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16<br />
Eine Zigarre fällt vom Himmel<br />
von Peter Drescher, Tiefenort<br />
Unheimliches Rauschen, Bellen und<br />
Schnaufen. Es ist so, als schüttle sich<br />
das Luftschiff L 55. Das Rattern der Maschinen<br />
wird nur vom Brausen und Tosen<br />
der Stürme übertönt. Kapitän Flemming,<br />
großgewachsen, breitschultrig, mit<br />
hager-verwegenem Gesicht, späht aus<br />
dem Fenster, schiebt die exakt sitzende<br />
Mütze ein wenig nach hinten und<br />
rollt die Unterlippe ein. Ja, er weiß, wie<br />
seiner Mannschaft bei diesem gefährlichen<br />
Flug zumute ist. Vor jedem dieser<br />
unsinnigen Einsätze wälzen sich bei<br />
den Leuten Angst und Schrecken heran.<br />
Flemming schnellt herum, ein Blick auf<br />
den Höhenmesser lässt ihn erkennen,<br />
dass der zitternde Pfeil des klobigen<br />
kreisrunden Gerätes auf 2000 steht.<br />
Bei dieser Brisanz ist das nicht hoch<br />
genug. Und Flemming brüllt seinen 1.<br />
Offizier an: „Gefahr! Höher, höher!“<br />
Ludwig Nallbach, ein bulliger Mensch<br />
mit mächtigem Schnauzer, umfasst mit<br />
harter Hand den Steuerknüppel. Das<br />
Luftschiff stöhnt auf, ächzt, geht in die<br />
Höhe. Der starke Nordwest-Sturm tobt,<br />
Die Besatzung des L55 (Foto: privat)<br />
der Funkverkehr bricht ab. Ruhelos<br />
reißt der Wind das Luftschiff umher,<br />
und es steigt und steigt. Ein Motor fällt<br />
aus, die Mannschaft hat schwer zu tun,<br />
die Gondeln zu sichern. Es wird kalt und<br />
kälter. Der Wasservorrat gefriert, frostige<br />
Schauer durchzucken die gepeinigten<br />
Leiber. Schwindel, Schwäche, ja<br />
Bewusstlosigkeit. Der Sanitäter kriecht<br />
umher. Flößt den Männern zerstoßene<br />
Eisstückchen ein, massiert, beruhigt.<br />
Herzattacken, Blutstürze, Ohnmachtsanfälle.<br />
Und wieder überprüft Kapitän<br />
Flemming den Höhenmesser. Nüchtern<br />
und gefasst verkündet er: „Wir haben<br />
eine Höhe von 7500 Metern.“<br />
„Das ist Weltrekord!“ ruft Nallbach. Er ist<br />
trotz der erbarmungslosen Kälte, trotz<br />
seiner Atemnot und der Herzschmerzen<br />
begeistert. Er steuert, zieht das<br />
Schiff nach links, versucht die Schräglage<br />
von 45 Grad durch ein wagehalsiges<br />
Manöver auszugleichen.<br />
Auf einmal Ruhe. Nur das Wimmern des<br />
Windes. Nallbach schnarrt: „Männer, das<br />
hätte verdammt ins Auge gehen können.“<br />
Die Zeit verrinnt, L 55 treibt orientierungslos<br />
dahin. Gelegentlich kommt<br />
es ins Schlingern. Kapitän Flemming<br />
ist klar, es lauert Gefahr ganz anderen<br />
Kalibers, ein Desaster wie ein Höllenfeuer:<br />
Der Treibstoff geht zur Neige. Er<br />
gibt Befehl zum Tiefflug, presst dann<br />
das Gesicht an die Scheibe. Was er<br />
sieht, ist liebliches Land, eine sanfte<br />
Hügelkette, ein sich schlängelndes<br />
Flüsschen. Und Gleise, kleine Häuser,<br />
einen langgestreckten Bahnhof. Er<br />
lässt sich von Nallbach den Feldstecher<br />
reichen, an der Front des Bahnhofsgebäudes<br />
erkennt er: Emm ..., nein,<br />
Immelborn. Hat er noch nie gehört. Wo<br />
liegt dieser Ort mit dem putzigen Namen?<br />
Er entnimmt dem Aktenschrank<br />
ein Kursbuch, das Fahrplanverzeichnis<br />
der Deutschen Reichsbahn. Flemming,<br />
ein abwägender Mann, hat es mit an<br />
Bord genommen, ohne genau sagen zu<br />
können, ob er es braucht. Nun leistet<br />
es gute Dienste. Flemming durchblättert<br />
es. „Was?“, entfährt es ihm.<br />
Es überrascht ihn, dass sie sich in Thüringen<br />
befinden. „Wir haben uns völlig<br />
verfranzt“, registriert er leise, „sind ohne<br />
Funkverbindung, es ist unmöglich, die<br />
Position zu bestimmen.“ Ja, das Luftschiff<br />
ist weit abgedriftet, sein ursprüngliches<br />
Ziel, der Flugplatz Ahorn, liegt im<br />
Oldenburgischen, Richtung Nordsee.<br />
Flemming blickt erneut durchs Fenster.<br />
Nein, in diesem welligen Gelände mit<br />
Bahnhof und Häusern können sie nie<br />
und nimmer niedergehen. Aber es eilt!<br />
Er erteilt Befehle, das Luftschiff wendet<br />
schwerfällig, fliegt zwei, drei Kilometer<br />
westwärts. Sie überfliegen ein von<br />
oben recht beschaulich anmutendes<br />
Städtchen. „Verflucht“, wettert Nallbach,<br />
„wir müssen Ballast abwerfen, es<br />
geht nicht anders.“<br />
Das Luftschiff kurvt über einen Platz<br />
mitten im Ort, die untere Luke wird geöffnet<br />
und der Inhalt des Abortkessels<br />
abgelassen.