GIG Februar_2018
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24<br />
MUSIK<br />
CDS VINYL & MP3<br />
ALBUM<br />
DES MONATS<br />
15,6mm<br />
Joan As Police Woman<br />
Damned Devotion<br />
Ihre Grundfrage<br />
zu diesem Album<br />
lautet: Wie kann<br />
man hingebungsvoll<br />
sein, ohne<br />
dabei zu besessen<br />
zu werden<br />
oder den Verstand zu verlieren? Oder<br />
wie sie es sagt: „The sound of hunger<br />
in my heart, sparking the flame in me,<br />
you stung my ocean, damned devotion.“<br />
Um der Sache gerecht zu werden,<br />
hat sich Joan Wasser für eine behutsame<br />
Herangehensweise entschieden.<br />
Auf dem Vorgänger „The Classic“<br />
klang sie eine Spur zu übermütig.<br />
Dieses Mal bevorzugt sie einen anspruchsvollen<br />
Soul, der bis zu Nina Simone<br />
oder Dusty Springfield zurückgeht,<br />
aber auch den Stil einer Janet<br />
Jackson oder Erykah Badu berührt.<br />
Einen Song widmet sie dem Gossenkenner<br />
Jean Genet, ein anderer behandelt<br />
die Beteiligung an einem<br />
Frauenmarsch. Joan gibt sich auch<br />
gerne frech und durchtrieben, wenn<br />
sie den Traummann als Typen mit<br />
Schmiss, als „Valid Jagger“ beschreibt.<br />
Oder sie singt in „Silly Me“<br />
darüber, wie alles etwas daneben<br />
geht. Sie rochiert ungebändigt im<br />
Rausch der Gefühle. Sie gibt sich lebensnah<br />
und beweist Feingefühl, das<br />
alles macht ihre neueste Exkursion<br />
brillant. Thomas Weiland<br />
PIAS/Rough Trade;<br />
www.joanaspolicewoman.com<br />
Calexico<br />
The Thread That Keeps Us<br />
Man hatte bei<br />
ihnen zuletzt einen<br />
nervenden<br />
Hang zur Routine<br />
und Unbesorgtheit<br />
festgestellt.<br />
Davon<br />
ist jetzt kaum etwas zu hören. In „End<br />
Of The World With You“ singt Joey<br />
Burns über Liebe in Zeiten der Extreme,<br />
zeitgleich gibt er sich aufgewühlt<br />
wie Paul Westerberg in besten Replacements-Zeiten.<br />
Durch „Bridge To<br />
Nowhere“ zieht sich ein ähnliches Gefühl<br />
der Anspannung. John Convertino<br />
schlägt nervös auf seine Trommeln ein,<br />
immer vor dem Hintergrund einer vernichtenden<br />
Analyse: Leere Straßen,<br />
verlassene Häuser, Umweltschäden,<br />
gebrochene Versprechen. Wer sich<br />
eher nach Blues-Rock sehnt, kommt im<br />
lebhaften „Dead In The Water“ auf<br />
seine Kosten. Und dann wäre da natürlich<br />
auch der von dieser Band so<br />
gerne geförderte nachbarschaftliche<br />
Gemeinschaftsgeist im Verhältnis zu<br />
Mexiko. Er erlebt in „Flores Y Tamales“<br />
eine Fortsetzung, die sich von<br />
keinem Mauerbauer dieser Welt aufhalten<br />
lassen wird. Calexico vertrauen<br />
nach wie vor auf ihre Grundausrichtung.<br />
Aber man spürt auch, wie sie mit<br />
der Gemütlichkeit aufräumen und ihr<br />
Repertoire erweitern wollen. Deshalb<br />
ist dieser Thread ein Höhepunkt im<br />
Werk der Band. Thomas Weiland<br />
City Slang/Universal;<br />
www.casadecalexico.com<br />
Nils Frahm<br />
All Melody<br />
In seinem neu eingerichteten<br />
Studio<br />
im Saal3 im<br />
historischen Berliner<br />
Funkhaus<br />
am Spreeufer hat<br />
der neben Olafur<br />
Arnalds prominenteste Protagonist der<br />
Neoklassik versucht, die Musik aufzunehmen,<br />
„die ich in meinem Inneren<br />
höre“, wie er sagt. Dabei sind so rhythmisch<br />
raffinierte wie mit sehnsuchtsvollen<br />
Melodien gesegnete, sensuelle<br />
wie elegische, auf den Körper zielende<br />
wie ätherisch entrückte, ja, kosmische<br />
Stücke herausgekommen. Die<br />
vielfältigsten, intensivsten und schönsten<br />
von Nils Frahm bisher. Manches auf<br />
diesem gar nicht aufs Piano fixierten<br />
Album erinnert an Minimal Techno,<br />
manches an Keith Jarretts „Köln Concerts“,<br />
manches an John Hassells<br />
World-Music-Jazz-Ausflüge, manches<br />
an Filmmusik à la John Carpenter,<br />
manches an Kraut-Elektroniker wie<br />
Cluster oder Tangerine Dream, manches<br />
an Frahms bisherige, ureigene<br />
Zauberkunststücke. Obwohl viele elektronische<br />
als auch akustische Instrumente<br />
und Gastmusiker, ein 12-köpfiger<br />
Chor, Raum- und Halleffekte zum<br />
Einsatz kommen, behält Frahms unklassifizierbare,<br />
zeitlose Musik hier<br />
eine wunderbar intime, mitunter<br />
schmerzhaft melancholische Anmutung,<br />
die tief berührt. Andreas Dewald<br />
Erased Tapes; www.nilsfrahm.com<br />
Shame<br />
Songs Of Praise<br />
Man fragt sich heutzutage ja schon,<br />
ob es im wankenden Britannien noch<br />
Tocotronic Die Unendlichkeit<br />
Es wird klar, dass die Tocos immer tiefer in die<br />
Nachdenklichkeit schweben. Nach dem sehr politischen<br />
„roten Album“ vor knapp drei Jahren<br />
sind sie nun bei sich selbst angelangt. Aber ist<br />
das nicht auch politisch? Wobei natürlich immer<br />
schon der Bezug zu sich und von sich zur Gesellschaft<br />
eine große Rolle spielte. Fest steht: Kaum<br />
eine Band altert so reif wie die einst um Aufnahme<br />
in die Hamburger Schule bittenden Ex-Freiburger.<br />
Und kaum jemand wird dadurch immer jünger. Ihre Musik wird<br />
komplexer, teilweise geradezu orchestral und zum Weinen wie auf „Unwiederbringlich“.<br />
Nach den letzten drei sehr tief gehenden und dennoch<br />
hymnischen Alben der Jahre 2010-2015 klingen die Tocos nun<br />
noch ernster. Blicken zurück, um voranzukommen, verdichtet etwa<br />
auf „Electric Guitar“ oder krachig auf „Hey Du“. Haben wir das nicht<br />
alle irgendwie gefühlt? Nur eben nicht zu derart schönen Pop-Songs<br />
gemacht. Bei aller Reflexion: Die Trainingsjacke von damals, als Michael<br />
Ende ihr Leben ruinierte oder digital besser war, bleibt zumindest<br />
im Schrank. Und mein Herz öffnet sich. Spektakulär. Christoph Jacke<br />
Vertigo/Capitol/Universal; www.tocotronic.de<br />
17,0mm<br />
eine Bandszene gibt, die aufregende<br />
Talente hervorbringt. Fündig wird man<br />
im Süden Londons, wo sich der menschenfeindliche<br />
Strukturwandel nicht<br />
so bemerkbar macht. Dort leben und<br />
arbeiten Goat Girl, Shark Dentist,<br />
Dead Pretties und die fünf Tierfreunde<br />
von Shame. Äußerlich machen sie einen<br />
zivilisierten Eindruck, aber das<br />
täuscht. Wenn sie zu ihren Instrumenten<br />
greifen, wird es laut, düster und rebellisch.<br />
Shame<br />
haben viel Punk<br />
aufgesogen, das<br />
hört man an der<br />
Stimme von Sänger<br />
Charlie Steen<br />
und an der Mentalität<br />
der beiden Gitarristen. Stark<br />
ist, dass sich diese Novizen nicht auf<br />
einen Punkt konzentrieren. Ja, sie<br />
kennen The Clash, aber der Post-Punk<br />
3,2mm