Und nun lachen alle drei, dass ihr Gelächter bis in die<br />

Nebenwohnung hinüberdringt.<br />

Dort drüben fragt die Frau, fast erschrocken: «Wirst du denn<br />

bei solchem Lärm arbeiten können?»<br />

Er geht an den Flügel uns sagt, während er den Deckel öffnet:<br />

«Nur bei solchem Lärm!» Er spielt seiner Frau aus der Kinderoper<br />

das Duett vor, das bis in die Küche der Nachbarwohnung<br />

dringt.<br />

Als das Lied verklungen ist, fragt Lottchen verlegen:<br />

«Wie ist das eigentlich, Resi? Wo nun Vati und Mutti wieder<br />

mit uns zusammen sind, können Luise und ich doch noch<br />

Geschwister bekommen?»<br />

«Ja, freilich!» erklärt Resi zuversichtlich. «Wollt ihr denn<br />

welche haben?»<br />

«Natürlich», meint Luise energisch.<br />

«Buben oder Mädels?» erkundigt sich Resi angelegentlich.<br />

«Buben und Mädels!» sagt Lotte.<br />

Luise aber ruft aus Herzensgrund: «Und lauter Zwillinge!»<br />

TEXTAUFGABEN ZUM 12. KAPITEL<br />

I. Lernen Sie die folgenden Vokabeln, schreiben Sie die<br />

Sätze aus dem gelesenen Kapitel damit und übersetzen Sie<br />

diese Sätze ins Russische:<br />

1) das Standesamt<br />

2) Akk. aus der Fassung bringen<br />

3) eine Trauung vornehmen (a,o)<br />

4) das Brautpaar: die Braut, der Bräutigam<br />

5) eine Trauzeuge (-n)<br />

6) in die Schule anmelden (te,t)<br />

7) merkwürdig sein<br />

8) ordnungsgemäß eintragen in Akk.<br />

9) blitzsauber sein<br />

10) auf eine seltsame Methode verfallen (i,a)<br />

11) mitteilen (te,t)<br />

12) auf zwei Fingern pfeifen (i,i)<br />

13) die Verkehrskreuzung<br />

14) die Zunge ausstrecken (te,t)<br />

15) sich in Bewegung setzen<br />

16) zerreißen (i,i)<br />

17) die Platte (-n)<br />

18) verdanken Dat. (te,t)<br />

II. Suchen Sie im Text die deutschen Äquivalente für<br />

folgende russische Wortgruppen:<br />

принимать участие в бракосочетании, безграничное счастье,<br />

многозначительно <strong>по</strong>дмигивать, мальчишка, быть <strong>по</strong>хожим<br />

как две капли воды, думать про себя, в короткое время, нечто<br />

невообразимое, загадочное наблюдение, как <strong>по</strong> маслу (блестяще),<br />

<strong>по</strong>грозить пальцем, сквозь толпу, стать жертвой всеобщего<br />

любопытства, быть пере<strong>по</strong>лненным, жаловаться хором, ах, как<br />

неприятно (!), кивнуть на прощание, и след простыл, разработать<br />

во всех деталях, вчетвером, с уверенностью.<br />

III. Sagen Sie, ob die folgenden Behauptungen dem Inhalt<br />

des Textes entsprechen, wenn nicht, dann korrigieren Sie<br />

sie:<br />

1. Diese Trauung brachte Herrn Benno Grawunder ein bisschen<br />

aus der Fassung, denn die Braut war die ehemalige Frau<br />

des Bräutigams.<br />

2. An der Trauung nahmen Anton Gabele, Doktor Strobl als<br />

Trauzeugen teil.<br />

3. Nach der Zeremonie fuhren alle nach Hause.<br />

4. Der Direktor der Mädchenschule war nicht erstaunt, als<br />

die Zwillinge sah.<br />

5. Die Pause war zu Ende, aber die Klassenzimmer waren<br />

leer.<br />

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6. Fräulein Irene Gerlach stand in der Nähe der Oper und<br />

Lotte streckte ihr triumphierend die Zunge aus dem Taxi heraus.<br />

7. Ohne die Platten von Herr Kramer wäre keine Hochzeit<br />

gewesen.<br />

8. Am Hochzeitstag wollte der Herr Kapellmeister wieder ins<br />

Atelier in die Kärtnerstraße.<br />

9. Im Arbeitszimmer stand die Fotografie einer jungen Frau<br />

auf dem Flügel.<br />

10. Herr Gabele arbeitete den Feldzugsplan bis ins kleinste<br />

aus.<br />

IV. Beantworten Sie folgende Fragen zum gelesenen Kapitel<br />

schriftlich:<br />

1. Was brachte Herrn Grawunder aus der Fassung?<br />

2. Was erlebten die Zwillinge bei der Trauung ihrer Eltern?<br />

Worauf waren sie stolz?<br />

3. Was für eine Geschichte passierte Herrn Killian als er ein<br />

junger Lehrer war?<br />

4. Warum waren die Klassenzimmer leer aber der Schulhof<br />

war überfüllt?<br />

5. Hat Herr Kramer die Mädchen angeschmiert? Warum waren<br />

sie ihm dankbar?<br />

6. Welche Überraschung machte der Herr Kapellmeister für<br />

seine Familie? Wer arbeitete den Feldzugsplan aus?<br />

7. Warum mussten die Eltern ihren Kindern verdanken?<br />

СПИСОК ЛИТЕРАТУРЫ<br />

1. Кестнер, Э. Близнецы. По роману Эриха Кестнера «Das<br />

doppelte Lottchen». Книга для чтения на нем. яз. / Обработка<br />

В. В. Савельевой. – М.: Просвещение, 1972.<br />

2. Немецко-русский словарь: 100 000 слов и выражений /<br />

Сост.: проф. А. И. Озеров, М. В. Якимов; <strong>по</strong>д ред. канд. пед.<br />

наук А. Н. Лапицкого. – СПб.: Литера, 2005. – 992 с.<br />

3. Сакиева, Р. С. Немецкий язык. Эмоциональная разговорная<br />

речь: учеб. <strong>по</strong>собие / Р. С. Сакиева. – М.: Высшая<br />

школа, 1991. – 192 с.<br />

4. Пиронкова, М. П. <strong>Практикум</strong> <strong>по</strong> обучению устной и<br />

письменной речи: учеб. <strong>по</strong>собие / М. П. Пиронкова, З. М. Любимова.<br />

– М.: Высшая школа,1987. – 136 с.<br />

5. Щемелева, Е. Е. Поговорим о прочитанном / Е. Е. Щемелева,<br />

Л. Ю. Гранаткина, Х. И. Демьянова. – М.: Высшая<br />

школа, 1987.<br />

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Учебное издание<br />

<strong>Практикум</strong> <strong>по</strong> <strong>домашнему</strong> <strong>чтению</strong><br />

<strong>по</strong> роману Эриха Кестнера<br />

«Das doppelte Lottchen»<br />

(немецкий язык, продолжающийся этап)<br />

Учебное <strong>по</strong>собие<br />

Составитель<br />

БЕРДНИКОВА<br />

Людмила Ивановна<br />

Корректор В. А. Яковлева<br />

Верстка Т. В. Филипенко<br />

Подписано в печать 11.08.2011. Бумага «Sveto Copy»<br />

Гарнитура «Bookman Old Style». Формат 60x84 1 / 16<br />

Тираж 500 экз. Объем 6 усл. п. л. Заказ № 715-11<br />

Издательство Сахалинского государственного университета<br />

693008, г. Южно-Сахалинск, ул. Ленина, 290, каб. 32<br />

Тел. (4242) 45-23-16. Факс (4242) 45-23-17<br />

E-mail: polygraph@sakhgu.sakhalin.ru

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