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Hier sitzt ein Mensch Teil 1

Artikel von Franz Schandl

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Was ich lese<br />

Thomas Maurer<br />

über Zukunft<br />

und le Carré<br />

SEITE VI<br />

SAMSTAG, 9. DEZEMBER 2017 DIE PRESSE.COM/SPECTRUM<br />

Seit April läuft im nördlichen<br />

Waldviertel das Arbeitslosenexperiment<br />

„Sinnvoll tätig s<strong>ein</strong>“.<br />

Es sagt nicht: Das musst du.<br />

Es fragt: Was willst du? Heidenreichst<strong>ein</strong>:<br />

Beobachtungen aus<br />

nächster Nähe.<br />

Von Franz Schandl<br />

Selbstbewussts<strong>ein</strong>svermessung.<br />

[ Foto: Andreas Urban]<br />

<strong>Hier</strong><br />

<strong>sitzt</strong> <strong>ein</strong><br />

<strong>Mensch</strong><br />

Aus dem Inhalt<br />

Leidenfrost: Asyl in Ungarn.<br />

Wenn Ungarn Asyl anbietet. Martin Leidenfrosts<br />

„Expedition Europa“: warum<br />

<strong>ein</strong>e Christin aus dem Iran in Schweden<br />

abgeschoben werden soll. SEITE II<br />

Butterweck: Blase vor Platzen.<br />

Bis die Blase platzt. Hellmut Butterwecks<br />

Tour d’Horizon vom Tulpenwahn über<br />

die Südsee- und Mississippi-Blase zum<br />

Crash 2008 – und was wir daraus für den<br />

Bitcoin-Hype lernen können. SEITE III<br />

Strasser: Religion mit Gewalt.<br />

Heilsdenken, an dessen Ende Vernichtungshandeln<br />

steht. Peter Strasser: Wie<br />

viel Gewalt braucht die Religion? SEITE IV<br />

Vertlib: Familie in Anekdoten.<br />

Autobiografie in Anekdoten. „Ich bin <strong>ein</strong><br />

Zebra“: Vladimir Vertlib über Erwin Javors<br />

Mischung aus Familienchronik, jüdischer<br />

Kultur- und Mentalitätsgeschichte<br />

und Witzesammlung.<br />

SEITE V<br />

Haller: Österreich seit 1918.<br />

Österreich seit 1918. Manfried Rauchenst<strong>ein</strong>er<br />

erweist sich in s<strong>ein</strong>em Geschichtswerk<br />

„Unter Beobachtung“ abermals als<br />

meisterhafter Erzähler – rezensiert von<br />

Günther Haller.<br />

SEITE VI<br />

Tschavgova: Bau in Mariazell.<br />

Die Vision des Paters. Karin Tschavgova<br />

über den Umbau von Basilika und Geistlichem<br />

Haus in Mariazell durch Feyferlik/Fritzer.<br />

SEITE VII<br />

IMPRESSUM: SPECTRUM<br />

Redaktionelle Leitung: Dr. Karl Woisetschläger<br />

Zeichen der Zeit: Wolfgang Freitag,<br />

Dr. Antonia Barboric<br />

Literatur: Dr. Harald Klauhs<br />

Anschrift: 1030 Wien, Hainburger Straße 33<br />

Telefon: 01/51414-Serie<br />

Fax: 01/51414-345<br />

E-Mail: spectrum@diepresse.com<br />

Mehr im Internet: diepresse.com/spectrum<br />

Heidenreichst<strong>ein</strong> ist <strong>ein</strong>e verletzte<br />

Stadt. Vor allem nach dem Zusammenbruch<br />

der Industrie Ende<br />

der Siebziger-, Anfang der<br />

Achtzigerjahre hat sich der Ort<br />

im nordwestlichen Waldviertel nie mehr<br />

richtig erholt. Dieser Wechsel von Aufstieg<br />

und Abstieg erfolgte als schroffer Bruch, der<br />

mental nur durch Jammern oder Verdrängen<br />

bearbeitet werden konnte. Überalterung und<br />

Bevölkerungsschwund sind deutlich sichtbar.<br />

Hoch ist die Arbeitslosenrate.<br />

Seit April 2017 läuft hier nun das Projekt<br />

„Sinnvoll tätig s<strong>ein</strong>“ (STS), das jenseits gängiger<br />

Disziplinierungsmuster versucht, über<br />

40 Langzeitarbeitslosen Perspektiven zu eröffnen,<br />

die sich doch von obligaten Anforderungen<br />

und Erwartungshaltungen unterscheiden.<br />

Geleitet wird dieses Projekt, das<br />

offiziell als AMS-Kurs (Arbeitsmarktservice)<br />

firmiert, von Karl Immervoll und der Betriebsseelsorge<br />

Oberes Waldviertel, die mit<br />

ähnlichen (wenn auch kl<strong>ein</strong>eren) Initiativen<br />

schon <strong>ein</strong>schlägige Erfahrungen gemacht<br />

haben. Natürlich geht es<br />

auch um Arbeit und Arbeitsplatz,<br />

aber konzentriert<br />

geht es um die Personen<br />

selbst. Nicht Was<br />

sollen wir? ist die entscheidende<br />

Frage, sondern Was<br />

wollen wir? Was will ich?<br />

In <strong>ein</strong>em ersten Zwischenbericht<br />

schreibt Immervoll:<br />

„Die Befreiung<br />

von Ängsten und Druck<br />

ist <strong>ein</strong> Prozess. Trotzdem:<br />

18 Monate von den Vorgängen rund um die<br />

Arbeitssuche befreit zu s<strong>ein</strong>, Zeit zu haben,<br />

sich auf sich selbst zu konzentrieren – für<br />

manche bedeutet das, zum ersten Mal in ihrem<br />

Leben sich die Frage zu stellen: Was ist<br />

m<strong>ein</strong> Weg? Generell ist das für alle <strong>ein</strong>e<br />

neue Lebenssituation. Die Frage, was denn<br />

jetzt wirklich zu tun ist, verunsichert. Denn<br />

es stellt den Arbeitsbegriff auf den Kopf: Arbeit<br />

war bisher etwas, was jemand aus <strong>ein</strong>em<br />

ökonomischen Interesse heraus von<br />

mir verlangt und wofür ich, indem ich es<br />

tue, entlohnt werde. Nun heißt es: Entwickle<br />

d<strong>ein</strong>e Fähigkeiten und teile sie mit anderen,<br />

indem du sie in die Gesellschaft <strong>ein</strong>bringst!“<br />

Und Immervoll weiter: „<strong>Hier</strong> brauchst du<br />

Neue Situation. Für manche<br />

bedeutet das Heidenreichst<strong>ein</strong>er<br />

Experiment,<br />

zum ersten Mal in ihrem<br />

Leben sich die Frage zu<br />

stellen: Was ist m<strong>ein</strong> Weg?<br />

dich nicht zu rechtfertigen. Es ist in Ordnung,<br />

so wie du bist. D<strong>ein</strong> Bemühen, d<strong>ein</strong><br />

Tun wird von uns k<strong>ein</strong>er Wertung unterzogen.<br />

Wir nehmen uns Zeit und hören zu. Unser<br />

Gegenüber spürt und schätzt, dass sie/er<br />

für uns k<strong>ein</strong>e Nummer ist.“<br />

So fungiert der Arbeitslosenbezug tatsächlich<br />

für <strong>ein</strong><strong>ein</strong>halb Jahre ähnlich <strong>ein</strong>em<br />

garantierten Grund<strong>ein</strong>kommen. An den finanziellen<br />

Begrenzungen für die Betroffenen<br />

ändert sich zwar nichts, was sich aber<br />

fundamental ändert, ist das restriktive Rundherum.<br />

Der Charme besteht darin, nicht<br />

ständig Angst haben zu müssen, dass die soziale<br />

Absicherung auszufallen droht. Das ist<br />

auch der Punkt, der von den <strong>Teil</strong>nehmern<br />

am meisten geschätzt wird. Verbindlich erwartet<br />

werden lediglich Tagebücher über die<br />

Zeitverwendung, die wissenschaftlich ausgewertet<br />

werden sollen.<br />

Ziemlich unterschiedliche Typen frequentieren<br />

diesen Kurs. Da tummeln sich<br />

Frauen und Männer im Alter von 20 bis 60,<br />

Personen, die <strong>ein</strong>en akademischen Abschluss<br />

haben, bis hin zu<br />

solchen, die kaum lesen<br />

können. Manche haben<br />

40 Jahre Lohnarbeit hinter<br />

sich, andere sind aus diversen<br />

Gründen zwischenzeitlich<br />

ausgestiegen. Da<br />

finden sich Jugendliche,<br />

die noch nie so richtig<br />

in <strong>ein</strong>em Arbeitsverhältnis<br />

angekommen sind, oder<br />

<strong>Mensch</strong>en, die aufgrund<br />

schwerer körperlicher Be<strong>ein</strong>trächtigungen<br />

(Unfälle, chronische Erkrankungen)<br />

k<strong>ein</strong>e Chance auf dem Arbeitsmarkt<br />

haben. Physisch und psychisch geschwächt<br />

sind freilich die meisten.<br />

Wichtig ist zudem die Begleitgruppe, die<br />

installiert wurde, damit die Assoziationen in<br />

der Bevölkerung von dem, was in diesem<br />

Experiment getrieben wird, nicht <strong>ein</strong>er brodelnden<br />

Gerüchteküche überlassen bleiben.<br />

Vierteljährlich treffen sich potenzielle Mentoren<br />

aus der Gem<strong>ein</strong>de mit dem Betreuungsteam,<br />

um über das Projekt, s<strong>ein</strong>e Entwicklung<br />

und s<strong>ein</strong>e Hemmnisse zu sprechen.<br />

Wer will, kann mitmachen. <strong>Hier</strong> geht<br />

es zweifellos um Hegemonie, das Projekt<br />

soll ja nicht neben oder gar gegen die ansässige<br />

Bevölkerung laufen, es möchte vielmehr<br />

Verständnis oder zumindest Toleranz wecken.<br />

Vorurteile sollen aufbereitet und auf<br />

<strong>ein</strong> erträgliches Minimum reduziert werden.<br />

Insgesamt sind das ungefähr 40 Vertrauenspersonen,<br />

also wiederum <strong>ein</strong> Prozent der<br />

kl<strong>ein</strong>städtischen Einwohnerschaft. Samt<br />

den Arbeitslosen sind also schon zwei Prozent<br />

der Bevölkerung direkt oder indirekt im<br />

Experiment veranschlagt. Das Projekt ist<br />

überschaubar, bezogen auf die Gem<strong>ein</strong>degröße<br />

von 4000 Einwohnern indes alles andere<br />

als kl<strong>ein</strong>.<br />

Im Zwischenbericht des Projekts heißt<br />

es: „Arbeitslosigkeit erzeugt Druck, am<br />

größten seitens der Gesellschaft. Die obligate<br />

Frage bei Begegnungen, was man denn<br />

jetzt beruflich mache, drängt in die Isolation.<br />

Niemand will als Versager dastehen,<br />

vor allem wenn der Zustand der Arbeitslosigkeit<br />

schon länger andauert. Dazu kommen<br />

die Termine beim AMS. Allzu oft erleben<br />

wir, dass <strong>Mensch</strong>en schon Tage zuvor in<br />

,alle Umstände‘ verfallen, wenn sie die Notstandshilfe<br />

verlängern müssen, aber auch<br />

jeder Kontrolltermin verunsichert: Werde<br />

ich wo angewiesen, muss ich in <strong>ein</strong>e Schulung?<br />

Vorstellungsgespräche sind in der Regel<br />

mühsam, weil die meisten Betriebe niemanden<br />

brauchen. Man geht halt hin, weil<br />

man muss, weil man Bewerbungen vorweisen<br />

soll. Gleichzeitig sind die Verweigerung<br />

von Erwerbsarbeit und lang anhaltende Arbeitslosigkeit<br />

<strong>ein</strong> Ausschluss aus der Gesellschaft<br />

und damit Verweigerung von Anerkennung.“<br />

Ein Widerspruch ist offensichtlich. Arbeit<br />

wird <strong>ein</strong>gefordert, kann aber nicht ausreichend<br />

angeboten werden. Ist man erwerbslos<br />

und auf soziale Unterstützung angewiesen,<br />

dann wird man unter Kuratel<br />

gestellt und verwaltet. Die Vormundschaft<br />

durch das AMS ist anstrengend und demütigend,<br />

man darf dies und jenes nicht, vor allem<br />

hat man Arbeitsbereitschaft zu demonstrieren<br />

und zu vorgegebenen Zeitpunkten<br />

(Vorstellungsgespräche und AMS-Kontrolltermine)<br />

zur Verfügung zu stehen. Widrigenfalls<br />

drohen Sanktionen. Eins disponiert<br />

nicht mehr, <strong>ein</strong>s wird disponiert. Man hat<br />

sich nicht mehr selbst, ist angewiesen und<br />

aufgrund der Abhängigkeit von Zahlungen<br />

Fortsetzung Seite II

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