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Gnosis, Marcionitismus und die<br />

Spätdatierung der Paulusbriefe<br />

HERMANN DETERING, BERLIN 2005<br />

Den Vertretern der „Religionsgeschichtlichen Schule“ haben wir die<br />

Einsicht in das Vorhandensein zahlreicher gnostischer Elemente in den<br />

paulinischen Schriften zu verdanken, die, auch wenn sie hier und da<br />

bestritten wird 1 , inzwischen weithin Anerkennung gefunden hat. Im<br />

Anschluß an R. Bultmann wurde diese Erkenntnis wesentlich von H.<br />

Schlier, E. Käsemann, W. Schmithals und K. Rudolph befördert.<br />

Nach Rudolph ist die gnostische Beeinflussung des Paulus in<br />

Anknüpfung und Abwehr erfolgt. Darum seien zwei Dinge<br />

auseinanderzuhalten: „die Beeinflussung mehr unbewußter Art in<br />

Terminologie, Stil und Motiv“ sowie „die bewußte Aufnahme<br />

gnostischen Gedankengutes zum Zweck der Polemik, wie es bei Paulus<br />

und seinen Schülern verschiedentlich üblich ist ... Das Urchristentum ist<br />

ja einerseits im Kampf mit den gnostischen Sekten, andererseits aber<br />

auch von den gnostischen Ideen abhängig“ 2 .<br />

Rudolph erkennt bei Paulus eine Reihe gnostischer Ideen: den<br />

Gegensatz von Psychikern und Pneumatikern (Gal 3:28; 1 Kor 12:13)<br />

oder den gnostischen Dualismus von Fleisch und Geist, die hier ebenso<br />

wie in der Gnosis als unüberbrückbare Gegensätze betrachtet werden<br />

(Röm 8:5-10; 13:11-13; 1Thess 5:4-6); auch für Paulus werde die Welt<br />

als gefallene Schöpfung von den „Herren dieser Welt“ regiert (1 Kor<br />

2:6-8); daher dominiere eine weltabgewandte, sexual- bzw. ehefeindliche<br />

Haltung (1 Kor 7:32-34). Gnostische Gedanken sieht Rudolph in der<br />

paulinischen Auffassung vom Fall Adams, durch den die Menschheit<br />

dem Sünden- und Todeslos unterworfen wurde (Röm 5:12ff), sowie in<br />

der Vorstellung, daß Christus durch sein Erlösungswerk eine neue<br />

Menschheit im Geist erschaffen habe (1 Kor 15:21.44.49). Gnostisch sei<br />

die paulinische Präexistenzvorstellung und der Gedanke vom<br />

unerkannten Abstieg des Erlösers sowie seinem Aufstieg zum Vater (2<br />

Kor 8:9 ; 1 Kor 2:8; Phil 2:6-11); gnostisch die Bewertung der Heilstat<br />

Christi als Befreiung von dämonischen Mächten und der seit Adam<br />

1<br />

So von M. Hengel, Paulus und Jakobus, 2002, vor allem 473-510: Paulus und die<br />

Frage einer vorchristlichen Gnosis; K. Beyschlag, Simon Magus und die christliche<br />

Gnosis, 1974. A.D. Nock,Gnosticism, in: Ders.. Essays on Religion and the Ancient<br />

World, I.II, 1972. 940; E. Yamauchi, Pre-Christian Gnosticism, 1973. Eine ähnliche<br />

Position auch bei Chr. Markschies, Die Gnosis, 2001.<br />

2<br />

Stand und Aufgaben in der Erforschung des Gnostizismus, in Gnosis und<br />

Gnostizismus, hg. K. Rudolph, 1975, 545


H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 2<br />

herrschenden Weltverfallenheit des Menschen (2 Kor 5:16); gnostisch<br />

der mit der Christusmystik verbundene Gedanke des Christusleibs der<br />

Erlösten und die sich daraus ergebende Idee einer universalistischen<br />

Heilsgemeinde der Kirche (Röm 5:12–14.12:4 f; 1 Kor 15:22.48f;<br />

12:12-27); gnostisch schließlich die Betonung der „Erkenntnis“ neben<br />

dem „Glauben“ (Phil 3 8-10) und die Betonung von „Freiheit“ und<br />

„Macht“ des Pneumatikers (1 Kor 9 1-23) 3 .<br />

Rudolph beschließt seine summarische Darstellung mit den Worten:<br />

„So ist bei Paulus offenbar aus dem Erbe des hellenistischen<br />

Christentums und aus eigener Erfahrung ein Schuß gnostischer<br />

Begrifflichkeit und Vorstellungswelt zu finden, was ihn auch für die<br />

Geschichte der Gnosis interessant macht“ 4 – Von einem „Schuß<br />

gnostischer Begrifflichkeit“ zu reden, ist freilich stark untertreibend,<br />

wenn man berücksichtigt, daß es sich bei den meisten von Rudolph<br />

genannten Parallelen nicht um beliebige Zutaten oder Beigaben, sondern<br />

um essentielle Bestandteile der paulinischen Theologie handelt.<br />

Das von Paulus zum Zweck der antignostischen Polemik benutzte<br />

gnostische Material wird ausführlich von Schmithals behandelt, auf den<br />

sich Rudolph mehrfach bezieht. Auch Schmithals erkennt in der<br />

Theologie des Paulus vielfache Anleihen an die gnostische<br />

Begrifflichkeit, vor allem in Bezug auf den anthropologischen Dualismus,<br />

die Präexistenzchristologie (Erlösermythos) und die Christusmystik. Sein<br />

Interesse gilt vor allem den Gegnern des Paulus, in denen er, wie vor ihm<br />

bereits Hammond 5 , Gnostiker sieht. Obwohl Paulus selber gnostische<br />

Sprache spreche, sei er kein eigentlicher Gnostiker, sondern setze sich,<br />

im Gegenteil, mit einer einheitlichen gnostischen Gegenerfront<br />

auseinander. In seiner Untersuchung der korinthischen Gnosis 6 hat<br />

Schmithals diese Gegner näher bestimmt: Sie sind Vertreter einer<br />

dualistischen Christologie und verfluchen den irdischen Jesus (1 Kor<br />

12:1-3). In diesem Sinne verkündigen sie selber einen anderen Jesus (2<br />

Kor 11:4). Sie entleeren die Bedeutung des Kreuzes Jesu (1 Kor 1:17;<br />

vgl. Phil 3:18). Statt des Kreuzes verkündigen sie Weisheit (1 Kor 1:17-<br />

3:4.18f) bzw. gnw/sij (1 Kor 8:1). Die Gegner des Paulus verstehen sich<br />

als Pneumatiker (1 Kor 7:40b; 12-14; 2 Kor 10:1.10; 11:4; 13:9a), als<br />

solche haben sie die von ihnen in einem spiritualisierten Sinn aufgefaßte<br />

Auferstehung bereits hinter sich, eine zukünftige Totenauferstehung wird<br />

von ihnen bestritten (1 Kor 15:12); sie rühmen sich ihrer<br />

Vollkommenheit, die sie Paulus absprechen (1 Kor 4:8), und bezeichnen<br />

3 Die Gnosis, 1980, 322-323.<br />

4 Die Gnosis, 323.<br />

5 Hammond, H., NT Domini nostri Jesu Christi ex versione vulgata cum paraphrasi et<br />

adnotationibus (1652 … in Latinam transtulit, suisque animadversionibus illustravit,<br />

castigavit, auxit Johannes Clericus, 2 Bde., 1698.,<br />

6 Die Gnosis in Korinth, 1956, 3 1969.<br />

© Hermann Detering – Berlin - www.radikalkritik.de


H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 3<br />

sich selber als Cristo,j (1 Kor 1:12); sie demonstrieren ihre „Freiheit“,<br />

d.h. Überlegenheit über die kosmischen Mächte, durch das Essen von<br />

Götzenopferfleisch (1 Kor 8:1-13; 10:14-22; 10:23-11:2) und fordern<br />

einen libertinistischen Umgang mit dem Leib (1 Kor 5:1-13). In den<br />

Gemeindeversammlungen treten sie als Propheten auf (1 Kor 14:3f) und<br />

demonstrieren gnostische Geistbesessenheit, z.B. durch Zungenreden (1<br />

Kor 12-14). Sie lassen sich für die Toten taufen (1 Kor 15:29).<br />

Da Paulus in seinen Briefen Gnostiker bekämpft, kann er nicht selber<br />

Gnostiker sein. Die zahlreichen gnostischen Elemente in der Theologie<br />

des Paulus werden von Schmithals im Anschluß an Bultmann als<br />

Übernahme und Anleihen gnostischer Begrifflichkeit betrachtet: „Bei der<br />

Verwendung gnostischer Motive handelt es sich“ nach dem Urteil von<br />

Schmithals „also nicht um ein synkretistisches Phänomen, erst recht nicht<br />

um den Übergang zur Gnosis selbst, sondern um ein sprachlichhermeneutisches<br />

Geschehen“ 7 .<br />

Gab es eine vorchristliche Gnosis?<br />

Die Kluft zwischen der vermeintlichen Entstehungszeit der<br />

paulinischen Briefe in der Mitte des ersten und dem Auftreten der Gnosis<br />

in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts hat jene Neutestamentler, die im<br />

Corpus Paulinum gnostische Einflüsse erkannten, vor Probleme gestellt.<br />

<strong>Als</strong> Lösung empfahl sich früh das Modell einer „vorchristlichen Gnosis“.<br />

Köster konstatiert: „Ohne Annahme einer vorchistlichen Gnosis können<br />

viele frühchristliche und außerchristliche Phänomene gar nicht erklärt<br />

werden“ 8 .<br />

Schmithals konzediert: „Wir besitzen keine gnostischen Originaltexte,<br />

deren Ursprung eindeutig in die ntl. Zeit zurückgeht“ 9 . Gleichwohl<br />

besteht auch für Schmithals guter Grund zur Annahme, daß die Anfänge<br />

der Gnosis weiter zurückreichen. Diese werden von ihm als ein „System<br />

vorchristlicher Christusgnosis“ beschrieben 10 . Dabei soll es sich um<br />

judenchristliche Gnosis handeln, die in engem Zusammenhang mit Simon<br />

Magus steht bzw. auf ihn zurückgeht. Die Linien des Systems werden<br />

aus der von Hippolyt in der Refutatio (VI 9,3-18,7) zitierten<br />

simonianischen Schrift Apophasis Megale entwickelt.<br />

7 Schmithals, W.: Neues Testament und Gnosis, 1984, 19.<br />

8 Helmut Koester, Häretiker im Urchristentum als theologisches Problem; in: Erich<br />

Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80.<br />

Geburtstag, Tübingen 1964, 62 A.5<br />

9 Schmithals, Neues Testament und Gnosis, 13.<br />

10 Schmithals, Die Gnosis in Korinth, 32.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 4<br />

Das Problem der Darstellung des simonianischen Systems besteht<br />

darin, daß keineswegs gesichert ist, ob diese Schrift tatsächlich aus seiner<br />

Feder stammt oder ob es sich dabei um ein späteres Werk eines Schülers<br />

handelt. Falls Simon ihr Verfasser wäre, was freilich mit guten Gründen<br />

von vielen Wissenschaftlern bezweifelt wird, wäre er nach Ausweis der<br />

Kirchenväter der erste Vertreter seiner Art. Von einer Gnosis vor Simon<br />

wissen sie nichts. Daher wäre die Frage zu stellen, wie und auf welchem<br />

Wege dieses auf Simon zurückgehende System vorchristlicher<br />

Christusgnosis sich in so kurzer Zeit ausbreiten und sich bereits in den<br />

fünfziger Jahren des 1. Jahrhunderts zur ernsthaften Bedrohung der<br />

paulinischen Gemeinden auswachsen konnte. Außerdem wäre die<br />

simonianische Gnosis zu dieser Zeit noch eine sehr junge geistes- bzw.<br />

religionsgeschichtliche Erscheinung gewesen. Die in den paulinischen<br />

Briefen vorausgesetzte Gnosis macht jedoch einen ausgereiften Eindruck.<br />

Bekanntlich gibt es innerhalb des Corpus Paulinum eine Reihe<br />

traditioneller Stücke, wie z.B. den Hymnus im Phil 2:5ff oder Kol 1:12-<br />

15, sowie anderes formelhaftes Gut, das auf ein fortgeschrittenes<br />

Entwicklungsstadium der Gemeinden hinweist. Hinzu kommt, daß die<br />

Mehrzahl der zum Vergleich herangezogenen gnostischen Paralleltexte<br />

erst aus dem zweiten (bzw. dritten) Jahrhundert stammt 11 . Einzelne<br />

Stellen können möglicherweise als Anspielungen auf die Systeme eines<br />

Basilides und Valentin verstanden werden 12 . Schließlich entstünde unter<br />

der Voraussetzung, daß wir es bei Simon mit einem Zeitgenossen des<br />

Paulus zu tun hätten, auch die Frage, wie sich die gnostischen Einflüsse<br />

bei Paulus erklären ließen. Ist dieser durch Simon beeinflußt und wenn ja,<br />

wie wäre wohl eine solche Beeinflussung religionsgeschichtlich denkbar?<br />

Schmithals nimmt an, daß das hellenistische Christentum bzw. sein<br />

vermeintlicher Exponent Stephanus zum Vermittler dieses Typus des<br />

Christentums an Paulus geworden ist und daß dieser zu dem Christentum<br />

bekehrt wurde, das er verfolgte 13 . Aber auch hier bleiben viele offene<br />

Fragen: Wenn Stephanus um ± 32-33 n. Chr. den Märtyrertod erlitten<br />

haben soll, das gnostische Christentum aber frühestens bei dem<br />

Zeitgenossen des Paulus, Simon Magus, nachweisbar ist – wann und wie<br />

konnte sich dieses so früh mit dem hellenistischen Christentum des<br />

Stephanus verbinden? Diese Fragen werden von Schmithals nicht<br />

beantwortet.<br />

11 Siehe vor allem E. Pagels, The Gnostic Paul, Gnostic Exegesis of The Pauline<br />

Letters, 1975. Die dort zitierten Parallelen stammen überwiegend aus der<br />

Kirchenväterliteratur des 2./3. Jahrhunderts sowie den chronologisch schwer<br />

einzuordnenden Nag Hammadi Texten.<br />

12 So schon Bruno Bauer, Christus und die Caesaren, 373ff. - Diese Parallelität mit<br />

entsprechenden gnostischen Vorstellungen aus dem 2./3. Jahrhundert spricht übrigens,<br />

auch gegen die gelegentlich vertretene These, Paulus selber habe mit seiner Theologie<br />

erst die Grundlage für die spätere Gnosis geschaffen (sog. Proto-Gnosis, Prä-Gnosis,<br />

Gnosis in statu nascendi). Doch die paulinischen Briefe stehen sicher nicht am Anfang,<br />

sondern bilden bereits einen relativ späten Ausläufer der Gnosis, sonst wäre diese<br />

Parallelität kaum erklärbar.<br />

13 Neues Testament und Gnosis, 156.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 5<br />

Jedenfalls ist die Annahme einer vorchristlichen Gnosis mit vielen<br />

unsicheren Faktoren belastet. Daran hat auch der Nag Hammadi-Fund<br />

nichts geändert, der allenfalls der These vom jüdischen Ursprung der<br />

Gnosis Auftrieb zu verleihen vermochte, nicht aber der von Schmithals<br />

und anderen vorgenommenen extrem frühen Datierung. Ob das „von der<br />

Parteien Gunst und Hass“ verwirrt schwankende Charakterbild des Simon<br />

ausreicht, um mit seiner Hilfe bereits zu Beginn des 1. Jahrhunderts in die<br />

„Tiefen der Gnosis“ einzutauchen, muß daher fraglich bleiben. Die<br />

Existenz einer Gnosis in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts trägt<br />

angesichts des fehlenden Quellenmaterials einen spekulativen Charakter.<br />

„Trotz aller Hypothesen auf diesem Gebiet wissen wir nicht von einem<br />

vorchristlichen gnostischen System“ 14 .<br />

Das wird von jenen, die das Modell einer „vorchristlichen Gnosis“ zu<br />

ihrer Arbeitshypothese gemacht haben, auch gar nicht geleugnet.<br />

Schmithals spricht darum von einem hermeneutischer Zirkel und gibt zu<br />

bedenken, daß die Annahme einer Gnosis im ersten Jahrhundert und eine<br />

sachgerechte Auslegung des NT sich gegenseitig bedingen. Prägnant<br />

drückt Rudolph denselben Sachverhalt aus: Ihm scheint, daß „das Neue<br />

Testament selbst dafür der beste Zeuge“ ist, daß bereits im ersten<br />

Jahrhundert eine Gnosis existierte 15 .<br />

An diesem Punkt kommt es jedoch sowohl bei Schmithals als auch bei<br />

Rudolph zu einer methodischen Engführung. Der von Rudolph<br />

formulierte Grundsatz gilt nur, wenn wir annehmen müßten, daß wir es<br />

bei der Datierung der paulinischen Schriften mit einer Konstante zu tun<br />

haben, weil die Entstehungszeit der Briefe unbestritten feststeht. Davon<br />

kann aber nicht die Rede sein. Um der methodischen Offenheit willen ist<br />

es notwendig festzustellen, daß es wir es sowohl im Hinblick auf die<br />

Entstehungszeit der Gnosis als auch im Hinblick auf die der paulinischen<br />

Schriften mit zwei Variablen zu tun haben. Die Datierung der<br />

paulinischen Schriften darf für den unvoreingenommenen Historiker<br />

angesichts des weit verbreiteten Phänomens antiker Pseudepigraphie so<br />

wenig feststehen wie die Bestimmung der gnostischen Anfänge. Die<br />

Einsicht, daß in den verschiedenen Schriften des NT bereits mit deutlich<br />

gnostischem Einfluß zu erkennen ist, läuft also keineswegs mit<br />

zwingender Notwendigkeit auf die Annahme der Existenz von<br />

gnostischen Strömungen im 1. Jahrhundert hinaus, vielmehr ist neben der<br />

Möglichkeit, daß die Anfänge der Gnosis in das 1. Jahrhundert<br />

hinabreichen, ebenso mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die<br />

14 H.J.W. Drijvers 822; vgl.auch Dodds, Pagan and Christian, 18, N.2.“But nothing<br />

so far published from Qumran oder Nag Hammadi lends support to the hypothesis of a<br />

pre-christian Gnostic system” - Gnostische Tendenzen außerhalb des Christentums<br />

lassen sich m.E. erst nach 70, um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert mit Sicherheit<br />

nachweisen. Die in dieser Zeit vom orthodoxen Judentum heftig bekämpften Minim<br />

sind Repräsentanten einer jüdischen Gnosis, die sich, wie schon Moritz Friedländer in<br />

zahlreichen Untersuchungen gezeigt hat (vgl. z.B. Der vorchristliche Gnosticismus,<br />

1898), aus alexandrinischen Wurzeln (Philo) speist.<br />

15 NT und Gnosis, 15<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 6<br />

Entstehungszeit der paulinischen Schriften bis in das 2. Jahrhundert<br />

hinaufreichen.<br />

An und für sich sollte man meinen, daß auch diese zweite Möglichkeit<br />

einer unvoreingenommenen Prüfung unterzogen werden sollte, zumal sie<br />

mit weitaus weniger Hypothesen hinsichtlich der Entstehung der Gnosis<br />

belastet wäre als Möglichkeit 1. Doch ist dies nicht der Fall, da die<br />

Neutestamentler dem „radikalen Paradigma“ gegenüber – denn damit<br />

haben wir es zu tun – bis heute erhebliche Vorbehalte geltend machen.<br />

Daß der von den radikalen Kritikern – von Bruno Bauer bis G.A. van den<br />

Bergh van Eysinga 16 – betretene Weg einer Spätdatierung sämtlicher<br />

paulinischer Briefe für die Mehrzahl der Neutestamentler bis heute<br />

unannehmbar ist, hat in erster Linie mit den sich daraus ergebenden<br />

gravierenden Konsequenzen im Hinblick auf das nun entstehende, total<br />

veränderte Bild der frühchristlichen Geschichte zu tun. Abgesehen<br />

davon, daß sämtliche paulinischen Briefe als pseudepigraphisch<br />

betrachtet werden müßten und Paulus als ein wichtiger Zeuge des<br />

historischen Jesus ausfiele, steht die Erklärung im Widerspruch zu den<br />

Aussagen der späteren Kirchenväter sowie den meisten übrigen Zeugen<br />

der großkirchlichen Tradition. Außerdem widerspricht sie der ersten<br />

zusammenfassenden Darstellung der frühchristlichen Geschichte, der<br />

Apostelgeschichte. Radikale Kritik stand und steht vor dem Problem,<br />

diese Widersprüche zu erklären. Hinzu kommt, daß die feindselige<br />

Haltung, die sie seit Bruno Bauer den Vertretern der Theologie<br />

gegenüber oft an den Tag legte, nicht selten in Verruf gebracht und ihre<br />

Sache nicht leichter gemacht hat 17 . So ist es teilweise verständlich, daß<br />

ihr von der Theologie in der Vergangenheit nicht die ihr gebührende<br />

Beachtung geschenkt wurde.<br />

Dennoch könnte sich dies als schwere wissenschaftliche<br />

Unterlassungssünde erweisen. Mag sein, daß die radikale Spätdatierung<br />

der paulinischen Briefe und die damit zusammenhängend Verwerfung der<br />

kirchlichen Tradition, wie sie durch Apostelgeschichte und Kirchenväter<br />

repräsentiert wird, dem auf der Grundlage des herkömmlichen<br />

Paradigmas stehenden Wissenschaftler auf den ersten Blick befremdlich<br />

oder „phantastisch“ erscheinen mag – wie das stereotype Urteile der<br />

Theologen zumeist lautete und bis heute lautet. Da es jedoch für eine<br />

nach der historischen Wahrheit fragenden Kritik, nach einem Wort van<br />

Manens, weder ein „Zuwenig“ noch ein „Zuviel“ geben kann 18 , sollte<br />

16 Vgl. H. Detering, Paulusbriefe ohne Paulus? Die Paulusbriefe in der holländischen<br />

<strong>Radikalkritik</strong>, 1992.<br />

17 Vgl. das folgende Bruno Bauer-Zitat: „Ich ruhe nicht eher bis ich alle<br />

theologischen Facultäten in die Luft gesprengt oder vielmehr culbutirt, auf ihre<br />

gläsernen Ärsche gesetzt habe.“ An Ruge, 1. März 1842 (Dresden).<br />

18 “Radical criticism does not start from the belief that the non plus ultra of critical<br />

emancipation has been realized by the Tübingen school; but neither does it think that<br />

that school went too far. For it, there is nothing a priori 'too far' in this field; and it<br />

believes that criticism is ever duty bound to criticize its own work and repair its own<br />

defects. It recognizes no theoretical limit whatsoever that can reasonably be fixed... It<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 7<br />

man sich nicht aus psychologisch verständlicher, aber wissenschaftlich<br />

deplazierter Scheu vor angeblich allzu radikalen Lösungen von einer<br />

unvoreingenommenen Prüfung abhalten lassen 19 . Eine nüchterne Bilanz<br />

zeigt überdies, daß von den 27 im neutestamentlichen Kanon<br />

gesammelten Schriften heute nur noch ca. 7 als echt angesehen werden<br />

(die Zahl schwankt je nach Wissenschaftler). Es stellt somit keineswegs<br />

eine Übertreibung dar, wenn man in ihnen die einzig verbliebene<br />

Ausnahme von der Regel sieht, daß keine der neutestamentlichen<br />

Schriften auf die ihr von der Kirche zugewiesenen apostolischen<br />

Ursprünge zurückgeführt werden kann. Sollte von jenen, die von der<br />

Echtheit von 7 oder mehr paulinischen Briefe so überzeugt sind, daß sie<br />

andere, widersprechende Theorien ignorieren zu können glauben, nicht<br />

wenigstens Rechenschaft darüber erwartet werden können, warum sie an<br />

diesem Punkt auf der Ausnahme von der Regel insistieren?<br />

Die marcionitische Grundlage<br />

Radikale Kritik versucht anhand zahlreicher Belege den Nachweis<br />

zu erbringen, daß Paulus in der Geschichte des frühen Christentums erst<br />

als ein verspäteter Gast in der Mitte des 2. Jahrhundert „neben<br />

eingekommen” ist. Wenn von „Paulus“ die Rede ist, so ist damit nicht die<br />

Person des Apostels, sondern die Literatur, die in seinem Namen verfaßt<br />

wurde, gemeint, für die nach radikalkritischer Auffassung kein anderer<br />

terminus a quo denkbar ist als das Ende des hadrianischen Zeitalters<br />

(117-138) 20 . Das Erscheinen der paulinischen Literatur steht somit in<br />

einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem zur selben Zeit<br />

wishes nothing better than, mutatis mutandis, to continue the research pursued by the<br />

Tübingen school, and, standing on the shoulders of Baur and others, and thus<br />

presumably with the prospect of seeing clearer and farther, to advance another stage, as<br />

long a stage as possible, towards a real knowledge of Christian history”. – Paul: Later<br />

Criticism, in Encyclopaedia Biblica (New York: Macmillan, 4 Vols., 1899-1903), Vol.<br />

4, 3620-3638.<br />

19 Daß für viele konservative Forscher der Grundfehler radikaler Kritik darin besteht,<br />

belegt eine Bemerkung Jürgen Beckers (Theologische Literaturzeitung, Nr 11, 122. Jg.,<br />

Nov 1997, Sp. 977): Autoren, die „sich in verschiedener Weise so kraß außerhalb der<br />

recht stabilen gemeinsamen Basis der sonst je eigene Akzente setzenden Ausleger“<br />

stellen – Becker bezieht sich auf mein Buch: Der gefälschte Paulus, 1995 – dürften<br />

nicht erwarten, daß sie dafür Beifall erhalten. – Mit anderen Worten: Wer sich außerhalb<br />

des „mainstream“ begibt, liegt für Becker a priori falsch. Anstatt erst die Argumente für<br />

die Unechtheit sämtlicher Paulusbriefe zu prüfen und danach zu sehen, was von der<br />

„stabilen Basis“ der Ausleger noch übriggeblieben ist, gilt die Übernahme eines<br />

alternativen Paradigmas schon per se als methodischer Fehler, für die kein Beifall<br />

erwartet werden darf. Nicht die historische Wahrheit gilt als Maßstab wissenschaftlicher<br />

Arbeit, sondern der Kleinmut des jeweiligen Wissenschaftlers.<br />

20 Die beiden Thessalonicherbriefe könnten als früheste paulinisch-marcionitische<br />

Erzeugnisse bereits um 135, vielleicht noch vor dem Hintergrund des Bar Kochba-<br />

Krieges entstanden sein.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 8<br />

aufkommenden Marcionitismus 21 , der sich von Anfang an auf die Briefe<br />

des Apostels berief („solus Paulus“ 22 ), um seine theologischen Gedanken<br />

im kirchenpolitischen Machtkampf des 2. Jahrhunderts zu legitimieren.<br />

Die paulinischen Briefe sind marcionitische Schreiben an und für<br />

marcionitische Gemeinden. In ihnen begegnet uns die Welt des zweiten<br />

Jahrhunderts (aus der marcionitischen Innensicht) hinter der fiktiven Folie des ersten.<br />

Gebrochen wird diese Sicht nur durch zahlreiche spätere<br />

Einschübe, die auf das Konto großkirchlicher Bearbeiter gehen (über die<br />

im nächsten Abschnitt noch Näheres gesagt werden soll).<br />

Die Briefe sind pseudepigraphische Dokumente, verfaßt im Namen der<br />

legendären Gestalt des Apostels Paulus aus dem ersten Jahrhundert. Die<br />

Spuren des Legendenhaften sind auch in den paulinischen Briefen noch<br />

allenthalben greifbar; Tierkampf in Ephesus, 1 Kor 15:32 (vgl. die<br />

Pauluslegende von AP fr. 4. lin. 1ff 23 ) ; allerlei Wundertaten (Röm<br />

15,19; 2 Kor 12,12), die Selbststilisierung des Apostels (Gal 1,16; 1 Kor<br />

3,10; 4,11-13.16; 9,19-27; 11,1; Phil 1,29f; 2,17: 3,17; 1Thess 1,6). Über<br />

den historischen Kern der zugrundeliegenden Pauluslegende läßt sich<br />

wenig historisch Zuverlässiges sagen. Die vom Verfasser der erst in der<br />

Mitte des 2. Jahrhunderts abgeschlossenen Apostelgeschichte entworfene<br />

Paulus-“Biographie“ ist ein durch und durch tendenziöses Werk und als<br />

Quelle für den historischen Paulus praktisch wertlos. Die vom Verfasser<br />

konzipierte Gestalt des Apostels ist, wie schon Bruno Bauer<br />

beobachtete 24 , ein abgeschattetes Pendant des ihm in allem<br />

vorangehenden Petrus, ohne jedes individuelle Leben, und stellt ein<br />

reines Kunstprodukt der katholischen Kirche in der Mitte des 2.<br />

Jahrhunderts dar, mit dessen Hilfe sie das antinomistische Paulusbild der<br />

Briefe widerlegen und außer Kraft zu setzen versuchte<br />

(bezeichnenderweise weiß die Apostelgeschichte nichts von den Briefen<br />

des Apostels an dessen Gemeinden) 25 .<br />

21 Das Jahr 144 ist mit Sicherheit nicht erst das Gründungsdatum der marcionitischen<br />

Kirche. Marcionitische Gemeinden gab es früher, sonst hätte Justin, 1Apol 1.26 in der<br />

Mitte des 2. Jahrhunderts nicht sagen können, daß die marcionitische Häresie bereits in<br />

der ganzen Ökumene verbreitet sei. 144 bezeichnet nur den Zeitpunkt des offiziellen<br />

Bruchs dieser Gemeinden mit Rom.<br />

22 Iren Haer 3.13.1<br />

23 Acta Pauli, fr. 4., lin. 1ff, ed. W. Schubart and C. Schmidt, Acta Pauli. Glückstadt:<br />

Augustin, 1936: 22-72. Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, 4.<br />

Aufl. 1971, II, 257<br />

24 Bruno Bauer, Die Apostelgeschichte eine Ausgleichung des Paulinismus und des<br />

Judenthums innerhalb der christlichen Kirche, 1850.<br />

25 So nach B. Bauer auch R. Price, "Beide predigen zu den Heiden (Petrus in der<br />

Apostelgeschichte Kapitel 10, Paulus von 9 an); beide besiegen einen bösartigen<br />

Zauberer (Petrus den Simon Magus im 8. Kapitel, Paulus den Elymas/Etoimas/Bar Jesus<br />

in 13:8-11); beide heilen einen von Geburt an Lahmen (Petrus in 3:1-10, Paulus in 14:8-<br />

10); beide erwecken Tote zum Leben (Petrus in 9:36-43, Paulus in 20:9-12); beide<br />

heilen Kranke durch mana (der Schatten des Petrus in 5:15-16, Tücher des Paulus in<br />

19:11-12); beide machen des Heiligen Geistes teilhaftig (Petrus in 8:17, Paulus in 19:6)<br />

und beide lösen in wunderbarer Weise ihre Ketten und entkommen aus dem Gefängnis<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 9<br />

Mit demselben bzw. möglicherweise mit größerem Recht als die<br />

Apostelgeschichte ließen sich die apokryphen Paulusakten mit ihrem Bild<br />

des enkratitischen Predigers als Quelle für den historischen Paulus<br />

heranziehen, zumal hier eine Reihe interessanter Beziehungen<br />

namentlicher und anderer Art, vor allem zur Paulusdarstellung der<br />

Pastoralbriefe existieren (s.u.) 26 .<br />

Die legendarische Gestalt des Apostels wird von den Verfassern der<br />

Briefe als Folie zur Darstellung ihrer marcionitischen Theologie benutzt.<br />

Entsprechend enthalten die Briefe ein reiches Arsenal typisch<br />

marcionitischer Anschauungen 27 :<br />

• Wie Marcion und anders als das hellenistische Judentum kennt<br />

der Verfasser keine natürliche Gotteserkenntnis (revelatio<br />

generalis), sondern nur eine lex naturalis, Röm 2:12-2,16; wie<br />

Marcion betont der Verfasser die bisherige Unbekanntheit Gottes<br />

und die Neuheit der Christus-Offenbarung; Röm 16:25.26; 1 Kor<br />

1:21; 2 Kor 5:17; Eph 3:9; Gal 4:8; 1 Thess 4:5; 2 Thess 1:8; Eph<br />

4:17-19.<br />

• Wie Marcion versteht „Paulus“ das AT nicht als (vollwertige)<br />

Offenbarungsurkunde, sondern als gra,mma, Röm 2:27.29; 7:6; 2<br />

Kor 3:6.7. Das AT wird selten und zumeist ohne ausdrückliche<br />

Erwähnung zitiert. Bei den meisten atl. Zitaten handelt es sich um<br />

spätere Einschübe, s.u.<br />

• Der Verfasser weiß auch nichts von Verheißungen oder<br />

Prärogativen Israels; im Gegenteil: Israel kannte Gott nicht, Röm<br />

10:3, qeo.n ga.r avgnoou/ntej.<br />

(Petrus in 12:6-10, Paulus in 16:25-27)".The Incredible Shrinking Son of Man - How<br />

Reliable Is the Gospel Tradition?, 2003 (Übersetzung Frans-Joris.-J. Fabri) -<br />

Der Apostel erscheint hier im Gegensatz zu den Briefen als gesetzlicher Judenchrist:<br />

Apg 18:18, 21; 20:6, 16; 21:20ff, 28; 23:3, 5f, 29; 24:6, 11f, 14, 17; 26:5, 22; 28:17, 23.<br />

26 Vgl. das Motiv „Tierkampf in Epheseus“, 1 Kor 15:23 und 2Tit 4:17 mit AP fr.4;<br />

außerdem 1 Tim 1:20 = AThe 26; 2 Tim 1:15f = AThe 2-5; 2 Tim 2:18 = AThe 14;<br />

2Tim 4:10f = AP 1; MPaul 1; 2Tim 4:14 = AThe 26; 2Tim 4:17.19 = AThe 7.<br />

27 Eine systematische Zusammenfassung der marcionitischen Lehre gibt 3Kor 10-15.<br />

(Die Marcioniten) Simon und Kleobius behaupten:<br />

• Man dürfe sich nicht auf die Propheten berufen<br />

• und Gott sei nicht allmächtig<br />

• und es gebe keine Auferstehung des Fleisches<br />

• und nicht sei die Schaffung des Menschen Gottes Werk<br />

• und nicht sei der Herr ins Fleisch gekommen<br />

• auch nicht von Maria geboren<br />

• und die Welt sei nicht Gottes, sondern der Engel.<br />

Die ursprüngliche Schicht der Verfasser der Paulusbriefe erweist sich in allen 7 Punkten<br />

als marcionitisch, s.o.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 10<br />

• Trotz 7:12 („das Gesetz ist heilig“) ist seine Einstellung zum<br />

Nomos negativ. Es ist durch die Ankunft des Evangeliums<br />

überholt und abgetan: Röm 3:20.21: to.te no,moj( nuni. dikaiosu,nh<br />

qeou/ dia. pi,stewj Cristou/ 3:27; Röm10:4.<br />

• Auf den Gedanken, die erneute Hinwendung der Galater zum<br />

Gesetz mit der (heidnischen) Verehrung der stoicei/a tou/ ko,smou<br />

gleichzusetzen (Gal 4:3.9), konnte wohl nur ein echter Marcionit<br />

verfallen, für den tatsächlich kein nennenswerter Unterschied<br />

zwischen Gesetzesgehorsam und Götzendienst existiert. Das eine<br />

wie das andere zählt für den Verfasser des Briefes zur sarkischen<br />

Sphäre und steht jedenfalls im diametralen Gegensatz zu dem<br />

„Ganz Anderen“ der Christusoffenbarung.<br />

• Wie Marcion unterscheidet der Verfasser in der Gotteslehre<br />

zwischen avgaqo,j - di,kaioj (Röm 5:7) bzw. zwischen Gott und,<br />

„dem Gott dieser Welt“ 2 Kor 4:4; Eph 2:2; er kennt ebenso wie<br />

Marcion gottfeindliche Mächte, „die Herrscher dieser Welt“, die<br />

das Heilswerk Christi behindern wollen, vgl. 2 Kor 2:6.8. Der<br />

Gott des Paulus hat sowenig wie Marcions „Guter“ etwas mit dem<br />

Gesetz zu schaffen (Röm 3:19-22; 8:3) und steht im Gegensatz<br />

zur sinnlichen sarkischen Welt bzw. Schöpfung 8:5,7 (das Sinnen<br />

des Fleisches als Feindschaft wider Gott) 8: 22.38f.<br />

• Wie Marcion weiß der Verfasser nur von drei Himmeln (2 Kor<br />

12:2); im Judentum kannte man dagegen sieben Himmel 28 .<br />

• Wie Marcions Gott kann der Gott des Paulus nicht zürnen. Röm<br />

1:18; 2:5.8; 5:9; 9:22; 12:19; 13:4f (vgl. Eph. 2:3; 4:31; Kol 3:8;<br />

1 Thess 1:10; 2:16; 5:9); der Zorn wird zu einer selbständigen<br />

Hypostase ohne Urheber.<br />

• Wie für Marcion gehört der Kosmos bei dem/den Verfassern der<br />

Briefe zur gottfeindlichen Sphäre, Kosmologie wird zur<br />

Dämonologie; die Schöpfung liegt wie eine Gebärende in den<br />

Wehen (Röm 8:22). Kosmische Mächte, Engel, Gewalten und<br />

andere Kreaturen, die erst durch Christus überwunden werden,<br />

trennen den Menschen von Gott und Gottes Liebe (8:38f).<br />

• Wie Marcion kennt der Verfasser der Briefe nur in einem Namen<br />

Heil, dem des präexistenten Gottessohnes, der unbekannt und<br />

unerkannt auf diese Erde gekommen ist (1 Kor 2:8), um die<br />

28 „Der Sektierer Marcion führt ein anderes Wesen gegen den Gott des Gesetzes ein<br />

und stellt ihm die Materie als wesenhaft seiend zur Seite und drei Himmel. Im einem,<br />

sagen sie, wohnt der andere (d. h. als der Gott des Gesetzes), im zweiten der Gott des<br />

Gesetzes und im dritten seine Heerscharen. Und auf der Erde (ist) die Materie. Sie<br />

nennen dieselbe die Kraft der Erde“. Eznik von Kolb, Wider die Sekten, 4. Buch, Kap.<br />

1., übersetzt von Simon Weber, BKV 58, 1928.<br />

ApokMos 37 spricht zwar auch vom dritten Himmel (StrB III, 534), aber das<br />

bedeutet natütlich nicht, daß der in der jüdischen Tradition stehende Verfasser nur 3<br />

gekannt hätte.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 11<br />

Herrscher des Kosmos zu überlisten und die Menschheit durch<br />

seinen Tod und seine Auferstehung loszukaufen und sie aus der<br />

Herrschaft der kosmischen Mächte im Triumphzug zu befreien.<br />

Bei gleichzeitiger voller Betonung der Wirklichkeit des<br />

Kreuzestodes vertritt der Verfasser ebenso wie Marcion eine<br />

doketische Christologie (8:3: evn o`moiw,mati sarko.j a`marti,aj<br />

vgl. Phil 2:7) sowie die ebenfalls typisch marcionitische<br />

Loskaufsoteriologie (Loskauf von der Sündenmacht Röm 3:24;<br />

Gal 4:5; 1 Kor 1:30; 6:20; 7:23; Eph 1:7; 1:14; Kol 1:14; Gal<br />

3:13).<br />

• Wie für Marcion ist das Ergebnis des Heilswerks Christi die im<br />

Glauben angeeignete (und das Heil begründende) dikaiosu,nh als<br />

gegenwärtige, 5:1 (und zugleich zukünftige, 5:9; 8:24) Heilsgabe,<br />

die vor dem gegenwärtigen (und künftigen) Zorn Gottes bewahrt<br />

und in der Predigt verkündigt wird.<br />

• Auferstehung wird von dem/den Verfasser(n) der Briefe im<br />

Gegensatz zur katholischen Auffassung als gegenwärtige und<br />

spirituelle aufgefaßt, 1 Kor 15:50; Röm 6:9-11; Gal 2:19; Kol<br />

2:12.20; Eph 2:5. Auch dies weist auf marcionitische bzw.<br />

gnostische Herkunft. In AP 3:14; Tertullian, de Praesc 33,7,<br />

Justin, Dial 80 4.5, EpRheg 45f sind die marcionitischen bzw.<br />

gnostischen Häretiker Repräsentanten eben dieser Lehre.<br />

• Die Verfasser der Briefe lösen die internen Probleme der<br />

marcionitischen Gemeinden. Darauf deuten u.a. die Anspielung<br />

auf die Vikariatstaufe (1 Kor 15:29), die als selbstverständlich<br />

vorausgesetzt wird und in marcionitischen Gemeinden praktiziert<br />

wurde 29 . Darauf deuten die rigiden Ratschläge betreffs der<br />

Sexualität (1 Kor 7:1: mh. a[ptesqai), die, wenn auch durch spätere<br />

kirchliche Redaktion gemildert, Paulus bis heute den Vorwurf<br />

des Sexualneurotikers eingebracht haben. Darauf deuten die<br />

„liberalen“ Ratschläge in bezug auf das Essen von<br />

Götzenopferfleisch, die jedoch ebenfalls durch spätere Redaktion<br />

29 Das bezeugen unmißverständlich Chrysostomos: In epistulam Ii ad Corinthios<br />

homilia XL , MPG 61: 9-382. (Cod : 179,224 : Homilet., Exeget., Hypoth.: corrected)<br />

und Eznik von Kolb, Wider die Sekten, 4.15 (Uebersetzung Simon Weber; BKV 58,<br />

1920): „So ist das Wort zu verstehen und nicht wie Marcion faselt, dass an Stelle eines<br />

verstorbenen Katechumenen sein Nachbar getauft werde, damit es ihm dort angerechnet<br />

werde. Die Marcioniten tun dies auch tatsaechlich“. Tert resurr c. 48 kennt den Brauch,<br />

nennt aber keine Namen, „Wenn sich einige sogar für Verstorbene taufen lassen …“<br />

Epiphanius Haer XXVIII 6 kennt eine Totentaufe bei den Kerinthianern. Bei den<br />

Valentinianern scheint die Totentaufe ebenfalls nicht unbekannt gewesen zu sein, Exc<br />

ex Theodoto 22:4: „Die sich taufen lassen ... für die Toten, das sind die Engel, die sich<br />

für uns (die wir sterblich sind) taufen lassen, damit auch wir, im Besitz des<br />

(Tauf)namens, (beim Aufstieg) nicht aufgehalten werden und vom Grenzpfahl (horos)<br />

nicht daran gehindert werden, in das Pleroma zu gelangen“. -<br />

Harnack, Marcion 308*: „Marcion schloß aus diesem paradoxen Brauch, daß Paulus<br />

‘auctor aut confirmator novus sei.’" Marc 5.10.1<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 12<br />

auf großkirchliche Verhältnisse umgeschrieben wurden. In den<br />

katholischen Gemeinden war der Verzehr von Götzenopferfleisch<br />

verpönt 30 .<br />

Die Briefe geben nicht nur einen Einblick in die inneren Parteienkämpfe<br />

der Marcioniten, sondern auch mit ihren äußeren Gegnern, unter denen<br />

die Katholiken und „Judaisten“ den ersten Platz einnehmen. Die<br />

kämpferische Leidenschaft des Verfassers in der Auseinandersetzung mit<br />

ihnen (z.B. 2 Kor 10-13) ist also keineswegs ein Indiz für die Echtheit der<br />

Briefe. Sie läßt sich ebensogut bzw. besser vor dem Hintergrund des 2.<br />

Jahrhunderts erklären, und zwar als Versuch eines marcionitischen<br />

Autors, die judaisierenden Gegner seiner Gegenwart unter der Maske<br />

des „Apostels“ zu bekämpfen. Möglicherweise handelt es sich um<br />

judenchristliche bzw. katholische Missionare, die im 2. Jahrhundert<br />

(Antoninus Pius) die marcionitischen Gemeinden bedrängten. Vor<br />

diesem Hintergrund versteht sich übrigens auch die Unschärfe und<br />

Unklarheit der in den Briefen dargestellten Verhältnisse und<br />

Beziehungen. Verständlicherweise konnte(n) die Autoren/der Autor keine<br />

Namen aus ihrer/seiner Gegenwart nennen, da sonst der<br />

pseudepigraphische Charakter ihrer Schreiben den Lesern sofort deutlich<br />

geworden wäre.<br />

Nach übereinstimmender Meinung der Historiker gilt Marcion als der<br />

erste Herausgeber eines Kanons von 10 paulinischen Briefen. Die von<br />

ihm herausgegebenen Briefe sind vermutlich Produkte einer Schule, in<br />

deren Zusammenhang Menander, Satornil und Cerdo von den<br />

Kirchenvätern erwähnt werden und die ihrerseits alle auf den<br />

Erzhäretiker Simon, den sinistren Doppelgänger des Paulus im 1.<br />

Jahrhundert, zurückgeführt werden 31 . Ob die von Marcion unter dem<br />

30 Vgl. Justin Dial 35:1 „Tryphon wandte ein: ‘Aber wie ich in Erfahrung gebracht<br />

habe, genießen viele von denen, welche erklären, Jesus anzuerkennen, und welche<br />

Christen genannt werden, den Götzen geopferte Speisen, ohne zu behaupten,<br />

irgendwelchen Schaden davon zu haben.’ ... 5 Sie (die Irrlehrer) lehren nämlich die<br />

einen auf diese, die anderen auf jene Weise Lästerungen gegen den Schöpfer des<br />

Weltalls und gegen Christus, dessen Ankunft von ihm geweissagt wurde, und gegen den<br />

Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Mit keinem von ihnen haben wir Gemeinschaft;<br />

denn wir wissen, daß sie in ihrer Gottvergessenheit, Gottlosigkeit, Sündhaftigkeit und<br />

Lasterhaftigkeit auch Jesus nur dem Namen nach bekennen, nicht aber ihn verehren. 6<br />

Wenn sie sich Christen heißen, machen sie es wie diejenigen Heiden, welche den<br />

Namen Gottes auf ihre Arbeiten schreiben und an sündhaften und gottlosen Zeremonien<br />

teilnehmen. Von jenen heißen die einen Marcianer (=Marcioniten), andere<br />

Valentinianer, andere Basilidianer, andere Satornilianer<br />

��� ����� ����� �� ��� ����� ���������� ���������, �� �� ��������������,<br />

�� �� �������������, �� �� �������������, die einen so, die anderen anders; jeder hat<br />

seinen Namen vom Gründer des Systems. Sie handeln wie diejenigen, welche glauben,<br />

Philosophen zu sein, und welche wie ich in der Einleitung bemerkte die Philosophie,<br />

welche sie vertreten, nach dem ‘Vater der Lehre’ benennen zu müssen meinen“.<br />

31 Euseb KG 3.26; KG 4.11 wird Irenäus zitiert: „Valentin kam unter Hyginus nach<br />

Rom, gewann unter Pius Ansehen und blieb noch bis Anicet. Auch Cerdo, der Vorläufer<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 13<br />

Namen des Paulus herausgegebenen Schriften bereits Produkte seiner<br />

Vorgänger sind und dann von ihm überarbeitet wurden, oder ob sie auf<br />

das Konto der Gesinnungsgenossen und Schüler Marcions oder gar auf<br />

diesen selbst zurückgehen, läßt sich kaum entscheiden. Bei dem<br />

Galaterbrief, der kurz vor Marcions Exkommunikation (ca. 144 n.Chr.)<br />

verfaßt sein dürfte, könnte letzteres der Fall sein 32 . Allerdings gibt es<br />

neben Marcion noch eine Reihe anderer als Autoren oder Mitautoren in<br />

Frage kommender christlicher Lehrer, wie z.B. den oben genannten<br />

Cerdo 33 , Apelles (der in den Briefen möglicherweise als als Apollos<br />

figuriert) und dessen Begleiterin, die Visionärin Philumene. Um die<br />

Annahme einer bestimmten, literarisch hochbegabten und<br />

charismatischen Persönlichkeit innerhalb dieses Kreises, der den typisch<br />

paulinischen Stil (der sog. Hauptbriefe) prägte, wird man nicht<br />

umhinkönnen.<br />

Aus der Tatsache daß die paulinischen Briefe Produkte einer Schule<br />

sind – wenngleich nicht einer „Paulusschule“, über deren Weiterexistenz<br />

im 2. Jahrhundert wir keinerlei Nachrichten besitzen 34 – erklärt sich die<br />

Unterschiedlichkeit bzw. Besonderheit von Kol, Laod (= Eph) und Philm.<br />

Diese gehen sicher auf einen anderen Autor zurück als Röm, Gal und 1/2<br />

Kor. In jedem Fall atmen alle Briefe in ihrer vorkatholischen,<br />

unbearbeiteten Form den Geist des im 2. Jahrhunderts blühenden<br />

Marcionitismus.<br />

Nach Knox soll Marcion ursprünglich nur eine Siebenzahl von Briefen<br />

gekannt haben, da er 1/2 Kor und 1/2 Thess sowie Kol und Phlm als<br />

jeweils einen Brief gezählt haben könnte 35 . Das wäre angesichts der<br />

besonderen Bedeutung, die man der Siebenzahl in der Antike als Zahl der<br />

Vollendung beimaß, gut denkbar. Die Pastoralbriefe stammen ebenfalls<br />

aus marcionitischen Kreisen. Aber sie sind dem Kanon – nach<br />

entsprechender Überarbeitung – erst später beigefügt worden und<br />

scheinen Marcion noch nicht bekannt gewesen zu sein.<br />

Marcions, kam unter Hyginus, dem neunten Bischof, in die Kirche, wo er das<br />

Glaubensbekenntnis ablegte. Seine weitere Geschichte war: er trug im geheimen Lehren<br />

vor, legte wiederum das Glaubensbekenntnis ab, wurde schlechter Lehren überführt und<br />

fiel von der Gemeinschaft der Brüder ab“.<br />

32 Wegen Gal 4:17: avlla. evkklei/sai u`ma/j qe,lousin. Darin könnte sich die<br />

Exkommunikation Marcions reflektieren.<br />

33 KG 4.10 wird Cerdo als „Urheber des marcionitischen Irrtums“ bezeichnet.<br />

34 Über den weiteren Werdegang der in den Paulusbriefen genannten Mitarbeiter des<br />

Paulus, Silvanus, Timotheus, schweigt sich das 2. Jahrhundert aus.<br />

35 Knox, Marcion und his NT, 1942, 46; vgl. Schmithals, Zur Abfassung der ältesten<br />

Sammlung der paulinischen Hauptbriefe, in: Paulus und die Gnostiker, 190, 1965<br />

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Die großkirchlichen Interpolationen - Gegnerfrage<br />

Neben der Annahme einer marcionitischen Grundschicht der<br />

paulinischen Briefe gehört die These, daß diese Grundschicht in späterer<br />

Zeit einer großkirchlichen Korrektur unterzogen wurde, zu der zweiten<br />

grundlegenden Säule, auf der die radikalkritische Erklärung der<br />

paulinischen Briefe basiert.<br />

Heute gilt die literarkritische Methode oft als antiquiert. Man möchte<br />

die neutestamentlichen Schriften gerne „kohärent“ lesen. Aber die<br />

Vorstellung, daß uns die einzelnen ntl. Schriften als unversehrtes Ganzes<br />

erhalten und überliefert sein könnten, zeugt von Weltfremdheit und<br />

mangelnder Vertrautheit mit den antiken Gepflogenheiten beim Umgang<br />

mit literarischen Werken. Wer sich näher mit antiker Literatur,<br />

insbesondere der frühchristlichen, befaßt, wird bald feststellen, daß die<br />

Annahme von Interpolationen, redaktionellen Einschüben etc.<br />

grundlegend für das Verständnis dieser Texte ist. Celsus schildert die<br />

literarischen Sitten der Christen seiner Zeit mit dem kritischen Abstand<br />

des Christengegners und behauptet, daß sie ihre heiligen Schriften, „wie<br />

Betrunkene, die selber Hand an sich legen“, ständig neu überarbeiten 36 .<br />

Mit Bezug auf Marcion deutet Tertullian Ähnliches an, wenn er die<br />

Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Marcioniten mit einem<br />

Tauziehen vergleicht, bei dem er und Marcion ihre Kräfte erproben und<br />

„mit gleicher Anstrengung hin- und herziehen. Ich sage, ich habe die<br />

Wahrheit. Marcion sagt, er hat sie. Ich sage, Marcions ist gefälscht,<br />

Marcion sagt dasselbe von meiner“ 37 .<br />

Die literarkritische Methode hat ihre Berechtigung, auch wenn ihr in<br />

vielen Fällen der Charakter des Hypothetischen anhaftet und sich eine<br />

Interpolation nur in wenigen Fällen mit absoluter Sicherheit als solche<br />

identifizieren läßt. Zumindest im Hinblick auf die Paulusbriefe stellt sich<br />

die Situation sogar besser dar, weil sich die Literarkritik hier mit der<br />

Textkritik verbindet. Die Rekonstruktion der marcionitischen Textversion<br />

der Paulusbriefe ermöglicht in vielen Fällen einen Vergleich zwischen<br />

36 Orig cCels II 27 „Es gibt unter den Gläubigen einige, die wie Betruunkene, die<br />

selber Hand an sich legen �� �� ����� ������� ��� �� ��������� ������, das<br />

Evangelium nach seiner ersten Niederschrift dreifach und vierfach und vielfach<br />

umprägen und umformen, um den Beweismitteln gegenüber die Möglichkeit des<br />

Ableugnens zu haben. Meines Wissens haben nur die Anhänger des Markion und des<br />

Valentinus, und wenn ich nicht irre, auch die des Lucanus ‚das Evangelium umgeprägt’,<br />

sonst niemand. Dieser Vorwurf trifft aber nicht die christliche Lehre, sondern die<br />

dreisten Fälscher der Evangelien“.<br />

37 Marc 4.4.1: Funis ergo ducendus est contentionis, pari hinc inde nisu fluctuante.<br />

Ego meum dico verum, Marcion suum. Ego Marcionis affirmo adulteratum, Marcion<br />

meum. Quis inter nos determinabit, nisi temporis ratio, ei praescribens auctoritatem<br />

quod antiquius reperietur, et ei praeiudicans vitiationem quod posterius revincetur? 1 In<br />

quantum enim falsum corruptio est veri, in tantum praecedat necesse est veritas falsum.<br />

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marcionitischer und katholischer Textversion (z.B. Röm 1:1-7 oder Röm<br />

9-11). Die Annahme, daß der marcionitische Text ursprünglicher sei als<br />

der katholische, beruht also nicht auf bloßer Mutmaßung – wie in vielen<br />

anderen Fällen, in denen für eine literarkritische Vermutung keine<br />

handschriftliche Zeugen beigebracht werden können 38 – sondern auf der<br />

Grundlage des rekonstruierten marcionitischen Textes und seinem<br />

Vergleich mit dem katholischen.<br />

Wie die Analyse zeigt, ist der Charakter der zur marcionitischen<br />

Version der Paulusbriefe hinzukommenden Überarbeitungen in der Regel<br />

antimarcionitisch bzw. katholisch. In der gegen marcionitische Häretiker<br />

definierten Regel der tertullianischen Schrift Adv haer 36,5, werden die<br />

Grundsätze, die bei der Bearbeitung vermutlich als Richtlinie dienten,<br />

deutlich ausgesprochen: Danach kennt die katholische Kirche<br />

„nur den einen Gott und Herrn, den Schöpfer des Weltalls, und<br />

Christus Jesus, den aus der Jungfrau Maria geborenen Sohn des<br />

Gottes, der der Schöpfer ist, und die Auferstehung des Fleisches.<br />

Das Gesetz und die Propheten setzt sie mit den Evangelien und<br />

den Briefen der Apostel in Verbindung; daraus schöpft sie ihren<br />

Glauben, sie besiegelt ihn mit Wasser, bekleidet ihn mit dem Hl.<br />

Geiste, nährt ihn durch die Eucharistie, ermahnt zum Martyrium<br />

und verweigert jedem die Aufnahme, der in Widerspruch mit<br />

dieser Lehre sich befindet 39<br />

Tatsächlich bezieht sich die Mehrheit der Interpolationen in den<br />

Paulusbriefen im wesentlichen auf jene Punkte: Theologie/Kosmologie,<br />

Christologie, Eschatologie, Verhältnis zum AT.<br />

1) Gegenüber der dualistischen Theologie der Grundschicht wird die<br />

Einheit von Schöpfer und Erlösergott mit Nachdruck betont. Der<br />

katholische Interpolator kennt nur einen Gott, ei-j o` qeo.j, Röm 3,30; o` de.<br />

qeo.j ei-j evstin Gal 3,20, der sich als Schöpfer durch und in seiner<br />

Schöpfung (Röm 1,19-21) kundgetan hat und dem er in zahlreichen<br />

eingestreuten Doxologien, Rom 1:25; 9:5; 11:36; Gal 1:5; Phil 4:20; 1<br />

Tim 1:17; 6:16; 2 Tim 4:18 Ehre erweist. – Im Galaterbrief, 4,8, hat der<br />

Redaktor aus den „Naturgöttern“ (toi/j evn th/| fu,sei ou=sin qeoi/j), solche<br />

gemacht, die „der Natur nach keine sind“, toi/j fu,sei mh. ou=sin qeoi/j –<br />

um auf diese Weise jeden Gedanken an eine mögliche Vielzahl von<br />

Göttern zu unterbinden.<br />

2) Entgegen der doketischen Christologie der Grundschicht wird Jesu<br />

Leiblichkeit und Herkunft aus dem „Geschlecht Davids“ (Röm 1:3.4)<br />

38 Die zahlreichen Teilungshypothesen von Völter bis Schmithals leiden unter diesem<br />

Problem.<br />

39 = Unum Deum Dominum nouit, creatorem uniuersitatis, et Christum Iesum ex<br />

uirgine Maria filium Dei creatoris, et carnis resurrectionem, legem et prophetas cum<br />

euangelicis et apostolicis litteris miscet, et inde potat fidem; eam aqua signat, sancto<br />

spiritu uestit, eucharistia pascit, martyrium exhortatur et ita aduersus hanc institutionem<br />

neminem recipit.<br />

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betont, er ist Israelit kata. sa,rka (vgl. die interpolierte Stelle Gal 4:4, wo<br />

der Redaktor das in der Marcionitischen Rezension noch fehlende<br />

geno,menon evk gunaiko,j( geno,menon u`po. no,mon hinzufügte).<br />

3) Der marcionitisch-gnostischen Spiritualisierung der Auferstehung (als<br />

eines gegenwärtigen Ereignisses) setzt der Interpolator – falls notwendig<br />

– die katholischen Lehre von der zukünftig zu geschehenden<br />

fleischlichen Auferstehung entgegen. 1 Kor 15:50 beschränkt er sich<br />

darauf, die eindeutige Ablehnung einer Auferstehung des Fleisches<br />

abzuschwächen, indem er die Formulierung: „Fleisch und Blut werden<br />

das Reich Gottes nicht erben“ – ouv klhronomh,sousi – korrigiert zu:<br />

„Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben“ – klhronomh/sai<br />

ouv du,natai. 2 Kor 5:3 wurde von ihm evkdusa,menoi (entkleidet) in das an<br />

dieser Stelle unsinnige evkdusa,menoi (angezogen) verwandelt. 1Thess 5:23<br />

„bestätigt ein geschickt plaziertes Wort die Auferstehung des Leibes in<br />

einem Text, in dem davon nicht die Rede war“: der Redaktor deutet die<br />

parousi,a fälschlich als zukünftige und fügt ein o`lo,klhron hinzu, „um zu<br />

lehren, dass das gesamte menschliche Kompositum, Leib inbegriffen, in<br />

das zukünftige Königreich eingehen wird 40 .<br />

4) Gegen die Verwerfung des AT steht der Versuch des katholischen<br />

Interpolators, Gesetz und Propheten mit den Evangelien und den<br />

Apostelbriefen zu verbinden (miscere!). Die Mehrheit der<br />

Interpolationen in den paulinischen Briefen steht im Dienste dieser<br />

Tendenz, z.B. Röm 1: 2. 17; 2:24; 3:21.22; 4; 9-11; 16:26; Gal 3:6-29;<br />

4:25-30; Eph 2:20; 3:5 41 .<br />

Eine ausführliche Darstellung der Tendenz des katholischen Redaktors<br />

findet sich in meiner Untersuchung des Römerbriefs, Marcionitische und<br />

Katholische Rezension des Römerbriefs – ein Vergleich. Theologische<br />

40 Vgl. P.-L. Couchoud, La Première édition de Saint Paul, Premiers écrits du<br />

Christianisme, Paris 193O, 22.<br />

41 Diese Funktion des „miscere“ verfolgen auch die vom katholischen Redaktor<br />

eingestreuten atl. Zitate; allein im Römerbrief werden von ihm 53 verschiedene Stellen<br />

aus dem AT zitiert: Hab 2:4; Prv 24:12; Ps 50:6; Ps 14:1-3; Ps 5:10; Ps 139:4; Ps 10:7;<br />

Jes 59:7.8; Ps 35:2; Gn 15:6; Ps 31:1.2; Gn 15:6; Gn 17:5; Gn 15:5; Gn 15:6; Gn 21:12;<br />

Gn 18:10.14; Gn 25:23; Mal 1:2.3; Ex 33:19; Ex 9:16; Jes 29:16; Hos 2:25; Hos 2:1; Jes<br />

10:22.23; Jes 1:9; Jes 8:14 ; Jes 28:16; Lv 18:5; Dt 30:11-14; Jes 28:16; Joel 3:5; Jes<br />

52:7; Jes 53:1; Ps 19:5; Dt 32:21; Jes 65:1; Jes 65:2; I Kön 19:10; I Kön 19:18; Jes<br />

29:10; Ps 68:23.24; Jes 59:20; ; Jer 31:33; Hiob 41:3; Prv 25:21.22; Jes 45:23; Ps 68:10;<br />

Ps 18:50; Dt 32:43; Ps 117:1; Jes 11:10; Jes 52:15. – Der marcionitische Prolog des<br />

Römerbriefes zeigt, daß Marcions Ausgabe des Briefes noch frei von derlei atl.<br />

Reminiszenzen war. Sonst hätte dessen Verfasser kaum schreiben können: …hi<br />

(Romani) praeventi sunt a falsis apostolis et sub nomine domini nostri Jesu Christi in<br />

legem et prophetas erant inducti. hos revocat apostolus ad veram evangelicam fidem...<br />

In der heutigen (katholischen/kanonischen ) Fassung des Römerbriefs ist die vom<br />

marcionitischen Verfasser des Prologs kritisierte Irrlehre ad legem et prophetas dem<br />

Text immanent.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 17<br />

Profile - Differenzen – Retusche 42 . Vgl. auch P.-L. Couchoud, La<br />

Première édition de Saint Paul, Premiers écrits du Christianisme, Paris<br />

193O<br />

Für das Verständnis der paulinischen Briefe ist die Berücksichtigung<br />

der Interpolationen, die durch den Vergleich von marcionitischer und<br />

katholischer Fassung festgestellt werden können, von größter<br />

Wichtigkeit. Die Widersprüchlichkeit, die bis heute in der Forschung das<br />

Bild des Paulus prägt, hat darin ihre Ursache.<br />

Auch hinsichtlich der Gegnerfrage wollen die Interpolationen<br />

berücksichtigt sein, da sonst an einigen Stellen der Eindruck entsteht, als<br />

bestünde die gegnerische Front, mit der sich der Verfasser in seinen<br />

Briefen auseinandersetzt, aus Gnostikern. So wird z.B. der Vers 1 Kor<br />

12:3 (Verfluchung des irdischen Jesus), auf den Schmithals bei seiner<br />

Untersuchung der Gegnerfrage großen Wert legt, m.E. falsch<br />

interpretiert 43 . Es ist zwar richtig, daß sich die Stelle in ihrer Tendenz<br />

gegen die gnostische Mißachtung der sa,rx des irdischen Jesus wendet 44 .<br />

Doch muß berücksichtigt werden, daß die Passage in der marcionitischen<br />

Version offenbar noch nicht enthalten war und überdies (zusammen mit<br />

V. 2) das Thema „Geistesgaben“ eher unterbricht als einleitet. Das<br />

Thema „Geistesgaben“, mit dem 12:1 einsetzt, wird erst in Vers 4<br />

42 www.radikalkritik.de<br />

43 1 Kor 12:1-4 Peri. de. tw/n pneumatikw/n( avdelfoi,( ouv qe,lw u`ma/j avgnoei/nÅ<br />

[ 2 Oi;date o[ti o[te e;qnh h=te pro.j ta. ei;dwla ta. a;fwna w`j a'n h;gesqe avpago,menoiÅ 3<br />

dio. gnwri,zw u`mi/n o[ti ouvdei.j evn pneu,mati qeou/ lalw/n le,gei\ VAna,qema VIhsou/j( kai.<br />

ouvdei.j du,natai eivpei/n\ Ku,rioj VIhsou/j( eiv mh. evn pneu,mati a`gi,w|Å ]<br />

4 Diaire,seij de. carisma,twn eivsi,n( to. de. auvto. pneu/ma\<br />

44 Gegen Conzelmann, Kommentar, 242. Orig Cels VI 28 von den Ophiten: „Nun<br />

hätte aber Celsus wissen sollen, dass die Leute, welche sich zur ‚Schlange’ halten, da sie<br />

‚den ersten Menschen’ einen guten Rat erteilt habe, und welche, die Titanen und<br />

Giganten der Sage übertreffend, deshalb Ophianer genannt werden, soweit entfernt sind,<br />

Christen zu sein, dass sie gegen Jesus ebensolche Beschuldigungen vorbringen wie<br />

Celsus selbst und niemand zu ihrer Gemeinschaft zulassen, der nicht vorher Jesus<br />

verflucht hat.“<br />

Interessanterweise begegnet eine ähnlich abwertende Sicht des irdischen Jesus bei<br />

den mittelalterlichen Katharern; nur dessen Verfluchung fehlt: “They said also, in their<br />

secret doctrine, (in secreto suo) that Christ who was born in the visible, and terrestrial<br />

Bethlehem, and crucified in Jerusalem, was a bad man, and that Mary Magdalene was<br />

his concubine; and that she was the woman taken in adultery, of whom we read in the<br />

gospel. For the good Christ, as they said, never ate, nor drank, nor took upon him true<br />

flesh, nor ever was in this world, except spiritually in the body of Paul.... “ Medieval<br />

Sourcebook: Raynaldus: on the Accusations against the Albigensians From Raynaldus,<br />

„Annales,“ in S. R. Maitland, trans., History of the Albigenses and Waldenses, (London:<br />

C. J. G. and F. Rivington, 1832), pp. 392-394.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 18<br />

wirklich fortgeführt. Bei den Versen 2 und 3 handelt es sich um<br />

sekundäre Einschübe 45 .<br />

Dadurch, daß der sekundäre Charakter des Verses nicht erkannt wird,<br />

erscheinen die Gegner als Gnostiker. In Wahrheit geht der Einschub auf<br />

die katholische Redaktion zurück, die auf diese Weise der Interpretation<br />

und Vereinnahmung des Paulus durch die Gnostiker bzw. Marcioniten<br />

wehren will. Der ursprüngliche Verfasser kämpft nicht gegen die Gnosis,<br />

sondern gegen die Vertreter eines judaisierenden (katholischen)<br />

Christentums.<br />

Entsprechend darf der a;llon VIhsou/n, 2 Kor 11:4, nicht auf den<br />

pneumatischen Jesus der Gnostiker, sondern muß auf den sarkischen<br />

Jesus der judaisierenden Gegner bezogen werden – so wie das „andere<br />

Evangelium“, Gal 1:7, die sarkische und nicht die pneumatische<br />

Verkündigung der Judaisten meint 46 .<br />

Die Hervorhebung der Bedeutung des Kreuzes ist an sich noch kein<br />

Indiz für eine antignostische Frontstellung, sondern kann ebensogut<br />

Kennzeichen der marcionitischen Herkunft des Verfassers sein. Daß<br />

Marcion das „Zeugnis des Kreuzes nicht bekennt“ (PolPhil 7:1) ist eine<br />

böswilliger Vorwurf der späteren katholischen Polemik. Dagegen steht<br />

z.B. das Zeugnis Rhodon über den Marcioniten Apelles: „Man dürfe<br />

schlechterdings nicht die Lehre jemandes untersuchen, wie er ihn einmal<br />

angenommen habe; denn ... erlöst würden die, welche auf den<br />

Gekreuzigten ihre Hoffnung gesetzt haben, wenn sie nur in guten Werken<br />

erfunden werden“ 47 . Die Passage zeigt, daß von einer theologischen<br />

„Entleerung“ des Kreuzes bei den Marcioniten gar keine Rede sein kann,<br />

im Gegenteil; Harnack: „Schlechthin notwendig zum Heil ist nach ihm<br />

vielmehr nur die Hoffnung auf den Gekreuzigten, d.h. auf die im<br />

Kreuzestod sich darstellende Gottestat der Erlösung.“ – Einschränkend<br />

muß gesagt werden, daß der Vorwurf der Kirchenväter auf Gnostiker wie<br />

Basilides möglicherweise zutreffen könnte 48 .<br />

Auch daraus, daß die Gegner Weisheit (1 Kor 1:17-3:4.18f) bzw<br />

gnw/sij (1 Kor 8:1) verkündigen, läßt sich noch nicht schließen, daß es<br />

sich um Gnostiker handelt. Der Autor führt vielmehr in typisch<br />

marcionitischer Weise den Kampf gegen die „Weisheit der Welt“. Die<br />

marcionitischen Evangelienprologe haben von dieser doppelten<br />

Frontstellung (gegen die Philosophie, gegen judaisierende Christen) noch<br />

etwas gewußt:<br />

C o r i n t h i sunt Achaei. et hi similiter ab apostolo audierunt verbum veritatis et<br />

subversi multifarie a falsis apostolis, quidam a philosophiae verbosa eloquentia, alii a<br />

45 Van Manen, Corinthiers, 60<br />

46 Gegen Schmithals, NT und Gnosis, 31.<br />

47 ���������� ��� ���� ��� ��� ������������ ��������� ����������� ����� �<br />

�� �� ������ ������� �����������<br />

Eusebius, KG 5.13 – vgl. Harnack, Marcion, 180f.<br />

48 Über Basilides vgl. Iren 1.34.4<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 19<br />

secta legis Judaicae inducti. hos revocat apostolus ad veram (et) evangelicam<br />

sapientiam scribens eis ab Epheso<br />

Die Verkündigung des Apostels geschieht gerade nicht evn peiqoi/ÎjÐ<br />

sofi,aj Îlo,goijÐ wie die der von den Griechen geschätzten Philosophen 49 ,<br />

sondern in evn avpodei,xei pneu,matoj kai. duna,mewj. Wenn Paulus sich hier<br />

gegen gnostische Gegner gewandt hätte, hätte er ihren Anspruch,<br />

göttliche Weisheit zu verkünden, bestritten. Dieser Anspruch wird jedoch<br />

von den Gegnern gar nicht erhoben, wohl aber vom marcionitischen<br />

„Paulus“, 1 Kor 2:4 2:12. Die Weisheit der Gegner ist demgegenüber nur<br />

„Weisheit der Welt“, 2:6. Paulus kämpft also gegen die Verführung der<br />

verbosa eloquentia philosophiae (wie Marcion 50 ).<br />

Daß die Gegner des Paulus eine spiritualisierte Auferstehungslehre im<br />

gnostischen Sinn lehrten, soll aus 1 Kor 15:29 hervorgehen, „denn der<br />

Brauch, sie (dieTaufe) stellvertretend für Verstorbene zu vollziehen ...<br />

setzt doch die Anschauung voraus, sie verleihe das Leben“ 51 . Da der<br />

Verfasser allerdings selber einen „gnostischen“ Standpunkt vertritt und<br />

eine Auferstehung des Fleisches ausdrücklich ausschließt, 1 Kor 15:50, 52<br />

ist es sehr unwahrscheinlich, daß er eben diese Position bei seinen<br />

Gegnern bekämpft haben soll. Ursprünglich wandte sich der Verfasser<br />

wohl gegen die grundsätzliche Leugnung der Auferstehung (ein<br />

Hauptthema der Apologeten, den Zeitgenossen des Verfassers bzw. der<br />

Verfasser der Paulinen), 15:32. – Die Vikariatstaufe (1 Kor 15:29)<br />

beweist nicht, daß die Gegner Gnostiker sind, sondern daß der Verfasser<br />

für eine marcionitische Gemeinde schreibt, in der diese üblich war und<br />

praktiziert wurde 53 .<br />

Die Annahme, die gnostischen Gegner hätten sich selber als Cristo,j (1<br />

Kor 1:12) bezeichnet, kommt ebenfalls dadurch zustande, daß der<br />

49 Oder christlichen Apologeten?<br />

50 Vgl. Harnack, Marcion, 196; vgl. Kol 2:8.<br />

51 Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 133.<br />

52 o[ti sa.rx kai. ai-ma basilei,an qeou/ klhronomh/sai ouv du,natai ouvde. h` fqora. th.n<br />

avfqarsi,an klhronomei/<br />

53 Eznik von Kolb, Wider die Sekten, 4.15 (Übersetzung: Simon Weber; BKV 58,<br />

1920) So ist das Wort zu verstehen und nicht wie Marcion faselt, daß an Stelle eines<br />

verstorbenen Katechumenen sein Nachbar getauft werde, damit es ihm dort angerechnet<br />

werde. Die Marcioniten tun dies auch tatsächlich. - Chrysostomos: In epistulam i ad<br />

Corinthios homilia XL , MPG 61: 9-382. (Cod : 179,224 : Homilet., Exeget., Hypoth.:<br />

corrected) – Engl. Übersetzung: TALBOT W. CHAMBERS, D.D.: What then is that<br />

which he means? Or will ye that I should first mention how they who are infected with<br />

the Marcionite heresy pervert this expression? And I know indeed that I shall excite<br />

much laughter; nevertheless, even on this account most of all I will mention it that you<br />

may the more completely avoid this disease: viz., when any Catechumen departs among<br />

them, having concealed the living man under the couch of the dead, they approach the<br />

corpse and talk with him, and ask him if he wishes to receive baptism; then when he<br />

makes no answer, he that is concealed underneath saith in his stead that of course he<br />

should wish to be baptized; and so they baptize him instead of the departed, like men<br />

jesting upon the stage.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 20<br />

sekundäre Charakter des evgw. de. Cristou/ nicht berücksichtigt wird, das<br />

sowohl bei Marcion (Dial 1.8 + Rufin) als auch im 1. Clemensbrief<br />

fehlt 54 .<br />

Wenn der Verfasser des 1 Kor darauf anspielt, daß einige<br />

Gemeindeglieder ihre „Freiheit“, d.h. Überlegenheit über die kosmischen<br />

Mächte, durch das Essen von Götzenopferfleisch (1 Kor 8:1-13; 10:14-<br />

22; 10:23-11:2) demonstrieren, bezieht sich das höchstwahrscheinlich auf<br />

innergemeindliche, d.h. innermarcionitische Auseinandersetzungen, aber<br />

nicht auf Auseinandersetzungen mit den (von außen kommenden)<br />

Gegnern 55 .<br />

Daß von diesen ein libertinistischer Umgang mit dem Leib gefordert<br />

wurde, kann aus 1 Kor 5:1-13 kaum herausgelesen werden 56 .<br />

Es ist also ein Irrtum, in den von den Briefen bekämpften Gegnern<br />

Gnostiker zu sehen. Der Verfasser ist selber Gnostiker, genauer<br />

Marcionit.<br />

Wenn es sich bei den Gegnern des Paulus tatsächlich um Gnostiker<br />

gehandelt hätte, wäre auch zu fragen, warum Lukas uns in seiner<br />

Apostelgeschichte diese Auseinandersetzung des Apostels mit den<br />

Irrlehrern, an deren Darstellung ihm sicher sehr gelegen sein mußte,<br />

vorenthält. Statt dessen werden die gnostischen/marcionitischen<br />

54 Gleich 4 Quellen bezeugen das Fehlen bei Marcion bzw. in der ursprünglichen<br />

Rezension des 1 Kor:<br />

1) Dial 1.8. o[j me.n ga.r u`mw/n le,gei\ evgw. me,n eivmi Pau,lou( evgw. de. VApollw/(<br />

evgw. de. Khfa/. meme,ristai o` Cristo,jÈ<br />

2) Rufin: et alius dicit: Ego sum Pauli, alius: Ego Apollo, alius: Ego Cephae.<br />

Divisus est Christus?<br />

3) Tert Marc 5.7.9 Habes in praeteritis, Omnia vestra sunt, sive Paulus, sive<br />

Apollo, sive Cephas, sive mundus, sive vita, sivemors, sive praesentia, sive<br />

futura.<br />

4) Der von 1 Cl bzw. dem späteren Redaktor benutzte 1 Kor scheint ebenfalls<br />

noch nichts von einer Christuspartei gewußt zu haben, 47:3: evpV avlhqei,aj<br />

pneumatikw/j evpe,steilen u`mi/n peri. eàutou/ te kai. Khfa/ te kai. VApollw,( dia.<br />

to. kai. to,te proskli,seij u`ma/j pepoih/sqaiÅ<br />

Schließlich fällt auf, daß 1 Kor 3:4 in 3:22 nicht wieder aufgenommen wird. Auch<br />

dies spricht nicht für die Ursprünglichkeit. Zur Aktualität des Parteienstreits im 2.<br />

Jahrhundert, der hier paradigmatisch vorgeführt wird (evpV avlhqei,aj pneumatikw/j<br />

evpe,steilen u`mi/n peri. eàutou/ te kai. Khfa/ te kai. VApollw,) vgl. noch Dial 1.8.<br />

55 Vgl. Anm. 30.<br />

56 Es ist erstaunlich, daß die maßlosen Diffamierungen der Kirchenväter von<br />

Wissenschaftlern bis in die Gegenwart unreflektiert nachgesprochen werden; siehe<br />

Marxsen über die Gnostiker in Korinth, Einleitung 71: „Sie verkehren mit Dirnen...<br />

nehmen an Götzenopfermahlzeiten teil ... und setzen sich dabei rücksichtslos über die<br />

Skrupel der Schwachen hinweg“. In bezug auf die Reinheit der Lebensführung hätte<br />

gewiß mancher Katholik von den Gnostikern lernen können.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 21<br />

Irrlehrer von ihm (wie übrigens auch von dem Verfasser der<br />

Pastoralbriefe) als künftige Bedrohung dargestellt, die Paulus prophetisch<br />

vorausahnt (Apg 20:29ff). Der Verfasser der Apostelgeschichte wußte in<br />

der Mitte des 2. Jahrhunderts also sehr wohl, daß es sich hierbei um ein<br />

Phänomen seiner Gegenwart handelte und daß niemand ihm seine<br />

Darstellung abgenommen hätte, wenn er die Auseinandersetzung des<br />

Paulus mit der Gnosis bereits in die Mitte des 1. Jahrhunderts verlegt<br />

hätte.<br />

Auch für die Bestimmung der Gegner in den Pastoralbriefen ist die<br />

literarkritische Unterscheidung zwischen einer (spät)marcionitischen<br />

Grundschicht und einer späteren Überarbeitung entscheidend 57 . Auch hier<br />

wird deutlich, daß die ursprünglichen Gegner des Verfassers<br />

judaisierende Christen sind (1 Tim 1:4.7; 4:7; 2Tim 4:4; Tit 1:10.14.15).<br />

Der katholische Interpolator hat aus ihnen zusätzlich Gnostiker bzw.<br />

Marcioniten 58 gemacht, mit dem Ergebnis, daß die mit einem solchen<br />

Firnis Übermalten den Exegeten nun als Vertreter eines „jüdischgnostischen<br />

Synkretismus“ 59 erscheinen, die mit keiner der existierenden<br />

gnostischen Richtungen des 2. Jahrhunderts identifiziert werden können.<br />

Eine Gruppe jüdisch-gnostischer Synkretisten, die jüdischen<br />

Geneaologien und Fabeln sowie dem Gesetz anhängt (Tit 1:10; 1:14),<br />

dabei aber gleichzeitig die Ehe verwirft und die Auferstehung<br />

spiritualisiert, ist historisch nirgendwo faßbar. Der Verfasser der<br />

Pastoralbriefe knüpft an vielen Stellen nicht etwa an die<br />

Apostelgeschichte des Lukas, sondern an die apokryphen Paulus(- und<br />

Thecla)-Akten an 60 .<br />

Auch für die Interpretation der Ignatiusbriefe ist, wie Delafosse gezeigt<br />

hat 61 , die Unterscheidung einer marcionitischen Grundschicht und der<br />

späteren katholischen Überarbeitung grundlegend. Die literarische<br />

Scheidung macht deutlich, daß auch hier, wie in den Pastoralbriefen, in<br />

der ersten (marcionitischen) Schicht judaisierende Gegner<br />

(möglicherweise Katholiken) bekämpft werden; erst die späteren<br />

Interpolationen haben daraus Gnostiker gemacht. Der marcionitische<br />

Standpunkt des Verfassers ist besonders im Römerbrief – trotz der<br />

Interpolationen – sehr deutlich; im ignatianischen Epheserbrief (c.19)<br />

57 Katholische Interpolationen in den Pastoralbriefen beispielsweise in folgenden<br />

Versen: 1 Tim 1:8f, 13ff; 2:4ff, 11ff; 4:1ff, 8, 10; 5:14ff, 6:13, 20; 2 Tim. 2:8, 17ff; 3:8.<br />

58 Auf die Antithesen des Marcion bezieht sich 1 Tim 6:20, wie schon Campenhausen<br />

erkannte. Kai. avntiqe,seij th/j yeudwnu,mou gnw,sewj ist antimarcionitische katholische<br />

Interpretation.<br />

59 Wikenhauser/Schmid, Einleitung, 528.<br />

60 1 Tim 1:20 Hymenäus und Alexander; 2 Tim 1:15f Hermogenes Onesiphorus;;<br />

2:18 die Auferstehung ist schon geschehen 4:10f, Denn Demas hat mich verlassen und<br />

diese Welt liebgewonnen und ist nach Thessalonich gezogen, Kreszens nach Galatien,<br />

Titus nach Dalmatien. 14, 17, 19.<br />

61 Henri Delafosse (= Joseph Turmel) Lettres d’Ignace d’Antioche, Paris 1927.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 22<br />

scheint ein alter marcionitischer Erlösermythos anzuklingen; die<br />

katholischen Einschübe sind z.T. sehr gewaltsam in den Text eingefügt 62 .<br />

Äußere Bezeugung<br />

Zum Schluß möchte ich noch einen Blick auf die äußere Bezeugung der<br />

Paulusbriefe im 1./2. Jahrhundert werfen. Lindemann läßt die<br />

Rezeptionsgeschichte der Paulusbriefe 63 mit den von ihm als<br />

„Pseudopaulinen“ betrachteten Kol und Eph und 2 Thess sowie den<br />

Pastoralbriefen als Zeugen für die Existenz der „authentischen“ Briefe<br />

bereits im 1. Jahrhundert beginnen. Da er allerdings den Beweis dafür<br />

schuldig bleibt, daß diese Schreiben aus dem 1. Jahrhundert stammen,<br />

bleibt es bei der apodiktischen Behauptung, die nur den überzeugen<br />

kann, der bereits überzeugt ist.<br />

Sieht man von solchen methodisch fragwürdigen Versuchen ab,<br />

zweifelhafte Zeugen für die Paulusrezeption im 1. Jahrhundert<br />

heranzuschaffen, bleibt als nüchterne Bilanz die von Lindemann mit<br />

unzureichenden Mitteln bestrittene alte Einsicht, daß zwischen der<br />

angeblichen Entstehung der Briefe in der Mitte des 1. Jahrhunderts und<br />

der ersten sicheren kirchlichen Bezeugung gegen Ende des 2.<br />

Jahrhunderts, eine Lücke klafft, so groß, daß sie einer überzeugenden<br />

Erklärung bedarf.<br />

Sucht man diese Erklärung nicht mit den radikalen Befürwortern einer<br />

Spätdatierung darin, daß man die kirchliche Tradition selber in Frage<br />

stellt, welche die Briefe als authentische Schreiben aus der Hand des<br />

Apostels aus der Mitte des 1. Jahrhunderts ansieht, so argumentiert man<br />

üblicherweise damit, daß die Kirche das Erbe des Apostels früh<br />

vergessen oder gar wegen dessen Usurpation durch die Gnostiker<br />

verleugnet habe und erst durch die marcionitische Kanonisierung zur<br />

erneuten Beschäftigung mit ihm gezwungen worden sei 64 .<br />

Eine solche Erklärung ist insofern akzeptabel, als sie sich dem Befund,<br />

d.h. dem weitgehenden Fehlen kirchlicher Zeugen, welche die frühe<br />

Existenz einer Sammlung paulinischer Schriften belegen, stellt, anstatt<br />

ihn, wie Lindemann, einfach hinwegzureden oder zu beschönigen.<br />

Dennoch bleibt auch hier zu fragen, wie es geschehen konnte, daß das<br />

Erbe des Apostels, der sich doch bereits im Kampf mit gnostischen<br />

Gegnern hervorgetan haben soll, von der Kirche über einen solchen<br />

62 Katholische Einschübe liegen vor in: IEph 1:1; 5:3; 7:2; 8:2; 9:1; 10:3; 11:2; 15:1;<br />

18:2; 19:1; 20:1f; IMg 1:2; 5:2; 6:1; 7:1f; 8:2; 9:1f; 11:1; 12:1; 13:1f; ITr 1:1; 2:2; 3:1,<br />

3; 7:1; 8:1; 9:1f; 10:1; 11:2; 12:2; IRoem 4:3; 7:3; IPhilad 1:1; 4:1; 5:1f; 8:1f; 9:2; ISm<br />

1:1f; 2:1; 3:1ff; 4:2; 5:1f; 6:1; 7:1f; 8:1f; 12:2; Pol 1:1f; 13:1f<br />

63 Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 1979.<br />

64 Vgl. die von Lindemann, 1ff, genannten Wissenschaftler.<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 23<br />

großen Zeitraum — einen Zeitraum zumal, in dem sie selber sich in der<br />

Auseinandersetzung mit der Gnosis befand — vernachlässigt, ignoriert,<br />

vergessen wurde? Hätte es nicht näher gelegen, ihn und seine Briefe als<br />

Bollwerk gegen die Gnosis und gegen den Marcionitismus ins Feld zu<br />

führen, anstatt ihn kampflos beiden Gruppen zu überlassen?<br />

Ein Blick auf die Paulusrezeption im 2. Jahrhundert macht schnell<br />

deutlich, daß die überwältigende Mehrzahl der kirchlichen<br />

Repräsentanten in dieser Zeit keinen Paulus und keine paulinischen<br />

Briefe kennt. Die Apostelgeschichte, die m.E. ebenfalls in dieser Zeit<br />

entstanden ist, nimmt ebenso wie die Epistula Apostolorum eine<br />

Sonderrolle ein, weil sie zwar die Lebensgeschichte des Apostels bis zu<br />

seiner Ankunft als Gefangener in Rom berichtet, aber mit keinem<br />

einzigen Wort auf die literarische Tätigkeit des Apostels, d.h. auf seine<br />

Briefe, zu sprechen kommt, was insbesondere vor dem Hintergrund von<br />

2 Kor 10:10 verwunderlich ist, da doch der Ruhm des Apostels in den<br />

christlichen Gemeinden von Anfang an in seiner schriftstellerischen<br />

Tätigkeit begründet gewesen sein soll.<br />

Hier wird deutlich, daß wir uns mit der Abfassung der<br />

Apostelgeschichte rezeptionsgeschichtlich gesehen offenbar in einer<br />

Übergangszeit befinden, in der man kirchlicherseits zwar noch von der<br />

marcionitischen Herkunft der Briefe wußte und sie aus diesem Grunde<br />

auch nicht kirchlich rezipierte, in der man aber bereits an der<br />

Pauluslegende partizipierte. Von hier bis zur Übernahme der im Namen<br />

des Apostels überlieferten pseudepigraphischen Literatur war es nach der<br />

endgültigen großkirchlichen Redaktion der Briefe (zwischen ca. 160-180<br />

n.Chr.) nur noch ein kleiner Schritt.<br />

Lediglich im 1Cl, im Polykarpbrief sowie in den Ignatianen wird<br />

Paulus erwähnt 65 , nicht jedoch bei den übrigen Apostolischen Vätern und<br />

den frühchristlichen Apologeten des 2. Jahrhunderts 66 . Sein Name fällt<br />

auch dort nicht, wo offensichtlich Zitate aus paulinischen Schriften<br />

vorliegen 67 . Anklänge an den Wortlaut einiger Stellen in den Briefen (die<br />

sich oft gerade dort befinden, wo diese überarbeitet wurden 68 ) könnten<br />

65 2x wörtliches Zitat mit gleichzeitigem Hinweis auf Paulus: 1Cl 47:1-3; Pol 11:2; 4x<br />

namentliche Erwähnung des Paulus ohne Zitat: 1Cl 5:3-5; IgnEph 12:2: IRöm 4:3; Pol<br />

3:2.<br />

66 Ich beziehe mich damit auf 1/2 Clemensbrief, Ignatiusbriefe, Polykarpbrief(e),<br />

Hirte des Hermas, Justin (1/2 Apol und Dial), Aristides von Athen, Athenagoras,<br />

Theophil v. Antiochien (An Autolycus). Vgl. zum Ganzen: „Echte und vermeintliche<br />

Paulus-Zitate bei den Apostolischen Vätern und Apologeten (ohne Diognetbrief)“,<br />

www.radikalkritik.de. Der Diognetbrief bleibt bei der Untersuchung unberücksichtigt,<br />

weil er, wie schon Harnack richtig erkannte, vermutlich sehr viel späteren Datums ist.<br />

67 Sehr deutlich: Theophil Autolyc 3:14; 3:14; Aristides Apol 3:2; 8:2; 15;<br />

möglicherweise: Justin Dial 23:4; 120:6.<br />

68 Vgl. Justin 1 Apol 28:3 mit Röm 1:20; 52:5 mit Röm 14:11; 53:5 mit Gal 4:27;<br />

Dial 23:4 mit Röm 4:3.10; Dial 27:1 mit Röm 3:11-17; Dial 39:1 mit Röm 11:3; auch<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 24<br />

sich daraus erklären, daß sowohl die kirchlichen Schriftsteller wie auch<br />

die Verfasser der Paulusbriefe an traditionellen oder zeitbedingten<br />

gemeinchristlichen Vorstellungen und Redewendungen partizipieren.<br />

Möglich ist auch, daß der Interpolator an den ihm geläufigen Wortlaut<br />

der Schriften der kirchlichen Autoren anknüpfte. Das letzte könnte für<br />

Justin, Aristides (Theophil?) zutreffen.<br />

Das Schweigen des Justin in bezug auf Paulus – in der Mitte des 2.<br />

Jahrhunderts – stellt für Lindemann kein Problem dar, da Justin nach<br />

seiner Ansicht nur an alttestamentlicher Tradition interessiert gewesen sei<br />

und aus diesem Grunde kirchlichen Autoren wie Paulus keine Beachtung<br />

geschenkt habe. Doch sollte der Leser nicht wenigstens dort, wo Justins<br />

Aussagen mit denen des Paulus wörtlich übereinstimmen, einen Hinweis<br />

auf den Apostel erwarten dürfen? 69<br />

Überhaupt setzt Lindemann alles daran, die Erwartungen des Lesers<br />

bezüglich einer Erwähnung des Paulus im Werk der kirchlichen Autoren<br />

des 2. Jahrhunderts von vornherein zu dämpfen. So eingestimmt freut<br />

sich dieser am Ende, wenn er den Namen des Apostels überhaupt noch<br />

irgendwo erwähnt findet, was freilich selten genug vorkommt 70 .<br />

Tatsächlich sind der Verfasser des 1. Cl, Pol und der Ignatianen (und<br />

der damit zusammenhängende Polykarpbrief) die einzigen Autoren, die<br />

Paulus erwähnen und namentlich zitieren. Allerdings wird deren<br />

Bedeutung als Zeugen für das Vorhandensein einer paulinischen<br />

Briefsammlung am Anfang bzw. Ende des 1. Jahrhunderts von den<br />

Neutestamentlern maßlos überschätzt.<br />

Der 1. Clemensbrief ist ein jüdisches Schreiben, dessen Ursprünge<br />

möglicherweise noch in das 1. Jahrhundert hinabreichen, und das später<br />

mit einem christlichen Firnis versehen wurde 71 . Auf die literarischen<br />

Einzelheiten kann hier nicht näher eingegangen werden, hier soll es nur<br />

um die den Paulus betreffenden Passagen gehen, die ohne eine spürbare<br />

Sinnlücke zu hinterlassen, aus dem Kontext entfernt werden können.<br />

Auffallend ist daß der Verfasser die früheren Verhältnisse der<br />

Gemeinde in Korinth zunächst ohne jede Einschränkung in einem<br />

positiven Licht darstellt, obwohl er aufgrund der Lektüre des<br />

Korintherbriefes, den er aufgrund von c. 47 angeblich kennt, wissen<br />

sollte, daß die Gemeinde bereits in den ersten Gründungsjahren von einer<br />

schweren Krise erschüttert wurde. Doch kommt er darauf zunächst mit<br />

keinem Wort zu sprechen. Ebensowenig bedient er sich bis zum 47.<br />

Aristides Apol 3;2 mit Röm 1:25; Apol 8:2 mit Röm 1:22; Apol 15 mit Röm<br />

11:36. Theoph v. Ant. 1:4 mit Röm 2:6-7.9; 3:14 mit Röm 13:7.<br />

69 Dial 23:4; 120:6; man beachte auch die an Röm angelehnte Zitatkette Dial 27:1<br />

70 Vgl. Lindemann, 112, über die Erwähnung des Paulus in der Epistula Petri „schon<br />

allein die Tatsache, daß er überhaupt erwähnt wird, in einer Schrift, die ihn ohne<br />

weiteres hätte, übergehen können...“<br />

71 Auf die Verwandtschaft mit jüdischen Diaspora-Schreiben weist E. Peterson hin,<br />

Das Praescriptum des 1. Clemens-Briefes, in Frühkirche, Judentum und Gnosis, 129-<br />

136,<br />

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H. Detering: Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe 25<br />

Kapitel des stärksten Arguments, das ihm zur Schlichtung des Streits von<br />

außen Verfügung gestanden hätte: der Autorität und Schrift des<br />

Gemeindegründers! Der Verfasser läßt noch nicht einmal erkennen, daß<br />

er von der Existenz eines Gemeindegründers namens Paulus wußte. Der<br />

Wortlaut der paulinischen Briefe (insbesondere des Korintherbriefs, der<br />

ihm nach 47 bekannt sein müßte) ist ihm nie gegenwärtig. Er kann ein<br />

Hoheslied der Liebe verfassen, ohne Hinweis darauf, daß bereits der<br />

„selige“ Paulus ein solches in seinem Brief an die Korinther schrieb.<br />

Seine Theologie weist sowenig Einfluß der paulinischen Gedankenwelt<br />

auf, daß Bultmann verblüfft feststellt: „Und dabei hat der Verfasser Rm<br />

und 1, Kor gekannt!“ 72<br />

Erst c. 47 spricht der Verfasser des Clemensbriefes von Paulus. Hier<br />

läßt er zum ersten Mal erkennen, daß er nicht nur Kenntnis vom Streit<br />

innerhalb der korinthischen Gemeinde gehabt hat, sondern daß ihm einige<br />

Passagen aus dem ersten Brief an die Korinther (das Gleichnis vom Leib<br />

und den Gliedern) geläufig sind.<br />

M.E. ist klar, daß dieser Abschnitt in späterer Zeit eingefügt wurde. In<br />

einer Zeit, in der die Paulusbriefe großkirchlich anerkannt worden waren,<br />

sollte erklärt werden, warum der Verfasser des 1 Cl von<br />

Parteienstreitigkeiten in Korinth schreiben konnte – ohne sich dabei auf<br />

den ersten Korintherbrief des Paulus zu beziehen. Aus diesem Grunde<br />

wurde in späterer Zeit (gegen Ende des 2. Jahrhunderts) offenbar eine<br />

Aktualisierung bzw. weitere Auflage des Briefes vorgenommen. Daß es<br />

andere, von der jetzigen Form des Briefes divergierende Versionen<br />

gegeben haben muß, belegt im übrigen auch die Tatsache, daß Irenäus<br />

Haer 3.3.3 über den Inhalt des Schreibens Angaben macht, die nicht zum<br />

jetzigen Brief passen 73 .<br />

Ähnlich wie in c. 47 verhält es sich mit c. 5 (-7.1), in dem Paulus und<br />

Petrus erstmals erwähnt werden. Nach den sieben vom Autoren<br />

aufgezählten exempla für Neid und Eifersucht ist bereits die Vollzahl<br />

erreicht; die christlichen Beispiele, die – noch dazu in gut katholischen<br />

Reihenfolge, zuerst Petrus, dann Paulus – darauf folgen, erscheinen wie<br />

ein Anhängsel, zumal ein Bezug des Themas „Neid und Eifersucht“ zum<br />

Märtyrertod des Petrus und Paulus nicht ersichtlich ist. Die Anspielung<br />

auf die Dirke, 6:2, nimmt offenkundig auf das Martyrium der Blandina<br />

Bezug (ca. †177 in Lyon; Euseb KG 5.1), die nach ihrer Geißelung in ein<br />

Netz/Flechtkorb(?) gehüllt und einem Stier vorgeworfen wurde 74 . Auch<br />

hier zeigt sich, daß die Erwähnung der christlichen Märtyrer, inklusive<br />

Petrus und Paulus, erst später eingefügt worden ist.<br />

72 Bultmann, Theologie des NT, 114<br />

73 Über die Bestrafung des Teufels und seiner Engel: qui ignem praeparavit diabolo et<br />

angelis eius.<br />

74 Soweit wir über die Vorgänge bei der neronischen Verfolgung durch Tacitus<br />

unterrichtet sind, auf die sich der Verfasser nach Meinung vieler Ausleger beziehen soll,<br />

ist eine solche Strafe dort unbekannt gewesen.<br />

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Daß das angebliche Entstehungsdatum des 1. Clemensbriefes mit der<br />

Hypothek vieler Hypothesen belastet ist, über die sich viele<br />

Neutestamentler heute kaum Rechenschaft geben, sei nur am Rande<br />

erwähnt. Theologen, die sonst gerne alles als „phantastisch“ und „bizarr“<br />

bezeichnen, was ihren Vorstellungskreis sprengt, tragen wenig Bedenken,<br />

recht phantasievolle, durch keinerlei solide historische Basis gestützte<br />

Erwägungen über Verfasserschaft und Entstehungszeit des „Briefes“<br />

aufzustellen, indem sie<br />

a) ein Schreiben, das nirgendwo den Anspruch erhebt von Clemens<br />

verfaßt worden zu sein, sondern sich als Schreiben der römischen<br />

an die korinthische Gemeinde gibt, gleichwohl (mit der viel<br />

späteren kirchlichen Tradition) als „Clemensbrief“ zu titulieren;<br />

b) den angeblichen Briefautor Clemens Romanus mit dem Domitian-<br />

Neffen Clemens Flavianus identifizieren;<br />

c) die „Schlag auf Schlag über uns gekommenen Heimsuchungen<br />

und Drangsale“, 1Cl 1:1, mit der domitianischen Verfolgung<br />

gleichsetzen (bei der es sich offenbar gar nicht um eine<br />

allgemeine Verfolgung, sondern speziell um die Verfolgung der<br />

Nachkommen Davids handelte, Eusebius KG, 3.19ff);<br />

d) und dieses Schreiben aufgrund eines solchen Netzes luftiger<br />

Erwägungen in das Jahr 96/97 75 datieren.<br />

Es kann natürlich möglich sein, daß die ältesten (hellenistischsynagogalen)<br />

Bestandteile des Schreibens – bei dem es sich überdies<br />

mehr um eine homiletische Ermahnung zu Eintracht und Frieden in der<br />

Gemeinde als um einen echten Brief handelt – in das 1. Jahrhundert<br />

datiert werden müssen. Am plausibelsten ist aber immer noch die einst<br />

von Volkmar vorgenommene Datierung. Volkmar verlegte die<br />

Entstehungszeit des Briefes, wegen der Erwähnung der Judit, 55:4, und<br />

der Entstehungszeit des Juditbuches frühestens um 118 (als Reaktion auf<br />

den Qietus-Aufstand), in die Zeit nach 118 76 . Die Anspielungen auf<br />

(Petrus und) Paulus gehören in jedem Fall nicht zu den ursprünglichen<br />

Bestandteilen des Schreibens und sind vermutlich erst gegen Ende des 2.<br />

Jahrhunderts angebracht worden.<br />

Zur Unwahrscheinlichkeit der ganzen ignatianischen Überlieferung und<br />

der von der Mehrzahl der Theologen immer noch vorgenommenen<br />

Datierung der im Namen des syrischen Bischofs verfaßten Briefe um 110<br />

hat nach Robert Joly 77 und R. Weijenborg 78 Rius-Camps 79 zuletzt<br />

75 Fischer in seiner Einleitung zum 1. Clemensbrief, 20<br />

76 Volkmar, G. : Über Clemens von Rom und die nächste Folgezeit, mit besonderer<br />

Beziehung auf den Philipper- und Barnabas-Brief, so wie auf das Buch Judith, in: ThJb<br />

(T) 1856, 287-369.<br />

77 Robert Joly, Le dossier d'Ignace d'Antioche. Reflexions methodologiques, in:<br />

Problemes d'Histoire du Christianisme 9, Bruxelles 1980, 31-44.<br />

78 Weijenborg, R., Les Lettres d'Ignace d'Antioche. Etude de critique littéraire et de<br />

théologie, 1969<br />

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Hübner 80 das Notwendige geschrieben. Abgesehen von den<br />

haarsträubenden Unwahrscheinlichkeiten und Absurditäten der<br />

ignatianischen Gefangenschaftsreise enthalten die Briefe (polemische)<br />

Anspielungen auf die valentinianische Gnosis (Mg 8:2) sowie<br />

Berührungen mit der patripassianischen und modalistischen Christologie<br />

des Noet (2. Hälfte des 2. Jahrhunderts) – und zwar interessanterweise<br />

überall dort, wo vermutlich Interpolationen vorliegen. Kombiniert man<br />

Hübners Beobachtungen mit Theorie von Delafosse 81 , nach der auch die<br />

Ignatianen aus marcionitischer Schule stammen, so könnte sich als<br />

Resultat ergeben, daß die ungefähr in der Mitte des 2. Jahrhunderts<br />

entstandenen marcionitischen Schreiben durch Noët oder einen<br />

Geistesverwandten in Kleinasien großkirchlich umgearbeitet wurden.<br />

Mit den Ignatianen ist der Polykarpbrief verbunden. Die Absicht des<br />

Polykarpbriefes besteht zweifellos darin, den (aus marcionitischen<br />

Kreisen stammenden) Ignatiusbriefen kirchliche Autorität zu verleihen.<br />

Ihre Echtheit steht und fällt – von anderen Kriterien einmal abgesehen –<br />

mit derjenigen der Ignatianen. Da diese mit großer Sicherheit<br />

pseudepigraphische Produktionen sind, ist auch der Polykarpbrief kein<br />

authentisches Schreiben.<br />

Ich habe oben versucht, die radikale Spätdatierung der Paulusbriefe in<br />

groben Zügen in den Rahmen der Geschichte des 1./2. nachchristlichen<br />

Jahrhunderts einzupassen.<br />

Es fällt schwer zu begreifen, warum diese Position innerhalb der<br />

neutestamentlichen Wissenschaft bis heute mit Ignoranz oder<br />

unqualifizierten, abfälligen Kommentaren bestraft wird, denen leicht zu<br />

entnehmen ist, daß eine echte Auseinandersetzung mit ihr nicht<br />

stattgefunden hat.<br />

Bleibt nur zu wünschen daß die Prophezeiung Bruno Bauers sich nicht<br />

bewahrheiten möge und die radikalen Kritiker am Ende nur noch<br />

„sprachlos durch Tanzen, durch Convulsionen, durch Verdrehen des<br />

Auges widerlegt“ werden 82 .<br />

79 Joseph Rius-Camps, The four authentic letters of I., the martyr. A critical study<br />

based on the anomalies contained in the textus receptus, Christianismos 2, Rom 1979.<br />

80 R. M. Hübner, Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius:<br />

ZAC 1 (1997) 44-72.<br />

81 Henri Delafosse (= Joseph Turmel) Lettres d’Ignace d’Antioche, Paris 1927.<br />

82 Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 15. Nov. 1841, Nr 117, 469.<br />

Vgl. van den Bergh van Eysinga, Aus einer unveröffentlichten Biographie von Bruno<br />

Bauer Bruno Bauer in Bonn 1839-1842, 381.<br />

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