SOZIOLOGIEHEUTE_AUGUSTausgabe2016_gesamtkl
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Sozialphilosophische Praxis<br />
Von der Führung zur Bestimmung<br />
von Peter Stiegnitz<br />
Aus der antiken Philosophie der vernunftorientierten,<br />
individuellen Lebensführung<br />
entstand im Mittelalter<br />
eine religionsorientierte, kollektive Lebensbestimmung.<br />
Am Anfang dieser<br />
sozialphilosophischen Erfahrungstatsache<br />
standen die Kirchenväter, die<br />
Patristiker, angeführt von Aurelius Augustinus<br />
(354-430), dem Bischof von<br />
Hippo Regius (heutiges Tunesien). Sein<br />
erstes Hauptwerk, das heute noch für<br />
alle Kirchen und Religionsgesellschaften<br />
christlicher Prägung gilt, trug den<br />
stolzen Titel „Confessionen“ („Bekenntnisse“).<br />
Mit diesem Werk vollbrachte<br />
Augustinus die Kehrtwendung von<br />
„De libera arbitrio“ („Von der Willensfreiheit“)<br />
zum eigentlichen Ziel seiner<br />
Theologie „De civitate Dei“ („Über den<br />
Gottesstaat“). Damit wurde die freie<br />
Philosophie der Antike im Mittelalter<br />
der Religion untergeordnet.<br />
Augustinus (sozial-)philosophische Wirkung<br />
verlief über die darauf folgenden<br />
Jahrhunderte in zwei Richtungen: Einerseits<br />
schuf der Bischof aus Hippo<br />
Regius mit der Bestimmung „Sein“,<br />
„Wissen“, Wille“ die philosophischen<br />
Grundlagen für die christliche Dreifaltigkeit,<br />
andererseits legte er damit die<br />
sozialphilosophischen Grundsteine<br />
der triumphierenden Kirche. Für den<br />
Kirchenvater war der „Wille“ des Menschen<br />
ausschließlich seine „Liebe zu<br />
Gott“. So gesehen war es nicht schwer,<br />
die „Willensfreiheit“ auf die („Erb-)Sünde“<br />
des Menschen einzuengen. „Wille“<br />
des Menschen bezieht sich auf die<br />
Wahl zwischen „nicht zu sündigen“ und<br />
überhaupt zu „sündigen“.<br />
Aus dieser „augustinischen Enge“ versuchte<br />
die wohl führende Gestalt der<br />
Hochscholastik, Thomas von Aquin<br />
(1225-1274), wenn auch äußerst vorsichtig<br />
auszubrechen. Mit seiner, von<br />
der Amtskirche leicht abweichenden<br />
Lehre – das Wissen neben dem Glauben<br />
zu stehen und die Anerkennung<br />
einer selbständigen Philosophie – bemühte<br />
sich Thomas Augustinus mit<br />
Aristoteles zu verbinden. Damit erwies<br />
er sich (auch) in sozialphilosophischer<br />
Hinsicht als Vorreiter der Renaissance,<br />
da er die Vernunft aus dem „augustinischen<br />
Grabe“ zu neuem Leben erweckte.<br />
Mutig erklärte Thomas, dass<br />
„die Vernunft für alle Menschen zugänglich<br />
ist, so auch das Dasein und<br />
die Eigenschaft Gottes“ (Ivo Frenzel:<br />
„Mensch und Philosophie“, München<br />
1974). Allerdings wollte sich Thomas<br />
nicht zu weit von der Lehre der Kirche<br />
entfernen. Deshalb betonte er immer<br />
wieder die Bedeutung der kirchlichen<br />
Dogmen, wie die „heilige Dreifaltigkeit“,<br />
die Sakramente, und wies alle<br />
Bestrebungen nach der Notwendigkeit<br />
von Beweisen weit von sich, da Thomas<br />
nur zu gut die schwankende Relativität<br />
sozialphilosophischer und theologischer<br />
„Beweisführungen“ seiner Kirche<br />
kannte.<br />
Am Ende der Scholastik machte der<br />
schottischer Philosoph Duns Scotus<br />
(1270-1308) den sozialphilosophischen<br />
Weg für die Renaissance und<br />
den Humanismus frei, in dem er die<br />
„Theophilosophie“ von Thomas, die Bedeutung<br />
der neugewonnen „Vernunft“,<br />
zur absoluten Grundlage menschlicher<br />
Existenz erklärte: „Der Mensch ist von<br />
Natur aus frei und deshalb für sein<br />
eigenes Tun verantwortlich.“ (Frenzel).<br />
Eindeutig war Scotus aufgeklärte<br />
Theologie: Der Mensch kann die „Gnade<br />
Gottes“ nur durch seinen Verdienst<br />
erwerben. „Protestantischer“ geht es<br />
in der katholischen Scholastik wirklich<br />
nicht mehr.<br />
Die Autorität der katholischen Kirche,<br />
die alles beherrschende Religion, die<br />
auch die Philosophie knebelte, musste<br />
Reformation und Humanität in<br />
immer mehr Ländern Platz machen.<br />
Mit dem katholischen Mönch Martin<br />
Luther (1483-1546) erlebte auch die<br />
Sozialphilosophie ihre Renaissance.<br />
Vor allem holte Luther das Gewissen<br />
aller Menschen, diese Vorstufe der<br />
individuellen Autonomie, aus seinem<br />
„augustinischen Exil“ zurück. Mit dem<br />
„Gewissen“, so die Sozialphilosophie<br />
der Renaissance und vor allem des<br />
Humanismus, fand der Mensch seine,<br />
aus der antiken Philosophie ererbte<br />
„Freiheit“ wieder.<br />
Genau genommen – und das ist vor<br />
allem vom Blickwinkel der Sozialphilosophie<br />
entscheidend – betraf die<br />
Renaissance, diese „Wiedergeburt“,<br />
primär den antiken Geist und nicht das<br />
Individuum. So fanden sich vor allem<br />
die Gedanken von Sokrates und die<br />
Schriften von Platon in allen „gebildeten<br />
Mündern“ wieder.<br />
Neben der Sozialphilosophie haben<br />
die Naturwissenschaften das Ende des<br />
Mittelalters eingeläutet. An vorderster<br />
Stelle stand die „kopernikanische Wende“:<br />
Nikolaus Kopernikus (1473-1543)<br />
hat die Erde aus dem Zentrum „aller<br />
Welten“ mit der Sonne ersetzt und<br />
stellte sein „heliozentrisches“ Weltsystem<br />
dem „geozentrischen“ der Antike<br />
entgegen. Auch Johannes Kepler<br />
(1571-1630) und Galileo Galieli (1564-<br />
1642) unterstützten die „kopernikanische<br />
Wende“.<br />
In den Fußstapfen dieser naturwissenschaftlichen<br />
Pioniere bemühte<br />
sich auch die Sozialphilosophie etwas<br />
Neues zu entdecken. So fand Giordano<br />
Bruno (1548-1600,) bevor er öffentlich<br />
verbrannt wurde, „Gott“ und das „Göttliche“<br />
in allen Lebensweisen. Dabei<br />
griff auch Bruno, als „Kind der Renaissance“,<br />
in die Schatzkiste der Antike<br />
und holte von dort den Pantheismus<br />
hervor. Bedeutend mehr Glück als Bruno<br />
hatten Nikolaus Cusanus (1401-<br />
1464) und Philippus Theophrastus Paracelsus<br />
(1493-1541), die wesentliche<br />
Beiträge zu den fünf Kernsätzen der<br />
Renaissance lieferten:<br />
•Ergänzung der Gegensätze<br />
•Ausgeglichenheit des Alls und der Natur<br />
•Wiederentdeckung des Pantheismus<br />
•Harmonie der Seele (Geist) mit der<br />
Natur<br />
•Autonomie und Freiheit des Menschen<br />
Um die sozialphilosophischen Grundzüge<br />
des mittelalterlichen Denkens<br />
zu verstehen, ist es notwendig, die<br />
wichtigsten Eckpunkte des scholastischen<br />
Geistes dieser für unsere Kultur<br />
wichtigen Epoche darzulegen; das wird<br />
die Aufgabe der nächsten Fortsetzung<br />
sein.<br />
Prof. Dr. Peter Stiegnitz ist Soziologe<br />
und Philosoph in Wien<br />
46 soziologie heute August 2016