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Leseprobe Gute Arbeit 9_2017

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titelthema gute interaktionsarbeit <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> 9 | <strong>2017</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> mit Menschen<br />

humanisieren<br />

gesundheitsschutz Anpi f vom Kunden, gute Miene in der Intensiv-Pfl ege: Interaktiv<br />

arbeitenden Beschäftigten wird auch durch diese Faktoren viel Fachliches abverlangt.<br />

Dienstleistungsarbeit von Mensch zu Mensch folgt eigenen Gesetzen und braucht<br />

besondere Gestaltungskonzepte. Die fehlen bisher in der Breite.<br />

VON NADINE MÜLLER UND ANKE THOREIN<br />

8


<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> 9 | <strong>2017</strong><br />

gute interaktionsarbeit<br />

titelthema<br />

<strong>Arbeit</strong> mit Menschen, also mit<br />

Kund(inn)en, Klient(inn)en,<br />

Patient(inn)en, Bürger(inn)en, 1 ist<br />

Interaktionsarbeit. Die Bedeutung<br />

und Verbreitung dieser <strong>Arbeit</strong> nimmt stetig zu<br />

– nicht zuletzt durch die Digitalisierung: Sie<br />

automatisiert vor allem Routinetätigkeiten,<br />

nicht nur in der Industrie. Tätigkeiten, die vermehrt<br />

soziale und kreative »Intelligenz« verlangen,<br />

nehmen zu, der Dienstleistungssektor<br />

wächst.<br />

Inzwischen arbeiten 66% der Beschäftigten<br />

sehr häufig oder oft interaktiv – und zwar über<br />

alle Branchen hinweg. Diese Form der <strong>Arbeit</strong><br />

betrifft auch die Industrie, wenn auch der Anteil<br />

im Dienstleistungssektor mit 76% am höchsten<br />

ist (vgl. ver.di 2011). Der Bereich industrienaher<br />

Dienstleistungen wächst – mit einem höheren<br />

Anteil der Tätigkeiten, bei denen der Kontakt<br />

mit Kunden dazugehört: es gibt vermehrt<br />

Einzelfertigung, boomende Bereiche wie IT,<br />

Forschung und Entwicklung etc. Mittlerweile<br />

arbeiten ca. 70% der Beschäftigten in Deutschland<br />

im Dienstleistungssektor, der einen großen<br />

Beitrag zur Wertschöpfung leistet.<br />

Um eine Dienstleistung zu erstellen,<br />

müssen die Beschäftigten mit Menschen interagieren:<br />

sie müssen kommunizieren, sich<br />

verständigen, etwas vereinbaren/aushandeln,<br />

miteinander umgehen, sich einlassen und Kontakt<br />

pflegen. Standard dabei ist: Beschäftigte<br />

müssen bei der <strong>Arbeit</strong> mit Menschen ständig<br />

mit Unwägbarkeiten und Unvorhergesehenem<br />

umgehen können.<br />

Modell der Interaktionsarbeit<br />

Fritz Böhle hat dazu ausgeführt: »Erst in den<br />

letzten Jahren entstanden im deutschsprachigen<br />

Raum theoretische Konzepte, die diesen<br />

Kern von Dienstleistungsarbeit dezidiert in<br />

den Blick nehmen: das arbeitspsychologische<br />

Konzept der ‘dialogisch-interaktiven Erwerbsarbeit‘<br />

(Hacker 2009) sowie die soziologischen<br />

Konzepte der ‚interaktiven <strong>Arbeit</strong>‘ (Dunkel/<br />

Weihrich 2012) und der ‘Interaktionsarbeit‘<br />

(Böhle/Glaser 2006).« 2<br />

Letzteres wird als ein Erklärungsmodell<br />

bzw. Konzept gesehen, das alle Anforderungen<br />

an Beschäftigte beinhaltet, die bisher mit<br />

<strong>Arbeit</strong> in Dienstleistungsbeziehungen verbunden<br />

werden. Interaktive <strong>Arbeit</strong> wird zu einem<br />

erheblichen Teil nach dem Uno-actu-Prinzip<br />

geleistet, das heißt: Zumeist ist der Empfänger<br />

bereits bei der Erstellung der Dienstleistung<br />

beteiligt. Es ist kaum möglich, einen Patienten<br />

zu waschen, wenn er nicht kooperiert. Häufig<br />

sind also »Produktion« und »Konsum« der<br />

Dienstleistung ein Vorgang. Bei einer Beratungsleistung<br />

ist das offensichtlich.<br />

Prägende Elemente der Interaktion sind<br />

Kooperations- und Emotionsarbeit. Zudem ist<br />

»subjektivierendes <strong>Arbeit</strong>shandeln« gefragt:<br />

der flexible Umgang mit Unwägbarkeiten, das<br />

Eingehen auf Konflikte, Gefühlslagen und<br />

Befindlichkeiten. 3 Diese besonderen Merkmale<br />

sind bei der <strong>Arbeit</strong>sorganisation und<br />

-gestaltung zu berücksichtigen. Werden sie ignoriert,<br />

entstehen besondere Belastungen z. B.<br />

aufgrund fehlender oder mangelnder Ressourcen.<br />

Typische <strong>Arbeit</strong>sbelastungen<br />

Dass die <strong>Arbeit</strong> mit Kunden, Patienten und<br />

Klienten besondere und zusätzliche Belastungen<br />

in der betrieblichen Praxis mit sich<br />

bringt, zeigt bspw. die <strong>Arbeit</strong>sberichterstattung<br />

mit dem DGB-Index <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> (2011). In<br />

der Broschüre 4 wird darauf verwiesen, dass<br />

Beschäftigte, die immer mit Kunden, Patienten,<br />

Klienten arbeiten, einige ihrer <strong>Arbeit</strong>sbedingungen<br />

deutlich schlechter beurteilen als<br />

diejenigen, die fast nie mit Kundschaft zu tun<br />

haben. Das betrift insbesondere Belastungen<br />

durch die <strong>Arbeit</strong>sintensität, <strong>Arbeit</strong>szeit sowie<br />

emotionale Anforderungen.<br />

Über ein Drittel der Beschäftigten, die immer<br />

interaktiv arbeiten, sind in (sehr) hohem<br />

Maße dazu angehalten, ihre Gefühle zu verbergen.<br />

Über die Hälfte dieser Beschäftigtengruppe<br />

ist im Jahr vor der Befragung zweimal<br />

oder öfter zur <strong>Arbeit</strong> gegangen, »obwohl sie<br />

sich richtig krank gefühlt haben«. Der Anteil<br />

liegt um acht Prozentpunkte höher als in der<br />

Gruppe, die fast nie mit Kundschaft arbeiten<br />

(ebd., S. 24). Ein Grund dafür: Beschäftigte<br />

wollen Termine mit Kunden einhalten, Patienten<br />

nicht im Stich lassen, oft ist keine Vertretung<br />

gewährleistet. 5 Ist die <strong>Arbeit</strong>sbelastung<br />

dauerhaft (zu) hoch, ergeben sich spezifische<br />

Gestaltungsbedarfe, um die Gesundheit zu<br />

schützen.<br />

Gewaltige Gestaltungsdeizite<br />

Die besonderen Belastungen von Interaktionsarbeit<br />

werden unzureichend von den zu-<br />

darum geht es<br />

1. Handel, Pflege,<br />

Beratung, IT-Prozesse:<br />

Die Merkmale von <strong>Arbeit</strong><br />

mit oder an Menschen<br />

werden im Gesundheitsschutz<br />

kaum systematisch<br />

bewertet und<br />

gestaltet.<br />

2. Es fehlen arbeitswissenschaftliche<br />

Erkenntnisse,<br />

die der Interaktionsarbeit<br />

gerecht<br />

werden, um besondere<br />

Belastungen gezielt zu<br />

vermindern.<br />

3. Erste Ansätze zur<br />

<strong>Arbeit</strong>sgestaltung vermitteln<br />

Aufbruchstimmung:<br />

In Projekten werden<br />

psycho-mentale Beanspruchungen<br />

bearbeitet,<br />

Forschungsarbeiten unter<br />

betrieblicher Beteiligung<br />

sind im Gang.<br />

1 Im Folgenden werden die kürzeren (männlichen) Formen wegen<br />

des Platzes/der Sprachökonomie verwendet.<br />

2 Böhle et al. 2015, S. 17.<br />

3 Ebenda, S. 19.<br />

4 ver.di 2011, S. 13.<br />

5 Insbesondere Studien aus Krankenhäusern belegen den<br />

Zusammenhang.<br />

9


trends »<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> kann begeistern«<br />

<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> 9 | <strong>2017</strong><br />

»<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> kann<br />

begeistern«<br />

arbeitsgestaltung Was ist <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>? Ist das <strong>Arbeit</strong>s- und Gesundheitsschutz<br />

pur? Ist das ein arbeitspolitischer Begrif der Gewerkschaften?<br />

Das Jubiläum »10 Jahre ver.di-Initiative <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« ist Anlass,<br />

bei Lothar Schröder genauer nachzufragen.<br />

FRAGEN DER REDAKTION<br />

darum geht es<br />

1. Vor zehn Jahren hat<br />

ver.di aus der Technologieabteilung<br />

den Bereich<br />

»Innovation und <strong>Gute</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>« geschaffen.<br />

Betriebliche Beratung<br />

und Beteiligung an<br />

Forschungsprojekten sind<br />

einige Meilensteine.<br />

2. ver.di hat zuvor an<br />

der Entwicklung des<br />

DGB-Index <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

mitgewirkt und setzt seit<br />

Jahren auf Sonderauswertungen<br />

des Index für die<br />

Dienstleistungsbranchen.<br />

3. Daraus wurde die<br />

ver.di-<strong>Arbeit</strong>sberichterstattung<br />

aus Sicht der<br />

Beschäftigten aufgebaut:<br />

Aus Defiziten der <strong>Arbeit</strong>squalität<br />

werden Gestaltungsansätze<br />

abgeleitet.<br />

Was verbindet Sie mit der gewerkschaftlichen<br />

Kampagne<br />

»<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>«? Gehören Sie<br />

zu den Taufpaten? Also als<br />

Taufpaten würde ich mich nicht sehen. Aller<br />

Lebenserfahrung nach, tauchen diese einmal<br />

auf, wenn ein Kind einen Namen bekommt<br />

und werden dann nur noch auf Familienfeiern<br />

gesehen. Es ist wohl eher eine Mischung aus<br />

Coach, Vermesser und Mitinitiator, die mich<br />

und unser ganzes Team mit unserer Initiative<br />

»<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« verbindet. Wir helfen unter anderen<br />

Mitbestimmungsakteuren dabei, »<strong>Gute</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>« zu thematisieren und Maßstäbe dafür<br />

zu entwickeln, was eigentlich <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> ausmacht.<br />

Persönlich verbinden mich Anspruch, Stolz<br />

und Geschichte mit unserer Initiative »<strong>Gute</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>«. Ich mache seit 1976 Gewerkschaftsarbeit.<br />

In den Folgejahren musste Widerstand<br />

organisiert werden, gegen eine politische, oft<br />

auch gegen eine betriebliche Entwicklung, die<br />

der <strong>Arbeit</strong>squalität ihre Relevanz nahm. Ich<br />

erinnere mich an das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz<br />

von 1985, bei dem<br />

es schon im Gesetzentwurf hieß: »Für einen<br />

<strong>Arbeit</strong>ssuchenden ist eine – wenn auch zunächst<br />

nur befristete <strong>Arbeit</strong> – besser als gar<br />

keine <strong>Arbeit</strong>«. Später wurde »Hauptsache<br />

<strong>Arbeit</strong>« auf Wahlplakate geschrieben, um einen<br />

Raubbau bei der <strong>Arbeit</strong>squalität, der Absicherung<br />

und den Konditionen zu begründen.<br />

Beschäftigte erlebten, oder besser sie erlitten,<br />

Prekarisierung, eine überbordende Ergebnisorientierung,<br />

eine ständige Neuorganisation<br />

in den Betrieben, die Auslagerung von Leistungen<br />

und einen <strong>Arbeit</strong>sdruck, der ständig<br />

wuchs. Zu dieser Zeit haben wir den DGB-<br />

Index »<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« entwickelt, als Maßstab<br />

dafür, was <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> ausmacht, aber auch<br />

als Antwort auf einen Finanzkennzahlen-Fetischismus<br />

in den Betrieben. Heute können<br />

wir feststellen, dass es gelang, die Qualität der<br />

<strong>Arbeit</strong>sbedingungen auf die Tagesordnung zu<br />

setzen.<br />

Ist »<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« etwas, für das man Menschen<br />

begeistern kann? Klar ist »<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>«<br />

begeisterungsfähig, schließlich hat das<br />

Thema mit Zufriedenheit, Wohlbeinden und<br />

Sinn bei der <strong>Arbeit</strong> zu tun. Wir haben am Anfang<br />

unserer Initiative die arbeitenden Menschen<br />

danach gefragt, was sie mit dem Thema<br />

»<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« verknüpfen und wie bedeutsam<br />

ihnen die einzelnen Elemente sind. Daraus<br />

haben wir unser Bild für »<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« entwickelt.<br />

Übrigens hat es sich sogar in der ver.di-<br />

Grundsatzerklärung niedergeschlagen. Der<br />

Begrif ist keineswegs vage und unbestimmt, er<br />

hat Substanz, auch wenn er knapp und stark<br />

verdichtet für vieles steht. Oft sind es die knappen<br />

Botschaften, die Gewicht haben. Denken<br />

wir an die 10 Gebote oder so prägende Begriffe<br />

wie Nachhaltigkeit und Vertrauen.<br />

Wenn Sie »<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« durchbuchstabieren:<br />

Was gehört dazu? Wir buchstabieren<br />

»<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« sicherlich anders, als renditegetriebene<br />

Manager dies tun würden. Für uns<br />

stehen die Erwerbstätigen und deren Sicht bei<br />

20


<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> 9 | <strong>2017</strong><br />

»<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> kann begeistern«<br />

trends<br />

der <strong>Arbeit</strong>sgestaltung im Zentrum. Eine »<strong>Arbeit</strong>spolitik<br />

von unten« bedeutet, die Ansprüche<br />

der Beschäftigten auf direkte Beteiligung<br />

bei der Gestaltung ihrer <strong>Arbeit</strong>sbedingungen<br />

als Ausgangspunkt zu deinieren. In vielen Betrieben<br />

läuft der arbeitende Mensch Gefahr,<br />

zur bloßen Dispositionsmasse in einem Optimierungsalgorithmus<br />

degradiert zu werden.<br />

Dort wird <strong>Arbeit</strong> nur als eine Ressource gesehen,<br />

um effizient Erträge zu erwirtschaften.<br />

Für uns hat <strong>Arbeit</strong> mit Sinn, mit Partizipation,<br />

natürlich mit Sicherheit des <strong>Arbeit</strong>splatzes und<br />

angemessenen Einkommen zu tun, aber auch<br />

mit Kollegialität, hochwertiger Führung und<br />

der Einbindung in Informationsflüsse. <strong>Gute</strong><br />

<strong>Arbeit</strong> vermeidet körperliche und psychische<br />

Fehlbeanspruchungen, zehrt die arbeitenden<br />

Menschen nicht aus und fördert ihre Persönlichkeitsrechte<br />

etc.<br />

Warum hat ver.di eine eigene Initiative gegründet,<br />

wie ist die aufgestellt? Unsere Initiative<br />

will dem Thema Gewicht geben. Ganz<br />

am Anfang hatten wir im Rahmen eines Trendwendeprojektes<br />

des Deutschen Gewerkschaftbundes<br />

den Job übernommen, mit Wissenschaftlern<br />

den DGB-Index »<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« zu<br />

entwickeln. <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> bei ver.di hatte von<br />

Beginn an, und insbesondere ab dem ver.di-<br />

Bundeskongress 2007, die Rückendeckung<br />

der Gesamtorganisation. Das hat sich dann in<br />

der Deklaration des »Rechts auf <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>«<br />

durch den ver.di-Gewerkschaftsrat 2010 manifestiert.<br />

2007 haben wir unsere ursprüngliche<br />

Technologieabteilung zur Abteilung »Innovation<br />

und <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« entwickelt, um dem Thema<br />

Dauerhaftigkeit zu geben und es mit Innovation<br />

und Vorausschau zu verknüpfen.<br />

Heute fragen wir mit unserem Innovationsbarometer<br />

Betriebs- und Aufsichtsräte danach,<br />

wie sie Entwicklungstrends einschätzen,<br />

wir fördern Indexbefragungen und entwickeln<br />

Themen, die aus den Befragungen zum Thema<br />

»<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>« als relevant identifiziert werden<br />

oder von denen wir annehmen können,<br />

dass sie in Zukunft an Relevanz gewinnen.<br />

Der Bereich »Innovation und <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>«<br />

sorgt zudem für eine sehr geschätzte <strong>Arbeit</strong>s-<br />

Lothar Schröder gehört<br />

seit 2006 dem ver.di-<br />

Bundesvorstand in Berlin<br />

an. Er ist u. a. zuständig<br />

für Telekommunikation,<br />

Informationstechnologien,<br />

Datenverarbeitung<br />

und den Bereich Innovation<br />

und <strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong>.<br />

<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> im Handel:<br />

Neben gesundheitsförderlichen<br />

<strong>Arbeit</strong>sbedingungen<br />

sind verlässliche<br />

<strong>Arbeit</strong>szeiten, ein<br />

sicheres <strong>Arbeit</strong>sverhältnis<br />

und eine faire Bezahlung<br />

wichtig.<br />

21


arbeitsschutz und arbeitsgestaltung Betriebsratsarbeit und <strong>Arbeit</strong>szeitgesetz<br />

<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> 9 | <strong>2017</strong><br />

Betriebsratsarbeit<br />

und <strong>Arbeit</strong>szeitgesetz<br />

rechtsprechung Mitglieder von Betriebsräten, die zwischen zwei<br />

Schichten an einer Betriebsratssitzung teilnehmen, können den<br />

<strong>Arbeit</strong>splatz vorzeitig verlassen, um eine 11-stündige Ruhezeit vor<br />

der Sitzung einzuhalten. Die wegweisende Entscheidung des<br />

Bundesarbeitsgerichts stärkt Betriebsräte.<br />

VON JÜRGEN RATAYCZAK<br />

Demzufolge hat ein Betriebsratsmitglied Anspruch<br />

auf bezahlte <strong>Arbeit</strong>sbefreiung, wenn<br />

es an einer außerhalb seiner persönlichen<br />

<strong>Arbeit</strong>szeit stattindenden Betriebsratssitzung<br />

teilnimmt und es deshalb unmöglich oder undarum<br />

geht es<br />

1. Nach dem Bundesarbeitsgericht<br />

(BAG)<br />

gelten Regelungen nach<br />

dem <strong>Arbeit</strong>szeitgesetz<br />

analog auch für die<br />

Betriebsratstätigkeit.<br />

2. Danach ist eine<br />

ungestörte Ruhezeit von<br />

elf Stunden zu ermöglichen<br />

– frei von <strong>Arbeit</strong> für<br />

den <strong>Arbeit</strong>geber und von<br />

Betriebsratsaufgaben.<br />

3. Das BAG schafft<br />

damit Klarheit auf einem<br />

umstrittenen Gebiet:<br />

Betriebsratstätigkeit bei<br />

Schichtarbeit darf den<br />

Gesundheitsschutz und<br />

das Entgelt nicht schmälern.<br />

Ein lange währender Streit zwischen<br />

Betriebsratsmitgliedern in Schichtarbeit<br />

und <strong>Arbeit</strong>gebern ist jetzt<br />

durch das Bundesarbeitsgericht<br />

(BAG) 1 im Interesse der Betriebsratsmitglieder<br />

geregelt worden. In dem zu entscheidenden<br />

Fall hat ein nicht freigestelltes Mitglied des Betriebsrates<br />

vom <strong>Arbeit</strong>geber die Gutschrift von<br />

Stunden auf seinem <strong>Arbeit</strong>szeitkonto verlangt.<br />

Als Anlagenbediener ist er im Rahmen einer<br />

35-Stunden-Woche im 3-Schicht-Betrieb tätig. 2<br />

Im Juli 2013 war das Betriebsratsmitglied<br />

für die Nachtschicht von 22.00 Uhr bis 6.00<br />

Uhr eingeteilt. Unter Abzug einer Pause von<br />

0,5 Std. hätte er in dieser Nachtschicht 7,5<br />

Stunden gearbeitet. Da am folgenden Tag um<br />

13.00 Uhr eine Betriebsratssitzung anberaumt<br />

worden war, beendete das Betriebsratsmitglied<br />

um 2.30 Uhr seine <strong>Arbeit</strong>.<br />

In der Zeit von 13.00 bis 15.30 Uhr nahm<br />

er an der Betriebsratssitzung teil. Dem <strong>Arbeit</strong>szeitkonto<br />

des Betriebsratsmitgliedes schrieb<br />

der <strong>Arbeit</strong>geber für die Nachtschicht insgesamt<br />

5,5 Stunden für den Zeitraum vom 22.00<br />

Uhr bis 3.00 Uhr (unter Abzug der Pause von<br />

0,5 Stunden) und für die Zeit von 5.00 Uhr bis<br />

6.00 Uhr auf dem <strong>Arbeit</strong>szeitkonto gut. Für die<br />

Teilnahme an der Betriebsratssitzung zahlte<br />

der <strong>Arbeit</strong>geber dem Betriebsratsmitglied eine<br />

pauschale Vergütung in Höhe von 60,00 Euro<br />

brutto.<br />

In der sich anschließenden Nachtschicht<br />

arbeitete der Kläger wie üblich ab 22.00 Uhr.<br />

Der <strong>Arbeit</strong>geber war der Auffassung, dass das<br />

Betriebsratsmitglied seine <strong>Arbeit</strong> in der Nachtschicht<br />

erst um 5.00 Uhr, also eine Stunde<br />

vor Schichtende, hätte beenden dürfen. Seiner<br />

Meinung nach sei eine Erholungspause<br />

von acht Stunden angemessen und zumutbar<br />

gewesen. Vor dem BAG hat das Betriebsratsmitglied<br />

die Gutschrift von 4,5 Stunden auf<br />

seinem <strong>Arbeit</strong>szeitkonto verlangt: für zwei<br />

Stunden der Nachtschicht und für 2,5 Stunden<br />

Betriebsratstätigkeit (Betriebsratssitzung).<br />

<strong>Arbeit</strong>szeitgesetz indet<br />

mittelbar Anwendung<br />

Das BAG hat den Anspruch in vollem Umfang<br />

bestätigt – auf Grundlage des § 37 Abs. 2<br />

Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Die<br />

Vorschrift soll verhindern, dass ein Betriebsratsmitglied<br />

durch erforderliche Betriebsratstätigkeit<br />

eine Entgelteinbuße erleidet. Nach<br />

der ständigen Rechtsprechung des BAG 3 darf<br />

auch eine außerhalb der <strong>Arbeit</strong>szeit liegende<br />

Betriebsratstätigkeit keine Minderung des <strong>Arbeit</strong>sentgeltes<br />

verursachen, wenn die <strong>Arbeit</strong>sleistung<br />

dadurch unmöglich oder unzumutbar<br />

war.<br />

Anspruch auf <strong>Arbeit</strong>sentgelt<br />

1 BAG 18.1.<strong>2017</strong> – 7 AZR 224/15<br />

2 Für das <strong>Arbeit</strong>sverhältnis gilt der Manteltarifvertrag für die<br />

Metall- und Elektroindustrie Nordrhein Westfalen vom 18.<br />

Dezember 2003 (EMTV).<br />

3 BAG 7.6.1989 – 7 AZR 500/88<br />

30


<strong>Gute</strong> <strong>Arbeit</strong> 9 | <strong>2017</strong><br />

Betriebsratsarbeit und <strong>Arbeit</strong>szeitgesetz<br />

arbeitsschutz und arbeitsgestaltung<br />

zumutbar ist, die <strong>Arbeit</strong>szeit vor oder nach<br />

der Sitzung einzuhalten. 4 Das BAG stellt bei<br />

der Frage, was »unzumutbar« ist, auf den<br />

Schutzzweck des § 5 Abs. 1 <strong>Arbeit</strong>szeitgesetz<br />

(ArbZG) ab, sowie es die Vorinstanz, das Landesarbeitsgericht<br />

(LAG) Hamm, 5 getan hat.<br />

Danach steht nach Beendigung der täglichen<br />

<strong>Arbeit</strong>szeit einem <strong>Arbeit</strong>nehmer eine ununterbrochene<br />

Ruhezeit von mindestens 11 Stunden<br />

zu.<br />

Die Frage, ob die Zeit der Betriebsratstätigkeit<br />

<strong>Arbeit</strong>szeit im Sinne des ArbZG ist,<br />

lässt das BAG offen. Denn auch dann, wenn<br />

man diese Frage verneint, ist die in § 5 Abs. 1<br />

ArbZG zum Ausdruck kommende Wertung<br />

zu berücksichtigen: Ein Betriebsratsmitglied,<br />

das zwischen zwei Nachtschichten an einer<br />

Betriebsratssitzung teilzunehmen hat, kann<br />

die <strong>Arbeit</strong> in der vorherigen Nachtschicht vor<br />

dem Ende der Schicht einstellen, um eine ununterbrochene<br />

Ruhezeit von 11 Stunden am<br />

Tag zu erreichen. In der Ruhezeit ist weder<br />

<strong>Arbeit</strong>sleistung noch Betriebsratstätigkeit zu<br />

erbringen.<br />

Zu Recht verweist das BAG darauf, dass<br />

die in § 5 Abs. 1 ArbZG normierte Erholungszeit<br />

durch Betriebsratstätigkeit genauso beeinträchtigt<br />

wird wie durch die <strong>Arbeit</strong>sleistung für<br />

den <strong>Arbeit</strong>geber. Es stellt fest, dass Betriebsratstätigkeit<br />

volle Aufmerksamkeit und geistige<br />

Leistungsfähigkeit erfordert; sie steht nicht<br />

den Anforderungen nach, die bei der vertraglich<br />

geschuldeten <strong>Arbeit</strong>sleistung gelten. Auch<br />

wenn ein Betriebsratsmitglied nach § 37 Abs. 1<br />

BetrVG ein Ehrenamt ausübt, steht die Mandatsausübung<br />

im unmittelbaren Bezug zum<br />

<strong>Arbeit</strong>sverhältnis. Daher ist Betriebsratstätigkeit<br />

anders zu behandeln als sonstige in der<br />

Freizeit geleistete ehrenamtliche <strong>Arbeit</strong>.<br />

Ausgleichsanspruch für<br />

die Betriebsratssitzung<br />

Das Betriebsratsmitglied hat also zu Recht um<br />

2.30 Uhr seine <strong>Arbeit</strong> eingestellt. Denn anders<br />

hätte es keine ununterbrochene Erholungszeit<br />

von 11 Stunden bis zur Betriebsratssitzung um<br />

13.00 Uhr einhalten können, zumal bereits ab<br />

22.00 Uhr die nächste Nachtschicht bevorstand.<br />

Weil es dem Betriebsratsmitglied nicht<br />

zumutbar war, über 3.00 Uhr (einschl. der Pause)<br />

hinaus bis 6.00 Uhr zu arbeiten, steht ihm<br />

für diese Zeit ein Vergütungsanspruch nach<br />

§ 37 Abs. 2 BetrVG zu. In dem vorliegenden<br />

Fall ist zu beachten, dass der Anspruch auf<br />

eine Zeitgutschrift an die Stelle dieses Vergütungsanspruches<br />

tritt, da das <strong>Arbeit</strong>szeitkonto<br />

nur in anderer Form den Vergütungsanspruch<br />

ausdrückt.<br />

Anspruchsgrundlage für die Zeitgutschrift<br />

von 2,5 Stunden für die außerhalb der <strong>Arbeit</strong>szeit<br />

erbrachte Betriebsratstätigkeit ist<br />

§ 37 Abs. 3 BetrVG. Danach hat ein Betriebsratsmitglied<br />

zum Ausgleich für Betriebsratstätigkeit,<br />

die betriebsbedingt außerhalb der<br />

<strong>Arbeit</strong>szeit durchzuführen ist, Anspruch auf<br />

entsprechende <strong>Arbeit</strong>sbefreiung unter Fortzahlung<br />

des <strong>Arbeit</strong>sentgeltes.<br />

Allgemein anerkannt ist, dass es sich um<br />

einen betriebsbedingten Grund handelt, wenn<br />

die Betriebsratstätigkeit eines in Schicht arbeitenden<br />

Betriebsratsmitgliedes in dessen<br />

schichtfreie Zeit fällt und damit außerhalb seiner<br />

persönlichen <strong>Arbeit</strong>szeit liegt. 6<br />

Die <strong>Arbeit</strong>sbefreiung ist vor Ablauf eines<br />

Monats zu gewähren. Das bedeutet: Der <strong>Arbeit</strong>geber<br />

stellt das Betriebsratsmitglied von<br />

seiner vertraglichen Pflicht frei, <strong>Arbeit</strong>sleistung<br />

erbringen zu müssen, und zwar unter<br />

Fortzahlung seiner Vergütung, und reduziert<br />

so im Ergebnis dessen Sollarbeitszeit.<br />

Zwar kann sich ein Anspruch auf Freizeitausgleich<br />

in einen Abgeltungsanspruch nach<br />

§ 37 Abs. 3 Satz 3 BetrVG umwandeln. Voraussetzung<br />

dafür ist aber, dass die <strong>Arbeit</strong>sbefreiung<br />

aus betriebsbedingten Gründen nicht<br />

möglich ist. In dem vorliegenden Fall ergibt<br />

sich dazu aber nichts aus dem Sachverhalt.<br />

Auch Betriebsratsarbeit<br />

ist <strong>Arbeit</strong>: Die ununterbrochene<br />

Ruhezeit von<br />

elf Stunden steht auch<br />

den Mitgliedern der<br />

Gremien zu.<br />

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4 BAG a.a.O<br />

5 LAG Hamm 20.2.2015 – 13 Sa 1386/14, AiB 2015, Ausgabe 7–8,<br />

S. 63 mit Anm. Gün/Karthaus.<br />

6 BAG vom 16.4.2003 – 7 AZR 423/1<br />

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