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Zum wiederholten Male stellen Sie sich die Frage, was Sie falsch machen? Und wie immer, finden<br />
Sie auch diesmal keine Antwort darauf. Ihr Mann kann Ihre Probleme gar nicht nachvollziehen und<br />
Sie haben das Gefühl, dass er Ihnen überhaupt nicht zuhört, wenn Sie sich einmal alles von der<br />
Seele reden wollen. Sie finden sich damit ab und irgendwann sagen Sie auch nichts mehr zu ihm.<br />
Er gerät ja sowieso die paar Stunden nach Feierabend oder am Wochenende gleich aus der<br />
Fassung und reagiert leicht cholerisch ungehalten, wenn die Gören nicht parieren. Nein, sie haben<br />
ihren Jähzorn nicht gestohlen.<br />
Es ist auch sonst niemand da, der Ihnen bedingungslos zuhören würde. Stattdessen werden Sie<br />
immer mit den gleichen dämlichen Bemerkungen abgewürgt. »Selber schuld. Was wolltest Du auch<br />
so viele Kinder?« oder »Mann, bin ich froh, dass ich keine Kinder hab.« Sie geben auch das nach<br />
einiger Zeit auf und fressen mehr oder weniger alles in sich hinein.<br />
Doch irgendwann kommt der Augenblick, an dem Sie sich rächen. Nicht an den Kindern, nein, aber<br />
zumindest ein wenig an Ihrem Mann. Sie müssen ins Krankenhaus. Eine geplante Operation steht an<br />
und Sie nehmen sich fest vor, diesen zweiwöchigen Zwangsurlaub zu genießen. Sie decken sich mit<br />
reichlich Lesematerial ein, denn zuhause haben sie kaum Gelegenheit, mal hemmungslos zu<br />
schmökern. Die Kinder und der Haushalt halten Sie den ganzen Tag auf Trab und abends sind Sie<br />
einfach zu müde, um noch ein gutes Buch zu lesen. Sie haben dafür gesorgt, dass Ihr Mann und die<br />
Kinder erst am Ende der ersten Woche zu Besuch kommen und deshalb leisten Sie sich den Luxus<br />
eines eigenen Telefons, um wenigstens telefonischen Kontakt mit der Familie zu halten. Bei den<br />
abendlichen Anrufen Ihres Mannes erfahren Sie dann alle Neuigkeiten. Er hat natürlich keinerlei<br />
Schwierigkeiten, es gibt überhaupt keine Probleme und Sie fühlen sich für einen Moment unfähig,<br />
überflüssig und absolut inkompetent. Aber der Augenblick der Wahrheit naht.<br />
»Stell Dir vor, was Dein Sohn heute gemacht hat.« Genau so, fährt er jeden Abend fort.<br />
Sie sind erleichtert, nachdem die Brut nebst Ihrem Mann nach dem Besuch bei Ihnen wieder<br />
abzieht. Obwohl Ihnen die Kinder mächtig fehlen, aber dies würden Sie nicht zugeben. Auch an<br />
diesem Abend klingelt Ihr Telefon. Es ist Ihr Mann, der eine dringende Beschwerde anzubringen<br />
hat. »Weißt Du eigentlich, was die Jungs heute gemacht haben, als wir zum Parkplatz gegangen<br />
sind?«<br />
»Nein, weiß ich nicht.« Woher auch, denken Sie und Ihr Mann erzählt Ihnen die Geschichte. Er<br />
erzählt, wie die beiden laut lachend vor ihrem Vater davongelaufen sind und immer wieder »Hilfe,<br />
der Mann will uns schlagen« gebrüllt haben und er sich von mindestens fünfundzwanzig<br />
missmutigen bis wütenden Blicken der ankommenden Besucher bombardiert sah. »Das war<br />
wahnsinnig peinlich«, bemerkt er und der unterschwellige Vorwurf in seiner Stimme ist nicht zu<br />
überhören. Die Haare stehen Ihnen zu Berge, aber Sie können Ihr Grinsen nicht unterdrücken. Das<br />
müssen Sie ja auch nicht, denn er kann Sie ja nicht sehen.<br />
Zwischen Ihren regelmäßigen Rehabilitations-Anwendungen, den mehr oder weniger sporadischen<br />
Besuchen von Freunden und Verwandten und dem Genuss des Lesens, haben Sie genug Zeit, um