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Freitag 05 lores

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≫freitag.de Terror in Afghanistan: Wenn Krieg als Mittel zum Selbsterhalt dient<br />

Julian Assange Lasst den<br />

Wikileaks-Gründer endlich aus<br />

seinem Kerker in London<br />

entkommen! Wochenthema S. 6/7<br />

Partner des Guardian<br />

Spanien Podemos läuft ins<br />

Leere: Der Katalonien-Konflikt<br />

droht die Neoliberalen an<br />

die Macht zu bringen Politik S. 8<br />

Simon Strauß Der junge<br />

Schriftsteller soll ein Rechter<br />

sein. Stimmt das? Fragen<br />

wir ihn doch selbst Kultur S. 17<br />

1. Februar 2018<br />

Ausgabe 5<br />

Deutschland 3,95 €<br />

Ausland 4,25 €<br />

„Kevin for<br />

Kanzler! Das<br />

sage ich als<br />

SPD-Mitglied“<br />

mvolkers<br />

Das Meinungsmedium<br />

Politik Die Community diskutiert<br />

ein sozialdemokratisches Nein<br />

zur GroKo beim Mitgliederentscheid<br />

≫freitag.de/community<br />

Ausgeliefert<br />

Über die Machtverhältnisse beim Film S. 3<br />

FOTO: UNIVERSAL PICTURES/IMAGO<br />

Verraten und verkauft<br />

Afrin Die Welt sieht weiter<br />

zu, wie die türkische Armee<br />

mit deutschen Panzern<br />

die kurdische Demokratie in<br />

Nordsyrien zerstören will<br />

■■David Graeber<br />

Drei Jahre ist es her, dass die<br />

Welt im syrischen Kobanê<br />

Zeuge einer Schlacht wurde,<br />

wie sie dem Kampf des Guten<br />

gegen das Böse nicht näher<br />

hätte kommen können: ein bunter Haufen<br />

von Kämpferinnen und Kämpfern, meist<br />

gerade einmal mit Kalaschnikows bewaffnet,<br />

auf der einen Seite. Mit Panzern und<br />

Artillerie hochgerüstete Islamisten auf der<br />

anderen. Die Verteidiger entschlossen, ihr<br />

revolutionäres, feministisches und demokratisches<br />

Experiment zu verteidigen. Die<br />

Angreifer davon beseelt, ihre Feinde gerade<br />

wegen dieses Experiments zu vernichten.<br />

Als jener bunte Haufen Kobanê und damit<br />

die Region Rojava verteidigt hatte, war der<br />

Jubel in aller Welt groß.<br />

Heute geschieht genau dasselbe. Nur dass<br />

die Weltmächte nun glasklar auf der Seite<br />

der Angreifer stehen.<br />

Jetzt tobt die Schlacht weiter westlich, in<br />

Afrin, bis dahin eine Insel des Friedens und<br />

der Vernunft im syrischen Bürgerkrieg. Afrins<br />

Bevölkerung hat sich im Laufe des Krieges<br />

fast verdoppelt, weil Hunderttausende<br />

meist arabische Flüchtlinge an der Seite der<br />

dort ursprünglichen, überwiegend kurdischen<br />

Bevölkerung Zuflucht gesucht haben.<br />

Frieden und Stabilität, wie es sie derzeit<br />

nirgendwo sonst in Syrien gibt, haben die<br />

Bewohnerinnen und Bewohner der dortigen<br />

Region Rojava genutzt, um einen Modus<br />

lokaler Entscheidungsfindung zu installieren<br />

– Nachbarschaftsversammlungen,<br />

an denen jede und jeder partizipieren kann<br />

und die Delegierte in kommunale Räte entsenden.<br />

Während in anderen Teilen Rojavas<br />

eine strikte Genderparität gilt, bei der jedes<br />

Amt eine weibliche Inhaberin und einen<br />

männlichen Inhaber hat, halten in Afrin<br />

Frauen zwei Drittel der Ämter. Weltweit ist<br />

das wohl einzigartig. Dieses demokratische<br />

Experiment ist die Zielscheibe eines Angriffs,<br />

dem keinerlei Provokation vorausging<br />

– geführt von islamistischen Milizen,<br />

unter ihnen IS- und Al-Qaida-Veteranen,<br />

faschistische türkische Todesschwadronen<br />

wie die Grauen Wölfe –, mit der türkischen<br />

Armee und deutschen Leopard-Panzern,<br />

F-16-Kampflugzeugen und -helikoptern im<br />

Rücken. Unumwunden hat der türkische<br />

Präsident Recep Tayyip Erdoğan sein Ziel<br />

formuliert: Afrin zu erobern, um die ethnische<br />

Säuberung der Region von ihren kurdischen<br />

Bewohnern durchzusetzen.<br />

Erstaunlicherweise haben die kurdischen<br />

Volksbefreiungseinheiten den Invasoren<br />

bis jetzt standgehalten – umgeben von<br />

Feinden auf allen Seiten, ohne auch die nur<br />

moralische Unterstützung einer einzigen<br />

Weltmacht. Westliche Staatschefs, die Regierungen<br />

im Mittleren Osten gern einen<br />

Mangel an Respekt für Demokratie und<br />

Frauenrechte attestieren – und das in vielen<br />

Rojava ist eine<br />

Bedrohung<br />

für Erdoğan.<br />

Aber keine<br />

militärische<br />

Fällen gar zur Rechtfertigung militärischer<br />

Angriffe nutzen –, scheinen beschlossen zu<br />

haben, dass es ebenfalls einen Angriff<br />

rechtfertigt, wenn man sich zu sehr um politische<br />

Alternativen bemüht.<br />

Um zu verstehen, wie das geschehen<br />

konnte, muss man in die 1990er Jahre zurückgehen,<br />

als die Türkei sich in einem Bürgerkrieg<br />

mit dem militärischen Arm der<br />

kurdischen Arbeiterpartei befand. Die PKK<br />

war damals eine marxistisch-leninistische<br />

Organisation, die einen eigenständigen<br />

kurdischen Staat forderte. Sie war nie eine<br />

Terrororganisation, die etwa Bomben auf<br />

Marktplätzen gezündet hätte. Aber Guerillakriege<br />

sind immer blutig. Um die Jahrtausendwende<br />

unterzog sich die PKK einer<br />

tiefgreifenden ideologischen Transformation,<br />

verabschiedete sich von der Forderung<br />

nach einem eigenständigen Staat und altmodischem<br />

Marxismus, um sich von nun<br />

an ganz auf den Kampf gegen das Patriarchat<br />

und für die Einrichtung einer direkten<br />

Basisdemokratie zu konzentrieren. Inspiriert<br />

vom inhaftierten Anführer der Bewegung,<br />

Abdullah Öcalan, ging es um radikale<br />

Dezentralisierung der Macht, um Opposition<br />

zu jeglichem ethnischen Nationalismus,<br />

um Friedensgespräche, um eine regionale<br />

Autonomie für die Kurden, eine breitere<br />

Demokratisierung der türkischen Gesellschaft.<br />

Diese Transformation betraf die kurdische<br />

Bewegung nicht nur in der Türkei,<br />

sondern im gesamten Mittleren Osten.<br />

Die türkische Regierung antwortete mit<br />

einer Lobbykampagne für die Einstufung<br />

der PKK als „terroristische Organisation“.<br />

Bis 2001 hatte sie erreicht, dass die PKK auf<br />

die Terrorliste der EU und der USA kam. Die<br />

türkische Regierung konnte nun Aktivisten,<br />

Journalisten, gewählte kurdische Bürgermeister<br />

und den Vorsitzenden der zweitgrößten<br />

Oppositionspartei des Landes verhaften,<br />

weil sie angeblich alle mit „Terroristen“<br />

sympathisierten.<br />

Es entstand eine Situation Orwell’schen<br />

Irrsinns: Sogar in großen Teilen Europas ist<br />

es praktisch illegal für Mitglieder der PKK zu<br />

behaupten, die PKK sei nicht „terroristisch“,<br />

denn das fällt schon unter den Straftatbestand<br />

„terroristischer Propaganda“.<br />

Als ultimative Absurdität hat das jetzt<br />

den Regierungen dieser Welt ermöglicht,<br />

untätig herumzusitzen, während die Türkei<br />

anlasslos einer der wenigen friedlichen<br />

Winkel, die es in Syrien noch gibt, überfällt.<br />

Die türkische Regierung weiß nur allzu<br />

gut, dass Rojava keine militärische Bedrohung<br />

darstellt. Die Bedrohung, die es darstellt,<br />

besteht darin, eine alternative Realität<br />

davon anzubieten, die das Leben in der<br />

Region prägen könnte. Die Frage ist: Warum<br />

macht der Rest der Welt dabei mit?<br />

David Graeber ist Professor für Anthropologie<br />

an der London School of Economics<br />

Übersetzung: Mladen Gladić<br />

Simone Schmollack über die Affäre Wedel und das Filmgeschäft<br />

Brauchen die Macher von Rosamunde-<br />

Pilcher-Filmen jetzt ein Genderseminar?<br />

Man muss sich das auf der Zunge<br />

zergehen lassen: Nur etwa<br />

zehn Prozent der Film- und<br />

Fernsehproduktionen in den vergangenen<br />

Jahren hatten ausschließlich Frauen<br />

unter sich. Bei gut einem Fünftel führten<br />

Frauen allein Regie. Hinter der Kamera<br />

standen neun Prozent Frauen, die Tontechnik<br />

bedienten drei Prozent. Nur<br />

bei den Kostümen rangierten Frauen<br />

mit 80 Prozent weit vorn.<br />

Diese Zahlen der Filmförderungsanstalt<br />

sind wichtig, um zu verstehen, worüber<br />

sich derzeit viele den Kopf zerbrechen:<br />

Warum konnte das „System Wedel“<br />

funktionieren? Wie kann es sein, dass<br />

ein einzelner Mann massenweise Frauen<br />

anbrüllen, körperlich angreifen, demütigen<br />

und fertigmachen konnte? Und vor<br />

allem: Wenn alle von Wedels Tyrannei<br />

wussten, wieso hat niemand, wirklich<br />

niemand etwas dagegen getan?<br />

In den Zahlen der größten staatlichen<br />

Filmfördereinrichtung Deutschlands<br />

ist eine Antwort zu finden: In einer Branche,<br />

die überwiegend von Männern<br />

beherrscht wird, hat eine einzelne Frau,<br />

die sich gegen unzumutbare Zustände<br />

wehrt, schlichtweg keine Chance. Ihr<br />

Kampf ist noch aussichtsloser als der<br />

Davids gegen Goliath.<br />

Diese Zahlen stellen die Filmbranche<br />

vom Kopf auf die Füße. Gemeinhin<br />

glaubt man, im Filmgeschäft würden<br />

ähnlich viele Frauen mitmischen wie<br />

Männer. Immerhin haben rosenblütenhafte<br />

Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen<br />

im Fernsehen Hochkonjunktur. Journalistinnen<br />

wie Anne Will, Sandra Maischberger<br />

und Maybrit Illner prägen das<br />

Bild seriöser Polittalks. Regisseurinnen<br />

wie Maren Ade (Toni Erdmann) kennt<br />

nahezu die gesamte (Film-)Welt.<br />

Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt<br />

eines Geschäfts, das letztlich nach einem<br />

schlichten Prinzip funktioniert: male<br />

bonding. Männerbünde. Nun sind mitnichten<br />

alle Männer, auch nicht beim<br />

Film, Vergewaltiger, Fieslinge, Rampensäue.<br />

Die meisten sind sogar ziemlich<br />

nette Typen, mit denen Frauen (und<br />

Männer) gern zusammenarbeiten, die<br />

von Frauen (und Männern) geliebt und<br />

begehrt werden. Aber wenn es hart auf<br />

hart kommt – und das kommt es oft im<br />

beruflichen Verteilungskampf, vor allem<br />

in fragilen Jobs, auf dem Weg nach oben<br />

und bei Gehaltsverhandlungen –, halten<br />

Männer eben zusammen. Auch die<br />

guten machen häufig mit. Sei es, dass sie<br />

so tun, als hätten sie nichts bemerkt.<br />

Und was ist mit den Frauen am Set? Sie<br />

haben in der „Affäre Wedel“ ja auch<br />

nicht den Mund aufgemacht, sich nicht<br />

offen für die Opfer eingesetzt. Stimmt.<br />

Aber man kennt das doch: Eine kritisiert,<br />

mahnt, gibt zu bedenken, will helfen.<br />

Und dann sagt der erste Mann: Ich hab’s<br />

gewusst, die ist ’ne Heulsuse, die hält<br />

den ganzen Laden auf. Was das kostet!<br />

Mit der? Nie wieder. Es nickt der erste<br />

Mann, es nickt der zweite Mann. Und so<br />

weiter. Und der, der nicht nickt, schweigt.<br />

Male bonding at its best.<br />

Große Unternehmen und meinungsbildende<br />

Organisationen haben das<br />

schon vor langer Zeit erkannt – und sich<br />

Genderseminare verordnet. Puh, Genderworkshops:<br />

gouvernantenhaftes<br />

Dozieren über Geschlechterklischees,<br />

Rollenspiele, um als Mann eine Frau<br />

zu verstehen, so was. Wer will das schon?<br />

Andererseits verhalten sich Menschen<br />

nicht besser, fairer, weniger diskriminierend,<br />

wenn sie nicht deutlich darauf<br />

aufmerksam gemacht werden, was sie<br />

falsch machen. Vielen Männern – im<br />

Übrigen auch vielen Frauen – ist gar nicht<br />

bewusst, wie stark männerdominiert<br />

weite Teile der Gesellschaft heute noch<br />

sind und welche Wirkung das hat.<br />

So sehr haben wir uns daran gewöhnt.<br />

Kann man das ändern? Man muss.<br />

4 1 9 8 3 8 9 8 0 3 9 5 7<br />

0 5<br />

Hegelplatz 1<br />

10117 Berlin<br />

PVStk. A04188<br />

Entgelt bezahlt


Tagebuch<br />

02 Seite 2<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Inhalt<br />

Die Neue an der Schule<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

es kommt nicht mehr oft vor, dass ein<br />

Gedicht die Gemüter erregt. Wenn ich<br />

mich recht erinnere, war das vor Avenidas<br />

zum letzten Mal der Fall bei Was gesagt<br />

werden muss von Günter Grass. Damals<br />

war es die harsche Kritik an Israels<br />

(Iran-)Politik, die für eine heftige Debatte<br />

sorgte. Nun also das Gedicht Avenidas<br />

des Meisters der konkreten Poesie, Eugen<br />

Gomringer, das viele Menschen in Rage<br />

bringt. Die Alice-Salomon-Hochschule<br />

hat beschlossen, es von ihrer Fassade zu<br />

entfernen und durch einen Beitrag von<br />

Barbara Köhler (siehe nebenstehendes<br />

Porträt) zu ersetzen. Das Frauenbild<br />

im Gedicht sei nicht zeitgemäß, befand<br />

sinngemäß der AStA der Hochschule.<br />

Während sich die einen also über den<br />

„Sexismus“ aufregen, ärgert die ande ren<br />

die „Zensur“. So oder ähnlich verlaufen<br />

die Fronten ja nun immer öfter in unserer<br />

Erregungsgesellschaft. Deprimierend.<br />

So viel Energie, die ins Aufregen geht!<br />

Dabei könnte man zum Beispiel dichten!<br />

In unserem Kultur aufmacher zeigen<br />

wir sechs Adaptionen von Avenidas. Wir<br />

zeigen sie auf sechs Häuserfassaden.<br />

Denn eines ist klar: Der Look unserer<br />

Städte bräuchte dringend eine poetische<br />

Auffrischung.<br />

Ihr Michael Angele<br />

Wochenthema<br />

Julian Assange S. 6/7<br />

Zu Besuch bei dem Exilanten, der nie<br />

ein Linker war und dringend<br />

medizinische Versorgung braucht<br />

Politik<br />

Grüne S. 4<br />

Das Ergebnis des Parteitags bestätigt<br />

den Kurs: Die Ökopartei tut links, träumt<br />

jedoch vom Bündnis mit der Union<br />

Martina Mescher<br />

Österreich S. 10<br />

Waldviertel statt Marienthal: Ein<br />

Programm für Arbeitslose versucht<br />

es mal mit Würde statt mit Druck<br />

Franz Schandl<br />

Zeitgeschichte S. 12<br />

Schock für die Großmacht: Anfang<br />

1968 ist die Tet-Offensive des<br />

Vietcong den USA eine bittere Lehre<br />

Lutz Herden<br />

Barbara Köhler ist für die Alice-Salomon-Hochschule genau die richtige Dichterin<br />

■■Björn Hayer<br />

Wenn die Entfernung des Gedichts<br />

Avenidas von der<br />

Südfassade der Alice-Salomon-Hochschule<br />

ein Gutes<br />

hat, dann wohl wenigstens<br />

den Umstand, dass ein Text der Lyrikerin Barbara<br />

Köhler dafür ein würdiger Ersatz ist. Monatelang<br />

war über vermeintlich frauenfeindliche<br />

Untertöne in Eugen Gomringers Gedicht<br />

gestritten worden, bis man schließlich die<br />

peinlichste aller Entscheidungen fällte, nämlich<br />

es zu ersetzen und ein Neues darüberzuschreiben.<br />

Unterstellen also manche dem<br />

Werk des bolivianisch-schweizerischen<br />

Schriftstellers Sexismus, stellt sich umso mehr<br />

die Frage: Wer ist die Frau, die nun das zweifellos<br />

schwere Erbe an der Wand antreten soll?<br />

Zunächst einmal eine souveräne Frau mit<br />

klaren Überzeugungen. Aufgewachsen in der<br />

DDR, arbeitete Köhler erst als Altenpflegerin<br />

und als Beleuchterin am Theater Chemnitz<br />

und wurde dann zu einer gefragten, sozialkritischen<br />

Lyrikerin. Im Fokus ihrer Arbeiten stehen<br />

veraltete Strukturen und überkommene<br />

Stereotype, insbesondere im Hinblick auf Geschlechterrollen<br />

oder unsere Einstellungen<br />

gegenüber dem Fremden. Ein Gedicht aus ihrem<br />

1991 publizierten Band „Deutsches Roulette“<br />

gibt anschauliche Auskunft über ihre<br />

Vorstellung, wie es mit dem Trennenden umzugehen<br />

gilt. Es beginnt so: „ich nenne mich<br />

du weil der Abstand / so vergeht zwischen<br />

uns wie Haut / an Haut wir sind nicht / zu unterscheiden“<br />

– als würden sich die Konturen<br />

dieser beiden Personen im Wasser auflösen,<br />

gehen ihre Körper sanft ineinander über. Die<br />

kaum mehr merkliche Grenze zwischen dem<br />

Paar versteht sich lediglich noch als Verletzung,<br />

„der Übergang / eine offene Wunde“.<br />

Wer das lyrische Großprojekt der 1959 in<br />

Burgstädt geborenen Dichterin zu bestimmen<br />

sucht, kommt in diesem Liebesgedicht<br />

dem zentralen Wesenspunkt ihres Schaffens<br />

schon sehr nahe: dem Wechselspiel zwischen<br />

Differenz und Verschmelzung, der Verflüssigung<br />

des Festen, Verkrusteten.<br />

Keine Frage: Die Haltung, welche die Autorin<br />

in ihren Gedichten und oftmals unterschiedliche<br />

Medien einbeziehenden Mixed-<br />

Media-Installationen kundtut, ist eine postfeministische.<br />

Statt auf „Er“ und „Sie“ oder „Ich“<br />

und „Du“ setzt sie mitunter auf das „Wir“ oder<br />

wirft Bezeichnungen gleich ganz über Bord.<br />

Und wo männliche Dominanz vorherrscht,<br />

FOTO: PATRICK SEEGER/DPA<br />

Ihre Gedichte<br />

tragen sichtlich<br />

die Spuren einer<br />

akademischen<br />

Komplexität.<br />

Aber ideologisch<br />

verbissen<br />

sind sie nicht<br />

übt sich die Poetin als Zersetzerin. So lässt sie<br />

im Band Niemands Frau. Gesänge zur Odyssee<br />

(2000) vor allem die Frauen, darunter Helena,<br />

Penelope, Kirke oder die Sirenen zu Wort kommen.<br />

Dem Patriarchat des antiken Epos setzt<br />

sie in ihrer lyrischen Be- und Überarbeitung<br />

eine moderne Position entgegen, welche den<br />

Helden Odysseus gleichsam kastriert. Denn<br />

wie der Titel verrät, schrumpft der Übermann<br />

bei Köhler tatsächlich zum No Name.<br />

Ganz im Sinne der Philosophin Judith Butler<br />

weiß die Poetin: Sprache spiegelt Machtverhältnisse<br />

wider. Je mehr man mit ihr spielt,<br />

desto eher brechen die ihr innewohnenden<br />

Ablagerungen auf.<br />

Bevor sie 1985 ein Studium am Literaturinstitut<br />

Leipzig aufnahm, hatte Köhler unter anderem<br />

in der Textilbranche gearbeitet. Offenbar<br />

hat sie dort ein für die Machart ihrer Gedichte<br />

nicht zu unterschätzendes Verfahren<br />

kennengelernt, nämlich das Verweben und<br />

Verknüpfen. Köhlers Schreiben steht im Zeichen<br />

von Zusammenführungen und der<br />

Überwindungen einer einfachen Zweiteilung<br />

der Welt, wobei dies nicht mit der bloßen Verwischung<br />

von Unterschieden gleichzusetzen<br />

ist. Die Autorin negiert weder das Feminine<br />

noch das Maskuline, sie will uns für die verschiedenen<br />

Perspektiven erst sensibilisieren.<br />

Jeder Vereinigung, jeder fließenden Synthese<br />

geht logischerweise ein Unterschied voraus.<br />

Dies betrifft im Übrigen nicht nur den Unterschied<br />

zwischen Mann und Frau, sondern<br />

auch jenen zwischen Landschaften und Kulturen.<br />

In ihrem virtuosen Band Istanbul, zusehends<br />

(2016) bricht sie mit einer eurozentristischen<br />

Position und nähert den Leser behutsam<br />

und mit Faszinationskraft den<br />

morgendländischen Gefilden an, in 36 Ansichten<br />

des Berges Gorwetsch (2013) lässt sie<br />

Gelände und Gefühle ineinander übergehen.<br />

So ist etwa der titelgebende „Berg als Geste zu<br />

sehen: wie eigenar- / tig… – So wird auch das<br />

Erheben zu einer Geste und keine Natur- / gegebenheit.“<br />

Was nach netter Naturlyrik klingt,<br />

liest sich bei genauem Hinschauen als politische<br />

Kampfansage, als Widerrede gegen grobschlächtige<br />

Narrative von den Frauen, den<br />

Abgehängten oder den Geflüchteten. Die so<br />

oft behauptete Natur der Menschen und Dinge<br />

erweist sich demzufolge als reinste Konstruktion.<br />

Köhlers Wirken zielt sicherlich nicht auf das<br />

Mitreißen der Massen. Nach ihrer wissenschaftlichen<br />

Tätigkeit für das Bezirksliteraturzentrum<br />

Karl-Marx-Stadt in der DDR und<br />

zahlreichen Poetik-Dozenturen, zum Beispiel<br />

an der Universität Duisburg-Essen und der<br />

Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />

Bonn, tragen ihre Werke sichtlich die Spuren<br />

einer akademischen Komplexität, wie sie mit<br />

Leitbegriffen wie den Gender Studies oder<br />

dem Poststrukturalismus verbunden ist.<br />

Da ihre Texte allerdings immer von einem<br />

ironischen Gestus und beschwingten Ton getragen<br />

sind, haftet ihnen keinerlei ideologische<br />

Verbissenheit an. Die Dichterin zeigt<br />

sich politisch, ohne ihr Politischsein (im Gegensatz<br />

etwa zu Julie Zeh oder Ilja Trojanow)<br />

demonstrativ zu Markte zu tragen. Wie ihre<br />

Texte steht auch die Peter-Huchel-Preisträgerin<br />

ganz für den Entwurf einer von Dynamik<br />

und Offenheit geprägten Gesellschaft. Auf der<br />

Fassade der Alice-Salomon-Hochschule dürfte<br />

ihr bis dato noch unbekanntes Gedicht daher<br />

zugleich auch ein Menetekel für all jene<br />

sein, die sich paradoxerweise gegenwärtig<br />

der Zensur bedienen, um einer liberalen Poesie<br />

Raum zu schaffen.<br />

Kultur<br />

Medien S. 14<br />

Die „Huffington Post“ jagt die Blogger<br />

vom Platz. Die Zukunft des Journalismus<br />

wird dadurch auch nicht gerettet<br />

Dorian Baganz<br />

Im Gespräch S. 15<br />

Kommunismus statt Arbeit: Es rettet uns<br />

kein höh’res Wesen, nur die Befreiung<br />

vom Lohnprinzip, meint Franco Berardi<br />

Anna Stiede<br />

Debatte S. 17<br />

Lieber Adorno als „Tumult“? Simon<br />

Strauß mag den Streit, schwieg jedoch<br />

zu dem über ihn selbst. Ein Treffen<br />

Mladen Gladić<br />

Film S. 19<br />

Pochierte Eier: Paul Thomas Anderson<br />

erzählt wieder von der Monomanie<br />

der Männer. Dieses Mal ganz elegant<br />

Karsten Munt<br />

Alltag<br />

Porträt S. 22<br />

Wie eine Seherin: Es wäre zu wünschen,<br />

die Welt würde sich nicht so sehr an<br />

Margaret Atwoods Romanen orientieren<br />

Lisa Allardice<br />

Altern S. 23<br />

Plötzlich fällt das Aufstehen schwer:<br />

fünf Betrachtungen zu einem Prozess,<br />

der wirklich nichts für Feiglinge ist<br />

Magda Geisler<br />

A – Z Männergrippe S. 24<br />

Es ist wieder so weit: Zeit für Klischees<br />

Leserbriefe, Impressum S. 20<br />

Werner Vontobel über Davos und den ruinösen Steuerwettbewerb<br />

Lassen wir uns nicht länger erpressen<br />

So ungeschminkt hat sich<br />

Davos noch nie präsentiert.<br />

Das Weltwirtschaftsforum<br />

war eine einzige Ode an<br />

den Standortwettbewerb: Jobs<br />

gegen Senkung der Steuern und<br />

Löhne, die Topmanager haben<br />

uns ihre Lektion eingebläut:<br />

Wachstum und Beschäftigung<br />

ist, wenn ihr uns dazu bringt,<br />

bei euch statt bei den anderen<br />

zu investieren. Dealmaker<br />

Trump hat es vorgemacht: Er<br />

senkte die Gewinnsteuer von<br />

41 auf 15,5 Prozent, als Dank ließ<br />

er sich vor laufender Kamera<br />

von Konzernchefs sagen, wie<br />

viele Milliarden sie nun in den<br />

USA statt anderswo investieren.<br />

Nun streiten Ökonomen,<br />

ob Deutschland nachziehen und<br />

die Steuerbelastung von Kapitalgesellschaften<br />

auch senken<br />

müsse. Diese Ökonomen sehen<br />

den Wald vor lauter Bäumen<br />

nicht: Sie haben verinnerlicht,<br />

dass Beschäftigung von der<br />

Wettbewerbsfähigkeit kommt.<br />

Doch diese hängt nicht nur<br />

von der Höhe der Unternehmenssteuer<br />

ab. Verglichen mit<br />

den Löhnen sind die Steuern<br />

Peanuts. Von Lohnsenkungen<br />

spricht man in Davos nicht<br />

so gern, aber man kann dazu ja<br />

„Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“<br />

oder „längt überfällige<br />

Strukturreformen“ sagen. Noch<br />

dazu wollen die Topmanager<br />

steuerlich entlastet werden,<br />

sonst bleiben sie am alten<br />

Standort – runter mit Spitzensätzen<br />

der Einkommensteuer!<br />

Auf diesem abschüssigen Pfad<br />

sind wir schon lange unterwegs.<br />

In der EU wurde der Einkommensteuerspitzensatz<br />

zwischen<br />

2000 und 2010 von knapp 45<br />

auf 39 Prozent, die Körperschaftsteuer<br />

von 32 auf 22 Prozent<br />

gesenkt. Für Kapitalerträge gibt<br />

es Dutzende Schlupflöcher.<br />

Man muss viel Ballast abwerfen,<br />

um im Bieterwettbewerb<br />

der globalen Standorte ab und<br />

zu ein paar tausend Jobs zu<br />

gewinnen oder zu behalten. Das<br />

macht dann Schlagzeilen –<br />

wie Apples Ankündigung, in den<br />

USA 38 Milliarden Dollar zu<br />

investieren. Doch global gesehen<br />

gibt es nicht mehr Jobs,<br />

wenn die Multis ihre Standorte<br />

von hier nach dort verschieben.<br />

Die Deindustrialisierung lässt<br />

sich so nicht aufhalten. Trotz<br />

rekordhoher Handelsbilanzüberschüsse<br />

ist der Anteil der<br />

Industriejobs in Deutschland<br />

seit 2000 von 28,5 auf 24,1 Prozent<br />

gesunken. Und diese 24<br />

Prozent produzieren viel mehr<br />

Industriegüter, als der Konsument<br />

konsumieren, erst recht,<br />

als die Umwelt ertragen kann.<br />

Es mag sein, dass ein Sieg im<br />

Standortwettbewerb diesen<br />

Rückgang verlangsamt. Dafür<br />

aber behindert er die Schaffung<br />

neuer Jobs: Deutschland bezahlt<br />

seinen Sieg mit der Verarmung<br />

der Mittel- und Unterschicht.<br />

14 Prozent der Erwerbsbevölkerung<br />

sind aktuell nicht oder<br />

geringfügig beschäftigt. 2,7 Millionen<br />

verdienen weniger als<br />

den Mindestlohn. Viele Rentner<br />

sind nicht besser dran. Das kostet<br />

Millionen von Jobs.<br />

Denn das, was sich das ärmste<br />

Viertel der Deutschen heute zu<br />

leisten vermag, kann man mit<br />

etwa zehn durchschnittlich produktiven<br />

Arbeitsstunden pro<br />

Woche herstellen. Wäre ganz<br />

Deutschland auf Hartz IV, könnte<br />

man alle Autofabriken, die<br />

Fitnesszentren, die Hotels und<br />

fast alle Gaststätten schließen.<br />

Vergleicht man die Entwicklung<br />

der Binnennachfrage mit<br />

der der Handelsbilanz, dann hat<br />

Deutschland mit jeder Milliar de<br />

Kaufkraft, die es dank der<br />

Exportüberschüsse dem Ausland<br />

abgeluchst hat, mindestens<br />

1,5 Milliarden eigene Nachfrage<br />

in den Sand gesetzt. Für<br />

Topmanager mag der Standortwettbewerb<br />

ein Win-win-<br />

Geschäft sein. Für alle anderen<br />

ist es Lose -lose. Was wir vom<br />

Weltwirtschaftsforum wirklich<br />

lernen können: Beschäftigung<br />

und Wohlstand ist, wenn wir<br />

uns von den Davos-Menschen<br />

nicht länger erpressen lassen.<br />

Leander F. Badura über Stiftungsgremien und die AfD<br />

Resilienz und Gegendruck<br />

Nicole Höchst sorgt sich<br />

um die Reproduktion<br />

des deutschen Volkes.<br />

Außerdem findet sie, Deutschland<br />

habe „weniger ein Problem<br />

mit Fremdenfeindlichkeit als<br />

viel eher ein Problem mit feindlichen<br />

Fremden“. Keine sonderlich<br />

überraschenden Positionen<br />

für eine Abgeordnete der AfD.<br />

Doch nun hat ihre Fraktion sie<br />

in das Kuratorium der Mag nus-<br />

Hirschfeld-Stiftung entsandt.<br />

Eine Provokation sei das, meint<br />

nicht zuletzt der Bundesverband<br />

der Lesben und Schwulen.<br />

Und es ist ja auch absurd: Eine<br />

Politikerin, die die Aufhebung<br />

des Eheverbots für gleichgeschlechtliche<br />

Paare als „Befriedigung<br />

von Kleinstinteressen“<br />

bezeichnet und findet, über<br />

LGBT aufzuklären sei ein „Angriff<br />

auf Kinderseelen“, sitzt<br />

nun bei einer der wichtigsten<br />

Stiftungen, die gegen genau solche<br />

Ansichten kämpfen. Grund<br />

dafür ist die einfache Regel,<br />

dass jede Bundestagsfraktion<br />

ein Mitglied in das 24-köpfige<br />

Gremium der durch den Bund<br />

geförderten Stiftung entsendet.<br />

Es ist keine Überraschung,<br />

dass die AfD eine sogenannte<br />

Hardlinerin schickt. Provokation<br />

ist nicht nur Strategie, sondern<br />

Essenz der Partei. Der Einfluss<br />

von Höchst wird natürlich<br />

marginal bleiben, auch weil<br />

man sich im Beirat der Stiftung<br />

wappnen will.<br />

Der Vorgang ist allerdings eine<br />

Lehre über die Dialektik des<br />

Umgangs mit der AfD. Einerseits<br />

erweisen sich die demokratischen,<br />

liberalen Institutionen<br />

als resilient. Das simple Dazustoßen<br />

der Feinde der Freiheit<br />

zu den Hütern jener Ordnung<br />

schafft diese noch nicht ab. Im<br />

Bundestag spielt sich derzeit<br />

ein erstaunlich gut funktionierender<br />

Modus Operandi ein.<br />

Die anderen Parteien stellen die<br />

AfD mit inhaltlicher Kritik statt<br />

Pauschalisierung.<br />

Andererseits zeigt sich, dass<br />

die AfD auf Dauer das demokratische<br />

Spiel aushöhlen kann, da<br />

es unmöglich ist, sie auszusperren.<br />

Am Ende geht es um Mehrheiten<br />

– und die können sich<br />

ändern. Björn Höckes Fantasien<br />

von einer AfD „an der Macht“<br />

sind also durchaus eine Drohung.<br />

Schwer vorstellbar, dass<br />

Organisationen wie die Magnus-Hirschfeld-Stiftung<br />

dann<br />

noch gefördert würden. Ganz<br />

abgesehen von der diskursiven<br />

Wirkung, die sich längst in allen<br />

Ecken der Gesellschaft entfaltet.<br />

Gegendruck braucht es auch<br />

jenseits institutioneller Resilienz.<br />

Nicht nur der Stiftungsbeirat<br />

muss sich für die Auseinandersetzung<br />

wappnen, sondern<br />

eigentlich – alle.


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Titelthema 03<br />

„Der Sender<br />

hat klar versagt“<br />

Wedel Sexuelle Übergriffe sind möglich,<br />

weil zu wenig Frauen zu wenig Macht haben,<br />

sagt Regisseurin Barbara Rohm<br />

Derzeit Kassenschlager: „Affäre Wedel“ über Macht und Gewalt am Filmset<br />

Als vor Kurzem mehrere<br />

Frauen den Regisseur<br />

Dieter Wedel beschuldigten,<br />

er habe<br />

ihnen Gewalt angetan,<br />

ging ein Aufschrei durch die<br />

Republik: Wieso hat niemand etwas<br />

dagegen getan, obwohl am Set<br />

alle von den Übergriffen gewusst<br />

haben? Ein Gespräch über Einschaltquoten,<br />

die Macht Einzelner<br />

und die Angst vor Ausgrenzung,<br />

wenn man Opfern hilft.<br />

<strong>Freitag</strong>: Frau Rohm, die Enthüllungen<br />

zu den gewalttätigen<br />

Übergriffen auf Schauspielerinnen<br />

durch den Starregisseur<br />

Dieter Wedel scheinen nicht abzureißen.<br />

Was kommt da noch?<br />

Barbara Rohm: Das ist sicher noch<br />

nicht auserzählt. Der „Fall Wedel“<br />

macht Strukturen sichtbar, die<br />

Machtmissbrauch stützen. Das ist<br />

systemimmanent.<br />

Das System war unter anderem<br />

der Saarländische Rundfunk (SR).<br />

Frauen haben dem Sender<br />

bereits in den 80er Jahren von<br />

Wedels physischer und psychischer<br />

Gewalt ihnen gegenüber<br />

berichtet. Die SR-Führungsebene<br />

hat demnach genau gewusst,<br />

was am Set passiert. Wie kann es<br />

sein, dass niemand reagiert?<br />

Einschaltquoten und die Angst,<br />

dass eine Produktion zeitlich und<br />

finanziell aus dem Ruder läuft,<br />

wenn solche Vorwürfe aufgeklärt<br />

und verfolgt werden, waren offensichtlich<br />

zu groß. Solche Vorkommnisse<br />

werden zudem oft als<br />

Privatsache abgetan. Der Sender<br />

hat ganz klar versagt.<br />

Vergewaltigung, Nötigung, körperliche<br />

Übergriffe waren auch<br />

damals Straftaten. Durch Schweigen<br />

macht man sich mitschuldig.<br />

Sich mit Opfern zu solidarisieren,<br />

heißt auch, sich außerhalb einer<br />

Gruppe zu stellen. Das ist unbequem<br />

und birgt die Gefahr, ebenfalls<br />

zu vereinzeln. Ein Risiko<br />

angesichts der kurzzeitigen Verträge,<br />

die im Filmgeschäft üblich<br />

5,6 Mio € (9,4 %)<br />

59,4 Mio €<br />

2013<br />

53,8 Mio € (90,6%)<br />

„Vielleicht<br />

berichten ja<br />

bald auch<br />

Männer, was<br />

ihnen am<br />

Set passierte“<br />

antwortlicher Position, der solche<br />

Zustände nicht duldet. Versagt<br />

haben nicht die Frauen, sondern<br />

die Verantwortlichen, die das<br />

zugelassen haben.<br />

Und die Frauen, die Zeuginnen<br />

wurden? Waren sie allesamt mitleidslos?<br />

Frauen vorzuwerfen, sie hätten<br />

versagt, weil sie sich nicht solidarisiert<br />

haben, greift zu kurz. Das<br />

ist doch keine Angelegenheit unter<br />

Frauen! Diejenigen, die die Macht<br />

haben, müssen das System verändern.<br />

Und das sind nicht die<br />

Frauen.<br />

Wer keine Macht hat, kann keine<br />

Solidarität zeigen?<br />

Was hätte der Protest einer einzelnen<br />

Maskenbildnerin ausrichten<br />

können, wenn die „oberste Etage“<br />

die Taten deckt? Darüber hinaus<br />

Filmförderungen des DFFF<br />

7,2 Mio € (14,2 %)<br />

Männer<br />

43,4 Mio € (85,8%)<br />

7,6 Mio € (15,1 %)<br />

Frauen<br />

50,6 Mio € 50,2 Mio € 49,8 Mio €<br />

42,6 Mio € (84,9%)<br />

8,8 Mio € (17,7 %)<br />

2014 2015 2016<br />

41,0 Mio € (82,3 %)<br />

sind. Beteiligte an einem Film kommen<br />

stets nur für dieses eine zeitlich<br />

begrenzte Projekt zusammen.<br />

Wie es danach weitergeht, weiß<br />

niemand. Aber alle wollen Folgeaufträge,<br />

das ist häufig eine existenzielle<br />

Frage.<br />

In einer „normalen“ Firma wäre<br />

solch ein System nicht möglich?<br />

Zumindest besteht eher die Chance,<br />

dass sich irgendwann doch<br />

jemand solidarisiert. Das System<br />

am Set schließt und öffnet sich<br />

ständig. Und diejenigen, für die es<br />

nicht gut läuft oder die sehen,<br />

wie andere fertiggemacht werden,<br />

wissen: Bald ist der Dreh vorbei,<br />

der Vertrag läuft aus, dann ist das<br />

hier vorbei. Das ist auch ein gewisser<br />

Selbstschutz.<br />

Das verhindert jegliche Solidarität?<br />

Opfer von sexueller Gewalt sind<br />

in der Beweispflicht. Aber beweisen<br />

Sie das mal, wenn alle anderen<br />

sagen: Ich weiß von nichts, ich<br />

habe nichts gesehen, nichts gehört.<br />

Das produziert eher Ohnmacht<br />

und keine Solidarität<br />

Hat der Feminismus an dieser<br />

Stelle versagt?<br />

Eine einzelne Frau kann ein toxisches<br />

System nicht verändern,<br />

dafür braucht es viele mutige Menschen.<br />

Oder jemanden in verhaben<br />

die Frauen am Set offenbar<br />

gefürchtet, ihren Job zu verlieren.<br />

Das hat mit dem harten Verteilungskampf<br />

zu tun, unter dem vor<br />

allem Frauen zu leiden haben.<br />

Das müssen Sie erklären.<br />

Gerade zeigt eine Studie der Filmförderungsanstalt<br />

(FFA), der größten<br />

staatlichen Filmfördereinrichtung<br />

Deutschlands, wie wenig<br />

präsent Frauen in allen Filmbereichen<br />

sind. So werden nicht einmal<br />

ein Viertel der Drehbücher von<br />

Frauen verfilmt, hinter der Kamera<br />

stehen gerade mal 10 Prozent Frauen,<br />

der Ton wird fast ausschließlich<br />

von Männern gemacht. 2016<br />

waren gerade mal 14 Prozent<br />

der ZDF-Produktionen von Frauen,<br />

über 82 Prozent der Fördermittel<br />

flossen an Männer.<br />

Vielleicht sind die Männer einfach<br />

besser?<br />

Nein. Das ist keine Frage der Qualität,<br />

sondern eine der Mittel- und<br />

Auftragsvergabe. Frauen leiden<br />

nicht an einem kollektiven Qualitätsmangel.<br />

Ich gehe davon aus,<br />

dass Talent bei Frauen und Männern<br />

gleichmäßig verteilt ist.<br />

Die FFA bescheinigt sich mit ihrer<br />

Studie das eigene miserable Handeln?<br />

Die Anstalt sagt ganz klar, dass aufgrund<br />

der asymmetrischen<br />

Geschlechterverhältnisse und der<br />

Risikoscheu in der Filmindustrie<br />

immer wieder gern auf bewährte<br />

Formate und Personen zurückgegriffen<br />

wird. Und sie sagt auch,<br />

dass dadurch Stereotype fortgeschrieben<br />

werden. Ganz konkret<br />

bedeutet das: Männer werden<br />

nach wie vor Eigenschaften wie<br />

Durchsetzungskraft, Kreativität,<br />

Stressresistenz zugeschrieben. Sie<br />

sind das Genie und Frauen sind<br />

die Musen, die auf ihren Körper<br />

reduziert werden, nicht selten mit<br />

einem sexuellen Interesse für<br />

den Mann.<br />

Von anderen männerdominierten<br />

Branchen, wie beispielsweise<br />

der Metallindustrie, hört man<br />

nichts von derlei Vorfällen.<br />

FOTOS: EIBNER/IMAGO, ORSINO ROHM (UNTEN)<br />

Es gibt aber Berichte von Versicherungsunternehmen,<br />

deren Führungskräfte<br />

gemeinsam in den Puff<br />

gehen. Was ist mit der Kirche?<br />

Dem Sport? In den sozialen Netzwerken<br />

haben sich im Zuge<br />

von #metoo mittlerweile Millionen<br />

von Frauen geäußert, und<br />

die arbeiten nicht alle in der Medienbranche.<br />

Werden neben dem Saarländischen<br />

Rundfunk demnächst andere<br />

öffentlich-rechtliche Anstalten<br />

ihre Archive öffnen?<br />

Sie werden es müssen, falls noch<br />

weitere Fälle öffentlich werden. Die<br />

#metoo-Debatte in Amerika hat<br />

gezeigt, dass eine Lawine losgetreten<br />

werden kann, wenn nur ein<br />

paar Frauen den Anfang machen<br />

und reden.<br />

Muss sich die Filmbranche<br />

den Vorwurf der institutionellen<br />

Schuld machen lassen?<br />

Das ist eine eigenartige Kultur, die<br />

da vorherrschte. Im Fall Wedel<br />

hieß diese, klar abzuwägen: Der<br />

Mann liefert uns Erfolg. Was<br />

würde es uns kosten, jemanden<br />

nachzubesetzen, Drehtage zu<br />

wiederholen? Das wiegt mehr als<br />

einzelne Frauen, deren Leben<br />

zerstört wird.<br />

Diese „Kultur“ erlaubt es vor<br />

allem Männern, sich an Frauen<br />

zu vergehen.<br />

Warten wir mal, möglicherweise<br />

berichten bald auch Männer,<br />

was ihnen am Set widerfahren ist.<br />

Ist #metoo in Deutschland zu<br />

zahm?<br />

Vielleicht. Mir fehlt vor allem die<br />

Debatte darüber, was sich verändern<br />

muss, um gewaltfreies Arbeiten<br />

zu ermöglichen, nicht nur<br />

am Set.<br />

Was muss sich denn ändern?<br />

Das beste Korrektiv sind ausgeglichene<br />

Geschlechterverhältnisse,<br />

übrigens in jeder Branche. Sowie<br />

ein tief greifender Kulturwandel.<br />

Wie kann man den erreichen?<br />

Der Verein Pro Quote Regie erweitert<br />

sich gerade zu Pro Quote Film.<br />

Gemeinsam mit filmschaffenden<br />

Frauen aller Gewerke und Schauspielerinnen<br />

fordert er für die<br />

Filmbranche eine Quote von 50<br />

Prozent: die Hälfte aller öffentlichen<br />

Aufträge und Fördermittel<br />

muss an Frauen gehen. Frauen<br />

und Männer müssen gleichermaßen<br />

vor und hinter der Kamera<br />

vertreten sein. Auch Frauen über<br />

35 müssen stärker präsent sein.<br />

Kostüm<br />

Frauen über 50 beispielsweise<br />

kommen nur noch zu einem Viertel<br />

in Film- und Fernsehproduktionen<br />

vor. Ab 60 nur noch zu einem<br />

Fünftel. Außerdem empfehlen wir<br />

verpflichtende Genderseminare.<br />

Genderworkshops als Pflicht sind<br />

nicht sonderlich beliebt.<br />

Barbara Rohm,<br />

51, ist Regisseurin,<br />

Fotografin<br />

und Mitbegründerin<br />

sowie<br />

Vorstand des Vereins Pro<br />

Quote Regie und Pro Quote<br />

Film. Sie arbeitete unter<br />

anderem für Pro 7 und als<br />

Regisseurin von Werbespots<br />

und -filmen. Zuletzt<br />

erschien von ihr der Bildband<br />

Menschen in Sanssouci<br />

im h. f. ullmann Verlag.<br />

Wer etwas ändern will, darf nicht<br />

davor zurückschrecken, unbeliebte<br />

Dinge einzufordern. Wenn Genderseminare<br />

erst einmal selbstverständlich<br />

geworden sind, wird<br />

man vergessen haben, dass sie mal<br />

unbeliebt waren. In großen Unternehmen<br />

sind Diversity-Seminare<br />

bereits üblich, da weiß man, dass<br />

Vielfalt ein Erfolgsfaktor ist.<br />

Unabhängig davon hat der Schauspielverband<br />

einen runden Tisch<br />

zur Gründung einer überbetrieblichen<br />

Beschwerdestelle für Filmschaffende<br />

in kurzen Arbeitsverhältnissen<br />

initiiert. Für Menschen<br />

also, die nicht die Chance haben,<br />

sich an einen Betriebs- oder Personalrat<br />

in einem Betrieb zu wenden,<br />

in dem sie täglich arbeiten. Die<br />

Beschwerdestelle muss sich auch<br />

um Aufarbeitung und Prävention<br />

kümmern.<br />

Wie sieht es mit Entschädigungszahlungen<br />

für die Opfer aus?<br />

Auch darüber sollte nachgedacht<br />

werden. Das, was die Opfer schildern,<br />

hat ihre Karrieren und ihre<br />

persönliche Entwicklung stark<br />

beeinflusst. Wünschenswert ist<br />

auch hier, dass die Opfer Unterstützung<br />

finden und nicht allein um<br />

Entschädigung kämpfen müssen.<br />

Das Gespräch führte<br />

Simone Schmollack<br />

Anteil von Frauen und Männern bei der<br />

deutschen Filmproduktion<br />

80%<br />

Szenografie<br />

38% 4% 9% 46% 3%<br />

Schnitt/Montage<br />

30% 3% 10% 48% 9%<br />

Regie<br />

22% 1%5% 67% 5%<br />

Drehbuch<br />

20% 3% 16% 40% 20%<br />

Produktion<br />

10% 4% 28% 28% 30%<br />

Kamera<br />

9% 1%5% 71% 14%<br />

Ton<br />

3%1%5% 68% 23%<br />

Frauen<br />

Männer<br />

Frauenteams<br />

Männerteams<br />

Gemischte Teams<br />

Quellen: Unter der Gender-Lupe, Deutscher Filmförderfonds (DFFF)<br />

2017. Gender und Film – Rahmenbedingungen und Ursachen der<br />

Geschlechterverteilung von Filmschaffenden in Schlüsselpositionen,<br />

Filmförderungsanstalt (FFA) 2017 (Angaben gerundet)<br />

6% 3% 10%


04 Politik<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Sie nennen es links<br />

Grüne Die Partei hat ein neues Führungsduo gewählt<br />

und dabei eherne Prinzipien über Bord geworfen<br />

■■Martina Mescher<br />

Ein „neuer Joschka“, eine „neue Petra<br />

Kelly“, der mediale Trend zur ikonografischen<br />

Überfrachtung macht<br />

auch vor den Grünen nicht halt. Die Partei<br />

hat mit Robert Habeck und Annalena<br />

Baerbock seit dem Wochenende ein neues<br />

Führungsduo, das nun als politisches<br />

Traumpaar der Republik gefeiert wird. Im<br />

wirklichen Leben verband den regierungsfreudigen<br />

Kosovo-Kriegsbefürworter<br />

Joschka Fischer und die Friedensaktivistin<br />

Petra Kelly, die die Grünen als „Anti-Parteien-Partei“<br />

etablieren wollte, nicht<br />

allzu viel. Fischers Aufstieg in der Partei<br />

begann mit Kellys Abstieg. Die Rückbesinnung<br />

auf die Anfänge der Grünen passt<br />

zwar zu Habecks Plänen, aus ihnen eine<br />

attraktive Bewegungspartei zu machen,<br />

aber ansonsten stand die Bundesdelegiertenkonferenz<br />

in Hannover eher für einen<br />

Abschied von früheren Grundsätzen.<br />

Umverteilung<br />

und doch<br />

noch Jamaika<br />

– so geht<br />

Flexibilität<br />

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Die Türkei zwischen Repression und Widerstand<br />

Kemal Bozay und Hasan Kaygısız gehen der Frage nach, wie die<br />

gezielte Eskalation nach dem Putsch und Gegenputsch von 2016<br />

zu erklären ist. Mehr noch: Wie es unter Erdoğan zum Bruch mit<br />

dem Kemalismus bei gleichzeitiger osmanischer Rückbesinnung<br />

kommen konnte.<br />

Bisher galt bei der Besetzung von Führungsposten<br />

die Flügellogik, mit Habeck<br />

und Baerbock bilden nun zwei Realo-Vertreter<br />

die Doppelspitze. Das eherne Prinzip<br />

der Trennung zwischen Amt und<br />

Mandat, das den frühen Grünen nicht nur<br />

als Instrument gegen die Anhäufung von<br />

Ämtern, sondern auch als Waffe gegen<br />

die verachtete Personalisierung von Politik<br />

galt, wurde für Habeck aus dem Weg<br />

geräumt, in Hannover wurde die Satzung<br />

entsprechend geändert. Habeck wird in<br />

den kommenden acht Monaten zwei Jobs<br />

bestreiten, als Bundesvorsitzender der<br />

Grünen und als Umweltminister der Kieler<br />

Jamaika-Koalition. Dass Habeck die<br />

Aufhebung der Trennung von Amt und<br />

Mandat zur Bedingung für seine Kandidatur<br />

um den Chefposten machte und damit<br />

auch offensiv seinen Machtanspruch<br />

zur Schau stellte, sorgte bei Teilen des linken<br />

Flügels durchaus für Unmut.<br />

Der Parteitag hat noch einmal deutlich<br />

vor Augen geführt, wie defensiv die Parteilinke<br />

inzwischen auftritt, wenn es um<br />

den Anspruch auf Führungspositionen<br />

geht. Das war bereits der Fall, als mit Katrin<br />

Göring-Eckardt und Cem Özdemir<br />

zwei Realos als Spitzenkandidaten für den<br />

Bundestagswahlkampf gekürt wurden,<br />

und daran hat auch das magere Ergebnis,<br />

das die beiden mit ihrem Kurs in Richtung<br />

Schwarz-Grün einfuhren, nichts geändert.<br />

Mit der niedersächsischen Fraktionsvorsitzenden<br />

Anja Piel gab es bei diesem<br />

Parteitag nur eine Anwärterin vom<br />

linken Flügel für den Parteivorsitz, sie<br />

unterlag deutlich. Baerbock holte 64,45<br />

Prozent der Stimmen, Piel 34,78, Habeck<br />

erhielt 81,3 Prozent. Im Vorfeld hatten Özdemir<br />

und Winfried Kretschmann geklagt,<br />

der Flügelpoporz verhindere, dass<br />

die Besten sich durchsetzten. Die Medien<br />

passten sich ihrer Lesart, Talente seien<br />

nur in den Reihen der Realos auffindbar,<br />

bereitwillig an.<br />

Mindestlohn, war da was?<br />

Habeck und Baerbock haben die Devise<br />

ausgegeben, die Partei links der Mitte zu<br />

positionieren, angesichts des gegenwärtigen<br />

Rechtsrucks dürfte das keine allzu<br />

große Herausforderung sein. In seiner<br />

eher feuilletonistisch inspirierten Parteitagsrede<br />

sinnierte Habeck über eine zeitgemäße<br />

Definition des Linksseins. Er kritisierte<br />

die Schere zwischen Arm und<br />

Reich und nahm das Wort Umverteilung<br />

in den Mund. Dass die Jamaika-Regierung<br />

in Schleswig-Holstein gerade den höheren<br />

landeseigenen Mindestlohn einkassiert<br />

hat, verträgt sich allerdings nicht so<br />

ganz mit dieser sozialpolitischen Rhetorik.<br />

Die gebürtige Niedersächsin, die sich<br />

als Wahl-Brandenburgerin für die Energiewende<br />

und gegen den Kohleabbau engagiert,<br />

betonte auf dem Parteitag die<br />

Bedeutung der sozialen Frage und hielt<br />

ein leidenschaftliches Plädoyer für eine<br />

humane Flüchtlingspolitik. Habeck und<br />

Baerbock sind Experten für Umweltpolitik<br />

und Klimaschutz, dass die versierteren<br />

Protagonisten für sozialpolitische Positionen<br />

eher im linken Flügel anzutreffen<br />

sind, wissen sie. Entsprechend deutlich<br />

waren die Signale, die sie in dessen Richtung<br />

sendeten; ohne die Einbindung von<br />

Finanzexperten wie Gerhard Schick oder<br />

der Sozialpolitikerin Katja Dörner wird es<br />

schwierig, einen Kurs links der Mitte einzuschlagen.<br />

Als kleinster Oppositionspartei<br />

in einem Parlament, das deutlich nach<br />

rechts gerückt ist, bleibt den Grünen ohnehin<br />

nichts anderes übrig.<br />

Dass bedeutet allerdings nicht, dass die<br />

Partei sich offensiver um linke Bündnisse<br />

im Bund bemühen wird, als das in den<br />

letzten vier Jahren der Fall war. Özdemir<br />

will weiter um die Gunst der FDP-Klientel<br />

buhlen, Habeck gehört einer Jamaika-Regierung<br />

an und Baerbock hat für den Fall,<br />

dass eine schwarz-rote Koalition nicht zustande<br />

kommt, eine erneute Jamaika-Sondierung<br />

in Aussicht gestellt. Die erste<br />

Runde hat wohl noch nicht ausreichend<br />

für Ernüchterung gesorgt, obwohl die<br />

Grünen dabei eine Flexibilität an den Tag<br />

legten, die viele ihrer Anhänger nicht begeistert<br />

haben dürfte. Die Grünen werden<br />

zwar gerade für ihre Erneuerung gefeiert,<br />

aber auch bei der CSU hat eine Personalrochade<br />

begonnen, die deren Schwesterpartei<br />

noch bevorsteht. Angesichts einer<br />

CSU, die AfD-Positionen abräumt und eines<br />

extrem konservativen CDU-Nachwuchses,<br />

fragt man sich, was noch passieren<br />

muss, damit die Ökopartei ihren<br />

Traum von Schwarz-Grün beerdigt.<br />

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Der Genosse im grauen Hemd heißt Kevin Kühnert und ist drei Jahre jünger als Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz<br />

Keine Überlebenden<br />

SPD Warum ein neuer Aufbruch nur von der Parteijugend ausgehen kann<br />

■■Michael Jäger<br />

Tritt ein, sag Nein“, die Kampagne<br />

der Jusos zur Verhinderung<br />

der Großen Koalition scheint<br />

sehr erfolgreich zu sein. Es kann<br />

zwar sein, dass viele Menschen<br />

mehr von der Debattenkultur angezogen<br />

wurden, die sich auf dem jüngsten Parteitag<br />

gezeigt hat, als von der Möglichkeit des<br />

Neinsagens. Aber dann hätten die Jusos das<br />

Verdienst, solche Menschen ermutigt zu<br />

haben. Der Parteivorstand der SPD hat die<br />

Legitimität der Kampagne in Zweifel gezogen.<br />

Verhindern konnte er sie nicht, aber<br />

einen Stichtag setzte er fest: Bis 6. Februar,<br />

18 Uhr, muss eine Aufnahmebestätigung<br />

durch den Ortsverein vorliegen, um am<br />

Entscheid über die Koalition teilnehmen zu<br />

können. Es stellt sich nun die Frage nach<br />

der Legitimität des Stichtags.<br />

Seine Setzung legt nahe, es sei unzumutbar,<br />

jemanden mit abstimmen zu lassen,<br />

der oder die noch während des Abstimmungszeitraums<br />

einträte. Aber was wäre<br />

dagegen einzuwenden? Die Kontroverse,<br />

um die es geht, hat doch ihrerseits einen<br />

Zeitraum von vier Jahren, eine ganze Legislaturperiode,<br />

zum Gegenstand. Warum soll<br />

es dann wichtig sein, wann genau jemand<br />

eintritt im Verlauf des Monats Februar, um<br />

die Große Koalition verneinen oder bejahen<br />

zu können? Welches Bild vom Wesen<br />

einer Partei steht hinter der Stichtagsetzung?<br />

Etwa das Marktmodell von Politik,<br />

das ja ohnehin ständig Boden gewinnt?<br />

In diesem Modell, das bis auf Max Weber<br />

zurückgeht, erscheint eine Partei als ein<br />

Unternehmen, das mit anderen Parteien<br />

gleichsam um Verkaufsanteile ringt, als<br />

welche sich die Stimmanteile dann darstellen.<br />

Der Profitmaximierung der Unternehmen<br />

entspräche die Stimmenmaximierung.<br />

Eine solche Partei sollte eine breite<br />

freiwillige Mitgliedschaft am besten gar<br />

nicht haben, weil sie die Flexibilität und<br />

Schlagkraft des Verkaufskonzerns tendenziell<br />

behindert. Denn Mitglieder stellen<br />

Forderungen und diese greifen in die unternehmerische<br />

Dispositionsfreiheit ein.<br />

Das Leid die SPD-Führung um Martin<br />

Schulz ist tatsächlich von dieser Art. Es<br />

geht darum, ob die Autorität der „flexiblen“<br />

Wendungen des Vorsitzenden erhalten<br />

bleiben kann oder nicht: von der „Großen<br />

Koalition unter meiner Führung“ über das<br />

entschiedene Nein bis zum ebenso entschiedenen<br />

Ja, alles in wenigen Monaten!<br />

Das Problem ist nur: Es geht gar nicht<br />

um Stimmenmaximierung. Denn die hätte<br />

für einen konsequenten, nachhaltigen Kurs<br />

gegen die Große Koalition gesprochen,<br />

seitdem der „Schulz-Hype“ vor einem Jahr<br />

schon einmal eine Eintrittswelle ausgelöst<br />

und auch dazu geführt hatte, dass die SPD<br />

die Union kurzzeitig in der Wählergunst<br />

überholte. Ursache war der Abschied von<br />

der Agenda 2010, der sich damals anzudeuten<br />

schien. Das Kontinuierliche am Zickzackkurs<br />

der Parteiführung ist aber offenbar<br />

das Festhalten an der Agenda. Wenn<br />

man ihre Handlungen im Marktmodell interpretiert,<br />

betreibt sie Stimmenmaximierung<br />

nicht für die SPD, sondern für die Große<br />

Koalition, die schon immer das Subjekt<br />

der Agenda gewesen ist.<br />

Die Jusos handeln nach einem anderen<br />

Modell. Sie halten noch daran fest, dass<br />

Parteien den Willen der Wähler aufnehmen<br />

und in politische Entscheidungen<br />

übersetzen sollen. Das gelingt desto besser,<br />

je mehr wählende Bürger auch Parteimitglieder<br />

werden, denn dann nehmen diese<br />

nicht nur an Abstimmungen teil, sondern<br />

auch daran, wie die Abstimmungsfragen<br />

formuliert werden. Tatsächlich geht darum<br />

in Wahrheit die derzeitige Kontroverse innerhalb<br />

der SPD. „Große Koalition ja oder<br />

nein“ ist nur die Oberfläche der Kontroverse.<br />

Was dahintersteht, hat die Fraktionsvorsitzende<br />

Andrea Nahles in ihrer Parteitagsrede<br />

formuliert: Ist die SPD dazu da, für<br />

„das Kleine“ zu kämpfen? Was unausgesprochen<br />

hieß: für kleine Verbesserungen<br />

innerhalb der fortgesetzten Agenda-Politik,<br />

für welche die Große Koalition steht?<br />

Oder soll die SPD zu dem zurückkehren,<br />

was vor Gerhard Schröder sozialdemokratische<br />

Politik gewesen ist? Dann würde man<br />

„das Kleine“ in einem anderen Rahmen<br />

durchsetzen als dem, den eine Kanzlerin<br />

Angela Merkel absteckt.<br />

Die Partei hat<br />

niemanden<br />

wie Jeremy<br />

Corbyn in<br />

ihren Reihen<br />

In diesem Zusammenhang ist daran zu<br />

erinnern, dass die SPD eine Austrittswelle<br />

erlebte, schon als Gerhard Schröder die<br />

Praxisgebühr bei Arztbesuchen durchgesetzt<br />

hat. Das war noch vor der Agenda,<br />

kündigte sie aber bereits an.<br />

Jetzt kommt Kevin<br />

Dass die Front nun zwischen dem Vorstand<br />

und den Jusos verläuft, hat eine über die<br />

Stichtag-Frage noch weit hinausreichende<br />

Bedeutung. Denn egal wie die Mitgliederabstimmung<br />

ausgehen wird, der Streit wird<br />

nicht enden. Er dreht sich um eine Frage,<br />

die an und für sich mit dem Unterschied<br />

„jung oder alt“ gar nichts zu tun hat. Und<br />

doch ist es kein Zufall, dass er sich mit ihm<br />

verbindet. Man braucht bloß nach England<br />

zu schauen. Dort hat sich eine analoge Kontroverse<br />

mit der Figur Jeremy Corbyns verbunden,<br />

der längst nicht mehr jung ist.<br />

Auch das war kein Zufall: Corbyn war<br />

gleichsam ein Überlebender der Zeit, bevor<br />

die Labour Party von Tony Blair, gegen den<br />

er stets gekämpft hatte, gewendet worden<br />

ist. Dass Einzelne übrig bleiben und eine<br />

Rückkehr zu verdrängten Problemlagen ermöglichen,<br />

ist ein typisches strukturelles<br />

Phänomen politischer, überhaupt gesellschaftlicher<br />

Entwicklung. Aus diesem<br />

Grund hat ein Adorno so große Bedeutung<br />

erlangen können. Er war ja, unfreiwillig<br />

zwar, in der Sache aber nachvollziehbar, ein<br />

wichtiger Stichwortgeber der 68er Revolte<br />

in Westdeutschland. Die SPD hat aber solche<br />

Überlebenden nicht mehr zu bieten.<br />

Deshalb kann ein Aufbruch zur Rückkehr<br />

nur von der Parteijugend ausgehen.<br />

Und wiederum ist das ist kein Zufall.<br />

Man kann es mit dem Unterschied der<br />

Wahlsysteme erklären. In Großbritannien<br />

gilt das Mehrheitswahlrecht. Da hätten<br />

Parteiaustritt und -neugründung Corbyns<br />

Sache nichts genützt. Wenn aber wie in<br />

Deutschland das Verhältniswahlrecht gilt,<br />

liegt es für einen Oskar Lafontaine nahe,<br />

eben das zu tun. Er wäre der politisch Überlebende,<br />

den die SPD jetzt brauchte. Wenn<br />

aber stattdessen „nur“ die Parteijugend für<br />

genuin sozialdemokratische Politik<br />

kämpft, liegen darin vielleicht sogar noch<br />

mehr Chancen. Wie schnell konnte sich Kevin<br />

Kühnert, der erst Ende November 2017<br />

Juso-Vorsitzender wurde, profilieren! Er ist<br />

nur drei Jahre jünger als Österreichs Bundeskanzler<br />

Sebastian Kurz.<br />

FOTO: KAY NIETFELD/DPA


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Politik <strong>05</strong><br />

Verwandte zur Verwendung<br />

Wissenschaft I Das erstmals vollzogene Klonen von Primaten wirft viele forschungsethische Fragen auf<br />

■■Ulrike Baureithel<br />

Wissenschaft ist Wettbewerb.<br />

Das gilt nicht nur<br />

für die einzelnen Forscher<br />

im Rennen, mit<br />

den besten Ideen und<br />

Studien zuerst auf dem Markt zu sein, sondern<br />

auch für Nationen. Maßen sie sich<br />

früher an der modernsten Kriegsflotte<br />

oder am Bau einer „Wunderwaffe“, hat sich<br />

das Feld des Wettstreits ausgeweitet ins Zivile,<br />

insbesondere die Informations- und<br />

Biotechnologie, wo nicht nur das moderne<br />

Gold zu schürfen ist, sondern auch nationales<br />

Prestige winkt. Nicht umsonst heißen<br />

die beiden Javaneräffchen, die von chinesischen<br />

Forschern kürzlich im Labor geklont<br />

worden sind (siehe Text unten),<br />

Zhong Zhong und Hua Hua: Zusammengezogen<br />

ergibt das „Zhonghua“, die Bezeichnung<br />

für „chinesische Nation“.<br />

Und so muss man die wissenschaftliche<br />

Leistung wohl auch lesen: Es geht weniger<br />

um einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel<br />

oder einen der viel beschworenen<br />

„Durchbrüche“ als zunächst einmal um einen<br />

Wechsel der Flaggen. Denn noch bis<br />

ins Jahr 2000, als Craig Venter das menschliche<br />

Genom als entziffert präsentierte, galt<br />

der angelsächsische Raum als führend in<br />

Bezug auf bio- und reproduktionstechnologische<br />

„Sensationen“, nicht zuletzt weil<br />

eine utilitaristische Ethik den Begründungsrahmen<br />

dafür lieferte. Ian Wilmuts<br />

Klonschaf Dolly war die Ikone hybrider<br />

Züchtungsfantasien, sei es, um landwirtschaftliche<br />

Erträge zu steigern oder um genetisch<br />

identische Tiermodelle für die Forschung<br />

zu erzeugen.<br />

Noch im selben Jahr, als Venter die Welt<br />

und den Menschen mittels vier Buchstabenfolgen<br />

erklären wollte, bastelten in Oregon<br />

Wissenschaftler an der Zerteilung der<br />

Zellen eines Schimpansenembryos, um aus<br />

ihnen identische Äffchen zu klonen. Sie<br />

versuchten damit die komplizierte Methode,<br />

die Wilmut bei seinen Schafen angewandt<br />

hatte, zu umgehen: Statt den Zellkern<br />

zu isolieren und anschließend in eine<br />

weibliche Eizelle einzuführen und den<br />

Klon durch ein Muttertier austragen zu lassen,<br />

splitteten sie den Embryo einfach auf,<br />

um Duplikate zu erhalten. Bei den vier bei<br />

dieser Prozedur entstandenen Äffchen<br />

handelte es sich um die ersten genveränderten<br />

Primaten. Gerald Schatten, der da-<br />

Der Name ist Programm: Zhong Zhong und Hua Hua, zusammen Zhonghua, das heißt: „chinesische Nation“<br />

63 Weibchen<br />

wurden zur<br />

Erzeugung der<br />

beiden<br />

Tiere benötigt<br />

malige Leiter der Forschungsabteilung,<br />

pries sie als „Modelle“ für die Aids-Forschung<br />

und rief damit damals schon die<br />

Tierschützer auf den Plan.<br />

Mittlerweile sind Singapur und China<br />

auf diesem Gebiet auf der Überholspur,<br />

und die Laborkünstler des Instituts für<br />

Neurowissenschaften in Schanghai haben<br />

sich wieder auf Wilmuts Methode besonnen.<br />

Die beiden Affenbabys sind das – zahlenmäßig<br />

eher dürftige – Ergebnis eines<br />

erstmals an Primaten durchgeführten somatischen<br />

Zellkerntransfers. Dürftig, wenn<br />

man bedenkt, dass für dieses Experiment<br />

über 400 Eizellen verbraucht und 260 Embryonen<br />

erzeugt wurden, die auf 63 Affenweibchen<br />

übertragen wurden. 28 Schwangerschaften<br />

ergaben sich, aus ihnen gingen<br />

die besagten beiden Äffchen hervor, eine<br />

aus tierethischer Sicht hochproblematische<br />

Materialschlacht, bei der die Ursprungszelle<br />

jedes Mal so reprogrammiert,<br />

die genetische Uhr sozusagen jedes Mal<br />

zurückgestellt werden muss, damit sich<br />

ein Embryo daraus entwickeln kann.<br />

Tierschützer kritisieren die chinesischen<br />

Klonexperimente als einen Dammbruch,<br />

der, so der Bundesverband „Menschen<br />

für Tierrechte“, zu einer erneuten<br />

„Welle von Affenversuchen“ führen könnte.<br />

Javaäffchen werden insbesondere eingesetzt,<br />

um die Toxizität von Medikamenten<br />

und die Qualität medizinischer Produkte<br />

und Geräte zu prüfen. Der Deutsche<br />

Tierschutzbund befürchtet ebenfalls eine<br />

Ausweitung von Affenexperimenten und<br />

macht auf das Leid der sensiblen Tiere<br />

aufmerksam, die häufig kurz nach der Geburt<br />

unter Schmerzen sterben. Er lehnt<br />

jegliches Tierklonen ab und wirft damit<br />

die generelle Frage auf, ob Klontiere im<br />

Dienst des Menschen produziert und vernutzt<br />

werden dürfen.<br />

Paradoxerweise bringen die einschlägigen<br />

Forscher gerade jedoch den Tierschutz<br />

in Anschlag, um ihre Experimente zu legitimieren.<br />

Denn durch die genetisch identischen<br />

Klontiere, behaupten sie, benötige<br />

man weniger Versuchstiere. Je geringer<br />

nämlich deren genetische Variabilität, desto<br />

genauer die Forschungsergebnisse. Der<br />

„Material“verbrauch beim Klonen wird aus<br />

FOTO: PHOTOSHOT/DPA<br />

dieser Perspektive ausgeglichen durch die<br />

Sparsamkeit beim Einsatz von Versuchstieren.<br />

Man wird allerdings den Verdacht<br />

nicht los, dass die Existenzberechtigung<br />

der beim Klonen verbrauchten Tiere anders<br />

bewertet wird als die der auf natürliche<br />

Weise erzeugten.<br />

Nebulöse Therapieversprechen<br />

Die Wissenschaftsgeschichte zeigt indessen<br />

auch, dass das Modellieren von Versuchstieren<br />

und deren (Ver)nutzung in der<br />

vergleichenden Forschung – etwa der Erbpathologie<br />

– eine lange Spur hin zum Menschenexperiment<br />

hinterlassen hat, durchaus<br />

nicht nur im Nationalsozialismus. Von<br />

daher ist es berechtigt, danach zu fragen,<br />

inwieweit der Klonversuch mit Affen technisch<br />

nicht auch mit anderen Primaten –<br />

also den Menschen – möglich ist und damit<br />

erst der Anfang, selbst wenn man dies<br />

den chinesischen Forschern, die das weit<br />

von sich weisen, nicht persönlich unterstellen<br />

muss.<br />

Zwar hat sich der Ansatz in der Stammzellforschung<br />

mittlerweile verändert, und<br />

zumindest in der westlichen Hemisphäre<br />

wird viel mit „erwachsenen“ Körperzellen<br />

gearbeitet. Das heißt aber noch lange nicht,<br />

dass der Weg von der Möglichkeit zur Tatsächlichkeit<br />

nicht irgendwann doch beschritten<br />

werden könnte. Das reproduktive<br />

Klonen von Menschen wird zwar international<br />

geächtet, ist in vielen Ländern aber<br />

auch nicht verboten. Die lange Auseinandersetzung<br />

in den Vereinten Nationen um<br />

das Klonverbot, die 20<strong>05</strong> mit einer unverbindlichen<br />

Deklaration endete, hat nur<br />

dazu geführt, dass das Handwerken mit<br />

menschlichen Föten und Eizellen inzwischen<br />

unter den Radar der öffentlichen<br />

Aufmerksamkeit gerutscht ist.<br />

Mit Blick auf die Versuche in China stellt<br />

sich zunächst aber weniger die Frage, wie<br />

viele Lichtjahre uns noch vom Menschen-<br />

Klon des Science-Fiction trennen, sondern<br />

die nach dem grundsätzlichen Umgang<br />

mit Kreaturen, die sich der Mensch glaubt<br />

dienstbar machen zu können. Die entwicklungsbiologische<br />

Spanne zwischen patentierter<br />

Onco-Maus und geklontem Makaken<br />

schnurrt plötzlich zusammen, wenn es<br />

um nebulöse Therapieversprechen für den<br />

Menschen geht. Im Unterschied zum Embryonensplitting<br />

stünde mit dem Zellkerntransfer<br />

jedenfalls ein ganzes Heer von Versuchsäffchen<br />

bereit.<br />

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Äffchen für den Nationalstolz<br />

Wissenschaft II Kein Land investiert so viel Geld in die Genforschung wie China<br />

■■Felix Lee<br />

In Deutschland steht Volkswagen derzeit<br />

wegen Diesel-Abgastests mit Affen<br />

in der Kritik. China hingegen feiert seine<br />

Experimente mit dem nächsten Verwandten<br />

der Gattung Mensch. Wie vergangene<br />

Woche bekannt geworden ist, gelang<br />

es chinesischen Wissenschaftlern, kleine<br />

Javaäffchen aus der Gattung der Makaken<br />

zu klonen. Schon bald sollen geklonte Äffchen<br />

für Tierversuche sogar in Serie gehen.<br />

Dass den chinesischen Wissenschaftlern<br />

überhaupt gelungen ist, Primaten zu klonen,<br />

ist eine echte Überraschung. 22 Jahre<br />

ist die Geburt des berühmten Klonschafs<br />

Dolly her, der ein wahrer Zoo aus geklonten<br />

Tieren folgte: Pferde, Schweine, Rinder<br />

– 23 Tierarten werden seitdem weltweit regelmäßig<br />

geklont. Und keineswegs nur für<br />

wissenschaftliche Zwecke: Eine chinesische<br />

Firma wirbt mit geklonten Kühen, die für<br />

besseres Fleisch mit einem speziellen Gen<br />

ausgestattet sind. In den USA wird Sperma<br />

von geklonten Bullen verkauft. Und in Südkorea<br />

können Hundebesitzer sogar Kopien<br />

ihrer verstorbenen Vierbeiner in Auftrag<br />

geben. Obwohl diese Technik also seit<br />

mehr als 20 Jahren bekannt ist – das Klonen<br />

von Affen klappte bislang nicht.<br />

In den meisten westlichen Ländern sind<br />

Experimente mit Affen, dem nächsten Verwandten<br />

der Gattung Mensch, verpönt; in<br />

Deutschland sind sie sogar verboten. Doch<br />

selbst in Ländern, in denen ethische Bedenken<br />

weniger eine Rolle spielen, gelang es<br />

bislang nicht, Affen zu klonen. Die Embryos<br />

der Primaten starben allesamt ab. Nur 1999<br />

schafften es Forscher in den USA, einen Labor-Affen<br />

in die Welt zu setzen, der dieselben<br />

genetischen Erbsubstanzen besaß wie<br />

ein Artgenosse. Das Klontier war jedoch aus<br />

der einfachen Teilung einer befruchteten<br />

Eizelle im Labor entstanden – und war damit<br />

nichts anderes als ein eineiiger Zwilling.<br />

Dass dem chinesischen Forscherteam<br />

um Qiang Sun vom Institut für Neurowissenschaften<br />

in Schanghai von der Akademie<br />

der Naturwissenschaften der Durchbruch<br />

gelungen ist, lässt sich jedoch nicht<br />

nur auf die nicht vorhandenen ethischen<br />

Bedenken zurückführen, sondern vor allem<br />

auch auf die üppige finanzielle Ausstattung.<br />

Mit viel Geld versucht China seit<br />

Jahren an die Spitze der Gen- und Biotechforschung<br />

zu gelangen und lockt weltweit<br />

Forscher an chinesische Unis. Mehr als<br />

eine halbe Milliarde US-Dollar sind allein<br />

im derzeit laufenden Fünfjahresplan für<br />

die Biotechforschung veranschlagt – so<br />

viel wie in keinem anderen Land.<br />

In China steht die Genforschung denn<br />

auch in einer Reihe mit der Weltraumerkundung<br />

oder den Bau von Superrechnern<br />

Aus aller<br />

Welt lockt<br />

das Land<br />

Wissenschaftler<br />

an seine Unis<br />

und wird als „nationale Aufgabe“ bezeichnet.<br />

Für dieses Ziel müssen auch die beiden<br />

geklonten Affen mit ihren Namen herhalten<br />

(siehe Text oben). Es geht hier also keineswegs<br />

nur um Fortschritte in der Wissenschaft,<br />

sondern auch um Prestige und<br />

Nationalstolz.<br />

Tierschutzrechtliche Bedenken gibt es in<br />

China keine. Während etwa in Europa in<br />

den meisten Laboren vorwiegend mit Ratten<br />

und Schweinen experimentiert wird,<br />

befinden sich in den chinesischen Laboren<br />

Hunderttausende Primaten in Gefangenschaft.<br />

Und Chinas Neuromedizin vermeldet<br />

regelmäßig Erfolge. So ist es chinesischen<br />

Wissenschaftlern bereits gelungen,<br />

eine Variante von Autismus bei Affen auszulösen<br />

und auf diese Weise einen Zusammenhang<br />

zwischen Erbinformationen und<br />

der Verhaltensvariante nachzuweisen.<br />

Auch in der Bevölkerung gibt es nur wenig<br />

ethische Bedenken. Gespeist aus einem<br />

großen Maß an Fortschrittsgläubigkeit und<br />

der Hoffnung, aus wirksamer Forschung<br />

auch rasch ökonomischen Nutzen ziehen<br />

zu können, macht es für die meisten Menschen<br />

in China keinen Unterschied, ob nun<br />

ein Affe gequält wird, ein Schwein oder ein<br />

Huhn. Hauptsache, es dient der Sache.<br />

Hundefleisch wird in einigen Regionen des<br />

Landes schließlich auch noch gegessen.<br />

Wobei: Was das Abschlachten von Hunden<br />

betrifft, regt sich inzwischen doch mitunter<br />

auch Widerstand.<br />

Felix Lee arbeitet seit dem Jahr 2012 als<br />

China-Korrespondent in Peking<br />

1968 – was steckte wirklich<br />

hinter der Revolte?<br />

Heinz Bude, einer der besten<br />

Kenner der deutschen<br />

Gesellschaft, zieht fünfzig<br />

Jahre danach Bilanz.<br />

www.hanser-literaturverlage.de<br />

128 Seiten. Gebunden | Foto: © Dawin Meckel


06 Wochenthema<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Wochenthema<br />

07<br />

Frische Luft täte<br />

dem Mann gut<br />

An einem Ort ohne Zeit<br />

Wikileaks Sechs Jahre ohne Sonnenlicht: zu Besuch bei Julian Assange, dessen<br />

Botschaftsexil wohl trotz eines nahen Gerichtstermins Bestand haben wird<br />

■■Srećko Horvat<br />

In den vergangenen Jahren habe ich<br />

einen Freund sehr oft besucht. Auf<br />

dem Weg zur Botschaft Ecuadors<br />

durch die Straßen des Londonder<br />

Viertels Knightsbridge beschlich<br />

mich jedes Mal das gleiche Gefühl: In der<br />

Hans Crescent Street angekommen, wird<br />

man sofort in eine postmoderne Version<br />

von Saudi-Arabien mitten in der britischen<br />

Hauptstadt teleportiert. Goldfarbene Lamborghinis<br />

und Limited-Edition-Ferraris mit<br />

arabischen Nummernschildern parken vor<br />

einem der luxuriösesten Kaufhäuser der<br />

Welt, das an seinem Giebel auf Latein<br />

wirbt: „Omnia Omnibus Ubique“ – Alle<br />

Dinge für alle Menschen, überall.<br />

Nachdem ich an der Gedenkstätte für<br />

Prinzessin Diana und Dodi Al-Fayed – dem<br />

ältesten Sohn des Milliardärs, der dieses<br />

Kaufhaus gegründet hat – vorbeigegangen<br />

bin, betrete ich die berühmte Luxus-Lebensmittelabteilung<br />

von Harrods, um einen<br />

Hummer für meinen Freund zu kaufen,<br />

der seit sieben Jahren das Meer nicht<br />

mehr gesehen hat. 300.000 Kunden besuchen<br />

dieses Kaufhaus an Spitzentagen. Ich<br />

frage mich, wie viele von ihnen wissen,<br />

dass nur ein paar Meter weiter der wohl berühmteste<br />

Dissident der westlichen Welt<br />

schon mehr als 2.500 Tage lang keinen<br />

Himmel und kein Sonnenlicht mehr gesehen<br />

hat? Von einem Sonnenuntergang am<br />

Meer ganz zu schweigen.<br />

Ich nehme die Rolltreppe hoch zum Ausgang<br />

und lande wieder auf der Straße. Ich<br />

sehe Leute mit Einkaufstüten von Luxus-<br />

Marken vorbeigehen. Andere sitzen im<br />

Gran Caffé Londra und essen Tagliata vom<br />

Thunfisch oder frisches schottisches Lachsfilet,<br />

zu dem sie einen sizilianischen Rosé<br />

mit dem Aroma von Frühlingsblumen und<br />

Erdbeeren trinken. Auf der Straße ist viel<br />

los, Londons Taxis halten an und fahren ab,<br />

ich mache mich auf den Weg zur Botschaft.<br />

Bei meinem letzten Besuch im November<br />

2017 war ich direkt von der kroatischen<br />

Küste hierhergeflogen, hatte keinen teuren<br />

Rosé dabei, sondern eine schlichte Flasche<br />

mit frischem Meerwasser. Ich frage mich,<br />

ob die zahlreichen Überwachungskameras<br />

in der Gegend hier etwas damit anfangen<br />

können. Als ich dann, nach der üblichen<br />

peniblen Kontrolle aller Dinge, die ich dabeihatte,<br />

darunter auch die Flasche Meerwasser,<br />

die ecuadorianische Botschaft betreten<br />

hatte, schaltete ich mein Handy aus<br />

und ließ es beim Wachpersonal. Sobald<br />

man das macht – auch das denke ich jedes<br />

Mal wieder –, betritt man eine andere Zeitzone.<br />

Das weiße Rauschen beginnt ...<br />

Jemand, der noch nie hier war, kann sich<br />

die Szenerie am besten vorstellen, indem<br />

er Alfonso Cuaróns Film Gravity ansieht, in<br />

dem zwei Astronauten im Weltraum festhängen.<br />

Totaler Verlust der Zeitlichkeit.<br />

Einmal war ich zwei Stunden lang drinnen<br />

bei Julian, aber es fühlte sich an wie eine<br />

Ewigkeit. Einmal kam ich heraus und dachte,<br />

ich sei nur zwei Stunden dort gewesen.<br />

Dabei stellte ich fest, dass es bereits sechs<br />

Uhr morgens war. Es gibt keine frische Luft.<br />

Nicht das geringste direkte Sonnenlicht. Jeder<br />

Atemzug, den man macht, jeder Schritt<br />

wird auch in der Botschaft überwacht. Jetzt<br />

stelle man sich vor, fünfeinhalb Jahre dadrin<br />

zu verbringen.<br />

Freude über ein Asterix-Heft<br />

„Was würdest du als Erstes machen, wenn<br />

du die Botschaft verlassen könntest?“, fragte<br />

ich bei einem unserer Treffen, bei permanent<br />

künstlichem Licht. „Ich würde in<br />

den Himmel schauen“, sagte Julian Assange.<br />

Ich fragte ihn, was er in all den Jahren<br />

vermisst hat, in denen er sich in „willkürlicher<br />

Haft“ befand, wie die Vereinten Nationen<br />

im Februar 2016 seine Lage nannten.<br />

Julian antwortete ruhig: „Nichts.“ – „Nicht<br />

einmal den Himmel?“ – „Nein.“<br />

Diese scheinbar widersprüchliche Antwort<br />

ist wahrscheinlich die beste Abkürzung<br />

in den Kopf eines Mannes, der ohne<br />

Zweifel der größte Feind der Geheimdienste<br />

auf der ganzen Welt ist. In seiner ersten<br />

Rede im April 2017 bezeichnete der neue<br />

CIA-Chef Mike Pompeo Julian Assanges Organisation<br />

Wikileaks als „nicht staatlichen<br />

feindlichen Geheimdienst“.<br />

Wie passt zusammen, dass er sofort zum<br />

Himmel schauen würde, sobald er die Botschaft<br />

verlässt, aber den Himmel nicht vermisst?<br />

Ich bin mir sicher, dass er ihn vermisst,<br />

ebenso wie er als Australier das Meer<br />

vermisst. Aber Julian hat seine Situation so<br />

beschrieben: „Es ist nicht so, dass ich diesen<br />

Preis bezahle, weil ich nicht wusste, wie<br />

die Welt funktioniert. Ich wusste, dass ich<br />

einen Preis bezahlen muss, nicht exakt<br />

welchen, aber etwas in der Art. Meine Lage<br />

ist schwierig, aber ich glaube, dass man für<br />

seine Überzeugung eintreten und bezahlen<br />

muss.“ Ich bin sicher, dass er diese Worte<br />

heute ganz genau so wiederholen würde.<br />

Drei in der Behandlung Traumatisierter<br />

erfahrene Ärzte haben kürzlich 20 Stunden,<br />

über drei Tage verteilt, bei Julian Assange<br />

verbracht, um seine physische und psychische<br />

Gesundheit zu untersuchen. Hernach<br />

schrieben sie in einem Offenen Brief im Guardian:<br />

Das anhaltende Gefangensein gefährde<br />

ihn „physisch wie mental“ und verletze<br />

ganz klar sein Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung<br />

(siehe Text unten).<br />

Ich kann bestätigen, dass Julian Assange<br />

all diese Jahre nicht einmal das Menschenrecht<br />

auf Gesundheitsversorgung gewährt<br />

wurde. Vor zwei Jahren verweigerten die<br />

britischen Behörden ihm „Schutz vor Verhaftung“,<br />

um im Krankenhaus eine MRT<br />

seiner verletzten Schulter machen zu lassen.<br />

Die Schulter schmerzt heute noch. In<br />

Großbritannien und Deutschland angefragte<br />

Ärzte lehnten trotz anfänglichen Interesses<br />

ab, ihn in der Botschaft zu untersuchen.<br />

Sie fürchteten um ihre Karriere.<br />

„Alle Dinge für alle Menschen, überall“,<br />

wie es das Harrods-Motto verspricht, gilt<br />

nicht für die Gesundheitsversorgung von<br />

Julian Assange. Mit Ausnahme der mutigen<br />

Ärzte, die gerade ihren alarmierenden<br />

Bericht veröffentlicht haben, zählt nicht<br />

einmal der hippokratische Eid, wenn es um<br />

den Wikileaks-Gründer geht.<br />

Gibt es einen<br />

Antrag auf<br />

Auslieferung in<br />

die USA?<br />

Die Behörden<br />

schweigen<br />

Einmal – es muss im Winter 2015 gewesen<br />

sein – flog ich von Paris nach London<br />

und brachte ihm das neueste Asterix-und-<br />

Obelix-Heft Der Papyrus des Cäsar mit. In<br />

dem Band geht es um Zensur und den<br />

Kampf um Informationen. Der Comicautor<br />

schuf daher einen Charakter, der von Assange<br />

inspiriert ist und ihm ähnelt.<br />

Als er das kleine Geschenk entgegennahm,<br />

glänzten Julians Augen. Auf die Frage,<br />

wie er es finde, zum Comic-Charakter<br />

geworden zu sein, antwortete er: „In einem<br />

Asterix-Heft zu erscheinen, das ist besser,<br />

als den Nobelpreis zu erhalten. Es gibt<br />

mehr Nobelpreis-Gewinner als Leute, die in<br />

einem Asterix-Heft vorkommen.“<br />

Genau diese charakteristische Antwort<br />

und Asterix können uns dabei helfen, Wikileaks<br />

besser zu verstehen. In der Comicreihe<br />

wird ganz Gallien vom Römischen<br />

Reich beherrscht, nur nicht ein kleines<br />

Dorf in der heutigen Bretagne, dessen Bewohner<br />

ein Zaubertrank unbesiegbar<br />

macht. Ganz ähnlich ist Wikileaks eine winzige<br />

Organisation, die seit Jahren die<br />

schmutzigen Geheimnisse der führenden<br />

Mächte der Welt von den USA bis Russland,<br />

von Saudi-Arabien bis Syrien, von der EU<br />

bis zu Google veröffentlicht.<br />

Was ist der „Zaubertrank“ von Wikileaks?<br />

„Kryptografie“, sagt Julian Assange, Datenverschlüsselung.<br />

Aber in der Realität läuft<br />

es nicht immer wie im Comic.<br />

Sofort nachdem Wikileaks im November<br />

2010 „Cablegate“ veröffentlicht hatte – zu<br />

diesem Zeitpunkt der größte Satz an vertraulichen<br />

Daten, der je an die Öffentlichkeit<br />

gelangte –, wurde im US-Bundesstaat<br />

Virginia eine geheime Grand Jury eingesetzt:<br />

eine Instanz, die in einem nicht öffentlichen<br />

Verfahren prüft, ob die von der<br />

Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise für<br />

eine Anklage wegen eines Verbrechens reichen.<br />

Die US-Behörden leiteten eine Untersuchung<br />

ein und bereiteten die Anklage<br />

gegen Assange und Wikileaks vor, während<br />

Chelsea Manning im Knast landete.<br />

Genau zu diesem Zeitpunkt wählten Angehörige<br />

des Tiefen Staates in den USA ein<br />

paar Telefonnummern; schnell brachten<br />

sie Visa, Mastercard, Amazon und Paypal<br />

dazu, Spenden an Wikileaks zu blockieren.<br />

Ähnliches geschah in Bezug auf die Freedom<br />

of Press Foundation, eine Stiftung, die<br />

vor allem als Reaktion auf die Bankenblockade<br />

gegen Wikileaks gegründet worden<br />

war und die vor Kurzem aufgehört hat,<br />

Spenden abzuwickeln. Wenn der CIA-Chef<br />

jemanden als „feindliche nicht staatliche<br />

Organisation“ behandelt, nachdem Hillary<br />

Clinton, Joseph Biden und andere ihn als<br />

„Terroristen“ bezeichnet haben und es sogar<br />

Stimmen gibt, die fordern, ihn durch<br />

eine Drohne zu töten, dann ist offensichtlich,<br />

warum Julian Assange nicht einmal<br />

das elementare Recht auf Gesundheitsversorgung<br />

gewährt wird.<br />

Ein bohrender letzter Blick<br />

Seit meinem letzten Besuch in der ecuadorianischen<br />

Botschaft in London im vergangenen<br />

November hat sich viel verändert.<br />

Oder: Es scheint sich viel geändert zu haben,<br />

denn noch immer ist Julians Zukunft<br />

ungeklärt. Er hat die ecuadorianische<br />

Staatsbürgerschaft erhalten, und seine Anwälte<br />

haben vor einem britischen Gericht<br />

die Aufhebung des Haftbefehls beantragt,<br />

der ihn daran hindert, die Botschaft zu verlassen.<br />

Da der sogenannte schwedische Fall<br />

keiner mehr ist, weil die Ermittlungen wegen<br />

des Vorwurfs einer Sexualstraftat in<br />

Schweden eingestellt worden sind, habe<br />

der Haftbefehl seinen Zweck verloren, so<br />

argumentieren die Anwälte.<br />

Aber selbst wenn das zuständige Gericht<br />

am 6. Februar entscheiden sollte, den Haftbefehl<br />

aufzuheben, bleibt das eigentliche<br />

Problem bestehen: Die britischen Behörden<br />

weigern sich, zu beantworten, ob es<br />

einen Auslieferungsantrag der USA gibt.<br />

Als die Journalistin Stefania Maurizi jüngst<br />

beantragte, Dokumente in Zusammenhang<br />

mit Assange und dessen Auslieferung freizugeben,<br />

gab die britische Staatsanwaltschaft<br />

sogar zu, wichtige E-Mails in dieser<br />

Angelegenheit vernichtet zu haben.<br />

Am Ende stehen wir wieder ganz am Anfang.<br />

Nach all den Jahren, inklusive des<br />

schwedischen „Ermittlungsverfahrens“ – es<br />

war niemals eine Anklage – und der Dämonisierung<br />

von Wikileaks, kommen wir auf<br />

den wahren Grund dafür zurück, dass Julian<br />

so lange in der ecuadorianischen Botschaft<br />

ausharren musste. Der Grund ist<br />

ganz einfach: Das Imperium wird diese<br />

kleine Gruppe Gallier niemals tolerieren.<br />

Jedes Mal, wenn ich die Botschaft in London<br />

verließ und Julians bohrenden letzten<br />

Blick spürte, hatte ich die gleichen Gedanken.<br />

War es diesmal mein letzter Besuch<br />

hier, in dieser postmodernen Gefängniszelle<br />

inmitten einer westlichen Metropole?<br />

Oder werde ich wiederkommen, frisches<br />

Meerwasser oder andere Spuren von Freiheit<br />

mitbringen, die er genauso verdient<br />

wie wir, die wir in den Himmel schauen<br />

und die Sonne genießen können?<br />

Ich weiß nicht, was Julian in der Zwischenzeit<br />

mit dieser Flasche mit Meerwasser<br />

gemacht hat. Aber ich hoffe, sie bleibt<br />

– auch nachdem er wieder frei ist – noch<br />

lange dort in der Hans Crescent Street 3,<br />

gegenüber von Harrods. Als Erinnerung daran,<br />

dass Freiheit eine kostbare Sache ist<br />

und dass es Dinge gibt, die es wert sind, sie<br />

mit ihrem Verlust zu bezahlen: Denn was<br />

bringt die Freiheit, im Meer zu schwimmen,<br />

wenn man an rein gar nichts glaubt?<br />

Srećko Horvat ist Philosoph, Autor und<br />

Mitbegründer der Bewegung DiEM25<br />

Übersetzung: Carola Torti<br />

Er braucht dringend ärztliche Behandlung<br />

Traumata Drei Mediziner fordern in einem offenen Brief, Julian Assange das Menschenrecht auf Gesundheit nicht länger zu verwehren<br />

■■S. Crosby, B. Chisholm, S. Love<br />

Seit fast sechs Jahren hat der Gründer<br />

von Wikileaks, Julian Assange, keinen<br />

Schritt aus dem stark überwachten<br />

Gebäude der ecuadorianischen<br />

Botschaft in London getan, in die er sich<br />

geflüchtet hat. Die Medien haben sich natürlich<br />

in erster Linie für das internationale<br />

juristische Drama rund um seine<br />

Person und um die Bedrohung seiner Sicherheit<br />

interessiert, vor allem um seine<br />

mögliche Verhaftung und Auslieferung<br />

an die USA. Über die laufende Verletzung<br />

seiner Menschenrechte, wie etwa das<br />

Grundrecht auf Gesundheitsversorgung,<br />

wurde dagegen weniger berichtet.<br />

Als Klinikärzte, die zusammen über 40<br />

Jahre Erfahrung mit der Behandlung von<br />

Flüchtlingen und anderen traumatisierten<br />

Bevölkerungsgruppen verfügen, haben<br />

wir Julian Assange im vergangenen<br />

Oktober innerhalb von drei Tagen 20<br />

Stunden lang umfassend körperlich und<br />

psychologisch untersucht. Die Ergebnisse<br />

unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht.<br />

Aber unserer Meinung nach gefährdet<br />

Julian Assanges anhaltende Gefangenschaft<br />

seine körperliche und geistige<br />

Gesundheit und stellt einen klaren<br />

Verstoß gegen sein Menschenrecht auf<br />

Gesundheit und damit auf den Zugang zu<br />

Gesundheitsversorgung dar.<br />

Nachdem wir unübersehbar dabei fotografiert<br />

worden waren, wie wir die Botschaft<br />

mit Stethoskop und Blutdruckmessgerät<br />

ausgestattet betraten, führten<br />

wir unsere Untersuchung in einem<br />

schlecht belüfteten Konferenzsaal durch.<br />

Wir untersuchten Julian Assange unter<br />

diesen Bedingungen, weil er keinen Zugang<br />

zu ordentlichen medizinischen Einrichtungen<br />

hat. Zwar können Mediziner<br />

ihn in der Botschaft aufsuchen, aber die<br />

meisten Ärzte zögern. Zudem sind die Behandlungsmöglichkeiten<br />

begrenzt. All die<br />

Diagnoseprogramme, Behandlungen und<br />

Verfahren, die er unserem Befund nach<br />

dringend bräuchte, stehen in der Botschaft<br />

nicht zur Verfügung.<br />

Als Flüchtling anerkannt<br />

Als Krankenhausärzte haben wir die ethische<br />

Pflicht, uns für die Gesundheit und<br />

Menschenrechte aller Menschen einzusetzen,<br />

wie sie das internationale Recht<br />

vorsieht, und unsere Kolleginnen und<br />

Kollegen aufzufordern, von unseren Berufsverbänden,<br />

Institutionen und Regierungen<br />

Rechenschaft einzufordern.<br />

Im Jahr 2012 hat Ecuador in Einklang<br />

mit seinem Recht als souveräner Staat Julian<br />

Assange formal als Flüchtling anerkannt.<br />

Er erfüllt demnach die in der Genfer<br />

Flüchtlingskonvention von 1951 und<br />

im dazugehörenden Protokoll von 1967<br />

festgeschriebenen Voraussetzungen. Unabhängig<br />

von den Vorwürfen gegen ihn<br />

ist er australischer Staatsbürger und<br />

Flüchtling, und mittlerweile auch Staatsbürger<br />

von Ecuador.<br />

2016 befand die Arbeitsgruppe der UN<br />

für willkürliche Inhaftierung, dass Julian<br />

Assanges Situation in der ecuadorianischen<br />

Botschaft zu einem „willkürlichen<br />

Freiheitsentzug“ geworden ist. Nach ihrer<br />

Ansicht ist die Botschaft nicht für längere<br />

Inhaftierungen ausgestattet, es mangelt<br />

an der notwendigen medizinischen Ausstattung<br />

– eine Einschätzung, die wir teilen.<br />

Die Erfahrung zeigt, dass die anhaltende<br />

Unsicherheit unbefristeter Gefangenschaft<br />

tiefe psychologische und<br />

physische Traumata auslöst, die über die<br />

absehbaren Stressfaktoren von Inhaftierung<br />

hinausgehen. Dazu gehören große<br />

Anspannung, krankhaftes Stressempfinden,<br />

dissoziative Störungen, Depression,<br />

Selbstmordgedanken, posttraumatische<br />

Belastungsstörung und chronische<br />

Schmerzen.<br />

Julian Assange sieht sich glaubhaften<br />

Drohungen gegen seine Person seitens<br />

verschiedener Regierungen und Einzelpersonen<br />

gegenüber. Wegen der Bedrohung,<br />

bei Verlassen der Botschaft sofort<br />

verhaftet zu werden, ist er zudem nicht<br />

einmal bei einem medizinischen Notfall<br />

in der Lage, sein Recht auf Zugang zu medizinischen<br />

Einrichtungen wahrzunehmen.<br />

Es ist unzumutbar, dass er sich entscheiden<br />

muss, ob er um eine Verhaftung<br />

zu vermeiden, mögliche Gesundheitsfolgen<br />

bis hin zum Tod in Kauf nimmt, etwa<br />

im Fall eines Herzinfarkts.<br />

Verletzung der UN-Norm<br />

Zudem haben unsere Untersuchungen gezeigt,<br />

dass er seit fünfeinhalb Jahren ohne<br />

Sonnenlicht, adäquate Belüftung oder<br />

Aufenthalt an der frischen Luft leben<br />

muss. Das hat deutlichen Tribut gefordert.<br />

Unserer professionellen Ansicht nach<br />

sind die physischen und psychologischen<br />

Bedingungen, unter denen Julian Assange<br />

lebt, eine Verletzung der UN-Mindestanforderungen<br />

für die Behandlung von Gefängnisinsassen.<br />

Wir müssen fragen: Wieso bleibt Julian<br />

Assange sein Menschenrecht auf medizinische<br />

Versorgung verwehrt? Dürfen Staaten<br />

entscheiden, wer dieses Grundrecht<br />

hat und wer nicht?<br />

Wir appellieren an die British Medical<br />

Association und alle Kollegen in Großbritannien,<br />

sicheren Zugang zu medizinischer<br />

Versorgung für Assange zu fordern<br />

und sich offen gegen die Verletzung seines<br />

Menschenrechts auf Gesundheit auszusprechen.<br />

Angesichts der Spannungen<br />

zwischen Großbritannien und Ecuador<br />

über Julian Assanges unhaltbare Situation,<br />

haben Medien von neuen Plänen zur<br />

diplomatischen Lösung des Problems mithilfe<br />

eines Mediators berichtet. Solche Gespräche<br />

müssen eine faire und transparente<br />

Diskussion über den Zugang zu Gesundheitsversorgung<br />

enthalten. Das ist<br />

unserer Ansicht nach der einzige Weg,<br />

richtig und ethisch zu handeln. Wir unterstützen<br />

die wenigen Ärzte, die versucht<br />

haben, unter diesen schwierigen Bedingungen<br />

Julian Assange zu versorgen.<br />

Sondra S Crosby ist Ärztin und Professorin an<br />

der School of Medicine der Boston University.<br />

Brock Chisholm ist Psychologe und Mitglied<br />

des Vorstands der britischen Gesellschaft<br />

für Psychotraumatologie. Sean Love arbeitet<br />

in Boston als Arzt in Ausbildung<br />

Übersetzung: Carola Torti<br />

FOTO: JUSTIN TALLIS/AFP/GETTY IMAGES<br />

Anarchie Gegen den Staat<br />

oder nicht? Das ist<br />

Assanges einziger Maßstab.<br />

Ein Linker war er nie<br />

■■Wolfgang Michal<br />

Am 25. Dezember tauchte dieser seltsame<br />

Tweet auf: „Julian Assange“.<br />

Nur der Name. In Anführungszeichen.<br />

Absender: die Kriegsmarine der Vereinigten<br />

Staaten. Was bedeutete das? War<br />

es ein Codewort für eine verdeckte Operation<br />

der Navy Seals? Oder ein Weihnachtsscherz?<br />

In der Silvesternacht dann eine<br />

neue Botschaft. Diesmal von Julian Assange.<br />

Einem Verschlüsselungscode folgte der<br />

Hinweis auf das Lied Paper Planes der britischen<br />

Sängerin M.I.A. War Assange tot?<br />

Oder gekidnappt? Seine Follower gerieten<br />

in helle Aufregung.<br />

Julian Assange liebt solche Versteckspiele.<br />

Was sollte er auch sonst tun in seinem<br />

„Gefängnis“ in London? Früher war er ein<br />

Held, ein unerschrockener Kämpfer gegen<br />

korrupte Diktatoren und kriegslüsterne Regierungen.<br />

Er entriss ihnen Geheimnisse<br />

und publizierte sie auf seiner Plattform<br />

Wiki leaks. Die Medien rissen sich um ihn,<br />

die New York Times, der Guardian und die<br />

Washington Post. Von Le Monde wurde er<br />

zum „Mann des Jahres“ gewählt, von Amnesty<br />

International mit einem Preis geehrt.<br />

Er nannte sich Chefredakteur und gab dem<br />

zahnlosen Journalismus den Kampfgeist<br />

zurück. Als er sich im Dezember 2010 der<br />

britischen Polizei stellte, zahlten Prominente<br />

für ihn die Kaution, darunter die Filmemacher<br />

Michael Moore und Ken Loach.<br />

Auch Bianca Jagger, Yanis Varoufakis, Roberto<br />

Saviano, Glenn Greenwald und Noam<br />

Chomsky unterstützten ihn. Der spanische<br />

Staranwalt Baltasar Garzon übernahm kostenlos<br />

seine Verteidigung.<br />

Gegen die<br />

NATO, gegen<br />

Drohnen,<br />

für WikiLeaks<br />

– er mag<br />

die Libertären<br />

Doch die Ermittlungen der schwedischen<br />

Justiz wegen sexueller Übergriffe an zwei<br />

Frauen im August 2010 machten aus dem<br />

Helden ein „Sex-Monster“ und drängten<br />

die Enthüllungen von Wikileaks in den<br />

Hintergrund. Fast sieben Jahre wanderten<br />

die Vorwürfe durch die Medien, ohne dass<br />

jemals Anklage erhoben wurde, dann stellte<br />

Schweden die Ermittlungen ein.<br />

Der Haftbefehl sei damit hinfällig, argumentierten<br />

die Anwälte, doch die britische<br />

Polizei kündigte an, sie werde Assange festnehmen,<br />

sobald er die Botschaft verlasse.<br />

Mit seiner Flucht in die Botschaft habe er<br />

gegen die Kautionsauflagen verstoßen. Am<br />

6. Februar soll ein Gericht entscheiden, ob<br />

der Haftbefehl wegen der angegriffenen<br />

Gesundheit Assanges aufgehoben wird.<br />

Der siebenjährige Kampf durch alle Instanzen<br />

hat Spuren hinterlassen. Er habe<br />

depressive Zustände, schlechte Zähne und<br />

Herzprobleme, hieß es im Rahmen der Verhandlung<br />

seines Antrags auf Aufhebung<br />

des Haftbefehls. Assange selber inszeniert<br />

sich weiterhin als Kämpfer. Was bleibt ihm<br />

auch übrig? Würde er in die USA ausgeliefert,<br />

müsste er mit der Todesstrafe rechnen.<br />

Denn CIA-Chef Mike Pompeo hält<br />

Wiki leaks nicht für ein Nachrichtenmedium,<br />

sondern für einen „feindlichen Geheimdienst“.<br />

Justizminister Jeff Sessions<br />

nennt die Überstellung von Julian Assange<br />

deshalb ein vordringliches Anliegen der<br />

US-amerikanischen Politik.<br />

Problematisch ist, dass viele Menschen<br />

der offiziellen US-Version inzwischen Glauben<br />

schenken. Sie meinen, Assange sei auf<br />

Abwege geraten. Er sei politisch nach<br />

rechts gerückt und verhalte sich wie ein<br />

Verschwörungstheoretiker. Sein egozentrischer<br />

Kampf gegen alle, die nicht seiner<br />

Meinung sind, habe das Anliegen von Wiki-<br />

leaks verraten. Auf den ersten Blick ist die<br />

Distanzierung verständlich.<br />

Seit Assange in der Botschaft festsitzt,<br />

scheint er sich immer weiter von seinen<br />

ursprünglichen Zielen zu entfernen. Er<br />

nennt sich jetzt „Analytiker der Geopolitik“<br />

und nicht mehr „Chefredakteur“. Er hat den<br />

Job des bedingungslosen Aufklärers mit<br />

dem des selbst ernannten Politikberaters<br />

und Nachrichtenhändlers vertauscht. Viele<br />

verübeln ihm, dass er seine Interview-Serie<br />

The World Tomorrow ausgerechnet beim<br />

russischen Staatssender Russia Today unterbrachte,<br />

dass er im US-Wahlkampf mit<br />

der gezielten Veröffentlichung der Mail-<br />

Kommunikation der Demokratischen Partei<br />

die Kampagne von Donald Trump unterstützte,<br />

dass er einem Sohn Trumps liebedienerische<br />

Vorschläge unterbreitete,<br />

wie man Hillary Clinton weiter schaden<br />

könne und dass er dem ultrarechten Sender<br />

Fox News ein einstündiges Interview<br />

gewährte, in dem er über die geleakten E-<br />

Mails der US-Demokraten sagte: „Es gibt<br />

nur einen in der Welt, der genau weiß, wie<br />

das gelaufen ist. Und das bin ich.“ Statt den<br />

Sachverhalt aber aufzuklären, ergötzte er<br />

sich an den Mutmaßungen, Hacker des<br />

russischen Geheimdienstes hätten die<br />

Mails besorgt und dann an Wikileaks weitergeleitet.<br />

Er will der große Undurchschaubare<br />

bleiben.<br />

Kurz hoffte er auf Trump<br />

Das aber ist er nicht. Betrachtet man sein<br />

Verhalten einmal von seiner Warte, wird<br />

schnell klar, dass er sich gar nicht so sehr<br />

verändert hat. Assange war nie ein Linker.<br />

Das Leaken von Dokumenten betrachtet er<br />

als „anarchistische Tat“. Jede Regierung, die<br />

Geheimnisse hat, ist für ihn eine Verschwörung,<br />

die zerstört werden muss. Gegenüber<br />

Fox News betonte er, er hätte „die Mails<br />

auch veröffentlicht, wenn sie das Trump-<br />

Lager getroffen hätten“. Julian Assange<br />

handelt treu nach den anarchistischen<br />

Grundsätzen, die er 2006 in seiner Schrift<br />

„Conspiracy as Governance“ entwickelt hat.<br />

Er will die Kommunikationsflüsse der<br />

Mächtigen behindern. Sein Motto: „Lasst<br />

uns Ärger machen.“<br />

Dass er in seiner „Gefängniszelle“ auch<br />

nach jedem Strohhalm greift, der ihm die<br />

Freiheit verspricht, kann man ihm nicht<br />

verdenken. Barack Obama und Hillary Clinton<br />

haben ihn – wegen der Veröffentlichung<br />

des „Collateral Murder“-Videos und<br />

der peinlichen US-Depeschen – in seine<br />

jetzige Lage gebracht, von den US-Demokraten<br />

war nichts zu erwarten. Auch nicht<br />

von Bernie Sanders. Also suchte er sich Hilfe<br />

woanders.<br />

Im August 2013 bekannte er erstmals seine<br />

Bewunderung für den libertären Flügel<br />

der US-Republikaner. Dessen Repräsentanten,<br />

Ron und Rand Paul, hatten 2008 die<br />

„Campaign for Liberty“ ins Leben gerufen,<br />

eine direkte Vorläuferorganisation der Tea-<br />

Party-Bewegung. Die Libertären verbinden<br />

ihren Kampf für die Freiheit mit einer radikalen<br />

Kritik am übermächtigen Staat. So<br />

verteidigte Ron Paul nicht nur die Freiheit<br />

von Wikileaks, er verurteilte auch den Patriot<br />

Act, der nach den Terroranschlägen<br />

von 2001 die Bürgerrechte beschnitt. Er<br />

lehnte die US-Militärinterventionen im Kosovo,<br />

in Afghanistan, im Irak und in Libyen<br />

ab, er wandte sich gegen den Drohnenkrieg<br />

und gegen die NATO, gegen die Militarisierung<br />

der Polizei und die Datensammelwut<br />

der NSA. Das gefiel Assange. Allerdings fordern<br />

die Libertären auch die Abschaffung<br />

der staatlichen Sozialversicherungssysteme.<br />

Ökonomisch stehen sie den Marktradikalen<br />

August von Hayek und Ludwig von<br />

Mises nahe. Für Assange spielte das keine<br />

Rolle. Wirtschaft und Soziales interessieren<br />

ihn nicht. Er ist, wie gesagt, kein Linker.<br />

Auch in Donald Trump erkannte Assange<br />

einen Verbündeten. Wie Ron Paul hasst<br />

Trump die demokratische Elite in Washington.<br />

Trump kritisierte die Geheimdienste<br />

und lobte das Wirken von Wikileaks. „I love<br />

Wikileaks“, tönte er auf seiner Wahlkampftour<br />

im Oktober 2016. Das schmeichelte<br />

dem in London schmorenden Wikileaks-<br />

Gründer und vernebelte ihm jeden Realitätssinn.<br />

Er dachte, er könne auf dem Ticket<br />

von Trump seine Freiheit wiedererlangen.<br />

Diese Selbsttäuschung „enthüllt“, was<br />

Assange in Wahrheit ist: ein unpolitischer<br />

Anarchist, der sich überschätzt und die Politik<br />

allein danach bewertet, ob sie gegen<br />

den Staat ist oder nicht. Es wird Zeit, dass<br />

ihm viel frische Luft die Gedanken durchpusten<br />

kann.


08<br />

Politik<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Der gemeine Wahlbürger wünscht sich meist eine verlässliche Macht, die ihn trägt<br />

FOTO: SUSANA VERA/REUTERS<br />

Podemos von rechts<br />

Spanien Der Katalonien-Konflikt hat eine konservative Wende begünstigt,<br />

die von der Partei Ciudadanos angeführt wird<br />

■■Conrad Lluis Martell<br />

Für die Bürger ist 2017 ein negatives,<br />

beunruhigendes Jahr gewesen.<br />

Die Minderheitsregierung<br />

Mariano Rajoys übte sich im Stillstand<br />

… Sie betrieb keine Politik,<br />

es ging ihr nur noch um Machterhalt. Doch<br />

auch der Opposition gelang es nicht, eine<br />

Alternative aufzubieten. Das Land ist wie<br />

gelähmt. Und das schon seit Jahren.“ Das<br />

Urteil der Journalistin Lucia Méndez legt<br />

offen, was jenseits des Krisenherdes Katalonien<br />

in Spanien geschieht. So gut wie<br />

nichts. Die Fanfaren der nationalen Einheit,<br />

des Verfassungspatriotismus und der<br />

wehrhaften Demokratie verbergen mehr<br />

schlecht als recht, dass Premierminister<br />

Rajoy und sein konservativer Partido Popular<br />

(PP) auf die katalanische Frage eine Antwort<br />

schuldig bleiben. Tatsächlich ist Katalonien<br />

ein Symptom. Rajoy und seiner Partei<br />

fehlt grundsätzlich ein zukunftsfähiges,<br />

Hoffnung stiftendes Projekt.<br />

Der schon von seiner Persönlichkeit her<br />

träge und abwartende Regierungschef<br />

geht davon aus, positive Wirtschaftsindikatoren<br />

seien Empfehlung genug. Die sinkenden<br />

Erwerbslosenzahlen würden von<br />

selbst dafür sorgen, das Vertrauen der Bürger<br />

zu gewinnen. Womit er sich getäuscht<br />

hat. Der Partido Popular hat den Jahresauftakt<br />

vor Gericht begangen. Im „Fall Gürtel“<br />

sieht sich die Partei in Regionen wie Madrid<br />

und Valencia beschuldigt, gegen Bestechungsgeld<br />

und Parteispenden für Jahrzehnte<br />

öffentliche Gelder an Unternehmen<br />

umgelenkt zu haben. Lange gelang es<br />

dem PP, sich trotz aller unlauteren Machenschaften<br />

als Fels in der Brandung darzustellen,<br />

der Wirtschaftsflaute, Linkspopulismus<br />

und Separatismus trotzt.<br />

Aber gerade jetzt, nach dem „heißen<br />

Herbst“, da in Spanien wieder Rojigualdas,<br />

die Nationalfahnen, von Balkonen und aus<br />

Fenstern hingen, dazu bei Aufmärschen gegen<br />

die katalanische Autonomie Gruppen<br />

von Franquisten geduldet wurden, müsste<br />

Rajoy eigentlich stärker dastehen – das Gegenteil<br />

ist der Fall. Der Premier räumte Mitte<br />

Januar vor der Parteiführung gewohnt<br />

verdruckst ein: „Die Antwort der Regierung<br />

auf die katalanische Situation war gut für<br />

Spanien, womöglich aber nicht für den Partido<br />

Popular.“<br />

Ende des Linkstrends<br />

Derzeit treffen in Spanien zwei Tendenzen<br />

aufeinander, die eine alt, die andere jung.<br />

Ersterer lässt sich entnehmen: Der Konflikt<br />

um Katalonien hat endgültig eine linke<br />

Wendestimmung beendet, die schon seit<br />

geraumer Zeit erschöpft schien. Seit dem<br />

Frühjahr 2011, als die Proteste der Empörten<br />

(„Indignados“) nicht zu überhören waren,<br />

zog eine Welle des Aufbruchs durch das<br />

Land. Als bei den Kommunalwahlen vom<br />

Mai 2015 in Madrid, Barcelona und anderen<br />

Großstädten die Partei Podemos siegte, sahen<br />

manche diese neue Linke schon an der<br />

Macht. Es entstand der Eindruck, auch anderswo<br />

in Südeuropa wie in Griechenland<br />

und Portugal sei eine linke Gegenhegemonie<br />

im Anmarsch. Nur erwies sich Podemos<br />

bei den Generalwahlen Ende Dezember<br />

2015 mit 20,7 Prozent als nicht stark genug.<br />

Mit den geschrumpften Sozialisten – sie<br />

verloren fast sieben Prozent – wäre zwar<br />

eine linke Regierung möglich gewesen. Nur<br />

leider schaute der Partido Socialista Obrero<br />

Español (PSOE) nicht nach links, sondern<br />

nach rechts, zu den rechtsliberalen Newcomern<br />

der Partei Ciudadanos.<br />

Wie Podemos war Ciudadanos 2015 erstmals<br />

zu einer Parlamentswahl angetreten.<br />

Wie die radikale Linke galt die Partei als Herold<br />

einer „neuen Politik“, die versprach,<br />

den verkrusteten Volksparteien endlich<br />

Grenzen aufzuzeigen. Ciudadanos schnitt<br />

seinerzeit mit 14 Prozent zwar nur mäßig<br />

ab, dennoch reichte dieses Quorum aus,<br />

um den Podemos-Aufstieg zu neutralisieren<br />

und in der Abgeordnetenkammer einen<br />

starken rechten Block zu etablieren.<br />

Der linke Aufbruch lief ins Leere.<br />

Die Partei Ciudadanos – 2006 in Barcelona<br />

von konservativen Intellektuellen als<br />

antikatalanistische Kraft gegründet und<br />

Anfang 2015 mit einer groß angelegten Medienkampagne<br />

spanienweit expandiert –<br />

fungierte als „Podemos von rechts“ und<br />

idealer Prellbock gegen die Linke. Die<br />

Rechtsliberalen schienen das Scharnier zu<br />

sein, um den Altparteien Mehrheiten zu<br />

sichern. Erst versuchte es Ciudadanos nach<br />

den Wahlen von 2015 mit den Sozialisten<br />

von Parteichef Pedro Sánchez. Nachdem<br />

die sozialliberale Achse jedoch keine Mehrheit<br />

fand und im Juni 2016 nochmals Parlamentswahlen<br />

anberaumt waren, hielten<br />

sich die Rechtsliberalen an die wiedererstarkten<br />

Konservativen von Rajoy.<br />

War es vernünftiger Zentrismus oder reiner<br />

Opportunismus, wie Kritiker monierten?<br />

Parteichef Albert Rivera sei – so meinte<br />

der Politologe Jorge Verstrynge polemisch<br />

– „weniger ein Politiker als ein<br />

Politikverkäufer, ein geleckter Schnösel,<br />

der gut kommuniziert und ein Programm<br />

voller Mehrdeutigkeiten offeriert, das nur<br />

dann seine stockkonservative Ausrichtung<br />

offenbart, wenn es um harte Fragen geht:<br />

Steuern, Religion in der Schule, Rolle des<br />

Staates, das Territorialmodell … Ciudadanos<br />

bleibt für mich ein soziologisches Rätsel.“<br />

Parteichef<br />

Rivera ist<br />

weniger ein<br />

Politiker<br />

als ein guter<br />

Verkäufer<br />

Mittlerweile wurde Ciudadanos vom „soziologischen<br />

Rätsel“ zum politischen Tatbestand,<br />

von dem mehr Macht ausgeht, als<br />

sich das die neue Linke und die alte Rechte<br />

wünschen. Spanien Anfang 2018: Schwung<br />

und Sympathien für eine Linkswende sind<br />

versiegt, das Land steuert nach rechts – und<br />

nicht der Partido Popular, sondern Ciudadanos<br />

führt diese konservative Trendwende<br />

an. Das ist die neue Tendenz, zu deren<br />

Katalysator der katalanische Konflikt<br />

wurde. Für viele Spanier war und bleibt die<br />

Unabhängigkeits- eine Identitätsfrage: Der<br />

Separatismus bedroht, was man ist, zu wem<br />

und wozu man sich zugehörig fühlt.<br />

In dieser Situation avanciert Ciudadanos<br />

zum Vorreiter der „identitären Offensive“<br />

gegen eine Unabhängigkeit Kataloniens. Ob<br />

sie die Rajoy-Regierung dazu ermahnt, härter<br />

durchzugreifen, die Nation und die Monarchie<br />

preist oder mit der ungeschriebenen<br />

Regel der katalanischen Politik bricht,<br />

in Ansprachen Katalanisch und Spanisch<br />

gleichermaßen zu gebrauchen – es dient<br />

immer einer Selbstvergewisserung der Mitte.<br />

Ciudadanos droht sogar halb ironisch, im<br />

Ernstfall müsse sich das antiseparatistische<br />

vom separatistischen Katalonien abspalten.<br />

Ende 2017 haben sich die geschürten Ressentiments<br />

schon einmal ausgezahlt, als<br />

Ciudadanos bei der katalanischen Regionalwahl<br />

mit 25 Prozent stärkste Kraft wurde.<br />

Der Höhenflug hinterlässt Wirkung, bestätigen<br />

doch etliche Umfragen, dass die<br />

Partei die Konservativen Rajoys überrunden<br />

und weiter aufsteigen könnte, weil sie<br />

in allen Bevölkerungsschichten Sympathien<br />

weckt. Der charismatische Ex-Premier<br />

Felipe González (PSOE) betont, dass er weder<br />

mit Rajoy noch mit Sozialistenchef<br />

Sánchez, sondern nur mit Albert Rivera<br />

Kontakt pflege. Ob er im 38-jährigen Rivera<br />

einen spanischen Macron erblickt? Zweifellos<br />

steht Ciudadanos für die alte Sehnsucht<br />

nach einer Modernisierungspartei, die weder<br />

im Geruch der Restauration noch der<br />

Revolution steht. Den Konservativen stand<br />

ihre franquistische Vergangenheit im Weg,<br />

wenn sie das Muster bedienen wollten. Den<br />

Sozialisten ist dieses Label wegen ihres<br />

Überlebenskampfes mit Podemos verwehrt.<br />

„Wir möchten keinen Stillstand, keine<br />

Dekadenz, aber auch keinen Populismus<br />

und keine Rache (…) Echter Wandel<br />

heißt nicht umkrempeln, was funktioniert,<br />

sondern infrage stellen, was nicht funktioniert“,<br />

so jüngst Rivera bei einem Interview<br />

mit der Zeitung El País. Unter diesen Umständen<br />

bietet Ciudadanos der ramponierten<br />

Mittelschicht die vollendete Identifikationsfolie.<br />

Der Kleinunternehmer, dem die<br />

Konservativen zu korrupt, die Sozialisten<br />

zu verstaubt und die Podemos-Führer zu<br />

revoluzzerhaft sind, darf mit einer Partei<br />

fraternisieren, die unternehmerfreundliche<br />

Politik verspricht. Schließlich wird sie<br />

selbst wie ein Unternehmen geführt. Auch<br />

auf die junge Mittelstandsfamilie, die sich<br />

wünscht, dass Spaniens soziale Standards<br />

westeuropäisches Niveaus erreichen, kann<br />

Rivera wohl zählen. Kurzum: Ciudadanos<br />

steht für die Vision der Mitte, Ordnung<br />

und Wandel seien im Paket zu haben.<br />

Neoliberales Programm<br />

„Der ruhige Wandel“ – es wäre der beste<br />

Slogan für Ciudadanos, hätte ihn nicht bereits<br />

der Zentrumspolitiker Adolfo Suárez<br />

im Wahljahr 1977 geprägt. Suárez, der junge,<br />

energiegeladene Ministerpräsident, der<br />

das Land von der Diktatur Francos in die<br />

Demokratie führte, pragmatisch Kommunisten<br />

und Franquisten an einen Tisch<br />

setzte, ist Riveras großes Vorbild. Beflissen<br />

ahmt er dessen Wendungen oder Gesten<br />

nach und würde gern die Geschichte wiederholen:<br />

Wie einst Suárez das Land nach<br />

Franco in eine neue Ära führte, will Rivera<br />

Spaniens ewig unvollendete Modernisierung<br />

zum Abschluss bringen.<br />

Noch bleibt dies der Anspruch einer Partei,<br />

die nirgends, in keiner Region, regiert.<br />

Wie Ciudadanos, wenn es einmal so weit<br />

sein sollte, Realpolitik betreibt, bleibt ungewiss.<br />

Ihr Programm deutet auf harte<br />

neoliberale Reformen hin. Würde der „einheitliche<br />

Arbeitsvertrag“, den Rivera vorschlägt,<br />

die Prekarität des Arbeitnehmerdaseins<br />

eindämmen oder vertiefen? Politik<br />

in aufwühlenden Zeiten wie diesen<br />

beruht nicht auf Programmen, sondern<br />

Sehnsüchten und Ängsten. Beides weiß die<br />

Führung von Ciudadanos zu wecken. Ihr<br />

Liberalismus zielt nur noch auf das Wesentliche:<br />

die Macht.


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Politik 09<br />

Wir sind dann mal da<br />

Syrien I Plötzlich wollen die<br />

USA wieder mitmischen und<br />

über das Nachkriegsregime<br />

entscheiden. Dabei gestört<br />

werden sie von der Türkei<br />

■■Julian Borger, Kareem Shaheen<br />

Zuletzt hatte es den Anschein, als<br />

wollten sich die USA auf einen<br />

defensiven Part in Syrien beschränken,<br />

zwar weiter Einfluss<br />

auf die Nachkriegsordnung nehmen,<br />

dazu aber kein überbordendes militärisches<br />

Engagement riskieren. Donald<br />

Trump hatte das Bürgerkriegsland als<br />

„Treibsand“ tituliert, den man nicht brauche.<br />

Doch fiel auf, dass weder Außenminister<br />

Tillerson noch Verteidigungsminister<br />

Mattis diese Sicht je geteilt haben. Sie ließen<br />

keinen Zweifel daran, nach Kräften<br />

verhindern zu wollen, dass der Iran einen<br />

breiten Landkorridor von seinem eigenen<br />

Territorium über den Irak durch Syrien bis<br />

in den Libanon und damit hin zur Mittelmeerküste<br />

kontrolliert. Dabei wollte man<br />

sich auch auf die weitgehend aus Kurdenmilizen<br />

rekrutierten und von den USA ausgerüsteten<br />

Demokratischen Kräfte Syriens<br />

(DKS) stützen, die angehalten waren, aus<br />

dem Norden nach Südosten vorzustoßen.<br />

Unter anderem galt das Gebiet rings um<br />

Rakka, mit dem der Islamische Staat (IS) im<br />

September seine syrische Bastion verlor,<br />

als potenzielle Domäne. Wer sich dort etabliert<br />

– so offenbar die Überlegung in Washington<br />

–, kann die iranischen Revolutionsgarden<br />

in die Schranken weisen.<br />

Soll Assad gehen?<br />

Welchen Sinn die Zerstörung gehabt haben soll, wird anderswo entschieden: syrischer DKS-Kämpfer in Rakka<br />

Wenn es um die geostrategische Aufteilung<br />

Syriens geht, die der Preis für einen landesweiten<br />

Waffenstillstand sein dürfte, stürzen<br />

sich die USA notgedrungen auf den<br />

Osten des Landes vom Euphrat-Tal bis zur<br />

irakischen Grenze. Der Küstenstreifen wie<br />

die Metropolenregion um Damaskus, dazu<br />

die großen Städte Homs, Hama und Latakia<br />

bis Aleppo im Norden sind fest in der<br />

Hand der Assad-Streitkräfte, die inzwischen<br />

auch die Nordprovinz Idlib vollständig<br />

unter ihre Kontrolle bringen wollen. Sie<br />

aus den genannten Zonen zu verdrängen,<br />

würde Russland als Schutzmacht auf den<br />

Plan rufen. Mit den noch von Rebellen gehaltenen<br />

Territorien im Süden an der Grenze<br />

zu Jordanien wie der Euphrat-Senke im<br />

Südosten bleiben jedoch Spielräume, die<br />

sich ausschöpfen ließen. Wäre da nicht Recep<br />

Tayyip Erdoğans Aufmarsch in der Enklave<br />

Afrin, der kurdische Verbündete der<br />

USA aus dem Spiel zu nehmen droht oder<br />

zumindest so weit schwächt, dass sich die<br />

USA selbst mehr exponieren müssen.<br />

Man habe vor, die eigene Präsenz in Syrien<br />

unbefristet fortzusetzen, egal wie Russland<br />

darauf reagiere, so Rex Tillerson vor<br />

Tagen bei einer Rede an der Stanford University<br />

in Kalifornien. Es sei die neue Syrienpolitik<br />

der Vereinigten Staaten, die bisherigen<br />

Ziele auszuweiten und sich nicht<br />

länger auf Terrorismusbekämpfung zu beschränken,<br />

wie das die Trump-Administration<br />

während ihres gesamten ersten Jahres<br />

getan habe. Im Augenblick komme es vor<br />

allem darauf an, sich darum zu kümmern,<br />

dass Präsident Assad abdanke, und „die<br />

notwendigen Bedingungen herzustellen“,<br />

damit das Gros der Flüchtlinge zurückkehren<br />

könne.<br />

Tillerson hat nicht ausdrücklich gesagt,<br />

wie man zu verfahren gedenke. Soll es über<br />

die 1.500 bis 2.000 Mann Spezialkräfte hinaus<br />

mehr US-Soldaten in Syrien geben?<br />

Werden deutlich größere Ressourcen investiert?<br />

Wie sonst kann der iranische Einfluss<br />

eingedämmt und Einfluss auf Verhandlungen<br />

über die politische Zukunft<br />

Syriens genommen werden, die es derzeit<br />

in Genf, Wien und Sotschi gibt?<br />

Tillersons Einlassungen erfolgten vor<br />

dem Hintergrund, dass sich die Zahl der<br />

Binnenflüchtlinge, die vor den Kämpfen in<br />

der Provinz Idlib fliehen, in den vergangenen<br />

Wochen von etwa 99.000 auf 212.000<br />

mehr als verdoppelt hat. Das UN-Flüchtlingshilfswerk<br />

hatte gewarnt, dass die eskalierende<br />

humanitäre Krise eine neue Migrationswelle<br />

auslösen werde. Und das ist<br />

prompt geschehen.<br />

FOTO: BULENT KILIC/AFP/GETTY IMAGES<br />

Russland<br />

wird als<br />

Schutzmacht<br />

auf seine<br />

Mission nicht<br />

verzichten<br />

In seiner Stanford-Rede formulierte Tillerson<br />

fünf Ziele, denen man sich in Syrien zu<br />

verschreiben gedenke: die Zerschlagung des<br />

IS und aller Al-Qaida-Filialen, eine von den<br />

UN vermittelte und verbindliche Resolution<br />

für Syrien, die den Rücktritt Baschar al-Assads<br />

vorsieht, eine Disziplinierung des Iran,<br />

eine sichere Rückkehr von Flüchtlingen und<br />

eine völlige Vernichtung verbliebener Chemiewaffen.<br />

Es fiel auf, dass Tillerson den IS<br />

und al-Qaida auf eine Stufe stellte: „Al-Qaida<br />

stellt eine schwerwiegende Bedrohung dar,<br />

weil diese Organisation gerade versucht,<br />

sich neu zu organisieren.“<br />

Bisher zögerte die Trump-Administration<br />

mit der Aussage, ob ein Regimewechsel<br />

in Damaskus Teil eines politischen Prozesses<br />

sein müsse. An der Stanford University<br />

signalisierte Tillerson, die USA würden auf<br />

einer Demission Assads bestehen. „Ein stabiles,<br />

vereintes und unabhängiges Syrien<br />

bedarf letzten Endes einer Post-Assad-Regierung,<br />

um erfolgreich zu sein.“ Offenbar<br />

haben die jüngsten Konsultationen mit Israel<br />

– man denke an die Gespräche von Vizepräsident<br />

Mike Pence mit Premierminister<br />

Netanjahu – die Amerikaner in der<br />

Überzeugung bestärkt, es als Strategie des<br />

Iran zu betrachten, eine große Landbrücke<br />

zu beherrschen, die sich quer durch den<br />

Mittleren Osten von Afghanistan bis zum<br />

Libanon zieht. Ohne Syrien wird das kaum<br />

möglich sein. Wollte man dort die Segel<br />

streichen, so Tillerson, würde das die Position<br />

Teherans weiter stärken. „Eine destabilisierte<br />

Nation wie Syrien, die an Israel<br />

grenzt, bietet für den Iran Gelegenheiten,<br />

die zweifellos gern genutzt werden.“ Bisher<br />

freilich wird im State Department bestritten,<br />

dass erneut – nach dem gescheiterten<br />

Versuch im Irak – in Syrien eine Art Nation<br />

Building betrieben werden soll.<br />

Über die US-Planungen ist der russische<br />

Außenminister Sergej Lawrow Mitte letzter<br />

Woche während einer Chemiewaffen-Konferenz<br />

in Paris informiert worden, verbunden<br />

mit der Ankündigung, die USA wollten<br />

sich bei allen derzeit stattfindenden Syrien-<br />

Verhandlungen wieder Geltung verschaffen.<br />

Man wolle die Bereitschaft der Regierung<br />

Assad prüfen, auf substanzielle Gespräche<br />

Wert zu legen. Die unter dem<br />

UN-Syrienvermittler Staffan de Mistura geführten<br />

Gespräche genießen für Washington<br />

absoluten Vorrang, Russland solle nicht<br />

dem Irrtum aufsitzen, es könne durch seine<br />

Konferenz des Nationalen Syrischen Dialogs<br />

in Sotschi alternative Friedensverhandlungen<br />

führen, heißt es.<br />

Julian Borger ist „World Affairs“-Kolumnist des<br />

Guardian<br />

Kareem Shaheen ist Korrespondent in Kairo<br />

Übersetzung: Holger Hutt<br />

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Pakt schlägt sich<br />

Syrien II US-Truppen könnten mit der Armee Erdoğans aneinandergeraten<br />

■■Konrad Ege<br />

Die Sache mit Erdoğan und Trump<br />

war früher weniger komplex und<br />

folgenschwer. Da hatten sich noch<br />

keine Außen- und Verteidigungsminister<br />

eingemischt. „Danke, Ministerpräsident<br />

Erdoğan, dass Sie bei uns waren, um die Eröffnung<br />

der #Trump Towers Istanbul zu<br />

feiern“, schrieb Trump-Tochter Ivanka im<br />

April 2012 auf Twitter. Ihr Vater war offenbar<br />

auch begeistert. „Gerade abgereist aus<br />

Istanbul, Türkei, gestern, wo #Trump Towers<br />

gerade eröffnet wurden – großartig!“<br />

Heute dagegen streiten sich amerikanische<br />

und türkische Regierungsvertreter<br />

über den Inhalt eines Gespräches beider<br />

Präsidenten zur türkischen Syrien-Offensive.<br />

Nach Telefonaten des Präsidenten mit<br />

Amtskollegen veröffentlicht die Pressestelle<br />

des Weißen Hauses sogenannte Readouts,<br />

kurze, oft wenig informative Zusammenfassungen.<br />

Die zwei Absätze zum Gespräch mit<br />

Erdoğan am 24. Januar allerdings waren relativ<br />

gewichtig. Unstimmigkeit wurde offenbar.<br />

Trump habe „Besorgnis“ geäußert über<br />

die „eskalierende Gewalt in Afrin, Syrien“.<br />

Dort, im syrisch-türkischen Grenzgebiet, gehen<br />

türkische Einheiten gegen von den USA<br />

bewaffnete Kurdenmilizen vor. Die Türkei<br />

solle deeskalieren, hat Trump nach Angabe<br />

seines Pressebüros gemahnt, und „Handlungen<br />

vermeiden, die Konflikte riskieren<br />

könnten zwischen türkischen und amerikanischen<br />

Streitkräften“. Sofort konterte die<br />

türkische Regierung: Trump habe sich gar<br />

nicht besorgt geäußert über die Gewalt. Die<br />

beiden Staatschefs hätten lediglich Ansichten<br />

ausgetauscht.<br />

US-Verteidigungsminister James Mattis<br />

sagte bei einer Pressekonferenz, Ankara<br />

habe die USA vor den ersten Luftangriffen<br />

im Voraus in Kenntnis gesetzt. Die Regierung<br />

Trump versucht den Balanceakt: „Türkische<br />

Sicherheitsinteressen“ (Mattis) respektieren,<br />

doch auch Verbündete beim erfolgreichen<br />

Kampf gegen den Islamischen<br />

Staat nicht fallen lassen und den Handlungsspielraum<br />

vergrößern für das Syrien nach<br />

dem Krieg. Das birgt Gefahren. CNN zitierte<br />

Ende Januar Joseph Votel, Kommandierender<br />

General des für den Nahen Osten zuständigen<br />

Central Command: Er denke nicht daran,<br />

seine Streitkräfte trotz türkischer Warnungen<br />

aus dem nordsyrischen Ort<br />

Manbidsch abzuziehen. Das bedeute, so<br />

CNN, dass US-Einheiten in den Vormarsch<br />

der Türkei hineingeraten könnten. An die<br />

2.000 US-Soldaten sollen in Syrien im Einsatz<br />

sein. Details sind kaum bekannt. Das<br />

Central Command beschränkt sich auf Statements<br />

wie dieses vom 25. Januar: Die Combined<br />

Joint Task Force – Operation Inherent<br />

Resolve („Inhärente Entschlossenheit“), wie<br />

die US-Militärkampagne gegen den IS in Syrien<br />

und im Irak heißt, bleibe bei ihrem Plan,<br />

„2018 zusammen mit unseren Partnern eine<br />

dauerhafte Niederlage des Daesh herbeizuführen<br />

und nicht militärische Stabilisierungsoperationen<br />

zu ermöglichen“.<br />

Stabilisierung war auch Thema in den Interviews,<br />

die Minister Mattis zum Jahreswechsel<br />

gab. Tenor: Die USA und ihre Alliierten<br />

seien dabei, den Islamischen Staat zu<br />

zerstören („crushing the life out of ISIS“).<br />

Jetzt würden zunehmend „Contractors“ –<br />

Zivilisten und Diplomaten – gebraucht.<br />

Keine Frage, Erdoğan dürfte sich mehr<br />

erhofft haben von Trump. Dessen außenpolitischer<br />

Berater Michael Flynn hatte<br />

doch hervorgehoben, die Türkei sei von „lebenswichtiger<br />

Bedeutung“ für die USA.<br />

Flynn, der Nationaler Sicherheitsberater<br />

wurde (und wegen der „Russlandsache“ gehen<br />

musste), äußerte sich selbst zu Fethullah<br />

Gülen, dem in den USA lebenden türkischen<br />

Geistlichen und aus Erdoğans Sicht<br />

Drahtzieher des Terrorismus. Die USA sollten,<br />

so Flynn, Gülen „keinen sicheren Hafen“<br />

gewähren.<br />

So ein toller Trump-Turm<br />

Nach dem türkischen Verfassungsreferendum<br />

im April 2017, moniert vielerorts als<br />

Schritt weg von der Demokratie, gratulierte<br />

Trump Präsident Erdoğan und dankte ihm<br />

für dessen Zustimmung zur „Antwort auf<br />

den Einsatz chemischer Waffen durch das<br />

syrische Regime“ am 4. April 2017. Trump<br />

hatte zwei Tage später 59 Marschflugkörper<br />

auf einen syrischen Luftstützpunkt schießen<br />

lassen.<br />

Den rechten Breitbart News erklärte<br />

Trump Ende 2015, die Türkei habe einen<br />

„starken Führer“ und sei „ein guter Partner“.<br />

Dass Ankara damals vorgeworfen wurde,<br />

von den Ölgeschäften des IS zu profitieren,<br />

störte nicht weiter. Freilich räumte Trump<br />

ein, er habe „einen kleinen Interessenkonflikt“<br />

beim Thema Türkei, „weil ich ein großes,<br />

großes Gebäude in Istanbul habe, ein<br />

außerordentlich erfolgreicher Job“.<br />

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10 Politik<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Das Ende der Angst<br />

Österreich Ein Experiment im Oberen Waldviertel befreit Arbeitslose von ständiger Drangsalierung und Depression<br />

■■Franz Schandl<br />

Heidenreichstein mit etwa<br />

4.100 Einwohnern ist eine<br />

verletzte Kleinstadt. Vor allem<br />

nach dem Kollaps der<br />

Industrie Ende der 1970er,<br />

Anfang der 1980er Jahre hat sich der Ort im<br />

Oberen Waldviertel in Niederösterreich nie<br />

mehr richtig erholt. Die Arbeitslosenrate<br />

ist entsprechend hoch. Seit einigen Monaten<br />

läuft hier nun das Projekt „Sinnvoll tätig<br />

sein“ (STS), das jenseits gängiger Disziplinierungsmuster<br />

versucht, über 40 Langzeitarbeitslosen<br />

(in etwa ein Prozent der<br />

Bevölkerung) Perspektiven zu eröffnen, die<br />

sich doch von obligaten Erwartungshaltungen<br />

unterscheiden. Geleitet wird dieses<br />

Projekt, das offiziell als Kurs des AMS (Arbeitsmarktservice,<br />

das österreichische Pendant<br />

zur Bundesagentur für Arbeit) firmiert,<br />

von Karl Immervoll und der „Betriebsseelsorge<br />

Oberes Waldviertel“, die<br />

mit ähnlichen Initiativen schon einschlägige<br />

Erfahrungen sammeln konnten. Arbeitslose<br />

sollen nicht als Fälle oder gar Problemfälle<br />

wahrgenommenen werden, sondern<br />

als Menschen. Natürlich geht es auch<br />

um Arbeit und Arbeitsplatz – vorrangig jedoch<br />

um die Personen selbst. Nicht Was<br />

sollen wir? ist die entscheidende Frage, sondern<br />

Was wollen wir? Was will ich?<br />

Es ist in Ordnung, wie du bist<br />

Man hat mir oft gesagt, ich solle tun, was ich gut kann, und das ist: ich selber sein<br />

In einem ersten Bericht darüber schreibt<br />

Immervoll: „Die Befreiung von Ängsten<br />

und Druck ist ein Prozess. Trotzdem: 18<br />

Monate von den Vorgängen rund um die<br />

Arbeitssuche befreit zu sein, Zeit zu haben,<br />

sich auf sich selbst zu konzentrieren. Für<br />

manche bedeutet das, sich zum ersten Mal<br />

in ihrem Leben die Frage zu stellen: Was ist<br />

mein Weg? Generell ist das für alle eine<br />

neue Lebenssituation. Die Frage, was denn<br />

jetzt wirklich zu tun ist, verunsichert. Denn<br />

es stellt den Arbeitsbegriff auf den Kopf:<br />

Arbeit war bisher etwas, was jemand aus<br />

einem ökonomischen Interesse heraus von<br />

mir verlangt, und ich, indem ich es tue, dafür<br />

entlohnt werde. Nun heißt es: Entwickle<br />

deine Fähigkeiten und teile sie mit anderen,<br />

indem du sie in die Gesellschaft einbringst!“<br />

Und Immervoll weiter: „Hier<br />

brauchst du dich nicht zu rechtfertigen. Es<br />

ist in Ordnung, so wie du bist. Dein Bemühen,<br />

dein Tun wird von uns keiner Wertung<br />

unterzogen. Hier bist du als Mensch<br />

geschätzt, und wir haben die Zeit, zu schauen,<br />

was du brauchst, und machen uns gemeinsam<br />

auf den Weg. Wir nehmen uns<br />

Zeit und hören zu. Unser Gegenüber spürt<br />

und schätzt, dass sie/er für uns keine Nummer<br />

ist.“<br />

So fungiert der Bezug von Arbeitslosengeld<br />

für anderthalb Jahre ähnlich einem<br />

garantierten Grundeinkommen. An den<br />

finanziellen Begrenzungen für die Betroffenen<br />

ändert sich zwar nichts, was sich aber<br />

fundamental ändert, ist das restriktive<br />

Rundherum. Der Charme besteht darin,<br />

nicht ständig Angst haben zu müssen, dass<br />

die soziale Absicherung auszufallen droht<br />

– der Punkt, der von den Teilnehmern am<br />

meisten geschätzt wird. Verbindlich erwartet<br />

werden lediglich Tagebücher über den<br />

Umgang mit vorhandener Zeit.<br />

Ziemlich unterschiedliche Typen frequentieren<br />

diesen Kurs, da tummeln sich<br />

Frauen und Männer im Alter von 20 bis 60,<br />

Personen, die einen akademischen Abschluss<br />

haben, bis hin zu solchen, die kaum<br />

lesen können. Manche haben 40 Jahre<br />

Lohnarbeit hinter sich, andere sind aus diversen<br />

Gründen zwischenzeitlich ausgestiegen.<br />

Da finden sich Jugendliche, die<br />

noch nie so richtig in einem Arbeitsverhältnis<br />

angekommen sind, oder Menschen, die<br />

wegen schwerer körperlicher Beeinträchtigungen<br />

(durch Unfälle oder chronische Erkrankungen)<br />

keine Chance auf dem Arbeitsmarkt<br />

haben. Physisch und psychisch<br />

geschwächt sind freilich die meisten.<br />

Im Zwischenbericht des Projekts heißt<br />

es: „Arbeitslosigkeit erzeugt Druck, am<br />

größten seitens der Gesellschaft. Die obligate<br />

Frage bei Begegnungen, was man<br />

denn jetzt beruflich mache, drängt in die<br />

Isolation. Niemand will als Versager dastehen,<br />

vor allem wenn der Zustand der Arbeitslosigkeit<br />

schon länger andauert. Dazu<br />

kommen die Termine beim Arbeitsmarktservice<br />

(AMS). Allzu oft erleben wir, dass<br />

Menschen schon Tage zuvor in ‚alle Umstände‘<br />

verfallen, wenn sie die Notstandshilfe<br />

verlängern müssen, aber auch jeder<br />

Kontrolltermin verunsichert: Werde ich wo<br />

angewiesen, muss ich in eine Schulung …?“<br />

Vorstellungsgespräche seien in der Regel<br />

mühsam, weil die meisten Betriebe niemand<br />

brauchen. Man gehe halt hin, weil<br />

man muss, weil man Bewerbungen vorweisen<br />

soll. „Gleichzeitig“ – so der Bericht –<br />

„sind die Verweigerung von Erwerbsarbeit<br />

und lang anhaltende Arbeitslosigkeit ein<br />

Ausschluss aus der Gesellschaft und damit<br />

Verweigerung von Anerkennung.“<br />

Ein Widerspruch ist offensichtlich. Arbeit<br />

wird eingefordert, kann aber nicht<br />

ausreichend angeboten werden. Ist man<br />

erwerbslos und auf sozialen Beistand angewiesen,<br />

wird man unter Kuratel gestellt<br />

und verwaltet. Die Vormundschaft durch<br />

das AMS ist anstrengend und demütigend,<br />

man darf dies und jenes nicht, vor allem<br />

hat man Arbeitsbereitschaft zu demonstrieren<br />

und zu vorgegebenen Zeitpunkten<br />

(Vorstellungsgespräche, AMS-Kontrolltermine)<br />

zur Verfügung zu stehen. Widrigenfalls<br />

drohen Sanktionen. Das heißt, man<br />

disponiert nicht mehr, sondern wird disponiert.<br />

Man hat sich nicht mehr selbst, ist<br />

angewiesen und aufgrund der Abhängigkeit<br />

von Zahlungen (Arbeitslosengeld,<br />

Mindestsicherung) auch entsprechend erbötig.<br />

Das prägt.<br />

Diese Zumutungen nerven nicht bloß,<br />

sie beschädigen und verletzen merklich.<br />

Nicht nur mental. Nicht einmal die Freizeit<br />

bleibt „frei“, da die Gedanken anderswo<br />

Viele verlieren<br />

allen Mut,<br />

andere geraten<br />

in den Zwang,<br />

positiv denken<br />

zu müssen<br />

kreisen, in der Drangsalierung hängen, sich<br />

nicht von ihr lösen können. Man ist unter<br />

Druck, selbst wenn da niemand direkten<br />

Druck ausübt. Die Lage ist hochgradig<br />

amorph: gestaltlos, unbegreifbar, weil ungreifbar,<br />

unfassbar und daher irgendwie<br />

bedrohlich. Drangsalierung ist etwas, das<br />

man nicht einfach abschütteln kann, da sie<br />

sich in einem festgesetzt hat. Sie produziert<br />

Stress und Ohnmacht. Leute, die in<br />

einer Notlage sind, werden zusätzlich belastet.<br />

Vor allem das Training von Bewerbungen<br />

gleicht zumeist einem Leerlauf mit<br />

frustrierendem Ausgang.<br />

In drangsalierten Zeiten ist Selbstbestimmung<br />

aufgrund der psychischen Konstellation<br />

aufgehoben. Man fühlt sich geknechtet,<br />

geplagt, gepeinigt, da muss unmittelbar<br />

gar nichts geschehen. Oft reicht ein<br />

Blick, eine Geste, eine Handbewegung, ein<br />

Wort, eine Ladung, ein Bescheid, ein Gerücht.<br />

Drangsalierung erscheint nicht als<br />

Konfrontation oder Kampf, sondern als ein<br />

Verhältnis, bei dem man apathisch wird,<br />

aber nicht aussteigen kann. Drangsalierung<br />

ist eine chronische Belastung, nicht<br />

bloß eine akute Herausforderung. Stets<br />

wird am Selbstbewusstsein gekratzt.<br />

Wer isoliert wird, isoliert sich<br />

Mehr Muße<br />

zum Abhängen<br />

würde<br />

den Leuten<br />

sowieso<br />

nicht schaden<br />

Für Arbeitslose ist dieser Zustand – selbst<br />

wenn er sich nicht unmittelbar manifestiert<br />

– latent vorhanden. Das heißt, er ist<br />

immer da, manchmal aber gut verborgen,<br />

weil verdrängt. In solchen Lagen hat man<br />

den Kopf nicht frei. Drangsalierte Zeit ist<br />

also schwer zu ermitteln, und es ist auch<br />

schwierig, derlei anderen zu vermitteln. Sie<br />

ist keine abgrenzbare Erscheinung, sondern<br />

eine übergreifende. Man kann nie genau<br />

sagen, wann und wie lange man unter<br />

welchem Druck steht. Aber es lässt sich darüber<br />

reden. Das Wechselspiel des Ausschlusses<br />

besagt: Wer isoliert wird, isoliert<br />

sich. So gesehen leistet das Heidenreichsteiner<br />

Experiment auch Dienste an alternativer<br />

Vergemeinschaftung. Bekanntschaften<br />

werden geschlossen, Freundschaften<br />

entstehen. Es gibt sogar gemeinsame<br />

Ausflüge. Menschen lernen sich kennen,<br />

die sich sonst nie kennengelernt hätten. Da<br />

geht es auch um eine Rückholung in die<br />

Kommune, ohne Muster aufzuerlegen.<br />

Eine Menge von zusätzlichen Kursangeboten<br />

steht den Arbeitslosen parallel zur<br />

Verfügung: gesundes Essen, Erste Hilfe,<br />

Männerseminar, Schönheitsseminar, Rückenfit,<br />

Suchtprävention, Tanzen, Move<br />

your Ass etc. – Die Leute sollen fitter werden.<br />

Geistig und körperlich. In erster Linie<br />

handelt es sich dabei nicht um die Erfüllung<br />

eines äußeren Anspruchs. Aktiviert<br />

werden ist zweifellos wichtig, aber es ist<br />

wichtig als Selbstzweck, nicht als Zweck.<br />

Die befreiende Potenz des Projektes<br />

„Sinnvoll tätig sein“ (STS) ist auf jeden Fall<br />

größer, als das bei Erfahrungen der Fall ist,<br />

mit der Arbeitslose in der Regel zu tun haben:<br />

Schalterkonfrontationen, Vorstellungen,<br />

Zuweisungen und Abweisungen. Wer<br />

je in einer solchen Situation gewesen ist,<br />

kann das nachvollziehen. Umso mehr werden<br />

die STS-Kursteilnehmer psychisch entlastet.<br />

Fast alle geben an, dass ihr Wohlbefinden<br />

in den zurückliegenden Monaten<br />

gestiegen sei.<br />

Die Arbeitslosen sind natürlich nicht von<br />

Kritik ausgenommen. Feststellbar ist einerseits<br />

der Hang zu Distanz und zum Abtauchen,<br />

zum Noch-kleiner-Machen, zum Fatalismus.<br />

Auffällig sind andererseits aber<br />

auch notorisch positives Denken und ex­<br />

plizit esoterische Muster, allesamt dazu da,<br />

persönliche Krisen umzudeuten, ihnen<br />

Sinn zu verordnen, anstatt Kritik angedeihen<br />

zu lassen. Gelegentlich hindern einige<br />

Vielredner die Schweigsamen an der Artikulation.<br />

Nicht vorsätzlich, aber doch effektiv.<br />

Unterschiedliche intellektuelle Standards<br />

sind hingegen kaum ein Problem.<br />

Persönliche Konflikte in der zusammengewürfelten<br />

Gruppe sind bisher selten aufgetreten,<br />

im Gegenteil, man lernt sich kennen<br />

und schätzen, von neuen sozialen<br />

Kontakten ganz abgesehen.<br />

Das gemeine Volksvorurteil, wonach Arbeitslose<br />

Schmarotzer sind und es sich auf<br />

Kosten der Allgemeinheit gut gehen lassen,<br />

heißt im Prinzip nichts weiter, als dass es<br />

allen Arbeitslosen gefälligst schlecht zu gehen<br />

habe. Die Abgehängten hängen freilich<br />

weniger in den Hängematten als in den<br />

Seilen. Nicht nur vor diesem Hintergrund<br />

stellt sich heute tatsächlich die Frage, ob es<br />

nicht gesamtgesellschaftlich sinnvoller<br />

wäre, statt des illusorischen „Arbeit für<br />

alle!“ das machbare „Hängematten für<br />

alle!“ zu fordern. Etwas mehr Abhängen<br />

würde den Leuten sowieso nicht schaden,<br />

kämen sie doch dann auf Gedanken, die ihnen<br />

in ihrem Alltagstrott nie einfielen.<br />

Mehr Muße würde allen guttun.<br />

Arbeitslosigkeit ist als gesellschaftliches<br />

Phänomen zu denken, nicht als individuelles<br />

Manko. Sorge und Hilfe und Verständnis<br />

prägen jedenfalls das Heidenreichsteiner<br />

Experiment, es ist somit keine Variante<br />

eines alternativen Zucht- und Ordnungsprogramms.<br />

Druck soll genommen, nicht<br />

entfacht werden. Ob derartige Versuche<br />

unter der ÖVP-FPÖ-Regierung und Kanzler<br />

Sebastian Kurz weiter möglich sind, darf<br />

bezweifelt werden.<br />

Franz Schandl arbeitet für das wissenschaftliche<br />

Begleitprogramm von STS. Von 1985 – 1995 war er<br />

zudem Gemeinderat der Alternativen Liste in<br />

Heidenreichstein. Mehr Informationen, siehe:<br />

www.bsowv.at/sites/default/files/sts_folder.pdf<br />

FOTO: PRESSE


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Gender 11<br />

■■Björn Hayer<br />

Männersache<br />

Frauensache<br />

Das Bild erscheint vielversprechend:<br />

ein schönes Lächeln<br />

und ein leichtes Sommerkleid.<br />

Urlaubskulisse im Hintergrund.<br />

Als sie auf seine<br />

Anfrage antwortet und einem Date zustimmt,<br />

ist bei ihm die Freude groß. Die<br />

beiden treffen sich, trinken Wein in einer<br />

schicken Szenekneipe, sie sind um Sympathie<br />

bemüht. Am Ende eine offenherzige<br />

Umarmung: Wann wollen wir uns wiedersehen?<br />

Auf seine Frage per Whatsapp antwortet<br />

sie nicht. Er ist betrübt. Aber was soll’s? Es<br />

gibt da ja noch zahlreiche andere „Kandidatinnen“.<br />

Auf geht’s zum nächsten Treffen.<br />

Diesmal eine Kosmetikerin, die schon<br />

nach den ersten Minuten mit der Tür ins<br />

Haus fällt: Kinder? Heiraten? Puh, das<br />

geht ihm dann doch zu schnell. Wieder<br />

nicht die Richtige.<br />

Wie kann das sein? Die Algorithmen der<br />

Dating-Apps sollen doch Erfolg bringen?<br />

Die eine Echte, den einen Besonderen. Diese<br />

Algorithmen sollen derartig trainiert<br />

sein, so heißt es jedenfalls immer, dass sie<br />

die geeigneten Konstellationen finden. Was<br />

machen die Apps falsch?<br />

Aber vor allem: Wo ist die Romantik geblieben?<br />

Wo die Leidenschaft des gegenseitigen<br />

Entdeckens? Um den Idealisten auf<br />

dem „Markt“ der Liebe ist es ganz offensichtlich<br />

derzeit schlecht bestellt. Die Dating-App<br />

Tinder hat sogar schon ein eigenes<br />

Verb hervorgebracht. Allein das dürfte<br />

wohl als Indiz einer gewandelten Kultur<br />

verstanden werden. Täglich wischen die<br />

zahlreicher werdenden Singles der westlichen,<br />

urbanen Wohlstandsgesellschaften<br />

Profilfotos hin und her: nee, nee, nee, ja,<br />

vielleicht.<br />

Posen musst du – und posten<br />

Wer so rasch die Regale des Angebots<br />

durchschaut, dem fehlen am Ende Zeit und<br />

Muße für die ach so viel gepriesenen inneren<br />

Werte. Die kann man im „Tinderzeitalter“<br />

allenfalls aus einer Chat-Kommunikation<br />

infolge eines Matches erfahren, durch<br />

die von beiden Seiten durch das Liken hergestellte<br />

Übereinstimmung.<br />

Selbst dann ereignen sich allzu oft standardisierte<br />

Gespräche: Hobbys, Beruf, Vorlieben,<br />

Haustiere, vermeintlich individuelle<br />

Charakterzüge. Das ganze Programm<br />

wird durchgezogen, um Gemeinsamkeiten<br />

abzuklopfen – sofern es sich nicht um „eine<br />

schnelle Nummer“ handelt.<br />

Besonders deutlich wird bei all dem die<br />

sogenannte Transparenzgesellschaft, wie<br />

sie der aus Korea stammende Philosoph<br />

Byung-Chul Han beschreibt: Ihm zufolge<br />

findet gegenwärtig überall eine pornoide<br />

Ausstellung des Ich statt. Damit man gerade<br />

in den virtuellen Universen des Internets<br />

bestehen kann, bildet dauerhaftes<br />

Posten und Posen die zentrale Voraussetzung.<br />

Ganz nach dem Motto: Ich twittere,<br />

also bin ich! Man sollte meinen, unsere<br />

Epoche sei so etwas wie eine Hochphase<br />

des Subjekts.<br />

Bezogen auf die Findung eines geeigneten<br />

Partners trifft dies allerdings nur bedingt<br />

zu. Oftmals schwindet im ersten Austausch<br />

zweier Menschen paradoxerweise<br />

das Persönliche. Zwar verspricht der<br />

Schutzraum der Anonymität ein „Alles ist<br />

möglich“. Vor allem um mit jenen Menschen<br />

in Kontakt zu kommen, die man in<br />

der Realität nicht anspricht, weil man sich<br />

das nicht traut. Zugleich versucht man ein<br />

Bild von sich zu zeichnen, dem man möglicherweise<br />

gar nicht entspricht. Aber man<br />

will ja gefallen. Viele Männer immer noch<br />

als Athleten, Abenteurer, Helden. Viele<br />

Frauen nach wie vor als Verführerinnen.<br />

Oder mütterliche Gefährtinnen.<br />

Sobald dann ein reales Treffen zustande<br />

kommt, stellt sich häufig recht schnell<br />

große Ernüchterung ein. Aber halb so<br />

wild, werden die vollen Erwartungen nicht<br />

erfüllt, macht das nichts. Das nächste<br />

Match wartet schon.<br />

Zweifelsohne ist das vielfältige virtuelle<br />

Potenzial, jemanden kennenzulernen,<br />

wunderbar. Die Chance darauf ist so groß<br />

wie nie zuvor. Doch die Vielfalt geht mit einem<br />

unermüdlich-selbstzirkulären Prozess<br />

des Vergleichens einher. Immer seltener<br />

gehen die suchenden Menschen Risiken<br />

ein. Warum? Viele wollen sich nicht festlegen.<br />

Das Stichwort der Stunde lautet:<br />

warmhalten.<br />

Auf der anderen Seite beklagen nicht<br />

wenige die mangelnde Verbindlichkeit –<br />

und bewundern fassungslos die Ehen ihrer<br />

Großeltern, die allen Gezeiten und<br />

Widrigkeiten zum Trotz ein Leben lang<br />

gehalten haben.<br />

Wo liegen die Ursachen für den Hype loser<br />

und dynamischer Beziehungen? Soziale<br />

Netzwerke und die neuen Anforderungen<br />

einer Kommunikationsgesellschaft allein<br />

können es ja nicht sein. Was also dann? Es<br />

ist ebenso der liberale Kapitalismus. In allen<br />

Werte-Indizes der vergangenen Jahre<br />

rangiert die Kategorie Freiheit bei den Befragten<br />

ständig ganz oben. Wiederum steht<br />

das Ego im Zen trum aller Bestrebungen<br />

nach Partnerschaft. Es profiliert sich in den<br />

sozialen Netzwerken und bindet sich ungern<br />

an Institutionen. Die Suche nach dem<br />

passenden Pendant gleicht einem marktwirtschaftlichen<br />

Verfahren.<br />

In dem Band „Wa(h)re Gefühle“ legt Eva<br />

Illouz, die moderne Soziologin der Liebe<br />

schlechthin, dar, dass Emotionen und deren<br />

Lenkung einem ökonomischen Handlunsplan<br />

entspringen. „Die kapitalistische<br />

Kultur hat durchaus keinen Verlust an<br />

Emotionalität eingeläutet“, konstatiert Illouz:<br />

„Sie ist vielmehr mit einer beispiellosen<br />

Intensivierung des Gefühlslebens einhergegangen,<br />

in dessen Rahmen Akteure<br />

ihre emotionalen Erfahrungen bewusst<br />

Tinder-Dates<br />

stumpfen uns<br />

ab. Das<br />

Gegenüber ist<br />

heutzutage<br />

austauschbar<br />

Halt mich warm<br />

Liebe Tindern, berechnen und Risiken abmildern,<br />

so datet die Spätmoderne<br />

um ihrer selbst willen gestalten.“ Eine solche<br />

Intensivierung des Gefühlslebens manifestiert<br />

sich in vielfältiger Weise. Das<br />

Privatleben zum Beispiel sei auf das Verfolgen<br />

„emotionaler Projekte“ ausgerichtet:<br />

eine romantische Liebe zu erleben,<br />

eine Depression zu überwinden, seinen<br />

inneren Frieden zu finden, ein mitfühlender<br />

Mensch zu werden.<br />

Liebe als Modulsystem<br />

Die Suche nach dem Anderen entpuppt<br />

sich somit als eine narzisstische Arbeit am<br />

Projekt Ich-AG.<br />

Das Gegenüber ist austauschbar geworden<br />

und seines Reizes beraubt. Da ohnehin<br />

eine Unmenge potenzieller Partner<br />

zur Verfügung steht, lohnt es nicht, sonderlich<br />

in die Tiefe zu gehen. Tinder-Dates<br />

stumpfen ab und machen kaum mehr<br />

neugierig auf das Geheimnis, ja die Schattenseiten<br />

eines anderen.<br />

Es scheint zu einfach zu sein: Wir schreiben<br />

uns, also kennen wir uns. Da wird der<br />

Rest schon stimmen. Oder eben nicht. Im<br />

Gegensatz zu diesem Trend behaupten sich<br />

Liebe und Erotik seit jeher vor allem dort,<br />

wo Verschleierung im Spiel ist. Denn erst<br />

das Unbekannte erzeugt Faszination, die<br />

durch den regen Austausch von Daten mitunter<br />

verschwindet, bevor das erste Treffen<br />

überhaupt vonstattengegangen ist.<br />

Offenbar gibt es bei aller Unverbindlichkeit<br />

eben auch ein deutliches Sicherheitsbedürfnis.<br />

So werden im Vorfeld eines<br />

Dates alle denkbaren No-Gos abgeklärt.<br />

Schließlich gilt es, peinliche Momente zu<br />

vermeiden. Und so geriert das idealerweise<br />

verzaubernde Jeux d’Amour zur Taktik aus<br />

Kalkül, bei der Risiken abgewogen und am<br />

liebsten ganz ausgeschaltet werden. Die<br />

Crux: Ein unbändiger Drang zur Autonomie<br />

und zugleich die Sehnsucht nach dem<br />

einen Prinzen oder der Prinzessin ergeben<br />

eine unheilvolle Melange. Am Ende kann<br />

die Realität in den meisten Fällen den Erwartungen<br />

nicht standhalten.<br />

Dass Menschen in der Gegenwart an den<br />

eigenen Maßstäben verzweifeln, hängt<br />

wohl nicht zuletzt mit der Emanzipation<br />

des Liebeskonzepts als solchem zusammen.<br />

Nachdem die Vormoderne die Liebe<br />

primär als eine Komposition an Werten<br />

und Tugenden, beispielhaft in der Institutionalisierung<br />

der Ehe, betrachtete, bricht<br />

die Romantik mit diesem Konzept. Wie die<br />

Germanistin Elke Reinhardt-Becker in ihrer<br />

Studie „Seelenbund oder Partnerschaft?“<br />

dokumentiert, tritt im 20. Jahrhundert<br />

eine Art Entzauberung ein. Diesbezüglich<br />

spricht Reinhardt-Becker vom<br />

partnerschaftlichen Konzept: Man teilt<br />

den Alltag und die Freizeit. Liebe erinnert<br />

zunehmend an ein Modulsystem einer<br />

nützlichen Zusammenstellung.<br />

All den Suchenden stehen die neuen Biedermeier<br />

entgegen, die schon früh Häuser<br />

bauen, Kinder bekommen und heiraten.<br />

Im Werte-Index 2016 jedoch sinkt erstmals<br />

wieder die Zustimmung zur Idee fester Familienbünde:<br />

zurück zur einer Offenheit,<br />

die gleichermaßen Neues und Angst vor<br />

der Ungewissheit zulässt.<br />

Obwohl sich der Liebesbegriff in einer<br />

„Gesellschaft der Singularitäten“ ändert,<br />

wie der Soziologe Andreas Reckwitz meint,<br />

bleibt eines zeitlos gültig: die Notwendigkeit<br />

von Vertrauen und Mut. Jede Beziehung<br />

braucht einen Vorschuss an Hoffnung.<br />

Und sicher Wagemut. Nur wenn Liebe<br />

bar jeder Berechenbarkeit die Gefahr<br />

des Scheiterns birgt, wird ihr wohl unerschöpflicher<br />

Reichtum offenbar.<br />

ILLUSTRATION: JONAS HASSELMANN FÜR DER FREITAG; MATERIAL: GETTY IMAGES, ISTOCK<br />

Streik bei der BBC!<br />

Leider nicht.<br />

Aber schön wär’s<br />

Es war einmal eine Zeit, da setzten<br />

sich Arbeitnehmer gemeinsam<br />

dafür ein, dass alle mehr verdienten.<br />

Dafür wandten sie sich in der Regel<br />

an diejenigen, die für Ungerechtigkeit<br />

in der Bezahlung zuständig waren – die<br />

Arbeitgeber. Wenn die nicht spurten,<br />

drohten sie mit Streik. Und wenn das<br />

auch nichts half, machten sie die Drohung<br />

wahr. Manchmal etwas rabiater,<br />

oft jedoch eher konziliant, manchmal<br />

sehr erfolgreich, oft jedoch eher weniger<br />

– am Ende hatten alle mehr in<br />

der Tasche (außer natürlich der Arbeitgeber).<br />

So ganz „Es war einmal“ ist das<br />

zugegebenermaßen nicht, wie derzeit<br />

die IG Metall versucht unter Beweis zu<br />

stellen. Dennoch gibt es eine merkwürdige<br />

Tendenz dazu, den Lohn nicht als<br />

solchen für geleistete Arbeit zu werten,<br />

sondern als freundliche Spende. Und<br />

wenn jemand anders weniger gespendet<br />

bekommt, dann ist es kein Problem,<br />

selbst auf einen Teil der Spende zu verzichten<br />

– als Akt des Großmuts.<br />

Geschehen zuletzt bei der BBC. Der<br />

britische Rundfunkgigant wird von einer<br />

mittelschweren Krise geplagt, seit<br />

Anfang Januar die China-Korrespondentin<br />

Carrie Gracie ihren Job hingeworfen<br />

hatte. Begründung: Männer in ähnlichen<br />

Positionen verdienen mitunter bis<br />

zu 50 Prozent mehr.<br />

Das brachte das Unternehmen in<br />

Erklärungsnot, nun will es mit dieser<br />

Praxis aufräumen. Dazu gehört, dass<br />

sechs der prominentesten – männlichen<br />

– Flaggschiffe nun auf einen Teil<br />

ihres Gehalts (pardon: ihrer Spende)<br />

verzichten. John Humphrys, Jeremy<br />

Vine, Huw Edwards, Nicky Campbell,<br />

Nick Robinson und Jon Sopel sind<br />

allesamt Moderatoren bekannter Live-<br />

Sendungen in Radio und Fernsehen<br />

und haben eingewilligt, ihren Salär<br />

um teilweise die Hälfte zu reduzieren.<br />

Welch noble Geste! Gewiss, sie verdienen<br />

verdammt gut. Statt 500.ooo<br />

oder 600.000 Pfund pro Jahr nur die<br />

Hälfte zu bekommen, dürfte sie nicht in<br />

die Sphäre des verelendeten Proletariats<br />

herabstoßen.<br />

Zur Begründung erklärten sie wahlweise,<br />

dass sie es eben als ungerecht<br />

empfänden, als Einzige in einer Sendung<br />

so gut zu verdienen. Oder dass<br />

ihre Gehälter aus einer Zeit stammten,<br />

in der die BBC jene, die ihr Gesicht<br />

und ihre Stimme waren, mit Geld überschüttete.<br />

Dass das fast nur Männer<br />

betraf – ja, okay. Als treu ergebene<br />

Arbeitnehmer fügten sie hinzu, dass es<br />

dieses Geld nun eben nicht mehr gebe.<br />

Doch damit sind sie in genau jene<br />

Falle marschiert, die der ideologisch<br />

postmoderne Kapitalismus den Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmern<br />

stellt. Es sollte nicht darum gehen, dass<br />

alle weniger verdienen. Ziel muss sein,<br />

dass alle in Wohlstand leben. Und ja, in<br />

diesem Falle mag das müßig sein, da<br />

weder die Frauen durch die Ungerechtigkeit<br />

noch die Männer durch den Verzicht<br />

an den Rand des Hungertuchs<br />

befördert werden. Dann wäre allerdings<br />

die Debatte ohnehin hinfällig. Es geht<br />

ums Prinzip! Denn es darf sich nicht<br />

durchsetzen, dass Fragen der gerechten<br />

Bezahlung nach unten geregelt werden.<br />

Auch beim Gender Pay Gap geht es ja in<br />

der Regel nicht darum, wie groß nun<br />

die Penthousewohnung in London ist,<br />

die man sich leisten kann, sondern<br />

um waschechte Armut. Sollen bald auch<br />

männliche Facharbeiter wieder Armutslöhne<br />

bekommen, weil Frauen ja auch<br />

nicht besser bezahlt werden?<br />

Was für ein Zeichen wäre es gewesen,<br />

wären die sechs prominenten BBC-<br />

Moderatoren einfach in den Streik getreten<br />

– und zwar so lange, bis ihre Kolleginnen<br />

eine saftige, angleichende Gehaltserhöhung<br />

bekommen hätten. Und<br />

dann gemeinsam weiter, bis auch jene,<br />

die nicht im Rampenlicht stehen, aber<br />

den Laden BBC am Laufen halten, mehr<br />

Geld bekommen hätten. Und dann<br />

mit denen weiter, bis auch im privaten<br />

Sektor ... und so weiter. Bis zum Ende<br />

des Kapitalismus. Leander F. Badura


12 Chronik<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Die Woche vom 25. bis 31. Januar 2018<br />

FOTOS: AFP/GETTY IMAGES (4), IMAGO<br />

Trojaner<br />

Im Einsatz<br />

Vergangenen Sommer wurde vom<br />

Bundestag das passende Gesetz verabschiedet,<br />

nun ist er schon eifrig im<br />

Einsatz: der Staatstrojaner für Smartphones,<br />

oder, wie Strafverfolger<br />

sagen: die Quellen-Telekommunikationsüberwachung<br />

(Quellen-TKÜ). Das<br />

ergaben Recherchen von SZ, NDR und<br />

WDR. Mit dem neuen Werkzeug nutzen<br />

Ermittler Sicherheitslücken aus –<br />

oder suchen gar gezielt nach ihnen –,<br />

um Verschlüsselungen von Messenger-<br />

Diensten wie WhatsApp oder Signal<br />

zu umgehen. Nötig sei dies, da sich ein<br />

Großteil der Kommunikation in solche<br />

Dienste verschoben hat. Kritiker<br />

planen nun eine Verfassungsbeschwerde,<br />

da die digitale Sicherheit<br />

der Bürger auf dem Spiel stehe. LFB<br />

Mazedonien/Griechenland<br />

Im Streit<br />

Die Nationalisten in Griechenland lassen<br />

sich nicht erweichen. Für sie gibt es<br />

im Namensstreit mit der Regierung in<br />

Skopje weiter keine Kompromisse. Die<br />

einstige jugoslawische Teilrepu blik<br />

dürfe nicht länger Mazedonien heißen,<br />

weil das irgendwann dazu führen<br />

werde, die gleichnamige nordgriechische<br />

Provinz zu beanspruchen. Zuletzt<br />

hatte ein UN-Vermittler in New York<br />

Vorschläge repräsentiert, wie der 1991<br />

ausgerufene Staat künftig heißen<br />

könnte: Neu- oder Nordmazedonien,<br />

Obermazedonien oder Repu blik<br />

Mazedonien-Skopje. Premier Tsipras<br />

könnte damit leben, nicht so rechtskonservative<br />

Hardliner, die allein in<br />

Thessaloniki 90.000 Menschen zu<br />

einem Protestzug mobilisierten. LH<br />

Tschechien<br />

Im Stechen<br />

Zwar konnte Jiří Drahoš (Foto) einen<br />

Achtungserfolg landen und die 26,6<br />

Prozent aus dem ersten Wahlgang auf<br />

den Wert 48,6 steigern, doch das reichte<br />

nicht. Der bisherige Präsident Miloš<br />

Zeman hat mit 51,4 Prozent gesiegt und<br />

bleibt bis 2023 Staatsoberhaupt des<br />

NATO- und EU-Landes. Vor dem Stechen<br />

hatte Zeman dafür gesorgt, dass<br />

die Minderheitsregierung der Partei<br />

ANO unter Andrej Babiš zunächst die<br />

Amtsgeschäfte ohne parlamentarische<br />

Mehrheit übernehmen konnte. Ob<br />

sich das Kabinett behauptet, ist offen.<br />

Gegen den Premier wird ermittelt,<br />

weil er sich als Unternehmer EU-Subventionen<br />

erschlichen haben soll.<br />

Für Babiš ein Komplott, wie er immer<br />

wieder betont. <br />

LH<br />

Banken<br />

Im Unrecht<br />

Seitdem die EZB von den Banken Negativzinsen<br />

verlangt, wollen diese sie<br />

an ihre Kunden durchreichen. Sparer<br />

bekommen so für ihre Einlagen nicht<br />

nur keine Zinsen, sondern zahlen<br />

auch noch drauf. Während viele Banken<br />

bei Einlagen ab 100.000 Euro<br />

oder gar noch mehr zugreifen, wollte<br />

die Volksbank Reutlingen schon ab<br />

10.000 Euro Geld von ihren Kunden.<br />

Die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg<br />

klagte und das Landgericht<br />

Tübingen entschied nun, dass die Praxis<br />

rechtswidrig ist. Weil die Bank die<br />

Zinsen nicht nur bei neuen Verträgen,<br />

sondern auch nachträglich für Altkunden<br />

eingeführt hatte, kippte das<br />

Gericht das ganze Modell. Das Urteil<br />

könnte wegweisend sein. LFB<br />

Bolivien<br />

Im Rückwärtsgang<br />

Staatschef Evo Morales gibt wachsendem<br />

politischen Druck nach und will<br />

das Parlament ersuchen, die jüngsten<br />

Neuerungen des Strafgesetzbuches<br />

zurückzunehmen. Dies sei eine Reaktion<br />

auf Proteste und Streiks von<br />

Berufsverbänden, schreibt das Nachrichtenportal<br />

Amerika 21. Die Regierung<br />

sah sich dabei auch aufgefordert,<br />

das Ergebnis des Plebiszits vom 21. Februar<br />

2016 zu respektieren, bei dem<br />

eine Mehrheit die unbegrenzte Wiederwahl<br />

von Politikern verwarf. Dies galt<br />

nicht zuletzt der Absicht von Morales,<br />

beim Präsidentenvotum im nächsten<br />

Jahr wieder anzutreten und um die<br />

vierte Amtszeit zu kämpfen. Die Opposition<br />

hatte das als „Staatsstreich<br />

gegen die Demokratie“ bezeichnet. LH<br />

1968 Krieg ohne Ende<br />

Zeitgeschichte Die Tet-Offensive des Vietcong führt den USA<br />

vor Augen, dass ihre Streitmacht in Südvietnam den Kampf um<br />

Indochina nicht verlieren, aber auch nicht gewinnen kann<br />

■■Lutz Herden<br />

Durchsichtig wird die Luft von<br />

Hue gegen Mittag, dunstig ist sie<br />

am Morgen, wenn noch die Nebel<br />

der Nacht auf der Stadt liegen<br />

und im Wasser des Parfümflusses<br />

das zitternde Nachbild des Mondes<br />

schwimmt. Fallen werden die Schleier erst mit<br />

dem Zenit der Sonne, wenn in Vietnams einstiger<br />

Kaiserresidenz die Zitadelle keinen<br />

Schatten mehr wirft. Hinter den Wällen und<br />

Mauern der „Verbotenen Purpurstadt“ haben<br />

sich einst die Herrscher der Nguyen-Dynastie<br />

das Volk verbeten, weil sie glaubten, als Gottkönige<br />

mit der Ewigkeit verschworen zu sein.<br />

Die mutmaßlich Erwählten fanden ein jähes<br />

Ende, als am 30. August 1945 der Monarchie<br />

die letzte Stunde schlug und Bao Đai, der<br />

13. Thronfolger des Nguyen-Geschlechts, am<br />

Ngo-Mon-Tor mit den Worten abdankte: „Mit<br />

Bedauern denken Wir an die Jahre Unserer Regierung,<br />

in denen Wir es nicht vermochten,<br />

etwas von Belang für Unser Land zu tun.“ Am<br />

Abend jenes Tages schirmte nicht mehr das<br />

Gelbe Tuch des Kaisers die Zitadelle, stattdessen<br />

hatte die Demokratische Republik des<br />

Staatsgründers Ho Chi Minh ihr Banner aufgezogen,<br />

sollte es aber noch zweimal fallen<br />

sehen, bevor es unangefochten wehte über<br />

den Lotus-Teichen.<br />

Mitte der 1950er Jahre, nach der Genfer Indochina-Konferenz,<br />

die das Ende der französischen<br />

Kolonialära in Vietnam besiegelte, hatte<br />

sich Vietnam in zwei Staaten geteilt. Die<br />

sozialistische Volksrepublik im Norden, verbündet<br />

mit der Sowjetunion und China, stand<br />

in einem erklärten Krieg mit der prowestlichen<br />

Republik im Süden, unterstützt seit den<br />

frühen 1960er Jahren von US-Militärberatern,<br />

den Vorboten eines Besatzungskorps, das eines<br />

baldigen Tages mehr als eine halbe Million<br />

Soldaten zählen sollte.<br />

Der britische Schriftsteller Graham Greene<br />

hatte in seinem 1955 erschienenen Roman<br />

Der stille Amerikaner, den er in wenigen Wochen<br />

auf der Terrasse des Hotels Continental<br />

in Saigon schrieb, das Unheil des amerikanischen<br />

Krieges in Vietnam erahnt, bevor es tatsächlich<br />

dazu kam. Die Geschichte spielt 1952<br />

in Südvietnam – der junge, sendungsbewusste<br />

CIA-Agent Pyle spannt dem englischen Korrespondenten<br />

Thomas Fowler die einheimische<br />

Geliebte aus, geht ansonsten über Leichen<br />

und trüben Geschäften nach. Er<br />

ermuntert eine den USA genehme „Dritte<br />

Kraft“, durch Terroranschläge die französische<br />

Kolonialverwaltung zu erschüttern, und verklärt<br />

dies zur Katharsis im Namen von Freiheit<br />

und Democracy. Der „hinterhältige Anschlag“,<br />

dem Pyle schließlich zum Opfer fällt<br />

und den Fowler durch einen Hilfsdienst für<br />

den nationalkommunistischen Untergrund<br />

der Viet Minh ermöglicht, wird zur Metapher.<br />

Amerika vergreift sich an Vietnam, scheitert<br />

und geht zugrunde. Der tote Pyle wird zum<br />

Propheten des großen Sterbens Zehntausender<br />

GIs, der Leichensäcke, der abgerissenen<br />

Beine und Gesichter.<br />

Anfang 1968 stehen unter Führung von General<br />

Westmoreland 485.600 US-Soldaten in<br />

Südvietnam und hören von Präsident Lyndon<br />

B. Johnson, der Sieg sei in Sicht. Keine drei<br />

Jahre ist es her, dass am 8. März 1965 die ersten<br />

zwei Bataillone Marines als Kampfverband<br />

am Strand von Da Nang gelandet sind.<br />

Danach wächst die Präsenz von Woche zu Woche.<br />

Immer mehr reguläre US-Truppen ziehen<br />

in den Krieg gegen die Soldaten aus Nordvietnam<br />

und der Befreiungsfront im Süden, die<br />

im Westen Vietcong („vietnamesische Kommunisten“)<br />

genannt werden. Die Amerikaner<br />

schleppen sich durch die Regenwälder Annams,<br />

kriechen in die feindlichen Tunnel im<br />

Gebiet Cu Chi, sitzen im Zentralen Hochland<br />

fest, hoffen auf Entsatz und denken an nichts<br />

mehr. Sie errichten monströse Stützpunkte in<br />

Đa Nang und Cam Ranh oder Khe Sanh, ein<br />

paar Kilometer südlich des 17. Breitengrades,<br />

der Grenze zwischen Nord- und Südvietnam.<br />

Am 30. Januar 1968 feiert der Süden das<br />

buddhistische Tet-Fest mit Maskentanz und<br />

Feuerwerk, um das beginnende „Jahr des Affen“<br />

zu empfangen. Noch in der Neujahrsnacht<br />

stürmen 85.000 Vietcong 36 der 44 Provinzhauptstädte<br />

im Süden. Auch in Hue droht<br />

der Himmel zu zerspringen. Guerilla-Einheiten<br />

erobern die Stadt auf beiden Seiten des<br />

Parfümflusses und setzen eine eigene Regierung<br />

ein, die sich darauf stützt, dass die Befreiungsfront<br />

in Hue seit Jahren verankert ist.<br />

Saigon: Einer der Angreifer wird von US-Militärpolizisten abgeführt<br />

Soldaten mit<br />

starrem<br />

Kiefer warten<br />

auf den<br />

Angriff oder<br />

den Abflug<br />

ins Lazarett<br />

FOTO: ROLLS PRESS/POPPERFOTO/GETTY IMAGES<br />

Über der Zitadelle hissen junge Vietnamesen<br />

die blau-rote Fahne mit dem gelben Stern ihrer<br />

Revolution. Es dauert eine ganze Woche,<br />

bis es US-Marines über den Fluss schaffen, um<br />

einzugreifen. In den USA sehen Millionen<br />

Fernsehschauer bei Live-Übertragungen vom<br />

Kriegsschauplatz, wie die Männer unter Beschuss<br />

geraten, sich zurückziehen, wieder vorgehen<br />

und wieder festsitzen. Sie sehen, wie<br />

verkohlte Leichen und ausgebrannte Humvees<br />

die Straßen blockieren, Soldaten mit<br />

starrem Kiefer auf den Angriff oder den Abflug<br />

mit dem Sanitätshubschrauber warten.<br />

Vielen wird bewusst, es sind nicht die<br />

475.000 Mann des Generals Westmoreland,<br />

die irgendwo in Indochina eine Schlacht gegen<br />

den Kommunismus schlagen. Wir sind es,<br />

die Vereinigten Staaten, die einen so aussichtslosen<br />

wie barbarischen Krieg führen.<br />

Auch die Hauptstadt Saigon wird von der<br />

Tet-Offensive erfasst. Vietcong tauchen im<br />

Viertel um den Großmarkt Ben Thanh mit<br />

den vielen Schleichwegen auf, die in Greenes<br />

Roman ein Thomas Fowler nahm, um Kontaktleute<br />

zu treffen. Es geschieht das bis dahin<br />

Unfassbare. Einem Trupp aus dem Vietcong-<br />

Bataillon C-10, das normalerweise für Subversion<br />

und Sabotage zuständig ist, gelingt es, im<br />

sichersten Distrikt das am besten gesicherte<br />

Gebäude Südvietnams anzugreifen. Am 31. Januar<br />

1968 gegen acht Uhr Ortszeit wird das<br />

„Weiße Haus von Saigon“, wie die US-Botschaft<br />

heißt, zum Schlachtfeld. Die 19 Kämpfer des<br />

Kommandos dringen nicht nur auf das Gelände<br />

der Mission vor, sie verschanzen sich im<br />

Erdgeschoss der Residenz. Der Vietnamkrieg<br />

tobt erstmals auf US-Territorium und dauert<br />

zwei Stunden. Als die Angreifer erschossen<br />

oder gefangen genommen sind, entern Kamerateams<br />

von ABC und CBS das Gelände, um<br />

die Toten aufzunehmen. 16 Vietnamesen, ein<br />

US-Marine, vier Militärpolizisten der Army.<br />

Die Botschaft des Horrors: Wir sind ihnen<br />

trotz allem überlegen. In diesem Krieg kann<br />

viel passieren, aber er wird noch in hundert<br />

Jahren nicht verloren gehen. Keiner fragt:<br />

Lohnt es sich, einen Krieg nur deshalb zu führen,<br />

weil man ihn nie verlieren kann?<br />

In Hue wird 26 Tage lang erbittert gekämpft.<br />

Die Walzen der Explosionen rollen durch die<br />

Stadt und pulverisieren Mauern und Menschen.<br />

Wenn sich die Rauchschwaden lichten,<br />

tauchen Panzer der südvietnamesischen Armee<br />

auf, um Quartiere zurückzuerobern, die<br />

keine mehr sind. Wer von den Vietcong überlebt<br />

hat, zieht sich zurück. Von den 135.000<br />

Bewohnern sind 110.000 obdachlos, als am 27.<br />

Februar 1968 wieder die gelb-rote Flagge Südvietnams<br />

über der Zitadelle weht.<br />

Auch wenn die Tet-Offensive für die Angreifer<br />

nicht den erhofften Durchbruch bringt,<br />

weil der erwartete Aufstand in den südvietnamesischen<br />

Städten ausbleibt, hinterlässt allein<br />

die Schlacht um Hue in den USA eine tiefe<br />

Wirkung. Es ist schwer zu glauben, was dieser<br />

Gegner, den Napalmteppiche und entlaubte<br />

Wälder zermürben sollen, noch fertigbringt,<br />

weil ihn die Entschlossenheit nie verlässt. Die<br />

Falken unter den US-Generälen behaupten,<br />

Tet war der letzte Atemzug des Vietcong. Doch<br />

glaubt das Oberkommando nicht daran.<br />

Schon Anfang März 1968, keine Woche nachdem<br />

die Gefechte abgeflaut sind, verlangt<br />

Westmoreland intern 206.000 zusätzliche<br />

Soldaten für Vietnam, womit die Truppenstärke<br />

bei fast 700.000 Mann läge. Selbst wenn er<br />

sie bekäme, was nicht geschieht, wäre damit<br />

noch nichts gewonnen.<br />

Walter Cronkite, Anchorman bei CBS News,<br />

kommentiert nach der Tet-Offensive: „Wer<br />

sagt, wir näherten uns einem Sieg, der glaubt<br />

nicht den Tatsachen, sondern den Optimisten,<br />

die sich schon so oft irrten. Von eine Pattsituation<br />

zu sprechen, ist der allein richtige,<br />

wenn auch unbefriedigende Schluss. Es wird<br />

immer klarer, dass wir verhandeln sollten –<br />

nicht als Sieger, sondern als ehrbares Volk.“


13<br />

Arbeit Franco Berardi erotisiert den General intellect S. 15<br />

Kunst Simon Strauß provoziert die Engagierten S. 17<br />

Lohn Das bedingungslose Grundeinkommen kommt ins Kino S. 19<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Hex Hex? Nö.<br />

Eine Ausstellung<br />

zeigt, dass gute<br />

Fantasy kein<br />

Hokuspokus,<br />

sondern harte<br />

Arbeit ist S. 16<br />

Betonblumen<br />

Stadtraum Der Streit über das „Avenidas“-Gedicht an der Fassade der Berliner<br />

Alice-Salomon-Hochschule ist entschieden. Es muss da weg. Wenn dieser Streit<br />

etwas Gutes hatte, dann dies: Selbst ein Jens Spahn interessierte sich (kurz) für Dichtkunst.<br />

Hier sechs Pastiches von Eugen Gomringers umstrittenem Gedicht<br />

FOTOS [M]: IMAGO, FOTO OBEN: LISA MAREE WILLIAMS/GETTY IMAGES


14 Kultur<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Medientagebuch<br />

Die „Huffington<br />

Post“ jagt ihre<br />

Blogger vom Hof<br />

Süße Frucht der Revolution! Vor<br />

ein paar Jahren schien die Medienwelt<br />

sich im Umbruch zu befinden.<br />

Damals schickten sich Blogs an,<br />

unsere publizistischen Gewohnheiten<br />

durcheinanderzuwirbeln. Als Bereicherung,<br />

vielleicht sogar als Surrogat, zum<br />

Angebot der großen Verlagshäuser.<br />

Die Huffington Post schwang sich schon<br />

20<strong>05</strong> zur tonangebenden Plattform in<br />

dieser mutmaßlichen Zeitenwende auf.<br />

Mit einer erheblichen Anzahl von<br />

unbezahlten Bloggern und ohne redaktionellen<br />

Filter wollte sie den Journalismus<br />

umkrempeln. Bürgerjournalismus<br />

als Vorstufe der deliberativen<br />

Demokratie; Jürgen Habermas wird sich<br />

gefreut haben! Doch die Revolution<br />

scheiterte, bevor sie überhaupt richtig<br />

Fahrt aufgenommen hatte. Blogs spielen<br />

heute politisch und ökonomisch so<br />

gut wie keine Rolle mehr. Aber wieso<br />

sollten Voluntaristen den medialen<br />

Betrieb nicht trotzdem ergänzen und<br />

von außen stimulieren?<br />

Doch auch die Huffington Post frisst<br />

ihre Kinder. Hier wurden die Blogger<br />

jetzt vom Hof gejagt und ab sofort wird<br />

– aus Qualitätsgründen – alleine der<br />

professionelle Journalismus den Ton<br />

angeben. Die Sphären des nicht gefilterten<br />

Meinungsaustausches seien zu<br />

„schmutzigen Orten geworden, wo<br />

sich nur der Lauteste durchsetzt“, sagte<br />

Chefredakteurin Lydia Polgreen.<br />

Schmutzig? Laut? So ist das Internet<br />

wohl manchmal. Aber es fragt sich, wieso<br />

die Kollegen nicht etwas mehr Aufwand<br />

betrieben haben, um ihr Medium<br />

zu moderieren, und stattdessen das<br />

grundsätzlich richtige Prinzip der Lesereinbindung<br />

komplett über Bord geworfen<br />

haben. Reicht es nicht, die Irren in<br />

die Untiefen der Website zu verbannen?<br />

Wieso müssen direkt alle Leine<br />

ziehen?<br />

Als ich 2013 anfing, für den <strong>Freitag</strong><br />

zu bloggen, war ich noch Schüler. Ich<br />

schrieb meine Enttäuschung über<br />

Barack Obama auf, nahm Oskar Lafontaine<br />

gegen Günter Grass in Schutz<br />

und beschimpfte die CSU als rechtspopulistisch<br />

und unsozial. Das hat Spaß<br />

gemacht! Und es war kein reiner Selbstzweck<br />

– ich wollte gelesen werden. Hier<br />

gewinnen alle: die Leser, weil ihnen<br />

eine zusätzliche Stimme gegeben wird,<br />

die Medien, weil sie dadurch die Menschen<br />

an ihr Produkt binden, und die<br />

Demokratie, weil Streit sie wachhält.<br />

Wenn die Huffington Post die Professionalisierung<br />

will, wird sie sie bekommen.<br />

Das Rad der Geschichte wird<br />

sie damit aber nicht zurückdrehen. Die<br />

allermeisten Menschen haben nach<br />

der Schule genug von Lehrern und wollen<br />

nicht mehr nur belehrt und informiert,<br />

sondern ernst genommen werden.<br />

Deswegen funktioniert moderner<br />

Journalismus nur als reziproke Verständigung,<br />

als Dialog zwischen Autor<br />

und Leser. Medien, die das nicht<br />

begreifen, wird es bald nicht mehr<br />

geben.<br />

Dorian Baganz<br />

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In Brett Baileys „Sanctuary“ ist keiner willkommen<br />

Hölle Europa<br />

Flucht Das Frankfurter Theaterfestival „Displacements“ entwirft unseren Kontinent<br />

als Ort der Herzlosigkeit und teilt dabei nicht zu knapp mit der Moralkeule aus<br />

■■Alexander Jürgs<br />

Ein dunkler Raum, eine weiße<br />

Wand. Durch ein Loch in dieser<br />

Wand steckt man den linken<br />

Arm. Er wird gegriffen, wird bewegt.<br />

Nur ab und zu erblickt man<br />

die Hände, die Finger, die dies tun. Dann<br />

spürt man einen Stift auf der Haut. Kleine<br />

Figuren entstehen, eine Zeichnung, die einen<br />

Treck von Geflüchteten darstellt. Über<br />

Kopfhörer lauscht man der Geschichte des<br />

Zeichners: ein Palästinenser, aufgewachsen<br />

in einem Flüchtlingslager in Damaskus, geflohen<br />

in die Türkei, in Deutschland für<br />

kurze Zeit inhaftiert. Und er singt, auf Arabisch,<br />

einen Rap. Der übersetzte Text steht<br />

auf der weißen Wand. „In den Booten sind<br />

alle Gesichter gestresst / Halten den Atem<br />

an / Pressen ihre Wunden ab / Sie haben<br />

viel Gewehrfeuer gehört / Sie fühlen nichts<br />

mehr“, heißt es darin. Ein Stück über die<br />

Sehnsucht nach Sicherheit und Freiheit,<br />

ein Aufbegehren gegen die Angst.<br />

As Far As My Fingertips Take Me hat die<br />

zwischen Beirut und London pendelnde<br />

Künstlerin Tania El Khoury ihre Performance<br />

genannt, bei der jeweils ein einzelner<br />

Zuschauer auf den Darsteller Basel<br />

Zaraa trifft. Sie dauert kaum länger als<br />

zehn Minuten und hinterlässt doch einen<br />

starken Eindruck. Auf einem Festival mit<br />

dem Titel Displacements im Frankfurter<br />

Künstlerhaus Mousonturm wurde das<br />

Stück nun zum ersten Mal im deutschsprachigen<br />

Raum gezeigt.<br />

Kitschpostkarten und Draht<br />

Die Werkschau, die Inszenierungen aus<br />

den vergangenen drei Jahren zusammenfasst,<br />

will ein Gegenentwurf zum aktuellen<br />

Status quo sein, der Geflüchtete nur noch<br />

als Abzuwehrende wahrnimmt. Gezeigt<br />

werden Arbeiten aus den Grenzbereichen<br />

des Theaters, vom Berliner Performance-<br />

Kollektiv Rimini Protokoll, von dem brasilianischen<br />

Regisseur Marcio Abreu oder<br />

dem japanischen Künstler Akira Takayama,<br />

Thomas Irmer über die zehn Inszenierungen, die zum 55. Theatertreffen eingeladen sind<br />

Revolution nur ohne Brecht<br />

Die Wette wäre ohne Risiko<br />

gewesen: An Frank Castorfs<br />

Faust war für die siebenköpfige<br />

Jury kein Vorbeikommen<br />

als fundamentale Neudeutung<br />

im derzeit sogar auf der<br />

höchsten politischen Agenda stehenden<br />

Kolonialkontext. Wenn<br />

die Volksbühnen-Inszenierung<br />

im Mai im Haus der Berliner<br />

Festspiele gezeigt wird, wird die<br />

Welt noch einmal erkennen,<br />

was diesem Theater und seinen<br />

Schauspielern angetan wurde.<br />

Gleich daneben eine weitere<br />

Großproduktion, die ohne ihre<br />

Vorgeschichte in der Volksbühne<br />

nicht denkbar ist: das Nationaltheater<br />

Reinickendorf von Vegard<br />

Vinge und Ida Müller. Die bislang<br />

nur zehn Mal gezeigte Performance<br />

kreist in Variationen bis<br />

zu 12 Stunden lang um Ibsens<br />

Baumeister Solness, womit Vinge<br />

sich auch an Castorf abarbeitet.<br />

Die Zehner-Auswahl aus über<br />

400 Inszenierungen in rund 50<br />

Städten zeugt von unserer unruhigen<br />

Zeit mit bohrenden Fragen<br />

ohne Antwort. Da steht Elfriede<br />

Jelineks Trump-Stück Am Königsweg<br />

(Schauspielhaus Hamburg,<br />

Regie Falk Richter) neben Rückkehr<br />

nach Reims (Berliner Schaubühne),<br />

in der Thomas Ostermeier<br />

mit Didier Eribons Buch<br />

und Nina Hoss als Protagonistin<br />

nach dem Verdampfen sozialer<br />

Grundsätze der Linken fragt. Dieser<br />

Inszenierung steht wiederum<br />

ein anderes Erfahrungsbuch zur<br />

Seite. Die Einladung von Die Welt<br />

im Rücken von Thomas Melle in<br />

der Regie von Jan Bosse (Burgtheater<br />

Wien) meint auch Joachim<br />

Meyerhoff als höchst begnadeten<br />

Darsteller der bipolaren Krankheit<br />

des Autors.<br />

Und aus dem Klassiker-Repertoire?<br />

Ein Woyzeck, bei dem<br />

Ulrich Rasche am Theater Basel<br />

in einer radikal künstlichen<br />

Inszenierung Büchners Text zum<br />

Vorschein bringt. Zweimal geht<br />

es an die Antike: In der Odyssee<br />

(Thalia Theater Hamburg) begibt<br />

sich Antú Romero Nunes an den<br />

Anfang des Erzählens und füttert<br />

zugleich die postdramatische<br />

Theatermaschine. Diese eher verspielte<br />

Variante kontrastiert mit<br />

der feministischen Ernsthaftigkeit<br />

von BEUTE FRAUEN KRIEG in<br />

der Regie von Karin Henkel.<br />

Neu ist das Phänomen der<br />

Rekon struktion mit veränderten<br />

Vorzeichen, ein Verfahren, das<br />

in der bildenden Kunst wie auch<br />

im Tanz gängig ist und nun das<br />

die Gruppe Mobile Albania organisiert Interventionen<br />

im Stadtraum. Die zentralen<br />

Fragen des Festivals werden schon seit einiger<br />

Zeit heftig diskutiert: Welche Rolle<br />

können Geflüchtete im Gegenwartstheater<br />

spielen? Wie können Projekte auf Augenhöhe<br />

entstehen? Wo werden Flüchtlinge<br />

zum Material, zur Projektionsfläche verdammt?<br />

Wo verläuft die Grenze zwischen<br />

Kunst und Sozialarbeit?<br />

Die aus Syrien stammende und heute in<br />

Paris lebende Künstlerin Bissane Al Charif<br />

zeigt im Foyer ihre Videoinstallation<br />

Women’s Memories. Das Werk ist sehr sachlich,<br />

sehr unaufgeregt – obwohl die syrischen<br />

Frauen, die darin zur Wort kommen<br />

und ihre Fluchtgeschichten minutiös nacherzählen,<br />

von unerhörten Grausamkeiten<br />

berichten. Bissane Al Charif hat die Interviews<br />

mit den Frauen großteils bereits 2013<br />

und 2014 geführt, ihre Arbeitsweise entspricht<br />

viel eher der einer Journalistin als<br />

der einer Dramaturgin oder Regisseurin.<br />

Aus ihren Recherchen erschafft sie kein<br />

Stück, sondern eine Dokumentation.<br />

Thea tertreffen mit zwei bemerkenswerten<br />

Beispielen erreicht.<br />

Für Brechts Trommeln in der<br />

Nacht hat Christopher Rüping an<br />

den Münchner Kammerspielen<br />

Otto Falckenbergs Uraufführung<br />

von 1922 im Bühnenbild sowie<br />

in den expressionistischen Spielund<br />

Sprechhaltungen von damals<br />

rekonstruiert – Komik und Hommage<br />

zugleich. Wichtig dabei<br />

auch: Es gibt den Schluss des<br />

Stücks in zwei Versionen, die von<br />

Brecht und eine, in der sich der<br />

Held für die Revolution entscheidet.<br />

Auf jeden Fall bereitet Rüping<br />

mit dieser Volte schon mal die<br />

kommende Brecht-Freiheit mit<br />

vor. Ebenfalls an den Münchner<br />

Kammerspielen hat Anta Helena<br />

Recke eine Inszenierung von<br />

Mittelreich (nach dem Roman von<br />

Josef Bierbichler) als Kopie einer<br />

FOTO: JÖRG BAUMANN<br />

Stumm starren<br />

Geflüchtete<br />

die Besucher<br />

an, wirken<br />

ausgestellt wie<br />

Zootiere<br />

Mit viel Wucht und großer Geste arbeitet<br />

hingegen der südafrikanische Regisseur<br />

Brett Bailey. Sanctuary hat er seine Inszenierung<br />

getauft. Es ist die Weiterentwicklung<br />

einer Installation, die der Künstler<br />

bereits in Athen, auf Lesbos und im vergangenen<br />

Jahr in Hamburg beim Festival Theater<br />

der Welt gezeigt hat. Bailey hat dafür<br />

eine große Halle am Stadtrand von Frankfurt<br />

in ein Labyrinth verwandelt, hat aus<br />

viel schwarzem Stoff und Nato-Stacheldraht<br />

einen eindrucksvoll-beängstigenden<br />

Parcours erschaffen. Einzeln werden die<br />

Besucher in dieses Anti-Paradies eingelassen.<br />

Auf der ersten Station bekommen sie<br />

noch postkartenkitschige Europa-Impressionen<br />

– das Brandenburger Tor, das idyllische<br />

Vernazza an der ligurischen Küste,<br />

österreichische Wiesen – vorgeführt, doch<br />

je weiter sie in Baileys Irrgärten vordrängen,<br />

umso bedrückender werden die Szenen.<br />

Auf weißen Zetteln, mit roter Schnur<br />

verbunden, stehen die Namen von Geflüchteten<br />

und die typischen Stationen ihrer<br />

Wege: Istanbul, die serbische Grenze,<br />

Sofia, der „Dschungel“ von Calais. Drei Jahre<br />

lang hat der Südafrikaner Bailey auf den<br />

Flüchtlingsrouten und in den Camps für<br />

seine Installation recherchiert.<br />

Auch seine Darsteller sind Geflüchtete<br />

oder Aktivisten. Die Figuren aber, die sie<br />

repräsentieren, sind nicht sie selbst, sondern<br />

fiktiv. Man stößt auf eine Frau, die<br />

sich prostituiert, um die Schulden bei den<br />

Schleppern zu begleichen, man sieht einen<br />

Mann in Abschiebehaft, man erblickt eine<br />

griesgrämige Alte mit Strickzeug auf dem<br />

Sofa, auf ihrem Fernseher erscheint das<br />

Konterfei von Marine Le Pen. Der Theatermacher<br />

inszeniert all diese Figuren als Tableaux<br />

vivants. Sie bleiben stumm, sie starren<br />

die Besucher an, sie wirken ausgestellt<br />

wie Zootiere. Es fällt schwer, ihre fordernden<br />

Blicke zu erwidern, genauso schwer<br />

fällt es, diesen Blicken auszuweichen.<br />

Baileys Installation baut darauf, dass<br />

man sich in ihr unwohl fühlt, Europa zeichnet<br />

der Regisseur als unbarmherzigen Ort.<br />

Sanctuary wirkt dabei plakativ, man fühlt<br />

sich wie von einer Moralkeule erschlagen,<br />

die Inszenierung ist alles andere als subtil.<br />

Vielleicht aber, denkt man, ist es ja genau<br />

das, was gerade jetzt benötigt wird: ein<br />

Theater, das den Ist-Zustand schonungslos<br />

nachzeichnet, das angreift, das aus seinem<br />

aktivistischen Impetus kein Geheimnis<br />

macht.<br />

Displacements. Andere Erzählungen von<br />

Flucht, Migration und Stadt, Künstlerhaus<br />

Mousonturm, Frankfurt am Main, bis 4. Februar<br />

früheren Inszenierung mit<br />

schwarzen Schauspielern angelegt,<br />

auch um die Normen des<br />

Theaterbetriebs mit seinem eigenen<br />

Rezeptionsverhalten infrage<br />

zu stellen (siehe der <strong>Freitag</strong><br />

41/2017). Wenn man will, kann<br />

man das sogar mit dem kolonialen<br />

Castorf-Faust in Verbindung<br />

bringen und das Ganze als Theatergeschichte<br />

heutigen Bewusstseins<br />

lesen. Dazu passt die Mitteilung<br />

von Festspiele-Chef Thomas<br />

Oberender, dass sich zum<br />

Treffen im Mai so viele Chinesen<br />

akkreditieren wollen wie nie.<br />

Vielleicht wollte er auch einfach<br />

nur sagen, dass es wieder knapp<br />

wird mit den Karten.<br />

Das 55. Theatertreffen findet vom<br />

4. bis 21. Mai in Berlin statt


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Kultur<br />

15<br />

Für den italienischen Philosophen<br />

und Medientheoretiker<br />

Franco<br />

Berardi ist das Jahr 1977<br />

ein epochaler Wendepunkt,<br />

der das Ende der Moderne,<br />

den Beginn der Postmoderne und<br />

einer neoliberalen Sozialphilosophie<br />

markiert. In dem Fotoband<br />

Malgrado voi über die sozialen<br />

Kämpfe in Bologna plädierte er<br />

schon damals für die Erkundung<br />

der neuen Verbindungen zwischen<br />

Wissen, Technologie und<br />

Arbeit. Um soziale Autonomie<br />

Franco „Bifo“ Berardi, 68,<br />

studierte Ästhetik an<br />

der Universität Bologna und<br />

schloss sich 1969 der<br />

außerparlamentarischen<br />

Potere Operaio an. Er ist<br />

Mitgründer von Radio Alice,<br />

dem ersten freien Radio in<br />

Italien. Im Mai erscheint sein<br />

neues Buch Die Seele bei<br />

der Arbeit bei Matthes & Seitz<br />

aufzubauen, schrieb er, sei ein<br />

Verständnis der ökonomischen<br />

Entwicklungen und der Mikroelektronik<br />

nötig. Gut 40 Jahre später<br />

wird Berardi nicht müde, zu<br />

kritisieren, dass wir die Potenziale<br />

neuer Technologien längst nicht<br />

ausschöpfen, solange diese den<br />

Zweckvorstellungen des Kapitals<br />

unterworfen sind.<br />

der <strong>Freitag</strong>: Herr Berardi, Sie<br />

waren während der Arbeitskämpfe,<br />

die in Italien 1969 begannen,<br />

Mitglied von Potere Operaio. Für<br />

die außerparlamentarische Linke<br />

war schon damals das Verhältnis<br />

von Arbeit und Technologie<br />

zen tral. Wie sehen Sie vor diesem<br />

Hintergrund die aktuellen Entwicklungen?<br />

Franco Berardi: Wichtig ist<br />

dabei der Bezug auf den Marx des<br />

Maschinenfragments aus den<br />

Grundrissen der Politik der Kritischen<br />

Ökonomie. Uns interessierte<br />

die technologische Frage als Voraussetzung<br />

für die Verweigerung<br />

der Arbeit. Wenn einer fragt „Was<br />

ist der tiefe Sinn all dessen, was in<br />

der Welt zwischen 1968 und 1977<br />

passierte?“, dann würde ich antworten:<br />

dass einer Minderheit bewusst<br />

geworden ist, dass sich der Kommunismus<br />

erst durch die Befreiung<br />

von der Arbeit vollendet. Aber<br />

wir waren nicht in der Lage, das<br />

in eine echte Bewegung zu überführen,<br />

weil Parteien wie die italienische<br />

kommunistische Partei<br />

und die deutsche Sozialdemokratie,<br />

ja überhaupt die Linke allgemein<br />

daran festhielt, den Arbeitsplatz<br />

zu verteidigen. Eben weil<br />

die alte Arbeiterbewegung nicht<br />

das Maschinenfragment las und<br />

nicht fähig war, die junge studentische<br />

Revolte mit dem möglichen<br />

Befreiungsprozess von der Lohnarbeit<br />

zu verbinden. Dieses Problem<br />

bleibt heute mehr denn je bestehen.<br />

Die technologische Entwicklung<br />

hat uns nicht von der Arbeit<br />

befreit. Im Gegenteil, wir sind<br />

gestresster und prekärer als zuvor.<br />

Genau, denn die Arbeitsbedingungen<br />

haben sich verschlechtert.<br />

Der Lohn ist geringer und die<br />

Prekarität gestiegen. Und wir haben<br />

Angst, dass die Roboter uns die<br />

Arbeit wegnehmen. Das Problem<br />

steckt im Lohn, in den Bedingungen<br />

der Entlohnung. Wir müssen<br />

die Voraussetzungen dafür schaf­<br />

Technologische Bedingung für einen Ausbruch ist hier die Klinke. Aufs Handy gucken geht aber auch<br />

„Unser<br />

Hirn leidet“<br />

Im Gespräch Der Philosoph Franco Berardi erklärt,<br />

warum wir uns von der Arbeit befreien müssen und<br />

weshalb die Zeit im Cyberspace aus dem Takt ist<br />

fen, dass wir weniger in kollektiven<br />

Zusammenhängen arbeiten<br />

müssen und allen eine Form der<br />

Grundsicherung, eine ökonomische<br />

Form des Überlebens, garantiert<br />

wird.<br />

In Deutschland wird das Grundeinkommen<br />

kontrovers diskutiert.<br />

Führende Gewerkschafter<br />

sind eher dagegen.<br />

Ja klar, das kann ich mir schon denken,<br />

weil es ihre Macht angreift.<br />

Die Macht der Gewerkschaften<br />

basiert auf dem Unterschied zwischen<br />

jenen, die arbeiten, und<br />

denen, die nicht arbeiten. Meiner<br />

Meinung nach ist das vor allem<br />

eine kulturelle Schlacht. Verweigerung<br />

der Lohnarbeit heißt aber<br />

nicht, nichts zu tun. Es bedeutet,<br />

jene Formen der Betätigungen<br />

maximal zu entwickeln, die nicht<br />

auf den Lohn zu reduzieren<br />

sind. Die Sorge oder Bildung sind<br />

im Wesentlichen freudvolle Tätigkeiten,<br />

die der Kapitalismus in entlohnte<br />

Leistungen verwandelt hat.<br />

In Ihrem Buch „Aufstand der<br />

Emotionen“ beschreiben Sie eine<br />

neue „Semisphäre“. Das erinnert<br />

an die alten feministischen Theorien<br />

zur Rolle der Reproduktionsarbeit,<br />

die Gebrauchswert<br />

schafft, aber keinen Tauschwert<br />

hat. Besteht da eine Analogie?<br />

„Die Linke<br />

kämpft stets<br />

für die<br />

Lohnarbeit,<br />

das ist<br />

das Problem“<br />

FOTO: JENS GYARMATY<br />

Ja, absolut. Dem industriellen<br />

Kapitalismus gelingt es, Arbeit zu<br />

semiotisieren, die in Zeiteinheiten<br />

quantifizierbar ist. Nehmen Sie<br />

etwa die Muskelarbeit der Arme.<br />

Welche Arbeit in einer Stunde verrichtet<br />

werden kann, lässt sich<br />

bemessen. Wenn es aber darum<br />

geht, die Arbeit zu definieren, die<br />

es braucht, um ein Kind zu erziehen,<br />

einen alten Menschen zu pflegen<br />

oder eine geniale, architektonische<br />

Idee zu haben, wie macht<br />

man das? Benötigt man eine<br />

Minute oder zehn Jahre dafür? Das<br />

ist eine Tätigkeit, die nicht messbar<br />

ist. Wir haben die Sphäre der<br />

quantifizierbaren industriellen<br />

Arbeit verlassen. Daher funktioniert<br />

die kapitalistische Semiotisierung,<br />

die in Lohn übersetzt, nicht mehr.<br />

Das Allerwichtigste für mich heutzutage<br />

ist die Anerkennung des<br />

kognitiven und affektiven Reichtums<br />

menschlicher Tätigkeit.<br />

Diese ist nicht mehr auf Kapitalformen<br />

zu reduzieren.<br />

Wird das Kapital nicht irgendwann<br />

auch in der Lage sein, diesen<br />

Reichtum verwertbar zu<br />

machen?<br />

Dem Kapital gelingt es, kognitive<br />

und affektive Tätigkeit in einen<br />

ökonomischen Wert zu verwandeln<br />

und erlaubt ihr nicht, ihr volles<br />

Potenzial zu verwirklichen.<br />

Wenn das Kapital eine Tätigkeit<br />

ausbeuten will, die sich nicht auf<br />

das Modell der Lohnarbeit reduzieren<br />

lässt, muss es diese pervertieren.<br />

Das Kapital unterwirft sich<br />

die kognitive Arbeit durch eine<br />

Veränderung des Zwecks. Der<br />

eigentliche Zweck der kognitiven<br />

Arbeit wäre es, das menschliche<br />

Leben zu bereichern. Die Funktion,<br />

die das Kapital der kognitiven Arbeit<br />

zuweist, lässt es verkümmern.<br />

Müssen wir also die körperliche<br />

und mentale Ebene in die Erforschung<br />

der digitalen Entwicklung<br />

einschließen?<br />

Das Kapital braucht das kollektive<br />

Gehirn bei der Arbeit. Unser Hirn<br />

bereichert sich stetig, während es<br />

vom Körper zunehmend entbunden<br />

ist, weshalb es zu einem leidenden<br />

Hirn wird. Die Folge sind Einsamkeit,<br />

Depression, Angstzustände,<br />

eine steigende Zahl an<br />

Selbstmorden. Umgekehrt ist der<br />

Körper zunehmend vom Gehirn<br />

getrennt, weshalb er ausflippt, ein<br />

dementer Körper, ein rassistischer<br />

Körper, ein faschistischer Körper,<br />

ein sexistischer Körper wird. Ein<br />

Körper, der nicht mehr in der Lage<br />

ist, sich intellektuell und affektiv<br />

mit anderen Körpern zu verbinden.<br />

Er reagiert auf Grundlage der<br />

einzigen Sache, die ihm geblieben<br />

ist: der Identität. Die Hautfarbe zu<br />

erkennen, die Sexualität zu erkennen<br />

und vieles mehr. Ich glaube,<br />

der gegenwärtige Identitarismus<br />

ist ein Resultat dieser Demenz.<br />

Was heißt das politisch?<br />

Die kognitive Arbeit hat die technologischen<br />

Bedingungen für die<br />

Befreiung geschaffen. Anstatt<br />

einer Befreiung schafft der Kapitalismus<br />

aber eine Trennung zwischen<br />

der Körperlichkeit der Masse.<br />

Sieben Milliarden Körper, die<br />

immer verzweifelter sind, immer<br />

einsamer und immer enthirnter.<br />

Andererseits gibt es ein kollektives<br />

Gehirn, das perfekt funktioniert,<br />

jedoch gegen den Menschen.<br />

Für den gegenwärtigen Cyberspace<br />

scheinen Körper, Zeit,<br />

Raum und soziale Verhältnisse<br />

hingegen irrelevant zu sein.<br />

Nun ja, du kannst Amphetamine<br />

nehmen, um schneller zu laufen,<br />

aber du kannst die Schnelligkeit<br />

des Cyberspace nicht einholen.<br />

Daher befindet sich die Cybertime<br />

ständig in einem Zustand des<br />

Nicht-in-Takt-Seins. Das bewirkt<br />

ein konstantes Angstgefühl. Meiner<br />

Ansicht nach ist es genau dieses<br />

Leiden, das zu Energie werden und<br />

Neues in Bewegung setzen kann.<br />

Die Lebendigkeit von Bewegungen<br />

war immer ein Ergebnis des<br />

Zusammenseins. Wie kann dieser<br />

Entwicklung politisch begegnet<br />

werden, wenn körperlicher Kontakt<br />

immer weniger erlebt wird?<br />

Mit Occupy haben wir 2011 gesehen,<br />

dass die Frage um die Körper<br />

zentral wird, als etwas, das dir<br />

entflieht. Was war diese Bewegung,<br />

die nicht gewonnen, die überall<br />

verloren hat? Der tiefere Sinn war<br />

das Anliegen, den kollektiven Körper<br />

wiederzubeleben, der gelähmt<br />

ist. Occupy war der Beginn eines<br />

neuen Zyklus, der vielleicht 50 Jah­<br />

re andauern wird und der die neue<br />

Frage der Wiederaktivierung<br />

des erotischen Körpers des „General<br />

Intellect“ hervorbringt.<br />

In Deutschland würde die Kritik<br />

folgen, solch eine Politik sei identitär,<br />

da der Kampf um Körper<br />

kein sozialer, sondern ein identitärer<br />

Kampf sei.<br />

„Sieben<br />

Milliarden<br />

Körper<br />

verzweifeln<br />

jeden<br />

Tag mehr“<br />

Das verstehe ich nicht, denn Identitätspolitiken<br />

sind wichtig. Gerade<br />

weil wir Körper ohne universalistische<br />

Bezugspunkte sind, erkennen<br />

wir uns als Identitäten: Weiß<br />

gegen Schwarz, die Frau als identitäre<br />

Figur gegen den Mann als<br />

identitäre Figur. Mir scheint, dass<br />

wir nur aus dem Identitarismus<br />

herauskommen, wenn wir die<br />

Beziehung zwischen Körper und<br />

Gehirn, also zwischen der affektiven,<br />

gesellschaftlichen Dimension<br />

und jener der kognitiven Arbeit<br />

wieder in Beziehung setzen. Sich<br />

zum Körper zu bekennen, heißt<br />

nicht, die Identität des Körpers zu<br />

fordern.<br />

Wie aber ließe sich die Trennung<br />

von Gehirn und Körper überwinden?<br />

Der Kern ist die Marx’sche Idee des<br />

„General Intellect“. Er beschreibt<br />

etwas, das wir heute mit dem Internet<br />

kennen. Nämlich das Hirn,<br />

das sich über den gesamten Planeten<br />

verbinden und selbstverständlich<br />

interagieren kann. Die<br />

Programmierung der Technologie<br />

könnte neu ausgerichtet werden,<br />

wenn das Subjekt nicht das Finanzkapital,<br />

sondern die kollektive<br />

Leiblichkeit wäre.<br />

Sie rufen zur Benutzung der Ironie<br />

in der politischen Praxis auf.<br />

Manchmal haben wir den Eindruck,<br />

dass der Kapitalismus gewonnen<br />

hat, weil er sich unsere Sprache<br />

einverleibt hat. Ironie hingegen ist<br />

die unendliche Doppeldeutigkeit<br />

von Sprache.<br />

Was bedeutet das im Hinblick auf<br />

die Digitalisierung?<br />

Die kräftigsten Formen der politischen<br />

Beziehung sind jene, die sich<br />

in einer Neukodierung von Zeichen<br />

ausdrücken. Das ist Wikileaks,<br />

das sind die tausend Figuren aus<br />

Hamburg, die bleich und grau<br />

angemalt durch die Stadt gehen<br />

und es schaffen, etwas zu kommunizieren,<br />

das alle sehen. Die Aufgabe<br />

der Bewegungen ist das singuläre,<br />

individuelle Begehren, aufzuschnappen<br />

und auszubrechen.<br />

Die technischen Modalitäten, um<br />

aus dieser Hölle auszubrechen,<br />

werden zu schaffen sein. Wissentlich,<br />

dass wir für die nächsten zehn<br />

Jahre in einer Falle stecken. Ich<br />

glaube nicht, dass wir schnell da<br />

rauskommen. Wir müssen dranbleiben,<br />

den erotischen Körper der<br />

kognitiven Arbeit wiederzubeleben,<br />

um das Potenzial zu befreien,<br />

das die Technik bereithält.<br />

Das Gespräch führte Anna Stiede


16 Literatur<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Hermines Welt<br />

Potter Die British Library<br />

korrigiert einige hartnäckige<br />

Mythen über J.K. Rowling,<br />

die erfolgreichste Autorin, die<br />

die Welt je gesehen hat<br />

■■Teresa Mallt<br />

Als J.K. Rowling begann, den<br />

ersten Harry Potter zu schreiben,<br />

lagen bereits Jahre der<br />

Arbeit hinter ihr. Fünf Jahre<br />

hatte sie sich Zeit genommen,<br />

um die Welt und Geschichte Harry Potters<br />

akribisch vorzubereiten. Dann, nachdem<br />

sie alles entworfen hatte, die Handlung bis<br />

zum siebten und letzten Band, begann sie<br />

den Stein der Weisen. Sie verfasste außerdem<br />

das letzte Kapitel der Serie und<br />

schloss es weg. Die Komplexität Harry Potters<br />

kann sich nicht zuletzt aus dieser Systematik<br />

entfalten – und mit ihr sein gigantischer<br />

Erfolg: 450 Millionen verkaufte Bücher,<br />

Übersetzungen in 79 Sprachen, 8<br />

Blockbuster, die größte (und treueste) Fangemeinde<br />

überhaupt. Es ist das erfolgreichste<br />

Buch aller Zeiten. Seit bald 30 Jahren<br />

arbeitet Rowling nun daran. Rowling<br />

versteht sich nicht primär als Autorin mit<br />

der großen Fantasie. Eigentlich missfällt<br />

ihr dieses Bild sogar, das wohl am prominentesten<br />

von ihr gezeichnet wurde.<br />

Die Vorbereitung: fünf Jahre<br />

Kommt aus der<br />

Asche. Bringt auch<br />

ganz schön viel<br />

Asche: In London<br />

boomt die Magie<br />

Da wird eine aschenputtelartige Geschichte<br />

von einer ehemals armen, unglücklichen<br />

Frau, die zu ihrem Glück aber begabt ist<br />

mit starker Einbildungskraft, erzählt. Von<br />

einer alleinerziehenden Mutter, die, wenn<br />

ihr Baby schlief, in Cafés (weil beheizt) eilte<br />

und dort auf Servietten (weil kostenlos)<br />

schrieb. Sie musste nie auf Servietten<br />

schrei ben, hat sie längst versucht klarzustellen.<br />

Außerdem sei sie nicht so blöd,<br />

mitten im Winter eine unbeheizte Wohnung<br />

in Edinburgh zu mieten. Sozialhilfeempfängerin<br />

war sie auch bloß einige Monate<br />

lang. Und so weiter – die Geschichte<br />

Rowlings besteht aus einer ganzen Reihe<br />

von vermarktbaren Details, die mit ihr als<br />

Schriftstellerin nichts zu tun haben.<br />

In der ersten TV-Dokumentation über sie<br />

von 2001 wollte sie stattdessen über die Arbeit<br />

an Harry Potter sprechen. Man sieht<br />

sie auf dem Boden ihres Arbeitszimmers<br />

sitzen, um sie herum liegen überall eng beschriebene<br />

Blätter Papier, Notizbücher,<br />

Zeichnungen von Szenen und Figuren. Im<br />

Durchgang zu einem weiteren Zimmer stapeln<br />

sich weitere Kisten, im Hintergrund<br />

stehen noch ein paar. Rowling spricht darüber,<br />

wie es zu Beginn des Schreibprozesses<br />

darum ging, diese gewaltige Ansammlung<br />

an Material zu verdichten. Daraus<br />

Stück für Stück ein Buch „herauszumeißeln“.<br />

Was stellt sie selbst für Erwartungen<br />

an einen Autor? Grundsätzlich, dass er allwissender<br />

Gott seiner Schöpfung ist. Vertraut<br />

ist mit seiner Welt und ihrer internen<br />

Logik weit über das hinaus, was letztlich im<br />

Buch stehen wird. Wenn es dabei um ein so<br />

gewaltiges Epos wie Harry Potter geht, ist<br />

das ein hoher Anspruch. Rowling wird ihm<br />

ganz und gar gerecht: Verwoben mit dem<br />

Fantasy-Stoff ziehen sich Rückgriffe auf<br />

klassische Literatur, Mythologie, Wissenschaft,<br />

Folklore und Historie wie feine Fäden<br />

durch die Bücher.<br />

Von der British Library in London wurden<br />

sie nun in etwas hautnah Erlebbares<br />

verwandelt: A History of Magic stellt die<br />

Recherchen und Inspirationen Rowlings<br />

aus. Organisiert nach den Fächern, die in<br />

Hogwarts unterrichtet werden, lässt sich<br />

hier von Alchemie zu Astronomie gehen,<br />

von Kräuterkunde zu Geschichte von Fabelwesen,<br />

Hexen und Okkultismus, und<br />

immer weiter. Man erfährt: Informationen<br />

über Pflanzen und Tränke bezog Rowling<br />

unter anderem aus The English Physician,<br />

dem ersten Medizinbuch Nordamerikas<br />

von 1652 (dessen Autor wurde später der<br />

Hexerei angeklagt). Hagrid steht, klar, in<br />

Damit das mal<br />

klar ist: Sie<br />

musste niemals<br />

Servietten<br />

vollschreiben<br />

der langen Tradition des Giganten mit riesigem<br />

Herzen. Nicholas Flamel, der Macher<br />

des Steins der Weisen, beruht auf einem<br />

gewissen Nicholas Flamel, der 1418 in Paris<br />

verstarb. Hinter beinahe allen Namen, Gegenständen<br />

und Pflanzen gibt es eine alte<br />

Tradition, einen Jux, eine Heldensage, eine<br />

historische Figur zu entdecken. Daneben<br />

tauchen auch viele der schon erwähnten<br />

Zeichnungen und Zettel wieder auf: handschriftliche<br />

Manuskripte, organisatorische<br />

Notizen und detaillierte Plotpläne, auf denen<br />

die einzelnen Tage im Buch ausgeführt<br />

werden. So lässt sich in der Ausstellung<br />

F O T O : Z U M A P R E S S / I M A G O<br />

eine Seite der Harry-Potter-Autorin in Augenschein<br />

nehmen, die sonst nahezu unsichtbar<br />

bleibt – zugunsten des Märchens<br />

von der frierenden, alleinerziehenden<br />

Mutter Joanne Rowling – und am Ende<br />

fragt man sich, warum das eigentlich so ist.<br />

Je mehr man über andere Fantasy-Autoren<br />

liest, umso drängender wird die Frage. Ob<br />

es einem Joseph K. Rowling vielleicht anders<br />

ergehen würde.<br />

Hätte man sich längst fasziniert Joseph<br />

K. Rowlings Denken zugewendet? So wie<br />

dem des ebenfalls britischen Fantasy-Autors<br />

Philip Pullman? Sich längst aufgemacht,<br />

den Geist dieses Großmeisters zu<br />

ergründen, was ihn umtreibt, von welchen<br />

politischen Ansichten und metaphysischen<br />

Wahrheiten sein Werk durchwirkt<br />

ist? Rowling jedenfalls wird meist zu ihrer<br />

Familie befragt, ihrer Kindheit, ihren Fans,<br />

was sie davon hält, reicher als die Queen zu<br />

sein. Und dann ist da immer diese Frage<br />

nach den Schuhen. Bei Pullman würden<br />

solche Fragen statt als Interesse an seiner<br />

Arbeit wohl als beleidigend durchgehen.<br />

Eine Frau fragt<br />

man nach<br />

Kindheit, Fans,<br />

Familie –<br />

und Schuhen<br />

Popularität ist die eine Sache, als kultureller<br />

Beitrag ernst genommen zu werden,<br />

eine andere. Dieses Problem ist natürlich<br />

alt: Frauen schreiben Bücher, Frauen verkaufen<br />

Bücher. Aber was die Anerkennung<br />

angeht, messbar etwa an Literaturkritik<br />

und, noch besser, in Literaturpreisen, da<br />

dominieren Männer – auch aktuell noch.<br />

Wenn ein Mann Fantasy schreibt, ist es<br />

ein episches Triologie-Meisterwerk über<br />

den Kampf gegen Ideologie und Totalitarismus.<br />

Wenn eine Frau Fantasy schreibt, ist<br />

es eine magische Romanreihe über den<br />

Zauberer-Jungen Harry. Schön, muss man<br />

aber nicht so ernst nehmen. (Die Ausnahme<br />

bildet die berüchtigte Ex-Chef-Kritikerin<br />

der New York Times, Michiko Kakutani,<br />

die Harry Potter durchaus ernst nahm).<br />

Unterschieden werden sollte einzig nach<br />

gutem und schlechtem Schreiben, nicht<br />

nach Geschlecht. Aber gelesen wird noch<br />

immer, mit Vorstellungen davon hinter<br />

den Brillengläsern, was vermeintlich ureigenes<br />

Metier der Autorin, was Metier des<br />

Autors ist. Metiers von Frauen sind dabei<br />

tendenziell Beziehungen, das Psychologische,<br />

Familiäre, der kleinere Rahmen. Vertrautes<br />

männliches Metier ist der Krieg, die<br />

Politik, Macht, der große Rahmen. Ja, das<br />

ist sehr antiquiert und absurd. Und gefiltert<br />

durch diese antiquierten Stereotype<br />

wird das Buch des männlichen Autors anders<br />

gelesen als das einer Autorin. Was sich<br />

wiederum darin widerspiegelt, was in diesen<br />

Büchern gesehen wird, auch oder insbesondere<br />

bei fantastischer Literatur.<br />

Man fragt sich, wie anders Rowling hätte<br />

porträtiert werden können. Als der Typ des<br />

grandios-obsessiven Autors? Man wäre ihr<br />

damit gerechter geworden. Oder schlicht<br />

als Nerd? Die Figur der Hermine basiert<br />

nicht umsonst gänzlich auf der jungen<br />

Rowling. Und eine älter gewordene Hermine<br />

könnte exakt so aussehen wie Rowling<br />

in ihrem Arbeitszimmer. Nichtsdestotrotz,<br />

Tolkiens Herr der Ringe wurde anfangs als<br />

„Mischung aus Richard Wagner und Pu der<br />

Bär“ verspottet. Abwarten also, was die literarische<br />

Achtung vor Rowling angeht. Die<br />

Ausstellung in der British Library wenigstens<br />

würde einer Hermine schon einmal<br />

gefallen.<br />

Harry Potter. A History of Magic The British<br />

Library, London, noch bis zum 28. Februar 2018<br />

Huch! Schluss?<br />

Lyrik Wenn Marco Tschirpke singt oder einen Witz erzählt, kann alles ganz schnell vorbei sein<br />

■■Ben Mendelsohn<br />

Trifft man ihn abseits seiner Auftritte,<br />

hat man einen aufgeräumten, ruhigen<br />

Zeitgenossen vor sich. Auf der<br />

Bühne ist Marco Tschirpke ein Ausbund an<br />

Fahrigkeit, gibt sich spontan bis planlos –<br />

alles nur Show. Diese Show zieht Tschirpke<br />

als Klavierkabarettist seit 15 Jahren ab. Und<br />

obwohl es viele Pianisten gibt in der Kabarettszene:<br />

Tschirpkes Werk sticht hervor<br />

und sucht bislang seinesgleichen.<br />

Denn der Musiker und Lyriker legt größten<br />

Wert darauf, sich in aller Kürze auszudrücken.<br />

Deshalb dauern seine „Lapsuslieder“,<br />

wie er diese selbst geschaffene Kurzgattung<br />

nennt, in den seltensten Fällen<br />

länger als eine Minute. Das gilt auch für<br />

die Gedichte Tschirpkes, die Mitte Januar<br />

im Band Empirisch belegte Brötchen erschienen<br />

sind. Es ist nach dem Spiegel-<br />

Bestseller Frühling, Sommer, Herbst und<br />

Günther (2015) seine zweite Gedichtsammlung,<br />

die bei den Ullstein-Buchverlagen<br />

erscheint. Bücher bei Verlagen zu<br />

veröffentlichen, bedeute immer, Kompromisse<br />

eingehen zu müssen, gibt der<br />

Künstler zu. Er müsse sich erst einmal daran<br />

gewöhnen, sie nicht ganz alleine zu<br />

machen. Bei seinen ersten Lyrikbänden<br />

hatte er noch vom Artwork bis zur letzten<br />

Abnahme alles selbst organisiert.<br />

Tschirpkes Gedichte sind prägnant, pointiert<br />

und gerne stichelnd, ohne dabei<br />

grundlos fies zu sein. Er beschreibt versiert<br />

vermeintlich uninteressante Geschehnisse<br />

des Alltags, die er witzelnd kommentiert<br />

und ad absurdum führt. Und vereinzelt<br />

streut der Autor auch berührend schöne<br />

Gedichte ein. Zum Beispiel beschreibt<br />

Tschirpke, wie er mit jedem Ärger, den er<br />

hat, im Park Gassi geht – um den Ärger<br />

dort von der Leine zu lassen und alleine zurückzukehren.<br />

Daneben versammelt der<br />

Band auch bissige Kommentare und Sehr-<br />

kurzgeschichten. Tschirpke, 1975 in Rathenow<br />

geboren, rechnet darin unter anderem<br />

mit der Generation der 68er ab: „Sie wollten<br />

die Vereinigung aller Proletarier. Sie<br />

erreichten die Mülltrennung.“ Daneben<br />

stehen Gedichte zum alten China oder bislang<br />

eher unbeleuchteten historischen Ereignissen.<br />

Sein Verständnis von und großes<br />

Interesse an Geschichte sind auch im<br />

neuen Lyrikband unverkennbar. Doch insgesamt<br />

überzeugt der Band nicht nur<br />

durch den Tschirpke-eigenen Tonfall, der<br />

läppisch und bildungssprachlich zugleich<br />

wirkt. Es wird zudem eine thematische<br />

Bandbreite bespielt, die die jedes Generalisten<br />

in einer Lokalredaktion übersteigt:<br />

Tschirpke liefert Gedichte über Tiere<br />

(und tierähnliches Verhalten bei Menschen),<br />

„Brut und Pflege“, Natur, Politik<br />

und natürlich über die Kunst – sein Herzensthema.<br />

Allein Tschirpkes Texte und<br />

Lieder über die Malerei könnten über eine<br />

Stunde Programm füllen. Wer Marco<br />

Tschirpke auf der Bühne erlebt, merkt spätestens<br />

nach zehn Minuten, dass es ihm<br />

darum geht, mit den Erwartungen seines<br />

Publikums zu spielen und mit diesen zu<br />

brechen. Er legt ein irres Tempo hin, wenn<br />

er in die Tasten des Klaviers haut – um<br />

dann ruhig zu warten, nachdem sein Kurzlied<br />

ein überraschend abruptes Ende genommen<br />

hat.<br />

Mal flach, aber mit Steigung<br />

Marco Tschirpke bespielt kleine Kabarettbühnen<br />

genauso wie den Quatsch Comedy<br />

Club, er hat großen Respekt vor der so oft<br />

kritisierten Comedy. Schließlich kann er<br />

selbst auch mal flache Witze reißen und<br />

bastelt manches Gedicht scheinbar nur,<br />

um es im letzten Vers durch ein Wortspiel<br />

in einen Kalauer zu verwandeln. Einige dieser<br />

Gags haben es jetzt auch in den neuen<br />

Lyrikband Empirisch belegte Brötchen geschafft.<br />

Das gleichnamige Kabarettpro-<br />

gramm hat an diesem Wochenende in Berlin<br />

Premiere. Mitte des Monats erhält<br />

Tschirpke dann in Mainz den Deutschen<br />

Kleinkunstpreis in der Sparte „Chanson/<br />

Lied/ Musik“.<br />

Manchmal macht der Brandenburger auf<br />

der Bühne so verstiegene und um drei<br />

Ecken gedachte Witze, dass die meisten Zuschauer<br />

im Saal erst mal verwirrt zurückbleiben.<br />

Dann sagt Marco Tschirpke selbstironisch,<br />

er mache „gerne eine Handvoll<br />

Scherze nur für mich.“ Dabei guckt er verschmitzt<br />

in den dunklen Raum, so als mache<br />

ihm ein stilles Publikum fast so viel<br />

Spaß wie ein laut lachendes. Und dann<br />

geht der Abend weiter. Wie üblich bei<br />

Tschirpke: in einem rasanten Tempo.<br />

Empirisch belegte Brötchen:<br />

Gedichte und Geschichten (in überwiegend<br />

komischer Manier) Marco Tschirpke<br />

Ullstein Taschenbuch € 21,99


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Literatur 17<br />

■■Mladen Gladić<br />

Der Schriftsteller und FAZ-Theaterkritiker<br />

Simon Strauß steht<br />

im Casino des Berliner Abgeordnetenhauses<br />

und sagt,<br />

dass eigentlich alles gesagt sei<br />

in der Debatte um seine Person. Strauß<br />

meint den Streit darüber, ob er, Sohn der<br />

Journalistin Manuela Reichart und des<br />

Büchner-Preisträgers Botho Strauß,<br />

„rechts“ sei. Ob er „im Gewand der Romantik<br />

Pamphlete für die AfD“ schreibe.<br />

So stand es jedenfalls in einem Artikel,<br />

den Alem Grabovac in der taz veröffentlichte:<br />

Strauß stilisiere sich als Nachfahre<br />

Ernst Jüngers, habe die AfD dafür gelobt,<br />

Merkels Flüchtlingspolitik „vernünftig“ zu<br />

kritisieren und Künstler dafür gegeißelt,<br />

„nur noch jämmerliche Untergebene des<br />

Konsums und der Moralpolitik“ zu sein.<br />

Dabei habe er sich nicht nur auf die<br />

„rechtsradikale“ Zeitschrift Tumult berufen,<br />

er habe auch – in anderem Zusammenhang<br />

– den Neurechten Götz Kubitschek<br />

in den Salon, den er mit anderen in<br />

Berlin betrieb, eingeladen – kein Wunder,<br />

denn Strauß’ Ästhetik sei „die Verwirklichung<br />

der Kubitschek’schen Visionen“.<br />

Kein Tag ohne Wortmeldung<br />

Nichts ist zu blumig, als dass sich keine Debatte drumherumbasteln ließe<br />

Seitdem ist kein Tag ohne Wortmeldung in<br />

diesem Streit vergangen. Da sind die Stimmen,<br />

die die Vorwürfe teilen: Strauß gehöre<br />

zu jenen, „denen die AfD zwar zu vulgär<br />

ist, deren Anliegen aber scheinbar doch<br />

nicht so fern sind“, er träume von „Auswegen<br />

für den bedrohten Mann“, schrieb<br />

etwa Antonia Baum in der Zeit. Andere<br />

stellen sich vor Strauß, sprechen von „Hexenjagd“<br />

(Nora Bossong in der taz) oder<br />

„Rufmord“ (Ijoma Mangold in der Zeit).<br />

Und dann gibt es Stimmen, welche die Debatte<br />

für müßig halten.<br />

Ob überflüssig oder nicht, „Debatten“<br />

sind immer auch „Ausdruck des aktuellen<br />

Stands der Struktur von Öffentlichkeit“,<br />

wie die Merkur-Herausgeber Ekkehard<br />

Knoerer und Christian Demand einmal geschrieben<br />

haben. So gesehen, wundert<br />

dann schon, wie leichtfertig der Vorwurf,<br />

jemand sei ein Wegbereiter des Faschismus,<br />

über die Lippen geht. Es verwundert<br />

allerdings auch, dass einer recht still geblieben<br />

ist: Simon Strauß selbst. Abgesehen<br />

von einem offenen Brief an das besonders<br />

harsche Wetter-Magazin (ein Magazin<br />

für Text und Musik) auf Facebook, in dem<br />

er persönlicher Enttäuschung Ausdruck<br />

verlieh und die Kritiker etwas paternalistisch<br />

dafür tadelte, weder von Jünger noch<br />

von Romantik einen Schimmer zu haben,<br />

zog Strauß es vor, zu schweigen.<br />

Er wolle kein Interview geben, doch ich<br />

könne ihn bei den Jewish History Awards<br />

treffen, hatte mir Strauß nun auf eine Anfrage<br />

geschrieben. Die Auszeichnung, die<br />

eine amerikanische Stiftung an Deutsche<br />

vergibt, die sich um die Erinnerung an jüdisches<br />

Leben verdient gemacht haben, geht<br />

heute auch an die Joseph-Gruppe. Benannt<br />

ist sie nach dem Holocaust-Überlebenden<br />

Rolf Joseph. Den hatte Strauß noch zu<br />

Schulzeiten kennengelernt und mit Mitschülern<br />

sein Leben aufgeschrieben.<br />

Strauß spricht in seiner Preisrede souverän,<br />

wie einer, der Öffentlichkeit gewohnt<br />

ist. Er spricht von Lethe, dem Fluss des Vergessens<br />

in der griechischen Mythologie.<br />

Strauß ist promovierter Althistoriker. Er<br />

nennt Joseph seinen Großvater, sich und<br />

die Mitstreiter dessen Enkel. Keine Hollywoodproduktion,<br />

keine Seminarstunde<br />

werde einem den Holocaust vergegenwärtigen,<br />

sagt er, aber wer in der Erinnerung<br />

lebt, sei niemals tot. Der Preis wird von<br />

nun an zusammen in der FAZ ausgelobt,<br />

die besten Beiträge veröffentlicht.<br />

Er glaube, es sei falsch, die Rechten zu<br />

isolieren, nicht mit ihnen zu sprechen,<br />

denn das würde sie nur stärken, sagt<br />

Strauß später zu mir. Kubitschek nennt er<br />

nicht. Ich erwähne die Diskussionen um<br />

Mit Rechten reden, die Krawalle auf der<br />

Buchmesse, mein Befremden über die aggressive<br />

Ablehnung, die das Buch erfahren<br />

hat. Auf der Messe habe ich Strauß zuletzt<br />

getroffen, beim Empfang des Rowohlt-Verlags.<br />

Wir kennen uns: Im Frühjahr 2017 haben<br />

wir über Europa als Heimat diskutiert,<br />

bei einem Treffen der Gruppe Arbeit an<br />

Europa, auf einer Burg in Südthüringen.<br />

Strauß sagt, er müsse sich die Aufmerksamkeit,<br />

die ihm jetzt gezollt werde, erst<br />

verdienen. Erst einmal mehr schreiben.<br />

Die Denunziationen, wie er sie heute<br />

Abend noch zweimal nennen wird, dienten<br />

nur dazu, der Debatte einen „Dreh“ zu<br />

geben. Ich verstehe nicht gleich, frage<br />

nach. Der Faschismusvorwurf sei einfach<br />

nur eine weitere Drehung, sagt Strauß. Dafür<br />

sei das hier aber zu wichtig. Das meint<br />

die Erinnerungsarbeit, für die er gerade<br />

ausgezeichnet wurde.<br />

Was ihn wirklich interessiere sei, ob – frei<br />

nach Brecht – in finsteren Zeiten ein Gespräch<br />

über die blaue Blume tatsächlich<br />

ein Verbrechen sei – das hatte Das Wetter<br />

behauptet. Ob Kunst also eine Eigenlogik<br />

fernab des Politischen habe und ob es<br />

falsch sei, diese zu betonen. Er erwähnt einen<br />

Artikel von 2014: „Ich sehne mich nach<br />

Streit“ heißt er, das gelte immer noch. 2014<br />

war Strauß 26, noch nicht Redakteur und<br />

Sartre<br />

gegen Adorno,<br />

sage ich.<br />

Bohrer gegen<br />

Habermas,<br />

sagt Strauß<br />

Im heißen<br />

Brei<br />

Debatte Der Schriftsteller Simon Strauß steht unter Verdacht,<br />

ein Rechter zu sein. Wir haben bei ihm nachgefragt<br />

Autor. Jetzt ist in seinem „dreißigsten Jahr“,<br />

Romancier, Theaterkritiker. Die rechte Publizistin<br />

Ellen Kositza hat den Bogen von<br />

Strauß’ Sieben Nächten zu Bachmanns Erzählung<br />

von 1961 gespannt.<br />

Strauß sagt, er wolle ernste Auseinandersetzungen.<br />

„Auch über Männlichkeit?“, frage<br />

ich ihn, denke an Antonia Baum, die in<br />

ihrem „Contra“ in der Zeit zweimal<br />

schreibt, Strauß’ Alter Ego in Sieben Nächte<br />

esse Fleisch. Der Karnivore: kein Mann von<br />

heute. „Auch über Männlichkeit“, sagt<br />

Strauß. Aber er sei Theaterkritiker. Im Theater<br />

sei ihm aufgefallen, wie oft Kunst für<br />

moralische und politische Ziele verwertet<br />

werde. Ist man unschuldig, wo man etwas<br />

sagt? Strauß hätte nicht unbedingt Tumult<br />

zitieren müssen, hat Nora Bossong geschrieben.<br />

„Irony is over“<br />

Vielleicht ein Fehler, Adorno wäre besser<br />

gewesen, sagt Strauß jetzt. Er plane eine<br />

Podiumsveranstaltung mit einem Ästhetikphilosophen.<br />

Und vielleicht auch einem<br />

Verfechter politischer Literatur. Ende<br />

Februar, das hat Strauß’ Lektor beim Aufbau<br />

Verlag, Tom Müller, gerade angekündigt,<br />

werde es einen Abend zum Thema<br />

geben, wie politisch Literatur sein müsse.<br />

Ein junger Mann kommt auf uns zu,<br />

Strauß wird gebraucht, es wird gefilmt.<br />

Kurz scheint er zu überlegen, ob unser Gespräch<br />

hier schon beendet ist.<br />

Aber Strauß kommt wieder, wir spazieren<br />

durch die Gänge des Abgeordnetenhauses,<br />

an Gemälden, die Genscher oder<br />

Karajan zeigen, vorbei, sprechen, worüber<br />

Simon Strauß sprechen möchte, über den<br />

<br />

TEXT+KRITIK<br />

Die Zeitschrift für Literatur<br />

Zeitschrift für Literatur · Begründet von Heinz Ludwig Arnold · I/18<br />

217<br />

Navid Kermani<br />

ABB.: BARBARA REGINA DIETZSCH „GEFÜLLTE BLAUE HYAZINTHE MIT ROTEM KÄFER“; VOLKER-H. SCHNEIDER/KUPFERSTICHKABINETT/BPK<br />

alten Konflikt zwischen engagierter Literatur<br />

und autonomer Ästhetik. Sartre gegen<br />

Adorno, sage ich. Bohrer gegen Habermas,<br />

sagt Strauß. Was denn an Mallarmé rechts<br />

sei, will er wissen, und ich spekuliere, ob<br />

der Vorwurf des politischen Konservatismus,<br />

der Vertretern einer weltabgewandten<br />

Ästhetik gemacht werde, etwas mit Sippenhaft<br />

zu tun habe. Kurzes Aufflackern in<br />

Strauß’ Augen: Wahrscheinlich denkt er,<br />

dass ich jetzt über seinen Vater sprechen<br />

will. Will ich nicht – ich überlasse das Maxim<br />

Biller – und sage Stefan George.<br />

Was denn mit Beckett sei, fragt Strauß,<br />

den könne man doch nicht rechts nennen.<br />

Dass er nicht verstehen könne, dass es<br />

manchen reiche, Kunst in Kategorien des<br />

Politischen zu fassen, wie man das intellektuell<br />

befriedigend finden könne. In seiner<br />

Redaktion sei Dietmar Dath derjenige gewesen,<br />

der sein ästhetisches Anliegen am<br />

besten verstanden habe.<br />

Wir sprechen über Jünger- und Schmitt-<br />

Zitate in seinem Buch. Die seien doch ironisch<br />

gebrochen, sagt er, obwohl er ein<br />

schwieriges Verhältnis zur Ironie habe. Irgendjemand<br />

hat Strauß in die Tradition<br />

der deutschen Popliteratur gestellt,<br />

Kracht, Illies. Auch die glaubten an Jarvis<br />

Cockers Dekaden-Spruch „Irony is over“. In<br />

einem Artikel hat Strauß Jünger gegen die<br />

Vereinnahmung durch Martin Schulz verteidigt.<br />

Wahrscheinlich hat er den Buchhändler<br />

Schulz unterschätzt. Das sage ich<br />

nicht, erlaube mir aber die Bemerkung,<br />

dass es nicht Strauß’ stärkster Artikel war.<br />

Er ist kurz irritiert. Gekränkte Eitelkeit?<br />

Wenn, dann ist sie nach einer Sekunde<br />

verflogen: Das sei witzig gemeint gewesen,<br />

sagt er.<br />

Es wird Zeit zu gehen. In der Tasche meines<br />

Jacketts steckt Arthur Millers Theaterstück<br />

Hexenjagd von 1953, in dem eine historische<br />

Begebenheit zur Allegorie der<br />

Kommunistenjagd unter McCarthy wird.<br />

Ich zeige Strauß das Buch, vielleicht kann<br />

ich ihm ja noch etwas zum aktuellen Streit<br />

entlocken. Kein Erfolg. Ich sage, er hätte<br />

das sicher gelesen. Seine Augen glänzen:<br />

nicht nur gelesen, sondern auch oft auf<br />

der Bühne gesehen.<br />

Als wir zum Casino zurückgehen, versuche<br />

ich es direkter: Beleidigt es Strauß,<br />

„rechts“ genannt zu werden? Kurzes Nachdenken.<br />

Wenn rechts sei, zu sagen, dass<br />

Kunst einen Wert habe, eine Eigenlogik,<br />

jenseits der Tagespolitik, dann sei er ein<br />

Rechter. Aber nur dann, sagt Strauß.<br />

auch als<br />

eBook<br />

Heft 217<br />

Navid Kermani<br />

Er spricht vom<br />

Fluss des<br />

Vergessens.<br />

Strauß ist<br />

promovierter<br />

Althistoriker<br />

Herausgeber: Torsten Hoffmann<br />

96 Seiten, € 24,–<br />

ISBN 978-3-86916-668-1<br />

Navid Kermani experimentiert mit den ganz großen Themen: Liebe,<br />

Tod und – Fußball! Er ist einer der wichtigsten Intellektuellen der<br />

deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. Die BeiträgerInnen<br />

aus Wissenschaft, Feuilleton, Literaturbetrieb und Politik loten die<br />

unterschiedlichen Dimensionen von Kermanis Schreiben aus.<br />

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18 Film<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Etwas<br />

klemmt<br />

Retrospektive Ula Stöckl wird 80. Das Berliner Arsenal<br />

zeigt ihre Filme. Eine kleine Auswahl<br />

Skeptisch gegenüber konventionellen Lebensentwürfen: Kristine de Loup in „Neun Leben hat die Katze“<br />

FOTO: DEUTSCHE KINEMATHEK<br />

Sonnabend, 17 Uhr<br />

Neun Leben hat die Katze<br />

Erikas Leidenschaften<br />

Das alte Lied<br />

1966 Zwei Jahre vor den großen gesellschaftlichen<br />

Aufbrüchen stellt die Filmstudentin<br />

Ula Stöckl eine Frage, die mehr will,<br />

als sie vorgibt: Was machen junge Leute<br />

Samstag 17 Uhr in ihrem Land? Stöckl ist in<br />

München unterwegs, filmt an der Isar, auf<br />

der Leopoldstraße, in Vorstadtgärten und<br />

typisch bundesdeutschen Wohnzimmern.<br />

Hier klemmt es besonders. Die jungen Leute<br />

(Abiturientinnen) blicken scheu, sie sagen<br />

Sachen wie: Nachmittagskaffee, Bummeln,<br />

vorwiegend Tanzlokale besuchen –<br />

„oder ich hab auch mal ein Rendezvous“.<br />

Der Film ist auch eine Chronik der Gesten,<br />

Körperhaltungen und Sprechweisen.<br />

Stöckl streift unterschiedliche gesellschaftliche<br />

Schichten und Stile (Starnberger Perlenkettenträgerinnen,<br />

Zünftige in bayerischer<br />

Tracht, Kleinbürgerinnen mit Swing),<br />

es geht ihr aber mehr um die Geschlechterals<br />

um die Milieustudie. Für Carola, eine toll<br />

verhuschte Abiturientin, interessiert sich<br />

der Film am meisten. Die Eltern haben Pläne<br />

für sie (vor dem Studium die Hauswirtschaftsschule),<br />

Carola wehrt sich zaghaft,<br />

weicht aus, guckt in die Luft. In der jungen<br />

Frau wird vage etwas erkennbar, das mit<br />

der Zukunft zu tun hat. Esther Buss<br />

1968 Die Trennung eines Paares im Bild:<br />

zwei Menschen getrennt durch einen Fluss.<br />

Das Gemeinsame rinnt davon, was bleibt,<br />

ist jeder Einzelne. Es ist Sommer, und Ula<br />

Stöckl entwirft in der lichtdurchfluteten<br />

Szenerie Münchens eine Ode an die Freiheit.<br />

Die Freundin ist zu Besuch in der<br />

Stadt und gemeinsam laben sich die Protagonistinnen<br />

an der Gesellschaft der anderen,<br />

durchstreifen Gärten, verharren in<br />

Wohnungen, auf Betten: Müßiggang am<br />

Kaffeetisch. Beziehungs- und Liebesmodelle,<br />

Arbeitsstrukturen – ganz grundsätzlich<br />

werden hier Konventionen infrage gestellt.<br />

Ein Leben wird als Entwurf skizziert, als<br />

Möglichkeit und Variation.<br />

Ein Leben sind demnach mehrere Leben,<br />

und die Lebensweisen frei: „Heute ist heute<br />

und morgen ist morgen.“ Die Probe und<br />

das melancholische Scheitern eines solchen<br />

freien Lebens sind es, die hier von einer<br />

dokumentarisch anmutenden Kamera<br />

beobachtet werden. Vieles ist dabei Spiel<br />

und Provokation als Machtverhandlung<br />

zwischen den Geschlechtern und den Frauen<br />

selbst. Es sind diese Frauenleben, die<br />

der Film an ihre eigene Handlungskraft erinnern<br />

will. Vivien Kristin Buchhorn<br />

1976 Zwischen Küche und Badezimmer resümieren<br />

zwei Frauen ihre Beziehung, vier<br />

Jahre nach der Trennung. Thomas Mauchs<br />

aufgeräumte 16mm-Schwarz-Weiß-Bilder<br />

arbeiten am Kontrast weiblicher Lebensentwürfe,<br />

die einander Tiefe geben und<br />

sich im Verlauf einer Nacht reflexiv entfalten.<br />

In Härte und Konzentration erinnert<br />

Stöckls Versuchsanordnung an Bergman.<br />

Auch in der Souveränität des Tons: Die<br />

zwischen Komödie (diverse Haushaltsunfälle,<br />

eine klemmende Badezimmertür)<br />

und offenem Schlagabtausch wechselnde<br />

Dramaturgie betont das Experimentelle der<br />

Situation, in der die bürgerliche Privatsphäre<br />

zum feindlichen (männlichen) Agenten<br />

im weiblichen Selbstbewusstsein wird. Der<br />

visuelle Reichtum des Zweipersonenstücks<br />

entsteht deshalb gerade durch die eigensinnigen<br />

Bewegungen in einer heteronormativen<br />

Wohnungsarchitektur, als leidenschaftliche<br />

Choreografie der Missverständnisse.<br />

Dass hier 60 Minuten Frauen über sich reden,<br />

hat einen spürbaren Effekt auf die allgemeingültige<br />

Beziehungsmusterstudie,<br />

die man damals darin sehen wollte. In zeitgenössischen<br />

Texten liest man das böse<br />

Wort „bissig“. <br />

Jan Künemund<br />

Ula-Stöckl-Werkschau<br />

Am 5. Februar wird die in Ulm<br />

geborene Filmemacherin Ula Stöckl<br />

80 Jahre alt. Aus diesem Anlass<br />

zeigt das Berliner Arsenal vom 9. bis<br />

14. Februar eine Retrospektive mit<br />

17 Filmen von Stöckl, die seit Mitte der<br />

sechziger Jahren entstanden. Ein<br />

Großteil der Filme liegt im Bestand<br />

der Deutschen Kinemathek – als<br />

klassische Kopie, was das Abspielen in<br />

den zumeist auf digitale Projektion<br />

umgestellten Kinos im Land erschwert.<br />

2015 kam der bislang letzte Film<br />

von Stöckl heraus: Die Widerständigen<br />

... also machen wir das weiter,<br />

eine beeindruckende Oral History aus<br />

dem Umfeld der Weißen Rose, die<br />

Stöckl für die verstorbene Freundin<br />

Katrin Seybold zu Ende brachte. MD<br />

1991/92 Der Film ist ein Beleg der Ratlosigkeit.<br />

Er ist nicht der Film über das deutsche<br />

1989/90, er ist nur ein Film aus dieser Zeit,<br />

der wie die anderen versucht, der historischen<br />

Situation eine Geschichte zu erfinden.<br />

Etwa durch Fallerslebens Deutschland-Lied,<br />

das, in allen drei Strophen gesungen,<br />

den Film strukturiert. Die Art und<br />

Weise, wie gesungen wird – sprechend, zögernd,<br />

stockend, gegen die von sich selbst<br />

besoffene Hybris an, die das „Über alles“<br />

spätestens ab 1933 unmöglich gemacht hat<br />

–, diese Art und Weise formuliert die Frage,<br />

die der Film zu erkunden versucht: Was<br />

wird das Deutsche, da es wiedervereint ist?<br />

Eine Antwort findet der Film darauf<br />

nicht. Auf der Handlungsebene erzählt er<br />

in gewollter Künstlichkeit von einer Familie,<br />

die sich in Dresden wiedertrifft. Es geht<br />

um Lügen, die aus Anpassung geschehen<br />

sind. Interessant macht den Film, was an<br />

quasi dokumentarischem Material in ihn<br />

reinreicht: die Unfähigkeit, dass West und<br />

Ost sich verstehen. Die Stöckl zulässt. Die<br />

bis heute dauert. Genauso wie die Faszination<br />

für Dresden, das hier elegisch-zart als<br />

eine viel offenere Projektionsfläche erscheint<br />

als heute. <br />

Matthias Dell<br />

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DF18-533


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Film<br />

19<br />

Flucht ins Feine<br />

Kino In „Der seidene Faden“<br />

erzählt Paul Thomas<br />

Anderson einmal mehr von<br />

männlicher Monomanie,<br />

diesmal ganz ohne Geballer<br />

■■Karsten Munt<br />

Erhaben stolpert Alma (Vicky<br />

Krieps) durch den Frühstückssaal.<br />

Sie fällt auf unter den uniform<br />

gekleideten Kellnerinnen.<br />

Kantig und ungeschickt stolziert<br />

sie zwischen ihnen mit der Kaffeekanne<br />

umher. Durch die Augen des Modedesigners<br />

Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis)<br />

enthüllt Paul Thomas Anderson die<br />

Schönheit, die sich hinter Almas charmanter<br />

Unvollkommenheit verbirgt. Er ist fasziniert<br />

von ihrem Gesicht, das elegant und<br />

doch gewöhnlich scheint – bis ihr Lachen<br />

es vollkommen macht. Woodcock provoziert<br />

es und bringt so zum Vorschein, was<br />

sie makellos macht – nicht in seinen, sondern<br />

in ihren eigenen Augen. In seiner Zuneigung<br />

spürt sie eine Schönheit, die sie<br />

sich selbst nie zugestanden hat.<br />

Noch im Frühstückssaal beginnt die spielerische<br />

Inszenierung der Obsession, die<br />

die Beziehung von Couturier und Muse –<br />

die hier bereits ausgemachte Sache zu sein<br />

scheint – prägen wird. Woodcock bestellt<br />

und klaut Alma sogleich den Zettel, auf<br />

dem sie seinen gewaltigen Appetit aufgelistet<br />

hat: Rahm, Speck, Marmelade, Croissants<br />

und pochierte Eier. Doch auch ohne<br />

ihre Notizen merkt sie sich jede Zutat, jede<br />

Zubereitungsart und bringt alles mit einem<br />

neuen Zettel, der dem „hungrigen<br />

Jungen“ guten Appetit wünscht – Reynolds<br />

Woodcock hat seine Muse gefunden.<br />

Bald lädt er sie auf sein Landhaus ein, erzählt<br />

ihr von seiner Mutter, die er geliebt<br />

und begehrt hat. Dann nimmt er ihre<br />

Maße, schmeichelt ihr, konzentriert sich<br />

ganz auf sie, gibt sich ein weiteres Mal ihrer<br />

Schönheit hin. Sie legt ihr Kleid ab, bis sie<br />

halb nackt vor seiner Schwester Cyril (Leslie<br />

Manville) steht, die unerwartet das Atelier<br />

betreten hat und beiden fortan nur in<br />

Ausnahmen von der Seite weichen wird.<br />

Gedemütigt hält Alma die Pose, doch<br />

ihre Schönheit geht mit ihrem Lächeln.<br />

Dann ist Woodcock wieder ganz bei ihr:<br />

There will be pochierte Eier<br />

Eine perfekt gesteckte Nadel lässt sie Cyril<br />

vergessen und holt Almas Lächeln zurück.<br />

Fortan ist sie Teil seiner Rituale und Routinen.<br />

Er entwirft Kleider für sie, schickt sie<br />

auf Modenschauen und beobachtet mit lächelnden<br />

Augen, wie die Welt sie in seinen<br />

Stoffen bewundert. Der Glanz, den die Kleider<br />

ausstrahlen, entspringt dem so rigiden<br />

wie fragilen Lebensstil, den der Modeschöpfer<br />

führt.<br />

Man könnte sich kaum ein besseres<br />

Sinnbild für den Stil Andersons vorstellen<br />

als diese Welt, die von absoluter Kontrolle<br />

besessen ist und zugleich elegant erscheint.<br />

So sucht Anderson, der erstmals<br />

auch die Kameraarbeit übernahm, in Der<br />

seidene Faden zu jeder Zeit nach genau jener<br />

filigranen Geste, die seine perfekt geschneiderte<br />

Liebesgeschichte passgenau<br />

Gedemütigt<br />

hält Alma<br />

die Pose. Dann<br />

wird sie<br />

zum Teil seiner<br />

Rituale<br />

abrundet. Etwa die Schleife, die Woodcock<br />

mit seinem Sportwagen zieht, als er Alma<br />

das erste Mal abholt, und die sie auf ähnliche<br />

Weise mit ihrer Hand vollführt, als sie<br />

ihm das erste Mal eine Tasse Tee einschenkt.<br />

An diesem wiederkehrenden<br />

Schlenker demonstriert der Film die ersten<br />

Reflexe eines Kontrollwahns.<br />

Beim gemeinsamen Frühstück wird die<br />

Gewandtheit der Handbewegung für<br />

Woodcock plötzlich zu einer nervigen Manier,<br />

die ihm fast körperliche Schmerzen<br />

bereitet – denn alles, was in der Stadtvilla<br />

passiert, hat seinen Vorgaben zu entsprechen<br />

oder muss entfernt werden. Der seidene<br />

Faden überhöht genüsslich diese Einbrüche<br />

in die Welt Woodcocks. Das Reiben<br />

eines Messers auf der Scheibe Toastbrot<br />

klingt plötzlich wie ein Winkelschleifer auf<br />

Asphalt, um dann, als der Couturier wieder<br />

inspiriert ist, durch die Klänge von Jonny<br />

Greenwoods Piano wieder in den Hintergrund<br />

geschoben zu werden.<br />

Nicht nur stilistisch scheint die Schilderung<br />

des Alltags in der viktorianischen<br />

FOTO: FOCUS FEATURES<br />

Wohnung Woodcocks eine logische Fortsetzung<br />

im Œuvre von Anderson darzustellen.<br />

Der Film setzt die so häufig von der<br />

Monomanie eines Mannes dominierten<br />

Motive der Machtdynamik fort, die Anderson<br />

so oft in seinen Filmen aufgreift.<br />

Statt der permanent offen ausgetragenen<br />

Konfrontation, sei es in der blut- und<br />

ölverschmierten Gründerzeit (There Will Be<br />

Blood, 2007) oder im traumatisiert-sinnsuchenden<br />

Nachkriegsamerika (The Master,<br />

2012), inszeniert er hier die Flucht eines<br />

Mannes in seine eben nicht archaische und<br />

brutale, sondern feine und geschmeidige<br />

Welt. Anderson verlässt mit Der seidene Faden<br />

das erste Mal seine amerikanische Heimat,<br />

um seine filmischen Motive in das<br />

Großbritannien der 1950er zu exportieren.<br />

Erhabene Perversion<br />

Im stets abgeschotteten Reich der britischen<br />

Stadtvilla ist alles eine Inszenierung<br />

Woodcocks. Daniel Day-Lewis lässt in ihm<br />

den spröden Greis und den lebhaften Dandy<br />

spielerisch zusammenfließen. Doch<br />

Woodcocks pathologischer Habitus droht<br />

sein Umfeld, insbesondere seine Partnerinnen<br />

zu zerstören. Was nicht in seine Welt<br />

passt, wird abgeblockt mit dem bockigen<br />

Gestus eines Kleinkinds und dem Nachdruck<br />

eines verehrten Modemoguls. Was er<br />

nicht selbst entwirft, kann er nicht lieben.<br />

Doch Alma – Vicky Krieps lässt sie hier ansatzlos,<br />

mit kleinsten Gesten Sprünge zwischen<br />

aufopfernd und einfordernd, verschüchtert<br />

und bedrohlich vollführen –<br />

sucht die Liebe eben nicht in der<br />

Selbstaufgabe.<br />

Um die Barriere von Woodcocks ödipaler<br />

Bockigkeit zu überwinden, legt sich Alma<br />

eine Strategie zurecht: Sie vergiftet ihn,<br />

pflegt ihn wieder gesund und verführt ihn.<br />

Sie reißt das Liebesspiel wieder an sich,<br />

durchdringt die Zwanghaftigkeit mit einer<br />

mütterlichen Fürsorglichkeit, die stets ein<br />

tödlicher Hauch umweht. Sie liebt Reynolds<br />

auf ihre Art. Der Film erkundet diese<br />

Zuneigung nicht als etwas Abgründiges,<br />

Alma und Reynolds vollführen nunmehr<br />

das gleiche Spiel, das sie schon bei ihrer<br />

ersten Begegnung gespielt haben: das Spiel<br />

einer zwanghaften Liebe und einer erhabenen<br />

Perversion.<br />

Der seidene Faden Paul Thomas Anderson<br />

USA 2017, 130 Minuten<br />

Verrückte Idee<br />

Dokumentarfilm Christian Tod wirbt für das Grundeinkommen: „Free Lunch Society“<br />

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■■Silvia Hallensleben<br />

Gern zitieren Neoliberale die Pseudo-<br />

Weisheit: „There’s no such thing as<br />

a free lunch.“ Dass sich menschliches<br />

Wirtschaften auch anders als in den<br />

Kategorien von Knappheit und Eigeninteresse<br />

denken lässt, wurde schon vor Karl<br />

Marx diskutiert. Fast so lange gibt es die<br />

Idee, Arbeit und Einkommen zu entkoppeln<br />

und jedem Menschen vom Staat her<br />

den Lebensunterhalt zu stellen.<br />

Bedingungsloses Grundeinkommen<br />

heißt diese Idee in Deutschland oder Österreich,<br />

woher der Film Free Lunch Society<br />

kommt. Der macht in einem klassischen dokumentarischen<br />

Rundgang Experten und<br />

Projekten von den USA über Zentraleuropa<br />

bis nach Namibia seine Aufwartung. Dabei<br />

stehen neben Talkshow-Gesichtern wie dm-<br />

Chef Götz Werner und Michael Bohmeyer,<br />

dem Gründer der Grundeinkommen-Lotterie,<br />

auch Überraschungskandidaten parat.<br />

Martin Luther King etwa, der in den<br />

1960er Jahren dafür eintrat, die kommende<br />

Umwälzung der Arbeit durch die Digitalisierung<br />

mit einem Grundeinkommen zu bekämpfen.<br />

Oder der libertäre US-Politologe<br />

Charles Murray (In Our Hands, 2006) vom<br />

American Enterprise Institute, der in Statements<br />

vorführt, wie die Idee unter dem Etikett<br />

„negative Einkommensteuer“ gerade<br />

von neoliberalen Ökonomen wie Friedrich<br />

Hayek und Milton Friedman unterstützt<br />

werden kann: Die garantierte Alimentation<br />

stärkt paradoxerweise die individuelle Autonomie<br />

gegen staatliche Institutionen.<br />

In Namibia<br />

hat es<br />

funktioniert.<br />

Zumindest<br />

in einem Dorf<br />

Es ist dieser Aspekt der persönlichen und<br />

gesellschaftlichen Ermächtigung, der den<br />

Regisseur und studierten Ökonomen<br />

Christian Tod mehr als Rechenexempel interessiert.<br />

Dass die „crazy idea“ (so Fox<br />

Business in einem der vielen illustrierenden<br />

TV-Schnipsel) finanziell machbar ist,<br />

wird eher nebenbei abgehandelt. Das von<br />

Gegnern des Grundeinkommens gern vorgebrachte<br />

Argument drohender kollektiver<br />

Arbeitsverweigerung bekommt mehr<br />

Raum, wird aber vielfach widerlegt. Werner<br />

argumentiert, dahinter verberge sich die<br />

Angst, abhängig Beschäftigte verdingten<br />

sich mit Grundsicherung im Rücken nicht<br />

mehr zu ganz erbärmlichen Bedingungen.<br />

Die narrative Idee, die Geschichte rückblickend<br />

aus einer utopisch verwandelten Zukunft<br />

zu erzählen, ist charmant und zeigt<br />

wie der suggestive Titel, dass die Filmemacher<br />

keine Neutralität anstreben, sondern<br />

wie ihre Protagonisten das Grundeinkommen<br />

als probates Mittel zur Befreiung aus<br />

dem Zwang zur Niedriglohnarbeit etwa bei<br />

Walmart sehen.<br />

Interessanter aber sind die Ausflüge zu<br />

weniger bekannten historischen Exempeln.<br />

Nach Alaska, wo seit riesigen Ölfunden<br />

1969 im Sparfonds Alaska Savings Account<br />

gesicherte 900 Millionen Dollar bis<br />

heute jährliche Dividenden für die Bürger<br />

bringen. Oder in die kanadische Kleinstadt<br />

Dauphin, wo Ökonomen im Mincome-Experiment<br />

zwischen 1974 und 1978 die sozialen<br />

Auswirkungen eines Grundeinkommens<br />

untersuchten. 1978 wurde das Projekt<br />

wegen Geldmangels ohne Auswertung<br />

eingestellt. In den USA gab es in den<br />

1960er Jahren ähnliche Forschungen, Präsident<br />

Johnson (wie später Nixon) plante<br />

die Einführung eines Family-Assistance-<br />

Programms – mit dem jungen Donald<br />

Rumsfeld an der Spitze. Auch hier blieben<br />

Umsetzung und Auswertung ob der Gegenwehr<br />

des damaligen kalifornischen<br />

Gouverneurs Reagan 1970 stecken.<br />

Sichtbare Erfolge dagegen zeigte ein Versuchsprogramm<br />

des namibischen Ministers<br />

für Armutsbekämpfung und Wohlfahrt<br />

2008 bis 2012 in dem Dorf Otjivero:.<br />

Auch deswegen, weil schon eine kleine monatliche<br />

Summe ausreicht, um den Bewohnern<br />

mit eigener Nähmaschine oder eigenem<br />

Werkzeug den ersten Schritt aus der<br />

Armut zu ermöglichen. Die geplante Ausweitung<br />

des Projekt hat aber trotzdem<br />

nicht stattgefunden, auch hier wurden notwendige<br />

begleitende Nachuntersuchungen<br />

nicht durchgeführt. So zeigt Tods Film vor<br />

allem: Den Bedarf nach langfristiger Praxis<br />

mit dem Grundeinkommen.<br />

Free Lunch Society Christian Tod<br />

Deutschland/Österreich 2017, 95 Minuten<br />

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Lesen Sie in diesem Heft:<br />

Wiederaufbau Die wahre Geschichte<br />

der Trümmerfrauen<br />

Zeitzeugen Erinnerungen an die „Stunde null“<br />

Staatsgründung Warum die deutsche<br />

Teilung nicht geplant war<br />

Jetzt im<br />

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20 Post<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Immer noch aktuell<br />

Bernd Mansel<br />

1958: Christ und Antichrist<br />

Unerwartet wird eine Debatte im<br />

Bundestag zur Kampfansage gegen<br />

Adenauers polemische Rhetorik<br />

und seine Politik der Ost-West-Spaltung<br />

nach dem Wahlsieg 1957<br />

der <strong>Freitag</strong> 3 vom 18. Januar 2018<br />

Gerne gelesen. Ich meine, dass wir<br />

von diesen alten Geschichten auch<br />

heute noch mehr lernen können,<br />

als man gemeinhin denkt. Insofern<br />

sind diese Storys immer noch<br />

hochaktuell. „Der Russe“, der seine<br />

Rohstoffe nicht an den Neoliberalismus<br />

verramschen will, ist ja als<br />

„Antichrist“ erhalten geblieben.<br />

Alle Kritiker des Neoliberalismus<br />

werden auch heute in den Medien<br />

gerne dazugezählt – man denke nur<br />

an Varoufakis, Tsipras.<br />

Poor on Ruhr, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Ersichtliche Folgen<br />

Kathrin Hartmann<br />

Abschotten und wegessen<br />

Die verheerenden Folgen deutscher<br />

Landwirtschaftspolitik sind hierzulande<br />

kaum zu spüren<br />

der <strong>Freitag</strong> 3 vom 18. Januar 2018<br />

Präzis und ausgezeichnet! Man<br />

kann kaum erwarten, dass das<br />

Bewusstsein der Endverbraucher<br />

für unsere Umwelt sich je ändern<br />

wird, und auch wenn dies möglich<br />

wäre: bleibt die Machtposition<br />

der Supermarktketten ungebrochen.<br />

Die einzige Möglichkeit ist eine<br />

Änderung der Politik der BRD.<br />

PierP, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Die deutsche und EU-Landwirtschaftspolitik<br />

privilegiert genauso<br />

wie in der allgemeinen Wirtschaftspolitik<br />

die großen Konzerne.<br />

Sie ist ein Spiegelbild der<br />

Machtverhältnisse. Was bleibt da<br />

anderes, als sich selbst aus<br />

diesem Wahnsinn zu befreien.<br />

Frank Linnhoff, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Vielen Dank für den Artikel. Die<br />

Folgen werden auch bei uns immer<br />

offensichtlicher. Ob Biobauer<br />

oder konventioneller Landwirt,<br />

sind diese auch hier von Landverkäufen<br />

– quasi Enteignungen<br />

bei Pachtflächen und der damit<br />

veränderten Interessenstruktur<br />

betroffen. Der Filz geht so weit, wie<br />

ich selbst in persönlichen Gesprächen<br />

erlebt habe, dass Landwirte<br />

auf keinen Fall öffentlich mit<br />

kritischer Haltung in Erscheinung<br />

treten wollen – sonst bekämen<br />

sie gar keine Flächen mehr!<br />

Artur Schmidt, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Die besten Zitate aus den Kommentaren auf freitag.de/community<br />

„Es ist ein typisch<br />

deutsches Weiter-so“<br />

Miauxx<br />

freitag.de/community<br />

Balsam für Ratlose<br />

Bernie Sanders<br />

Das Gesetz des Schwächeren<br />

Die Milliardäre verprassen ihren Luxus,<br />

während Tausende Kinder sterben.<br />

Warum sich alles radikal ändern muss<br />

der <strong>Freitag</strong> 3 vom 18. Januar 2018<br />

Sehr geehrte Redaktion, mit Begeisterung<br />

habe ich den Text von<br />

Bernie Sanders gelesen. Danke an<br />

Herrn Sanders für diese Worte und<br />

an Sie für das Abdrucken. Der Text<br />

ist einfach nur überragend und ist-<br />

Balsam für die Ratlosen und Kraft<br />

für mich als SPD-Mitglied auf der<br />

Suche nach dem richtigen Weg.<br />

Bitte mehr davon.<br />

Eigentlich ist doch das, was Herr<br />

Sanders schreibt, nicht einmal<br />

linke Politik, sondern die Formulierung,<br />

wie Mitmenschlichkeit und<br />

Gerechtigkeit umgesetzt werden<br />

können – eine Selbstverständlichkeit.<br />

Denn der vermeidbare tägliche<br />

Tod von 29.000 Kindern zeigt,<br />

dass unser gesunder Menschenverstand<br />

abhandengekommen ist.<br />

Unseren gesunden Menschenverstand<br />

am Leben zu erhalten, ist aus<br />

meiner Erfahrung bisweilen mühsame<br />

Arbeit. Diese Arbeit möchten<br />

sich nicht alle Menschen machen<br />

und wählen stattdessen rechts.<br />

Auch dazu sagt Sanders treffend:<br />

„Aber es ist ein Kampf, den wir<br />

nicht vermeiden können. Es steht<br />

zu viel auf dem Spiel.“<br />

Richard Grossmann, per Mail<br />

„Die SPD steckt in einer Krise,<br />

und sie ist dabei,<br />

viele Fehler zu wiederholen“<br />

Die angedachte Sammlungsbewegung<br />

hat wahrscheinlich den<br />

Gründungsfehler, dass sie „von<br />

oben“ gedacht wird. Und es wird<br />

endlose Streitereien geben, ob<br />

denn die SPD (da eher rechts) dazugehören<br />

solle oder die DKP und<br />

die MLPD. Allein die Kriegsfrage<br />

trennt sofort. Und die Bewegung<br />

käme eben nicht „aus dem Volk“.<br />

Die linke Bewegung kann der<br />

Bevölkerung, insbesondere den<br />

Abgehängten, kein überschaubares<br />

alternatives Konzept zum Kapitalismus<br />

anbieten. Wut und Protest<br />

wenden sich dann eher nach<br />

rechts, wobei die Rechte nur<br />

falsche Lösungen anbietet.<br />

Wäre der<br />

„Boden“ ein<br />

öffentliches<br />

Gut, dann<br />

würde den<br />

Spekulanten<br />

der Boden<br />

unter ihren<br />

Kapitalfüßen<br />

entzogen<br />

werden<br />

Und es geht eben nicht nur, wie<br />

Lafontaine vielleicht meint, ums<br />

Geld und ums Vermögen, es geht<br />

um die Eigentumsfrage und die<br />

entsprechenden Machtverhältnisse<br />

schlechthin.<br />

Ulrich Straeter, per Mail<br />

Auf halber Strecke<br />

Henry Wilke<br />

Bodenwertsteuer jetzt!<br />

Eine Reform der Grundsteuer ist<br />

längst überfällig. Doch die beste Alternative<br />

wird von der Politik ignoriert<br />

der <strong>Freitag</strong> 3 vom 18. Januar 2018<br />

KARIKATUR: AMELIE GLIENKE FÜR DER FREITAG<br />

Jan Bühlbecker<br />

Die von der Autorin geforderte<br />

Bodenwertsteuer wäre zwar ein<br />

Fortschritt. Allerdings bleibt sie<br />

auf halbem Weg stehen. Der Boden<br />

(Natur) ist einer der Produktionsfaktoren.<br />

Er ist jedoch das knappste<br />

Gut und lässt sich so gut wie nicht<br />

vermehren. Andere Faktoren schon,<br />

wie etwa Kapital und Arbeit. Wäre<br />

dieser Produktionsfaktor ein rein<br />

öffentliches Gut, könnte weitaus<br />

effizienter zugunsten der Bedürfnisse<br />

der Allgemeinheit gesteuert<br />

werden.<br />

Bodenspekulanten mit ihrer<br />

Spielkasino-Mentalität würde der<br />

Boden unter ihren Kapitalfüßen<br />

entzogen. Die Mietpreise sind ja<br />

gerade deshalb in die Höhe geschossen,<br />

weil die Politiker, dem<br />

Ruf nach Verschlankung des<br />

Staates folgend, öffentliches Wohneigentum<br />

und damit auch Grund<br />

und Boden an Spekulanten verscherbelt<br />

haben. Ihnen war und ist<br />

die Abschaffung des staatlichen<br />

Einflusses weitaus näher als die<br />

Vorstellung, dass Wohnen ein<br />

Grundbedürfnis ist.<br />

Achtermann, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Juristisch gesehen<br />

Johanna Montanari<br />

Fragwürdige Verknüpfung<br />

Schlechter Sex ist doof. Übergriffe<br />

sind doofer, findet unsere Autorin<br />

der <strong>Freitag</strong> 4 vom 25. Januar 2018<br />

Die öffentliche Beschuldigung,<br />

und umso mehr die öffentliche<br />

Beschuldigung ohne Beweise,<br />

gebiert bereits aus sich selbst heraus<br />

Konsequenzen für den Beschuldigten,<br />

in der Regel die soziale<br />

Vernichtung.<br />

Wenn Sie mit Verjährungsfristen<br />

argumentieren wollen, gibt es<br />

außer bei Mord nach deutschem<br />

Recht bei allen Straftaten Verjährungsfristen.<br />

Verjährung ist also<br />

keine besondere Zumutung, die<br />

speziell für vergewaltigte Frauen<br />

erfunden wurde. Man könnte<br />

also mit sehr viel mehr Sinn eine<br />

Kampagne starten, die das Ziel<br />

verfolgt, Vergewaltigung zu einem<br />

Verbrechen zu erklären, für das<br />

keine Verjährung gewährt wird. Als<br />

Teil einer derartigen Änderung<br />

müsste allerdings gleichzeitig eine<br />

belastbare Differenzierung zwischen<br />

strafbaren und nicht strafbaren<br />

Sachverhalten erfolgen. Im<br />

Moment erweckt #metoo eher den<br />

Eindruck, derartige Differenzierungen<br />

zu vermeiden.<br />

Ich habe nichts dagegen, wenn<br />

im Rahmen von #metoo frühere<br />

oder aktuelle Sexualdelikte öffentlich<br />

gemacht werden. Wenn dabei<br />

aber Namen genannt werden, muss<br />

der Weg über eine vorher erfolgte<br />

Anzeige der Straftat bei einer Strafverfolgungsbehörde<br />

führen, alles<br />

andere ist nichts als Selbst- und<br />

Lynchjustiz.<br />

Lethe, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Finger in die Wunde<br />

Katharina Schmitz, Timon Karl Kaleyta<br />

„Die Armen sind Gegner“<br />

Guillaume Paoli fordert in „Die lange<br />

Nacht der Metamorphose. Über die<br />

Gentrifizierung der Kultur“ die Rückkehr<br />

des Elends im Erzählten<br />

der <strong>Freitag</strong> 1 vom 4. Januar 2018<br />

Interessantes Interview. Der Mann<br />

hat den Finger in der Wunde. Er<br />

sagt nichts wirklich Neues, aber er<br />

sagt es wenigstens wieder einmal.<br />

„Anthropologische Mutation“, hübsch<br />

metaphorisch, das ist der gute<br />

alte mentalitätshistorische Prozess,<br />

den Norbert Elias schon vor gut<br />

70 Jahren sichtbar machte. Auch<br />

der Hinweis auf Marx’ These von<br />

der „zivilisatorischen Wirkung des<br />

Kapitals“ zeigt uns nichts Neues,<br />

aber seit Langem Unbeachtetes.<br />

Goedzak, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Tunesier macht was<br />

Sabine Kebir<br />

Das verflixte siebte Jahr<br />

Politisch hat sich der Arabische<br />

Frühling hier als einziges durchsetzen<br />

können. Doch wirtschaftlich geht es<br />

den Tunesiern schlechter als vorher<br />

der <strong>Freitag</strong> 3 vom 18. Januar 2018<br />

Die tunesische Regierung sollte sich<br />

Gedanken machen, wie das Land<br />

nicht nur durch den Abbau natürlicher<br />

Ressourcen oder den in<br />

Misskredit geratenen Tourismus<br />

zu Geld kommt, sondern durch<br />

intelligenteren Einsatz der Ressource<br />

Mensch. Eine kluge Industriepolitik<br />

muss Schwerpunkte setzen,<br />

um sich auf dem Weltmarkt zu<br />

etablieren.<br />

Querlenker, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Stagnieren geht nicht<br />

Georg Seeßlen<br />

Geh, Gespenst!<br />

1968 glaubte man an einen Fortschritt,<br />

der heute fragwürdig erscheint. Ein<br />

neuer Aufbruch muss einen anderen<br />

Weg nehmen<br />

der <strong>Freitag</strong> 3 vom 18. Januar 2018<br />

„Solange es Fortschritt gibt, gibt es<br />

Ungleichheit, Kampf und Ausbeutung,<br />

es geht nicht anders.“ Mag sein.<br />

Aber wo es keinen Fortschritt<br />

mehr gibt, gibt es bald Rückschritt.<br />

Perioden der Stagnation halten<br />

nie lange an, weil der aus sich selbst<br />

heraus produktive Mensch sie<br />

nicht aushält. Man kann das Leben<br />

grundsätzlich nicht am schönsten<br />

Punkt anhalten. Dieser Punkt, auf<br />

die Ewigkeit ausgedehnt, würde<br />

nicht mehr als schön empfunden.<br />

Gunnar Jeschke, <strong>Freitag</strong>-Community<br />

Die Redaktion behält sich vor,<br />

Leserbriefe zu kürzen<br />

Impressum<br />

Verleger Jakob Augstein<br />

Chefredaktion Jakob Augstein (V.i.S.d.P.),<br />

Michael Angele, Simone Schmollack<br />

Verantwortliche Redakteure<br />

Jan J. Kosok (Online), Sebastian Puschner<br />

(Politik)<br />

Textchef Klaus Ungerer (FM*)<br />

CvD Marco Rüscher<br />

Redaktion Leander Badura, Ulrike Baureithel<br />

(FM), Matthias Dell (FM), Pepe Egger (FM),<br />

Mladen Gladić, Lutz Herden, Michael Jäger<br />

(FM), Christine Käppeler, Benjamin Knödler,<br />

Maxi Leinkauf, Martina Mescher, Katharina<br />

Schmitz (FM)<br />

Gestaltung Lisa Kolbe (Art Direktion),<br />

Felix Velasco (Titel), Gabor Farkasch,<br />

Niklas Rock (Bild)<br />

Redaktionelle Übersetzer<br />

Holger Hutt, Carola Torti<br />

Redaktionsassistenz Jutta Zeise<br />

Hospitanz Rebekka Gottl<br />

Verlag und Redaktion<br />

der <strong>Freitag</strong> Mediengesellschaft mbH &<br />

Co KG, Hegelplatz 1, 10117 Berlin,<br />

Tel.: (030) 250 087-0<br />

www.freitag.de<br />

Geschäftsführung Jakob Augstein,<br />

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Beratung Prof. Christoph Meier-Siem<br />

Verlagsleitung Nina Mayrhofer<br />

Anzeigen Johann Plank (Leitung)<br />

(johann.plank@freitag.de), Elke Allenstein<br />

(elke.allenstein@freitag.de), Isabell Schröder<br />

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Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />

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ISSN 0945-2095


21<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Marotte,<br />

Mimose, Mann:<br />

Unser Lexikon<br />

der Woche enthält<br />

eingebildete<br />

Kranke sowie auch<br />

zerknirschte<br />

Gemüter S. 24<br />

Der Koch<br />

Jörn Kabisch<br />

Mach es wie Obelix:<br />

Iss Wildschweine –<br />

und rette den Export<br />

FOTOS: LINDA NYLIND/EYEVINE/LAIF, MALERAPASO/ISTOCK (OBEN)<br />

Hart<br />

am<br />

Nerv<br />

Margaret Atwood ist ein Kind des<br />

Krieges. Ihre Bestseller und die<br />

Verfilmungen leben davon. Dass jetzt<br />

alle entsetzt über Donald Trump<br />

sind, kann sie nicht verstehen S. 22<br />

In diesen Tagen ist es geradezu<br />

Bürgerpflicht, Wildschwein zu konsumieren.<br />

Denn die afrikanische<br />

Schweinepest nähert sich, von Osten<br />

also, eine Himmelsrichtung, die – wie<br />

wir wissen – noch nie Gutes versprach.<br />

Das Virus, das gerade im Baltikum grassiert,<br />

ist hoch ansteckend. Schwarzwild<br />

wie Haustier verenden in wenigen<br />

Tagen. Die Zeitungen sprechen schon<br />

von der „Schweine-Ebola“, weil es kein<br />

Gegenmittel gibt. Es geht um den<br />

Bestand von Millionen von Tieren, die<br />

hinter Hochsicherheitsmauern in Massenställen<br />

heranwachsen, um die Deutschen<br />

mit einem ihrer wichtigsten<br />

Kulturgüter, nämlich der Wurst, zu versorgen.<br />

Und nebenbei auch die Exportwirtschaft:<br />

Deutsches Fleisch geht<br />

in die ganze Welt. Nicht auszudenken,<br />

würde nur ein Schwein in Deutschland<br />

erkranken. Importstopp auf dem ganzen<br />

Globus, Massentierhalter würden<br />

massenhaft um die Existenz gebracht.<br />

Gutes deutsches Fleisch, es wäre nichts<br />

mehr wert. Und was würde erst der<br />

Verbraucher hierzulande sagen, auch<br />

wenn Veterinäre immerzu betonen,<br />

für den Menschen sei die Schweinepest<br />

ganz ungefährlich?<br />

Die Jäger legen gerade auf Eber komm<br />

raus auf die Schwarzkittel an. Denn das<br />

Wildschwein gilt als Hauptrisikofaktor,<br />

dass die Seuche Deutschland erreicht.<br />

Vor allem an der ostdeutschen Grenze<br />

sind die Schweinezüchter gerade hoch<br />

alarmiert. Da werden ja tonnenweise<br />

Wurstbrotreste weggeworfen Wenn nur<br />

ein Zipfel infiziert ist und ein Wildschwein<br />

fischt sich das aus einer Mülltonne,<br />

dann ist Holland in Not. Das<br />

Wildschwein ist vogelfrei. Der Effekt: In<br />

meinem Biomarkt ist Wildschwein<br />

inzwischen seit Dezember im Sortiment,<br />

billiger als normales Schwein, und<br />

nun gibt es bereits die ersten Sonderangebote.<br />

Das Zeug muss weg. Also,<br />

machen Sie endlich Wildschwein! Stellen<br />

Sie sich gleichzeitig auf eine Herausforderung<br />

ein – es gibt kein komplizierteres<br />

Fleisch. Vielleicht haben Sie<br />

ja auch schon mal ein Wildschweingulasch<br />

gemacht und fanden es etwas<br />

hart und trocken. Das war nicht unbedingt<br />

ihre Schuld. Und überlegen Sie<br />

mal: Der größte Wildschwein-Fan, den<br />

wir kennen, ist als Kind in den Zaubertrank<br />

gefallen. Obelix hat auch in<br />

den Kiefern Riesenkräfte. Für uns Normalos<br />

reicht kein Grillspieß, den man<br />

durch das ganze Schwein steckt. Das<br />

Fleisch braucht eine Extrabehandlung,<br />

damit es richtig zart und schmackhaft<br />

wird. Ich habe da einen kleinen Leidensweg<br />

hinter mir. Wildschweinsteaks<br />

etwa verwandelten sich trotz des<br />

24-stündigen Aufenthalts in Buttermilch<br />

in der Pfanne zu Schuhsohlen. Buttermilch<br />

ist eine milde Marinade, sie<br />

dient vor allem dazu, den ranzigen<br />

Hautgout, den Wild manchmal hat,<br />

abzuschwächen. Ich setze inzwischen<br />

auf stärkere Mittel: eine Marinade aus<br />

Apfelessig beispielsweise, das korrespondiert<br />

72 Stunden später geschmacklich<br />

mit dem Apfel-Zwiebel-Confit,<br />

das die Steaks begleitet. Für ein Gulasch<br />

hilft ebenfalls marinieren, zusätzlich<br />

aber kommt der Schmortopf einen halben<br />

Tag in den Ofen. Die Zubereitung<br />

im Slow Cooker ist auch eine gute Wahl.<br />

Habe ich keine Zeit und soll es mit dem<br />

Wildschwein schneller gehen, mache<br />

ich Buletten. Die sind derzeit überhaupt<br />

mein Favorit. Aber man braucht einen<br />

Fleischwolf zu Hause oder einen Metzger,<br />

der noch einen hat. Es gibt sicher<br />

noch mehr gute Ideen. Haben Sie Tipps?<br />

Noch eine Bitte, wenn Wildschwein<br />

bei Ihnen auf den Tisch kommt. Essen<br />

Sie alles auf, egal wie gelungen das<br />

Gericht ist. Schwarzwild im Müll, das<br />

geht in diesen Zeiten natürlich gar<br />

nicht.


22 Porträt<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

„Prophezeiungen<br />

erzählen von heute“<br />

Margaret Atwood kam in ihren dystopischen Romanen der Wirklichkeit zuvor: Es geht um Macht und Sexismus<br />

■■Lisa Allardice<br />

Im März vergangenen Jahres krönte<br />

sie der New Yorker zur „Prophetin<br />

der Dystopie“. Die Adaptionen fürs<br />

Fernsehen von Der Report der Magd<br />

(The Handmaid’s Tale) und Alias<br />

Grace haben ihr zu internationaler Berühmtheit<br />

verholfen, die Romanautoren<br />

sonst selten zuteilwird. Margaret Atwood<br />

war bei beiden Produktionen beratend tätig,<br />

bald wird sie in Toronto am Set sein,<br />

wieder als Beraterin. „Manchmal tue ich so,<br />

als wäre ich eine unheimliche alte Dame“,<br />

bekennt sie über einer Tasse Kaffee, mit<br />

lang gezogener mechanischer Stimme. Es<br />

sei reiner Zufall, dass ihre in der nahen Zukunft<br />

angesiedelte Dystopie und ihr historischer<br />

Roman, der von einem realen Mord<br />

im 19. Jahrhundert inspiriert wurde, zur<br />

selben Zeit auf die Bildschirme kommen.<br />

Aber sie haben etwas gemeinsam: Hauben.<br />

So viele Hauben.<br />

Alles dreht sich um Macht<br />

„Ich bin keine Prophetin“, sagt sie. „Lassen<br />

Sie uns diese Vorstellung gleich einmal<br />

aus der Welt schaffen. Prophezeiungen erzählen<br />

in Wirklichkeit von heute. In der<br />

Science-Fiction geht es immer ums Jetzt.<br />

Worum könnte es sonst gehen? Es gibt<br />

nicht die eine Zukunft. Es gibt viele Möglichkeiten,<br />

aber wir wissen nicht, welche<br />

wir erleben werden.“ Sie bedauert aber,<br />

dass die heutige Realität ihren Roman so<br />

aktuell erscheinen lässt. Mit ihrer hohen<br />

Stirn und ihrem lockenumkränzten Gesicht<br />

hat Atwood etwas Jenseitiges an sich.<br />

Sie trägt einen der bestickten Schals, die zu<br />

ihrem Markenzeichen geworden sind, und<br />

eine Halskette aus kleinen Totenköpfen –<br />

so gibt sie vor dem Café in Piccadilly, in<br />

dem wir uns treffen, eine markante Figur<br />

ab. Wir reden über hermaphroditischen<br />

Baramundi-Fisch und Game of Thrones.<br />

Sie ist voller vogelgleicher Neugier und<br />

tödlicher intellektueller Agilität: Elster<br />

und Falke (sie ist eine begeisterte Ornithologin).<br />

Atwood spricht mit einer markanten,<br />

leisen und monotonen Stimme und<br />

neigt zu zweifelnden rhetorischen Fragen<br />

wie: „Und warum ist das so?“<br />

Der Report der Magd wurde 1984 in<br />

West-Berlin geschrieben. Nach der Trump-<br />

Wahl ist der Roman wieder auf den Bestsellerlisten.<br />

Plakate mit der Aufschrift<br />

Make Atwood fiction again – „Atwood soll<br />

wieder Literatur werden“ – tauchen auf<br />

den Straßen auf und Frauen haben die roten<br />

Gewänder aus der Serie in stillem Protest<br />

gegen das drohende Abtreibungsverbot<br />

übernommen. Die Serie traf einen<br />

Nerv. Die Netflix-Produktion von Alias<br />

Grace, einer Meditation über Wahrheit, Erinnerung<br />

und Mitschuld und die Frage<br />

nach der Glaubwürdigkeit der Aussage einer<br />

Frau, wurde ausgestrahlt, als die Vorwürfe<br />

gegen Weinstein gerade öffentlich<br />

geworden waren.<br />

Sogar Payback, das Buch aus dem Jahr<br />

2008, in Eile geschrieben (siehe Kasten), erschien<br />

rechtzeitig zum Finanzcrash: „Alle<br />

dachten, ich würde etwas wissen. Dabei<br />

dachte ich, ich schreibe ein Buch über den<br />

viktorianischen Roman.“ Ihre gewonnene<br />

Berühmtheit (Sie sei gern in London, sagt<br />

sie, denn hier werde sie nicht so oft angehalten,<br />

um Selfies zu machen) habe sich<br />

völlig ohne ihr eigenes Zutun eingestellt,<br />

erzählt sie. „Das war nicht wirklich mein<br />

Verdienst, sondern das all der anderen Leute,<br />

die die Folgen gespielt, sie entworfen<br />

und geschrieben haben.“<br />

Sie sei beeindruckt gewesen, wie vollständig<br />

die Schauspielerinnen am Set in<br />

ihre nahezu unerträgliche Welt eingetaucht<br />

seien. „Sie machten die ganze Sache<br />

ohne Make-up. Alle. Das ist wahre Hingabe!“<br />

Warmherzig spricht Atwood auch<br />

über Sarah Polley, die Schauspielerin,<br />

Drehbuchautorin und Produzentin des<br />

fast ausschließlich aus Frauen bestehenden<br />

Teams hinter Alias Grace. Polley war<br />

gerade mal 17, als sie Atwood zum ersten<br />

Mal schrieb und fragte, ob sie den Roman<br />

adaptieren dürfe. Es dauerte 20 Jahre –<br />

während derer Polley zwei Kinder bekam<br />

–, bis sie so weit war, den Film zu machen.<br />

„Das wird ihr Durchbruch“, prophezeite<br />

die Autorin. Während sie Gilead – so der<br />

Name des Staates, in dem Der Report der<br />

Magd spielt, in eine wiedererkennbare Gegenwart<br />

verfrachtete („1985 trank man in<br />

Nordamerika noch keinen Latte macchiato“),<br />

beherzigt die Serie Atwoods Regel,<br />

nichts zu verwenden, was nicht schon irgendwann<br />

einmal in der Welt passiert ist;<br />

die Ergänzung durch die modernen Schrecken<br />

macht die Geschichte noch erschreckend<br />

plausibler. Weibliche Genitalverstümmelung<br />

habe es zwar bereits gegeben,<br />

„aber wenn ich das 1985 eingebaut<br />

hätte, hätten die Menschen wahrscheinlich<br />

nicht gewusst, wovon ich rede. Heute<br />

wissen sie es.“<br />

Im Gegensatz zu anderen Dystopien ist<br />

die aus der Serie gespenstisch schön: die<br />

Üppigkeit, die Stille (schallgedämpfte Autos,<br />

gruselig verstärktes Vogelzwitschern),<br />

die satte Farbe des Lichts. Sieht es so aus,<br />

wie sie es sich vorgestellt hatte? „Es kommt<br />

dem sehr nahe. Natürlich kann ich mich<br />

nicht genau an das Bild erinnern, das ich<br />

hatte. Aber ich wusste, wie der Ort aussah,<br />

denn es war ein realer Ort: Cambridge Massachusetts.<br />

Er hat sich seitdem etwas verändert,<br />

aber im Wesentlichen sehen diese<br />

Wohnstraßen noch immer gleich aus.“ Eine<br />

andere Frage hinter dem Roman lautete:<br />

„#metoo ist<br />

Symptom eines<br />

kaputten<br />

Systems, das<br />

ersetzt<br />

werden sollte“<br />

„Jetzt, wo die Büchse geöffnet wurde und<br />

die Schmetterlinge umherfliegen“, könnte<br />

man Frauen da immer noch dazu bringen,<br />

an Heim und Herd zurückzukehren, was<br />

manche von der christlichen Rechten in<br />

den Achtzigern forderten? Mit welcher Methode?<br />

Ihre Antwort: reproduktive Sklaverei.<br />

Das unvermeidliche F-Wort in Atwoods<br />

Gegenwart auszusprechen, kann gefährlich<br />

werden. „Es ist immer die Frage, was man<br />

darunter versteht. Zum Beispiel waren<br />

manche historischen Feministinnen gegen<br />

Lippenstift und wollten Transgender-Frauen<br />

nicht in die Waschräume für Frauen lassen.<br />

Mit diesen Positionen stimme ich<br />

nicht überein.“<br />

Am vergangenen Wochenende provozierte<br />

Atwood einen Twitter-Sturm mit<br />

einem Kommentar in der kanadischen<br />

Globe and Mail (Überschrift „Bin ich eine<br />

schlechte Feministin?“), in dem sie die<br />

#metoo-Bewegung als Symptom eines kaputten<br />

Systems bezeichnet. Weiter heißt<br />

es dort: „Man hat die Wahl: das System zu<br />

reparieren, es zu umgehen oder es niederzubrennen<br />

und durch etwas völlig anderes<br />

zu ersetzen. In Ländern mit einem geringeren<br />

Wohlstandsgefälle gibt es weniger<br />

sexuelle Übergriffe. Also warum<br />

Frauen unter Hauben: „The Handmaid’s Tale“<br />

fangen wir nicht da an?“ Und sie redet<br />

schnell weiter: „Frauen Informationen<br />

über Verhütung, Reproduktionsrechte, einen<br />

Lohn, der zum Leben reicht, sowie<br />

Schwangerschaftsvorsorge und Mütterbetreuung<br />

vorzuenthalten – wie einige Bundesstaaten<br />

der USA dies tun wollen –,<br />

kommt praktisch einem Todesurteil gleich<br />

und stellt einen Verstoß gegen grundlegende<br />

Menschenrechte dar. Doch Gilead<br />

ist totalitär und respektiert keine universellen<br />

Menschenrechte.“<br />

Das große Thema in Atwoods Literatur<br />

ist Macht, Machtungleichheit oder -missbrauch<br />

Frauen oder anderen Gruppen gegenüber.<br />

„Ich fürchte, bei vielen Menschen<br />

dreht sich alles um Macht“, sagt sie.<br />

„Aber das entsteht nicht aus dem Wunsch<br />

nach Macht, sondern aus Angst, nicht derjenige<br />

zu sein, den es trifft. Denken Sie an<br />

Julia in George Orwells 1984: ,Tut es Julia<br />

an! Nicht mir!‘ “ Bei sozialem Mobbing auf<br />

Twitter geht es darum, „auf der Seite derjenigen<br />

zu stehen, die es machen, um<br />

nicht auf der Seite derer zu sein, mit denen<br />

es gemacht wird“. Ihr Roman Katzenauge<br />

von 1988 ist eine äußerst realistische<br />

Geschichte über das Mobbing unter Schülerinnen.<br />

Die Machtstrukturen unter<br />

Jungs seien „recht einfach und offenkundig<br />

hierarchisch und stabil“, sagt Atwood<br />

heute. Bei Mädchen sei es hingegen<br />

„mehr wie in der Serie Wolf Hall: kompliziert,<br />

verdeckt. Man versteht nie ganz, warum<br />

eine Person beliebt ist und dann<br />

plötzlich wieder nicht.“<br />

Dunkle, tiefe Psyche? Pah!<br />

„Bei Mobbing<br />

auf Twitter will<br />

man auf<br />

der Seite derer<br />

stehen,<br />

die es machen“<br />

Auch wenn Katzenauge eindeutig auf die<br />

Erfahrungen zurückgreift, die Atwood bei<br />

ihrem Umzug aus der kanadischen Wildnis<br />

nach Toronto machte, wo sie die Schule<br />

besuchte, haben Memoiren sie nie gereizt.<br />

„Mich beschäftigt mehr, was in der Welt<br />

vor sich geht. Ich interessiere mich nicht<br />

besonders für meine tiefe, dunkle Psyche,<br />

so faszinierend sie auch sein mag.“ Sie sei<br />

keine Perfektionistin, und es sei ihr auch<br />

egal, wann oder wo sie schreibe. „Ich bin<br />

eine Abfahrtsskiläuferin. Ich komme unten<br />

an. Wenn ich einmal am Ende angekommen<br />

bin, schreibe ich viel um. Ich fange<br />

sogar schon vorne an umzuschreiben,<br />

während ich hinten noch gar nicht fertig<br />

bin, nur um mich zu erinnern, was ich geschrieben<br />

habe.“ Das lässt den Prozess<br />

spontaner klingen, als er ist: Tatsächlich<br />

erstellt sie für jeden Charakter Diagramme,<br />

von dem Jahr an, in dem sie geboren<br />

sind. „Ich will genau wissen, wie alt die Figuren<br />

sind – so bringe ich da nichts durcheinander.“<br />

Margaret Atwood wurde 1939 geboren,<br />

in einer dunklen Zeit, die sie grundlegend<br />

geprägt hat, „keine Frage!“. Von all den Bezügen,<br />

die den Report der Magd inspiriert<br />

haben, stelle Nazi-Deutschland den verfaulten<br />

Kern dar: die Vorstellung, dass die<br />

Stabilität über Nacht über den Haufen geworfen<br />

werden kann. Die Demokratie in<br />

den USA sei noch nie so sehr herausgefordert<br />

gewesen wie heute. „Aber warum<br />

Dunkle Helden, Moden und Geld<br />

Sie hat George Orwell<br />

„meinen Helden“ genannt.<br />

Dessen Roman Animal<br />

Farm habe sie verschlungen<br />

und als literarisches Vorbild<br />

genutzt. Margaret Atwood hat<br />

ihre Kindheit in Ottawa<br />

und Quebec verbracht. Sie<br />

studierte in Harvard englische<br />

Sprache und Literatur und<br />

lehrte als Literaturwissenschaftlerin<br />

an verschiedenen<br />

Universitäten.<br />

Daneben veröffentlichte sie<br />

Kurzgeschichten, Gedichte,<br />

Kinderbücher und Romane.<br />

Bekannt geworden ist sie<br />

mit Der Report der Magd (The<br />

Handmaid’s Tale), entstanden<br />

während eines Stipendiums<br />

in West-Berlin und einer Reise<br />

in den Ostblock (1984). Darin<br />

beschreibt sie ein theokratisches,<br />

patriarchales System,<br />

in dem die noch verbliebenen<br />

fruchtbaren Frauen als<br />

sind die Leute denn so schockiert von all<br />

dem?“, fragt sie. „Sehen Sie sich doch die<br />

Geschichte der USA an. Der eigentliche<br />

Grund, warum die Leute in der Neuzeit so<br />

viel von Amerika erwarten, besteht darin,<br />

dass es anfänglich für das gelobte Land gehalten<br />

wurde. Das hat nicht lange gedauert.<br />

Als die Menschen nach Amerika kamen,<br />

haben sie als Erstes ein Schafott und<br />

ein Gefängnis gebaut.“ Es sei im Moment<br />

vielleicht beängstigend, aber „können wir<br />

uns mal für eine Minute an den Ersten<br />

und Zweiten Weltkrieg erinnern? Und in<br />

den Fünfzigern dachten wir alle, wir würden<br />

von Atombomben in die Luft gesprengt.<br />

Es gibt also verschiedene Formen<br />

von ‚beängstigend‘.“<br />

Als engagierte Umweltschützerin sieht<br />

Atwood im Zustand des Planeten einen<br />

Grund für „soziale Unruhen, Kriege und<br />

Revolutionen. Dazu kommt es, wenn die<br />

Menschen das Gefühl haben, dass ihnen<br />

das Holz ausgeht.“<br />

Lisa Allardice ist Redakteurin des Guardian<br />

Übersetzung: Holger Hutt<br />

Gebärmaschinen an die<br />

Herrschenden vermietet<br />

werden. Die Stellung der Frau<br />

in der Gesellschaft wird in<br />

ihren Romanen oft in Form<br />

von dystopischen Science-<br />

Fiction-Erzählungen thematisiert.<br />

Bereits 1990 hatte<br />

Volker Schlöndorff ihren<br />

Roman Die Geschichte der<br />

Dienerin verfilmt. Die<br />

Adaption des amerikanischen<br />

Streamingdienstes Hulu<br />

wurde bei den Golden Globes<br />

2018 als Beste Dramaserie<br />

ausgezeichnet (in Deutschland<br />

läuft sie auf EntertainTV).<br />

Für ihre Rolle als<br />

Magd Desfred erhielt die<br />

Hauptdarstellerin Elisabeth<br />

Moss den Emmy. Die 2.<br />

Staffel der Serie wird ab Ende<br />

April ausgestrahlt.<br />

Im Jahr 2008, inmitten der<br />

Finanzkrise, erschien Payback.<br />

Darin durchstreift Atwood<br />

die Ideen- und Literaturgeschichte<br />

von der Antike bis<br />

heute. Nicht Liebe, sondern<br />

Geld scheint demnach das<br />

Hauptmotiv der Erzählungen<br />

zu sein. Die kulturhistorische<br />

Betrachtung von Schuld(en)<br />

und Wohlstand steigert sich<br />

bis hin zu apokalyptischen<br />

Szenarien und einer ökologischen<br />

Weltkrise. Mit bissigen<br />

Seitenhieben auf den<br />

Literaturbetrieb wird auch<br />

in Hexensaat (2016), einer<br />

zeitgenössischen Umschreibung<br />

von Shakespeares Der<br />

Sturm, nicht gespart.<br />

Von Eva Menasse als „boshaft<br />

kichernde, weise Frau“<br />

bezeichnet, schaffe sie es<br />

stets, die Macht totalitärer<br />

Systeme literarisch greifbar zu<br />

machen und politische<br />

Moral ironisch auszudrücken.<br />

Margaret Atwood erhielt<br />

2017 den Friedenspreis des<br />

Deutschen Buchhandels. RG<br />

FOTO: GEORGE KRAYCHYK/EVERETT COLLECTION/DPA


der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

Alltag<br />

23<br />

Jetzt die Kür<br />

Altern Wenn Menschen in die Jahre kommen, wird das meist<br />

klischeehaft wahrgenommen – vor allem bei Frauen.<br />

Wie ist es wirklich? Fünf Betrachtungen von Magda Geisler<br />

Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden, hat stets einen wachsenden Schatten im Blick<br />

FOTO: BILDAGENTUR-ONLINE/DPA<br />

Warum Beschönigen<br />

gar nichts bringt<br />

Womit kann man<br />

noch so rechnen<br />

In der Liebe werden<br />

wir nachsichtiger<br />

Ich hatte den Befund, der in meiner<br />

Tasche steckte, schon gelesen, als<br />

ich einer 20 Jahre jüngeren Freundin<br />

in unserer Stammkneipe verkündete:<br />

„Es ist nie gut, sich über<br />

sein Alter was vorzumachen.“<br />

Dabei war mir selbst gar nicht nach<br />

kühlem Realismus zumute, sondern<br />

nach Trost. Da waren sie,<br />

all die Fachtermini über die Beanspruchung<br />

und Abnützung der<br />

Apparatur, die uns zum aufrechten<br />

Gang befähigt. Da traten zum<br />

Beispiel auf: ein Cervicocephalsyndrom<br />

mit Myogelosen, das sind<br />

Muskelverhärtungen. Eine abgeflachte<br />

Lordose, eine Verkrümmung,<br />

an der Halswirbelsäule kann<br />

ich ebenfalls vorweisen.<br />

Man altert nicht gemütlich vor<br />

sich hin. Ganz plötzlich fühlt man<br />

sich mit einem Schlag um Jahre<br />

gealtert, manchmal ist es ein Blick<br />

in den Spiegel, oder das Aufstehen<br />

vom Sessel fällt – mit einem Mal –<br />

schwerer als gestern.<br />

Leben ist Verschleiß. Mir geht es<br />

besser, seit ich mich dieser Erkenntnis<br />

stelle. Das Alter ist keine Krankheit,<br />

aber die ständige Altersbedrohung<br />

ist eine. „Das Alter ist nichts<br />

für Feiglinge“, erklärte einmal die<br />

Hollywood-Schauspielerin Mae<br />

West. Mittlerweile ein geflügeltes<br />

Wort. Andere, wie die gerade 75<br />

Jahre alt gewordene Schauspielerin<br />

Senta Berger, charakterisieren<br />

das Älterwerden unverhüllter als<br />

„Zumutung“.<br />

Wir sind schlichtweg länger alt.<br />

Im Jahr 2030 soll die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung 90 Jahre<br />

betragen – und so kommt das Phänomen<br />

länger und deutlicher in<br />

der Öffentlichkeit vor.<br />

Wenn wir auf der Straße<br />

verschwinden<br />

Das Nicht-mehr-wahrgenommen-<br />

Werden - es macht älteren Frauen<br />

zu schaffen. Eine Freundin, eine<br />

schöne Frau in den 50ern, erzählte,<br />

dass sie manche Blicke vermisst.<br />

Dass sie dieses „Verschwinden“<br />

schmerzvoll erlebt.<br />

Aber das geht auch Männern so:<br />

Kürzlich beklagte sich der Schauspieler<br />

Winfried Glatzeder über<br />

dieses Übersehenwerden. Er fühle<br />

sich ausgesondert. Wenn er die<br />

Straße entlanggehe, gucke man an<br />

ihm vorbei. Er werde nicht mehr<br />

wahrgenommen. Das sei im Beruf<br />

ähnlich. Glatzeder ist jetzt über<br />

70 – so wie ich.<br />

Mir selber macht das Übersehen<br />

wenig aus, weil ich nie eine sehr<br />

auffällige Erscheinung war und eher<br />

unter „ganz nett“ fiel. Und noch<br />

falle. Aber ich mache mich – auch<br />

als Bloggerin – gern kenntlich und<br />

erlebe, dass ich mit meiner Altersangabe<br />

und einem halbwegs realistischen<br />

Foto im Internet und in<br />

sozialen Medien manchen Kontrahenten<br />

Argumente lieferte. Es<br />

gibt Leute, die mit Begriffen wie<br />

„senil“ oder „arme alte Frau“ einen<br />

Punkt machen wollen.<br />

Alte Menschen gelten als gesundheitspolitisches<br />

Problem und<br />

eher konservatives WählerInnen-<br />

Potenzial – so wird das öffentlich<br />

diskutiert. Aber als Subjekte, als<br />

einzelne Menschen verschwinden<br />

sie. Vor allem Frauen. Wenn in<br />

Talkshows sowieso schon wenige<br />

sitzen, dann noch weniger ältere.<br />

Und wenn doch einmal, dann sollen<br />

sie über Probleme reden, die<br />

mit ihrem Alter zu tun haben. Die<br />

Lebensaussagen älterer Menschen<br />

sollen die jüngeren eher ermutigen,<br />

statt sie an Endlichkeiten des<br />

Lebens zu erinnern.<br />

Manchmal möchte man appellieren:<br />

Redet darüber, dass das Alter<br />

beschwerlich ist. Redet über die<br />

Angst vor der Gebrechlichkeit.<br />

Über die Furcht vor dem Ende. „Ich<br />

werde mir doch sehr fehlen“,<br />

diesen ironischen Satz hat Kurt<br />

Tucholsky einmal geschrieben.<br />

Aus der Welt zu verschwinden,<br />

da ist ja auch eine Ungeheuerlichkeit,<br />

die nicht nur im Alter das<br />

Denken überfällt. Selbst bei so<br />

einem trivialen Skandal wie dem<br />

verzögerten Bau des monströsen<br />

Berliner Flughafens, denke ich<br />

manchmal darüber nach, ob ich<br />

seine Eröffnung noch erleben<br />

werde. Manche Männer rechnen<br />

sich aus, wie viele Fußballweltmeisterschaften<br />

sie noch sehen werden.<br />

Ja, es stellt sich ein, dieses<br />

Rechnen, wenn über zukünftige<br />

Projekte berichtet wird. Ich erinnere<br />

mich gern an meine Mutter,<br />

die mir einmal freudvoll sagte: Du<br />

wirst es erleben, das neue Jahrtausend,<br />

du bist dann gerade mal<br />

54 Jahre alt. Sie war damals über<br />

70, und so alt bin ich heute.<br />

Alles ist unsicher, wenn man älter<br />

wird und immer noch älter.<br />

Man muss das richtige Maß finden.<br />

Wo nur sind die<br />

zornigen alten Weiber<br />

Das öffentliche Reden übers Alter<br />

benutzt gefällige Klischees, zum<br />

Beispiel „Unruhestände“. Als<br />

Zuschreibung für einen noch aktiven<br />

Pensionär im Ruhestand.<br />

Ich kenne das nur als zunehmende<br />

Ungeduld: an der Kasse, bei<br />

Ämtern.<br />

Die wird sonst eher jungen Leuten<br />

zugeschrieben. Aber die gucken<br />

geduldiger auf ihr Handy als ich.<br />

Es heißt immer, ältere Menschen<br />

sind gelassener, aber das stimmt<br />

nicht immer. Oder man sagt: Menschen<br />

sind glücklich, wenn sie<br />

„noch gebraucht“ werden. Auch das<br />

ist mir ein bisschen verdächtig.<br />

„Gebraucht“, das sind alte Menschen<br />

sowieso, das Leben hat dafür<br />

gesorgt. Das ist ein Zustand, keine<br />

Anforderung. Übrigens wird dies<br />

oft im Zusammenhang mit Frauen<br />

verwendet, Männern steht die<br />

noch immer kraftvolle, zornige<br />

Wortmeldung im Vordergrund.<br />

Die Putzfrau Susanne Neumann,<br />

Gewerkschafterin und SPD-Mitglied,<br />

die manchmal öffentlichkeitswirksam<br />

ins Rennen geschickt<br />

wird, um ihrer Partei ins Gewissen<br />

zu reden, ist eine Einzelerscheinung.<br />

Die zudem stets etwas inszeniert<br />

wirkt. Zornige ältere Männer<br />

hingegen gibt es fast schon als<br />

Label. Zornige alte Weiber kaum,<br />

Treten sie zu lebhaft in der Öffentlichkeit<br />

auf, werden sie mit Spott<br />

bedacht - wie im Moment SPD-<br />

Fraktions chefin Andrea Nahles.<br />

Bei alten Frauen geht das nur,<br />

wenn sie sich ganz bewusst stilisieren<br />

oder künstlerisch unterwegs<br />

sind. Wie „Die drei alten Schachteln“,<br />

die in den Nullerjahren<br />

auf der Bühne standen. Eine von<br />

ihnen war Brigitte Mira. Damals<br />

war sie 85.<br />

Zu zweit ist es leichter, zumindest<br />

wenn beide voll erwerbstätig waren.<br />

Was ja noch immer ein Vorzug<br />

des Ostens ist. Viele ältere Menschen<br />

müssen nach dem Prinzip leben:<br />

„Ich bin alt und brauche das Geld“.<br />

Meist geht es Alleinstehenden so, in<br />

der Mehrzahl Frauen. Sie sind<br />

häufig Missbrauchsopfer der nach<br />

unten definierten Rentenformeln.<br />

Ich jedenfalls bin erleichtert, dass ich<br />

nichts mehr wirklich tun muss.<br />

Und wenig Sinnsuche betreibe. Übrigens:<br />

Auch nicht nach rückwärts,<br />

auch nicht als Bilanz. Wenn ich<br />

zurückschaue, dann als Erinnerung,<br />

die nicht Versäumnisse abrechnet.<br />

Mein Mann und ich unterhalten<br />

uns oft über die auf einmal so lang<br />

schon zurückliegende Zeit der täglichen<br />

Pflichten und 8-Stunden-Tage.<br />

Und sind froh, dass es jetzt vorbei<br />

ist. So gut und wichtig es ist, sich im<br />

Alter zu betätigen, so sehr von<br />

Belang sind auch die schönen Rituale<br />

der Beschaulichkeit, des Gleichmaßes<br />

der Alltagsverrichtungen und<br />

der Ruhe. Altersweisheit ist mir<br />

allerdings ziemlich fremd. Milde,<br />

„altersmilde“ und nachsichtig bin<br />

ich mit dem Menschen, der mir<br />

am nächsten ist.<br />

Mein Mann ist einige Jahre älter als<br />

ich, und ich habe gerade in den letzten<br />

Jahren erlebt, dass Älterwerden<br />

nicht ein ständiges „Abwärts“<br />

bedeutet. Krank heiten kommen und<br />

vergehen. Das macht mir, die mein<br />

Mann mit den Worten verspottet,<br />

ich sei noch so „herrlich jung“, doch<br />

Mut. Das Alter zeigt, worauf es<br />

ankommt. Es braucht Wohlwollen<br />

füreinander. Nachsicht. Im Alter<br />

zeigt sich für uns deutlicher, warum<br />

wir einst zusammenbleiben wollten.<br />

Wir passen jetzt vielleicht sogar<br />

besser zusammen als früher.<br />

Magda bloggt seit 2009 in der <strong>Freitag</strong>-<br />

Community – auch zu diesem Thema


24 A – Z<br />

der <strong>Freitag</strong> | Nr. 5 | 1. Februar 2018<br />

A–Z Männergrippe<br />

Maskulinität Nasskalt, sonnig, frühlingshaft – Zeit, einige lieb gewonnene<br />

Männerklischees zu zementieren. Ist es eine Hochzeitsangina, wenn sein Hals<br />

kratzt? Beweist Niesen Potenz? Ach je, und es tut doch alles so weh! Noch<br />

mehr sogar, wenn man zur Grippe Grönemeyer hört. Unser Wochenlexikon<br />

AAbgrenzung Potenzieller Männlichkeitsverlust<br />

erschütterte schon frühere Generationen.<br />

Martialisch (➝ Kita) gerät mitunter<br />

die Inszenierung der selbstvergewissernden<br />

Abgrenzung.<br />

Die neue Aesthetik der musikalischen<br />

Impotenz heißt ein Manifest gegen die<br />

Neue Musik von 1920. Männlichkeit wird<br />

als von außen durch das weibliche Andere<br />

gefährdet erfahren, oder durch sich selbst.<br />

Könnte nicht jederzeit homoerotisches<br />

Begehren ins Bewusstsein schießen? Darum<br />

halten sich verunsicherte Männer<br />

an fixen Rollen und sexuellen Orientierungen<br />

fest. Bernd Höcke erntete heftigen<br />

Applaus, als er zeterte, Deutschland<br />

habe seine „Männlichkeit verloren“. Es<br />

müsse „mannhaft“ werden, um „wehrhaft“<br />

zu sein. In seiner Dankesrede zum<br />

Schirrmacherpreis beklagte der Autor Michel<br />

Houellebecq die Rückkehr des Matriarchats.<br />

Der „erste Feind, den unsere westliche<br />

Gesellschaft versucht auszurotten,<br />

ist das männliche Zeitalter, ist die Männlichkeit<br />

selbst“. <br />

Tobias Prüwer<br />

BBericht Männer leben durchschnittlich<br />

fünf Jahre kürzer als Frauen. Sie bekommen<br />

öfter als Frauen einen Herzinfarkt,<br />

und das schon in einem Alter, in dem sie<br />

sich noch voll fit und voll jung fühlen, so<br />

mit 50 also. In diesem Alter begehen drei<br />

Mal mehr Männer als Frauen Suizid. Dass<br />

das so ist, weiß die Wissenschaft schon<br />

lange. Aber warum das so ist, erst seit<br />

Kurzem. Das hat viel mit dem Männergesundheitsbericht<br />

der 20<strong>05</strong> gegründeten<br />

Stiftung Männergesundheit zu tun. Der<br />

Bericht beleuchtet die Zusammenhänge<br />

von Biologie, Gesellschaft und Männlichkeitsbildern.<br />

Der erste Bericht 2010 war<br />

damals sensationell, weil er auf unaufgeregte<br />

Weise sagte: Männer, kümmert<br />

euch um euch. Hustet dem Erwartungsdruck<br />

eurer Chefs, Frauen und Fußballkumpels<br />

was. Und lebt lieber wild, aber<br />

nicht so gefährlich wie früher (➝ Grönemeyer).<br />

<br />

Simone Schmollack<br />

GGrönemeyer Sein Superhit aus dem Jahr<br />

1984 ist ein Song, der Männer versteht,<br />

aber ihre Unzulänglichkeiten auch voller<br />

Genuss und Ironie markiert. Der Mann,<br />

das wehleidige Wesen: Das ist eine Botschaft<br />

des Liedes. „Allzeit bereit“, „ständig<br />

unter Strom“, bekommen Männer leider<br />

viel zu früh nicht nur eine Männergrippe,<br />

sondern nicht selten einen Herzinfarkt<br />

(➝ Bericht). Und so hyperventiliert singt<br />

Grönemeyer das Lied auch: als stünde er<br />

selbst kurz davor.<br />

Männer mögen das Lied. Vielleicht,<br />

weil sie sich erkennen – und weil es keine<br />

Frau geschrieben hat. Vielleicht, weil<br />

es gut ist, wenn ein Mann von den Fehlern<br />

der Männer singt. In jedem Fall war<br />

die Platte 4630 Bochum ein Riesenerfolg<br />

und verkaufte sich in Deutschland besser<br />

als Michael Jacksons Thriller. Außen hart<br />

und innen ganz weich: War Grönemeyer<br />

selbst der Mann, den er mit so viel Furor<br />

besang? Männer ist ein guter Song, auch<br />

weil er sich in viele Richtungen interpretieren<br />

lässt. Eben auch in jene: Die Verletzlichkeit<br />

der Männer, ihre Zartheit, ihr<br />

Hang zum Leiden, ist groß. Größer, als es<br />

der Mainstreampop in Deutschland zuvor<br />

erzählt hat. <br />

Marc Peschke<br />

B<br />

Hochzeitsangina nannte ein schon etwas<br />

älterer Ratgeber für Paare ein Phänomen,<br />

das vor allem junge Männer signifikant<br />

heimgesucht haben soll. Einen Tag vor<br />

der Trauung kriegten die einen dicken<br />

Hals und hohes Fieber, das Ereignis musste<br />

ausfallen. Wahrscheinlich betraf es<br />

solche Ehekandidaten (➝ Molière), die<br />

beim Gedanken an eine Bindung sowieso<br />

schon schwer schlucken mussten –<br />

statt der Hochzeit entgegen zu fiebern.<br />

Ein Grund kann das einstmals in Ost und<br />

West recht niedrige Alter bei Eheschließungen<br />

gewesen sein. In der DDR wurde<br />

oft mit 18 Jahren schon geheiratet. Auch<br />

aus Zwängen. Ein ungeplantes Kind oder<br />

ein Trauschein als Berechtigungsnachweis<br />

für eine Wohnung. Magda Geisler<br />

I<br />

Immunsystem Gibt es bei der Immunabwehr<br />

geschlechtsspezifische Unterschiede?<br />

Die Forschung geht der Frage schon<br />

länger auf den Grund. Siehe da: Während<br />

Östrogene, die im Falle von Bakterien und<br />

Viren notwendig spezifische Immunantwort<br />

fördern, wird sie durch Testosteron<br />

eher gehemmt. Siehste! Aber: wenn die<br />

Immunantwort bei Frauen viel heftiger<br />

ausfällt als bei Männern, müssten die<br />

sich dann nicht elender fühlen? Tatsächlich<br />

kommen andere Studien zu dem Ergebnis,<br />

dass Männer und Frauen gleichermaßen<br />

unter Erkältungen leiden. Die<br />

Wissenschaft bleibt unserer Alltagswahrnehmung<br />

den Realitätscheck (➝ Kita)<br />

also vorerst schuldig. Sophie Elmenthaler<br />

FOTO: DENVER POST/GETTY IMAGES<br />

K<br />

Kita Wann immer meine Frau krank ist,<br />

bin ich kränker – das sagt zumindest meine<br />

Frau. Ich kann dem natürlich so nicht<br />

zustimmen, vor allem wenn sie sagt, dass<br />

ich besonders leiden würde. Fakt ist aber,<br />

dass wir uns, seitdem wir zwei Söhne haben,<br />

von Krankheit zu Krankheit hangeln.<br />

Es liegt am Wetter und vor allem an der<br />

Kita. Da können sich die Kinder richtig<br />

austoben, lernen mit Gleichaltrigen umzugehen<br />

und lernen zu teilen – leider<br />

auch alle Arten von Krankheiten. So ist<br />

unser Alltag abwechslungsreich (➝ Mansplaining)<br />

und immer voller Überraschungen.<br />

Sie heißen Hand-Fuß-Mund, Dreitagefieber,<br />

Hüftschnupfen, Bindehautentzündung,<br />

Pseudo-Krupp, Magen-Darm,<br />

Blasenentzündung, Bronchitis. Nicht zu<br />

vergessen ist die gemeine Erkältung.<br />

Und wenn unsere Söhne mal nichts haben,<br />

aber es uns Eltern getroffen hat, geht<br />

der Alltag unerbittlich weiter – und die<br />

Debatte, wer denn kränker ist und liegen<br />

bleiben darf. Behrang Samsami<br />

M<br />

Mansplaining Zumindest den Leserinnen<br />

unter Ihnen muss das Phänomen<br />

nicht erst dargelegt werden. Und sollte<br />

ausgerechnet ein Mann Ihnen erklären,<br />

was Mansplaining ist? Nun denn, die Redakteurin<br />

hat entschieden: Die Publizistin<br />

Rebecca Solnit erfand das Kofferwort<br />

(Man=Mann, Explaining=Erklären) vor<br />

genau zehn Jahren in einem Blogbeitrag<br />

und gab einem alten Problem (➝ Präsentismus)<br />

den passenden Namen.<br />

Übersetzt heißt der Beitrag: „Männer<br />

erklären mir Dinge; Fakten stören sie dabei<br />

nicht.“ Solnit schildert eine legendäre<br />

Partybegegnung. „Sie schreiben also Bücher,<br />

worüber?“, fragte er. Sie antwortete,<br />

dass ihr letztes Werk die Industrialisierung<br />

des Alltags und den Fotopionier Eadweard<br />

Muybridge behandelte. Sobald dessen<br />

Name fiel, unterbrach der Mann:<br />

„Wissen Sie, dass über Muybridge gerade<br />

ein wichtiges Buch erschien?“ Er plapperte<br />

einfach weiter, bis er verstand, dass er<br />

Solnits Buch referierte. Kurz wurde der<br />

Mann bleich, dann ging der Redeschwall<br />

weiter. Ein klassisches Beispiel für eine<br />

Machtasymmetrie in Kommunikationssituationen<br />

– zahlreiche Studien belegen<br />

die kürzere Redezeit von Frauen. TP<br />

Molière Der eingebildete Kranke, 1673 uraufgeführt,<br />

ist ein Stück, über das man<br />

sich nur wundern kann. Warum wird es<br />

heutzutage so viel gespielt? Warum steht<br />

es bis heute auf den Spielplänen von Provinztheatern<br />

und den ganz großen Häusern?<br />

Es gibt nur eine Erklärung: Das Thema<br />

der eingebildeten Krankheiten ist<br />

ein zeitgenössisches Phänomen. Die<br />

Krankheiten, das Selbstmitleid – sie halten<br />

am Leben. Das Leiden (➝ zartbesaitet)<br />

schafft Leidenschaft. Die Hypochondrie<br />

macht zum Tyrannen, aber: Sie hält fit.<br />

Die Krankheit, natürlich, ist eine Metapher<br />

für das, was uns umgibt: Erschöpfungszustände,<br />

Angst, Kontrollwahn. Molières<br />

Komödie ist reine Gegenwart. Die<br />

tragische Komponente des Ganzen ist<br />

bekannt: Molière starb 1673 während der<br />

vierten Vorstellung des Stücks, in dem er<br />

selbst die Hauptrolle gespielt hatte. MP<br />

PPräsentismus ist gewissermaßen das Gegenteil<br />

der Männergrippe. Arbeitspsychologen<br />

bezeichnen so das Verhalten von<br />

Arbeitnehmern, trotz Krankheit am Arbeitsplatz<br />

zu erscheinen. Der Präsentismus<br />

greift besonders stark in Zeiten ho-<br />

her Arbeitslosigkeit um sich. In Deutschland<br />

scheint er sogar eine Art<br />

Volkskrankheit zu sein. Zwei Drittel<br />

(➝ Statistik) gehen krank zur Arbeit, ermittelt<br />

der Deutsche Gewerkschaftsbund.<br />

Denn im neoliberalen Zeitalter gelten<br />

Krankheiten als Zeichen der Schwäche.<br />

Dabei rechnen Wirtschaftswissenschaftler<br />

vor, dass die ökonomischen Einbußen<br />

durch Präsentismus höher sind, als wenn<br />

Kranke sich einfach auskurieren.<br />

Der Kranke kann sein Kranksein also so<br />

ökonomisch legitimieren – dem einzigen<br />

Kriterium, das zählt. Marlene Brey<br />

RRothaarige „Der Schmerz ist aber überhaupt<br />

der Verlauf der Endlichkeit und<br />

subjektiv die Zerknirschung des Gemüths“,<br />

spekulierte G.W.F. Hegel und ging<br />

munter darüber hinweg, welch haarige<br />

Angelegenheit eben diese Subjektivität<br />

des Schmerzes in Wirklichkeit ist.<br />

Menschen mit rotem Haar seien<br />

schmerzempfindlicher, so eine Studie<br />

der International Association for the<br />

Study of Pain, sie brauchen eine stärkere<br />

Narkose-Dosis. Zudem seien sie empfindlicher<br />

gegenüber Wärme und Kälte. Eine<br />

Extremerfahrung ist die Erkältung für den<br />

rothaarigen Mann: Er leidet doppelt an<br />

„man flu“, was Fieber und Schüttelfrost<br />

(➝ Immunsystem) angeht. Und dann<br />

noch diese Gliederschmerzen! Pepe Egger<br />

SStatistik „Diskriminierung!“, rufen männerbewegte<br />

Aktivisten – auch Maskulisten<br />

genannt –, weil Männer statistisch<br />

öfter Opfer von Gewalt werden als Frauen.<br />

Es ist in der Tat beunruhigend, dass Männer<br />

gerade in der Öffentlichkeit viel stärker<br />

durch körperliche Gewalt bedroht<br />

sind. Es sind aber in der Regel andere<br />

Männer, die die Täter sind. Circa sechsmal<br />

häufiger verursachen sie schwere Körperverletzungen.<br />

Also macht die Geschlechtskategorie<br />

hier wenig Sinn, von<br />

Diskriminierung zu sprechen sowieso<br />

nicht. Laut der Pilotstudie Gewalt gegen<br />

Männer hat ein Viertel der Befragten körperliche<br />

Gewalt innerhalb der heterosexuellen<br />

Partnerschaft erfahren. Problematisch<br />

ist, dass Männergewalt noch<br />

immer als normal gilt. Vielleicht sollten<br />

wir weniger Männlichkeit (➝ Hochzeitsangina)<br />

wagen. Dann können sich<br />

alle sicherer fühlen und eine Gesellschaft<br />

ohne Gefängnisse wird realistischer.<br />

Denn in deutschen Haftanstalten standen<br />

2016 rund 3.125 Frauen 47.733 inhaftierten<br />

Männern gegenüber. <br />

TP<br />

ZZartbesaitet Klar, es gibt sie, die Weicheier<br />

und Mimosen. Lappen, die nicht mal<br />

einen Hocker ins Dachgeschoss schleppen<br />

können und Angst vorm Flaschenteilen<br />

oder Löcher-in-Wände-Bohren haben.<br />

Ich beobachte verweichlichte Unter-dem-<br />

Schirm-Steher statt fröhlicher Durch-den-<br />

Regen-Renner in den Straßen, erlebe<br />

Menschen, die mit Schnupfen sofort daheimbleiben.<br />

Ein typisches Mann/Frau-Phänomen?<br />

Nicht auszumachen. Meine Mutter setzt<br />

riesige Spinnen mit bloßen Händen nach<br />

draußen, eine Freundin geht 640 Kilometer<br />

St. Olavsweg bei Regen und Sturm, ein<br />

Freund klebt seine abgesägte Fingerkuppe<br />

einfach mit Gaffa-Tape wieder an und<br />

ein anderer spielt noch Fußball – trotz<br />

Schlüsselbeinbruchs. Es scheint, trotz<br />

Achtsamkeitsdiktats – es gibt sie noch, die<br />

harten Kerle (➝ Grönemeyer) und die taffen<br />

Deerns. <br />

Oda Hassepass

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