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MarinaRomeike_Magazin_komplett RZ

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Ausgabe 4/2018<br />

DE: 3,50 Euro<br />

AU: 3,60 Euro<br />

CH: 4,80 CHF<br />

WELTKIND<br />

DAS MAGAZIN FÜR DIE DENKER VON HEUTE<br />

UMWELT:<br />

Nachhaltig reisen<br />

TREUE:<br />

Ist Monogamie überhaupt<br />

noch möglich?<br />

ADIÓS ZUCKER:<br />

Wie die Lebensmittelindustrie<br />

an ihren<br />

Produkten feilt.<br />

GLOBALISIERUNG


Künstler: Matthew Cusick<br />

WELTKIND<br />

Stoppt den Klimawandel, bevor er unsere Welt verändert.<br />

www.greenpeace.de/helfen


APRIL 2018<br />

MARINA ROMEIKE,<br />

CHEFREDAKTEURIN<br />

EDITORIAL<br />

WIR WOLLEN DIE WELT SEHEN, DAS STEHT FEST.<br />

ABER WIE REIST MAN UMWELTFREUNDLICH?<br />

DIESES UND MEHR THEMEN BESCHÄFTIGEN<br />

UNS IN DIESER AUSGABE.<br />

Atiis magnam namus. Del eaquis rem<br />

doluptatur, sapitiundus ressed qui<br />

untis nosaeri doluptur, audae venditiorati<br />

deri consequatus simpost volorest<br />

ea quas simolor moloribus de cores<br />

aut ut aut lant aute dolum et, solorrum<br />

lab is volorro in pelit omnienis illuptam,<br />

vero eatur? Lut aliciis sumquid<br />

untiae venimpos voluptat quibusdae<br />

nem net occatusciis aliquod mo quam<br />

evenis ercia es magnati beatusantem<br />

quiscie ndeligenimin rendunt, simusaperro<br />

ditium, nullaborro cor resernam<br />

as everro to volupit hicate et, nones<br />

aliciis quidictum simusae perchit<br />

repuda doluptam adi offic tem et lant<br />

undis ex esciisq uistior reperit, vendestis<br />

dolupta vent anis aut ea simoluptas<br />

doloreptata sequas es rem dolor aute<br />

nimo que cum re reriatemque endia<br />

earum autatet voloreped entis ea doloratium<br />

harcium reptati aut lab ium<br />

diorum aut unt quia ea vendend aestibustium<br />

non cusae que plignat ionsed<br />

magniscil eosam as que lacimus mod<br />

quatium idebitem antibus nobis nihil<br />

et alignatiunt que.<br />

COVERFOTO: UNSPLASH


WELTKIND<br />

DER SCHNAPPSCHUSS DES MONATS:<br />

FOTOGRAFIERT VON LISCHEN MÜLLER<br />

IM BREMER STEINTOR-VIERTEL<br />

Sendet uns euren Schnappschuss und gewinnt 100 Euro.<br />

Einsendeschluss für die Mai Ausgabe ist der 20. April 2018.<br />

schnappschuss@weltkind.de


INHALT<br />

16<br />

18<br />

22<br />

6<br />

8<br />

NACHHALTIG REISEN<br />

BACKPACKING IN<br />

VIETNAM<br />

GLOBALISIERUNG<br />

WIE VIEL ZUCKER<br />

BRAUCHST DU?<br />

KOSTENLOSER NAHVERKEHR<br />

24<br />

26<br />

32<br />

42<br />

INTERVIEW MIT SARAH KAUFMANN<br />

TREUE:<br />

IST MONOGAMIE HEUTE NOCH MÖG-<br />

LICH?<br />

STRESS MICH NICHT.<br />

DER POET DES MONATS:<br />

HINNERK KÖHN<br />

45<br />

46<br />

WISSEN, DAS MAN NICHT BRAUCHT,<br />

ABER AUCH NIEMALS VERGISST<br />

IMPRESSUM


WELTKIND<br />

TEXT: GREENPEACE<br />

FOTO: UNSPLASH<br />

NACHHALTIG<br />

REISEN<br />

Wer<br />

im Alltag schon auf die Umwelt achtet, für den sind nachhaltige<br />

Urlaube erst recht interessant. Wir haben Tipps zusammengestellt,<br />

wie die schönste Zeit im Jahr auch eine gute Zeit für<br />

Natur und Menschen im Reiseland werden kann.<br />

6


UMWELT<br />

Die Vereinten Nationen hatten 2017 zum „Internationalen Jahr des nachhaltigen Tourismus“ ausgerufen.<br />

Und einer Umfrage der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen zufolge würde knapp<br />

die Hälfte der deutschen Bevölkerung ihren Urlaub gerne umwelt- und sozialverträglich gestalten.<br />

Grund genug, sich Gedanken darüber zu machen, wie sich die eigenen Urlaubspläne so gestalten lassen,<br />

dass die schönste Zeit im Jahr auch eine gute Zeit für die Umwelt und Menschen im Resieland werden<br />

kann.<br />

Was bedeutet nachhaltiges Reisen?<br />

Laut der Weltorganisation für Tourismus<br />

der UN (UNWTO) orientiert sich nachhaltiger Tourismus<br />

an drei Grundsätzen: umweltfreundliches Handeln<br />

wie zum Beispiel ein minimaler Gebrauch von<br />

Plastik, der Schutz von Natur- und Kulturerbestätten<br />

und die Unterstützung von Angestellten vor Ort. Reisen<br />

sollten demnach ökologisch tragbar, wirtschaftlich<br />

fair und sozial verträglich sein. Die Frage bleibt,<br />

wie das konkret aussieht und ob diese Grundsätze<br />

bei der An- und Abreise oder der Buchung der Unterkunft<br />

berücksichtigt werden können.<br />

Wohin soll ich fahren?<br />

An den Strand, in die Berge oder doch in<br />

eine spannende Stadt reisen? Wer einen Urlaub<br />

plant, hat die Qual der Wahl. Die umweltfreundlichste<br />

Variante: Ein Reiseziel wählen, das in der<br />

Nähe des Wohnortes liegt und das mit öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln erreichbar ist. Ist das nicht möglich,<br />

so gilt die Maxime: Lieber einmal lange weg als<br />

häufig kurze Reisen. Wer Fernreisen mag, dem kann<br />

die gemeinnützige Organisation „Ethical Traveler“<br />

Orientierungshilfe geben. Jedes Jahr veröffentlicht<br />

sie eine Übersicht von zehn exotischen Ländern, die<br />

sich im Jahr zuvor ethisch besonders korrekt verhalten<br />

haben. Auf der aktuellen Liste stehen: Belize in<br />

Zentralamerika, die Inselgruppe Cabo Verde vor der<br />

Küste Westafrikas, Chile, Mongolei oder Tonga, ein<br />

Inselstaat im Südpazifik. Bei der Wahl des Urlaubsortes<br />

kann man auch auf Siegel wie die „Blaue Flagge“<br />

achten. Sie wird an Strände und Häfen verliehen, die<br />

durch exzellente Wasserqualität und gutes Umweltmanagement<br />

punkten.<br />

Wie kann ich verreisen?<br />

Besonders klimaschädlich ist laut UNW-<br />

TO das Fliegen – 40 Prozent des CO2-Ausstoßes<br />

im weltweiten Tourismus entfallen auf diese Art<br />

der Fortbewegung. Danach folgen mit 23 Prozent<br />

die Anreise mit dem Auto. Bus und Bahn sind am<br />

umweltfreundlichsten. Gibt es keine Alternative zu<br />

einer Flugreise, kann man mit der Umweltorganisation<br />

„Atmosfair“ die Treibhausgasemissionen von<br />

Flügen oder Hochseekreuzfahrten ausgleichen.<br />

Passagiere zahlen dafür freiwillig einen von ihren<br />

Emissionen abhängigen Klimaschutzbeitrag, den<br />

die Organisation dazu verwendet, erneuerbare Energien<br />

in Entwicklungsländern auszubauen.<br />

Wo kann ich wohnen?<br />

Fast jede Hotelkette versucht mittlerweile<br />

ihre Gäste darauf hinzuweisen, dass die Handtücher<br />

nicht mehr täglich gewechselt werden müssen.<br />

Wem das viel zu wenig ist, der kann sich an verschiedenen<br />

Nachhaltigkeits-Gütesiegeln für Hotels<br />

und Ferienwohnungen orientieren. Zum Beispiel<br />

am „Grünen Schlüssel“, vergeben von der Deutschen<br />

Gesellschaft für Umwelterziehung. Oder am<br />

„TourCert-Siegel“ oder der Zertifizierung vom „Global<br />

Sustainable Tourism Council“. Möchte man in den<br />

Alpen Urlaub machen, kann man bei der Auswahl<br />

der Unterkunft das Umweltgütesiegel für Alpenvereinshütten<br />

berücksichtigen.<br />

Wer bietet mir nachhaltige Komplettpakete<br />

an?<br />

Sie möchten eine Reise aus einer Hand?<br />

In den letzten Jahren haben sich immer mehr<br />

Veranstalter auf nachhaltige Urlaube spezialisiert.<br />

Im „Forum Anders Reisen“ haben sich über 130<br />

solcher Anbieter zusammengeschlossen. Im Angebot<br />

stehen dort nachhaltige Safaris in Südafrika,<br />

Aufenthalte auf einem Biohof in der französischen<br />

Normandie oder eine Radtour durch China. Urlaube<br />

ohne in den Flieger zu steigen, bietet die Plattform<br />

„BUND-Reisen“ an. Sie arbeitet eng mit dem Bund<br />

für Umwelt und Naturschutz zusammen und bietet<br />

Dolomiten-Wanderungen, Touren in die baltischen<br />

Nationalparks oder Reisen zum Vogelzug auf die<br />

Insel Pellworm an. Diese spezialisierten Anbieter<br />

garantieren ein Komplettpaket an guter Zeit – für<br />

den Urlauber und das Reiseland.<br />

7


WELTKIND<br />

TEXT: MARTIN LEWICKI FOTOS: UNSPLASH<br />

BACKPACKING IN<br />

VIETNAM<br />

8


REISEN<br />

Ist Backpacking nur etwas<br />

für Twens? Was bringen Hostelnächte<br />

– außer Lärm? Unser<br />

Autor wagte mit 38 sein<br />

„erstes Mal“. Allein und nur<br />

mit dem Nötigsten ausgestattet,<br />

reiste er vier Wochen<br />

lang durch Vietnam.<br />

9


WELTKIND<br />

Beißender Qualm von verbranntem Unrat lässt<br />

meine Augen tränen. Um uns herum herrscht<br />

ein Chaos aus scheinbar wirr fahrenden Mofas<br />

und Autos. Ein permanentes Hupen, abruptes<br />

Bremsen und Ausweichen, eine Kollision scheint<br />

unausweichlich. Doch mein Fahrer, der mich durch<br />

Hanoi chauffiert, verzieht nicht mal sein Gesicht.<br />

Er spricht kein Englisch, geschweige denn<br />

Deutsch. Beruhigender Smalltalk ist also keine<br />

Option. Am Flughafen hatte jemand mit einem<br />

Pappschild gewartet, auf dem „Martin“ stand. Ob<br />

ich gemeint war, konnte mir der Mann nicht sagen,<br />

denn auch er sprach kein Englisch. Stattdessen<br />

drückte er mir sein Handy in die Hand.<br />

Die Frauenstimme am anderen Ende, die<br />

sich als Candy vorstellte, versicherte mir in holprigem<br />

Englisch, dass der Fahrer tatsächlich mein<br />

Abholservice zum Hostel sei. Also folgte ich ihm – in<br />

das nächste Chaos, den Verkehr, und zu einem ungewissen<br />

Ziel. Das fing schon mal gut an.<br />

Die Reise nach<br />

Vietnam sollte<br />

ein Abenteuer<br />

werden.<br />

Genau das war es aber, was ich hier wollte: rauskommen<br />

aus meinem Berliner Alltag, der so perfekt<br />

geregelt war, so sicher. Ich hatte es mir gemütlich<br />

gemacht in meinem Leben – vielleicht ein wenig zu<br />

gemütlich. Der Drang nach Alltagsoptimierung und<br />

Routine ist zwar hilfreich, um ein bequemes Leben<br />

zu führen.<br />

Doch manchmal verliert man sich in einer<br />

Dauerschleife aus Wohlstandsproblemchen. Ich<br />

rege mich zum Beispiel über kleinste Warteschlangen<br />

auf, die Knarzgeräusche meines Markenlaptops<br />

nerven mich, ebenso unschuldige Menschen (meist<br />

Touristen), die mir auf der Straße versehentlich vor<br />

die Füße laufen.<br />

Ein klarer Fall von Erste-Welt-<br />

Erschöpfung.<br />

Also beschloss ich, für eine Weile alles zu ändern.<br />

Ich würde als Backpacker umherreisen – zum ersten<br />

Mal, mit meinen 38 Jahren. Allein und nur mit dem<br />

Nötigsten ausgestattet, vier Wochen lang durch<br />

Vietnam.<br />

Bis auf die erste Nacht sowie den Hin- und<br />

Rückflug hatte ich nichts vorab gebucht. Bewusst.<br />

Alles Weitere wollte ich spontan auf mich zukommen<br />

lassen. Bloß nicht, wie im Berliner Alltag, zu viel<br />

planen. Und günstig sollte es werden, keine unnötigen<br />

Ausgaben, Übernachtungen nur in Hostels.<br />

Die Reise sollte ein Abenteuer werden,<br />

aber auch eine kleine Auszeit – der längste Urlaub,<br />

den ich mir in den 15 Jahren meines bisherigen<br />

Berufslebens gönnen würde. Also nahm ich mir<br />

vier Wochen <strong>komplett</strong> frei von sämtlichen beruflichen<br />

Verpflichtungen. Als Freiberufler ist dies zwar<br />

möglich, aber nicht so selbstverständlich wie für Angestellte,<br />

die geregelt Urlaub nehmen können und<br />

sogar die Möglichkeit haben, ein längeres Sabbatical<br />

zu vereinbaren.<br />

Berührungsängste darf man als<br />

Backpacker nicht haben.<br />

Warum eigentlich Vietnam? Das Land hat mich<br />

schon immer fasziniert. Bisher kannte ich es nur<br />

aus Fernsehreportagen, doch sie zogen mich an,<br />

die Impressionen von den grünen Kalkfelsen der<br />

Halong-Bucht, den schwimmenden Dörfern, den<br />

mit Mofas gefüllten Straßen, den endlosen Reisfeldern,<br />

dem exotischen Essen. Aber auch die Bilder<br />

des Vietnamkrieges haben mich mein Leben lang<br />

begleitet.<br />

Zum Glück fährt mich der Fahrer tatsächlich<br />

zum richtigen Hostel – das erste, das ich in meinem<br />

Leben bis dahin gebucht habe. Wie viele ältere<br />

Bauten in Hanoi ist auch dieses faszinierend schmal;<br />

das mehrgeschossige Haus ist nur drei Meter breit.<br />

Erstaunlich, wie effizient man hier mit Raum umgehen<br />

kann: Das von mir bezogene Achtbettzimmer<br />

würde fast zweimal in mein Berliner Schlafgemach<br />

hineinpassen.<br />

Ein Vorteil der Enge ist, dass man schnell<br />

Gleichgesinnte kennenlernt, eine gewisse Offenheit<br />

vorausgesetzt. Berührungsängste sollte man als<br />

Backpacker lieber nicht haben. Kaum angekommen,<br />

bin ich schon mit einem Zimmergenossen im<br />

Gespräch.<br />

10


REISEN<br />

HANOI, VIETNAM<br />

Tamir, ein junger Israeli, ist ebenfalls allein<br />

unterwegs, reist aber schon länger durch Vietnam.<br />

Wie bei jeder neuen Bekanntschaft auf dieser Reise<br />

lautet eine der ersten Fragen: von Nord nach Süd<br />

oder von Süd nach Nord? Während ich vom Norden<br />

her in Richtung Süden vorstoße, ist er vom Süden<br />

hochgereist.<br />

Wie man den Verkehr in Hanoi<br />

überlebt<br />

Und so profitiere ich von seinen Erfahrungen. Er gibt<br />

mir wertvolle Tipps, rät von touristischen Badeorten<br />

wie Nha Trang ab, empfiehlt die nördliche Bergregion<br />

rund um die Stadt Sa Pa sowie einen Abstecher<br />

auf die weniger touristische Insel Cat Ba.<br />

Wir verstehen uns so gut, dass wir zwei<br />

Tage gemeinsam in Hanoi verbringen. Er zeigt mir,<br />

wie man eine niemals stillstehende Straße überquert,<br />

ohne eine Massenkarambolage auszulösen.<br />

Das Geheimnis: auf keinen Fall abrupt stehen<br />

bleiben, einfach mit einem konstanten Tempo die<br />

Straße passieren. So können die Mofafahrer einen<br />

gut einschätzen und entsprechend ausweichen.<br />

Zwei Tage lang komme ich aus dem Staunen<br />

nicht heraus: Obwohl ich das Gefühl habe, dass<br />

mich jederzeit jemand überfahren könnte, passiert<br />

nichts dergleichen.<br />

Denn anders als in Deutschland beharrt<br />

man hier nicht stur auf Verkehrsregeln. Stattdessen<br />

fährt man mit Umsicht und richtet sich flexibel nach<br />

den anderen aus. Dabei fließt der Verkehr ähnlich<br />

dynamisch wie ein Fischschwarm. Trotz geringster<br />

Abstände kommt es kaum zu Unfällen oder Staus,<br />

weil die Mofas selten schneller als 30 Stundenkilometer<br />

fahren und daher rechtzeitig reagieren und<br />

bremsen können.<br />

Das Thema Essen ist bei der Reise ebenfalls<br />

wichtig. Zwar gilt die vietnamesische Küche als eine<br />

der besten Asiens, allerdings kann man sich auch<br />

schnell eine Magen-Darm-Verstimmung holen. Es<br />

empfiehlt sich, gut durchgekochte und gebratene<br />

Speisen zu wählen und gerade in den ersten Tagen<br />

auf Obst und Salat ganz zu verzichten.<br />

Ein Erlebnis sind die Hot-Pot-Gerichte, die<br />

man jeden Abend auf den Straßen Hanois findet<br />

und mindestens zu zweit teilen sollte. Ein Hot-Pot<br />

ist eine große würzige Suppe, serviert auf einem<br />

11


WELTKIND<br />

Gaskocher. Dazu werden Gemüse, Tofu, Fleisch oder<br />

Fisch und Meeresfrüchte gereicht, ebenso Nudeln.<br />

Aus diesen Zutaten kocht man sich sein eigenes<br />

Süppchen, indem man sie nach und nach in dem<br />

heißen Pott gar werden lässt, herausfischt und isst.<br />

Am Ende bleibt ein würziger Sud übrig.<br />

Wählt man ein Restaurant, in dem nur<br />

Einheimische essen, entgeht man den typischen<br />

Touristenfallen. Und an die winzigen Plastikhocker<br />

sollte man sich gewöhnen, denn die wird man noch<br />

oft antreffen.<br />

Eines der besten Gerichte meiner Reise<br />

war allerdings ein typisches „Arbeitermenü“ in dem<br />

beliebten Restaurant „Morning Glory“ mitten im<br />

Touristenort Hoi An. Zu einer leichten Krabbensuppe<br />

als Vorspeise gab es karamellisierte Makrele,<br />

gebratene Auberginen, einen Salat mit Koriander<br />

und Minze, ein Spiegelei sowie Reis und natürlich<br />

eine Chili-Sauce zum Dippen. Das Ganze kostete<br />

umgerechnet sieben Euro, eine Empfehlung aus<br />

dem Reiseführer.<br />

So gut mein „Lonely Planet“-Reiseführer<br />

war, ich hätte die Reise auch ohne ihn geschafft.<br />

Denn die beste Informationsquelle sind unterwegs<br />

die vielen anderen Backpacker mit ihren persönlichen<br />

Erfahrungen. Wie ein Schwamm habe ich<br />

mich Tag für Tag mit Informationen über das Land<br />

vollgesaugt. Am Ende der Reise fühlte ich mich<br />

selbst wie ein Reiseführer, der die besten Insidertipps<br />

parat hat.<br />

Obwohl ich vor der Reise überlegt hatte,<br />

das Smartphone so selten wie möglich zu benutzen,<br />

erwies es sich als sinnvoller Helfer. Bei meiner<br />

Ankunft in Hanoi kaufte ich mir in einem Smartphone-Shop<br />

eine SIM-Karte für umgerechnet zehn Euro<br />

– wer gut verhandelt, zahlt die Hälfte, wie ich später<br />

erfuhr.<br />

Die Karte reichte locker aus für die gesamte<br />

Reise. Ob Musikhören, Navigieren, Hostels und<br />

Restaurants finden, Inlandsflüge buchen, Nachrichten-Apps<br />

nutzen: Das Handy erleichtert das Backpacking.<br />

Beim Preise vergleichen und buchen helfen<br />

Apps wie Hostelworld und Agoda, Tripadvisor sowie<br />

Skyscanner.<br />

SA PA, VIETNAM<br />

12


Per Bus, Boot und Zug im Land<br />

unterwegs<br />

Die ersten zwei Wochen verbrachte ich<br />

in einem wahren Backpacker-Rausch. Nach Tamir<br />

lernte ich Briten, Amerikaner, Vietnamesen, Franzosen,<br />

Australier, Neuseeländer, Kanadier, Mexikaner,<br />

Österreicher und andere Deutsche kennen.<br />

wwIch reiste von Hanoi gen Norden in die<br />

Gebirgsregion rund um die Stadt Sa Pa in einem<br />

übervollen Nachtbus, in dem Einheimische einfach<br />

auf dem Boden schliefen. Dort verbrachte ich eine<br />

Nacht bei einer traditionellen Gebirgsfamilie und<br />

reiste zurück nach Hanoi, um den Zug in die Küstenstadt<br />

Hai Phong zu nehmen.<br />

Per Schnellboot ging es nach Cat Ba, eine<br />

Insel nahe der Halong-Bucht mit schönen Stränden<br />

und einem Dschungel zum Wandern. Sie ist zudem<br />

idealer Ausgangspunkt für günstige Bootsausflüge<br />

in die weltberühmte Felsenlandschaft – ein Naturwunder<br />

aus fast 2000 kleinen Kalkinseln.<br />

Eine gute Investition war das so genannte<br />

Open Bus Ticket, das ich auf Cat Ba für umgerechnet<br />

38 Euro kaufte. Damit konnte ich durch halb<br />

Vietnam per Bus reisen und an festgelegten Orten<br />

aus- und später wieder zusteigen.<br />

So ging es in das Naturschutzgebiet rund<br />

um Ninh Binh, das man auf mehrstündigen Bootstouren<br />

erkunden kann. Trotz der vielen einheimischen<br />

Touristen auf den unzähligen kleinen Paddelbooten<br />

ist die von Flüssen zerteilte Hügellandschaft<br />

ein großartiges Erlebnis. Allerdings sollte man nicht<br />

in einem Hostel direkt am Reisfeld übernachten, es<br />

sei denn, man hat keine Probleme mit Ratten, die<br />

sich gelegentlich ins Zimmer schleichen.<br />

Laternen tauchen die<br />

Altstadt von Hoi An in<br />

warmes Licht.<br />

Im Nachtbus ging es weiter nach Hue, eine<br />

Stadt, die wegen ihrer eindrucksvollen kaiserlichen<br />

Palastanlage einen Abstecher wert ist. Mehr als zwei<br />

Tage muss man aber nicht verweilen.<br />

Im Gegensatz zu Hoi An: Obwohl sehr<br />

touristisch, ist diese pittoreske Stadt eine der charmantesten<br />

in ganz Vietnam. Die Häuser der Altstadt<br />

mit ihrem leicht morbiden Ambiente gehören zum<br />

Unesco-Weltkulturerbe. Sie werden bei Anbruch der<br />

Dunkelheit von bunten Laternen, die über den Straßen<br />

hängen, in ein warmes Lichtermeer getaucht.<br />

Wer gerne shoppt und schleppt, kann sich<br />

hier günstig Anzüge oder Kleider maßschneidern<br />

lassen und handgefertigte Souvenirs kaufen, zum<br />

Beispiel Lampenschirme oder Keramik.<br />

Nach den vielen Busfahrten gönnte ich<br />

mir einen Flug von der benachbarten Großstadt<br />

Da Nang nach Ho-Chi-Minh-Stadt, die von Einheimischen<br />

immer noch oft Saigon genannt wird.<br />

Mittlerweile ziemlich selbstsicher, suchte ich mir<br />

bei Google Maps eine Verbindung mit öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln vom Flughafen zum Hostel heraus.<br />

Obwohl mich der Bus anders als geplant<br />

irgendwo in der Innenstadt absetzte und ich mich<br />

fast eine halbe Stunde bei 33 Grad zum Hostel navigieren<br />

musste, war ich zufrieden: Die Fahrt war mit<br />

13


WELTKIND<br />

umgerechnet 50 Cent ein Schnäppchen, während<br />

ich für den ersten Transfer in Hanoi noch 16 US-Dollar<br />

gezahlt hatte.<br />

Je länger ich durch Vietnam reiste, desto<br />

geiziger wurde ich, denn ich bekam ein besseres<br />

Gefühl für die realen Preise vor Ort. Zwar sind selbst<br />

die Touristen-Abzocker-Preise für Urlauber aus<br />

Deutschland noch verhältnismäßig günstig. Aber<br />

warum soll man sie zahlen, wenn man weiß, dass<br />

es mit ein wenig Verhandlungsgeschick wesentlich<br />

preiswerter geht?<br />

Als Backpacker lebt man eben sparsam.<br />

Das mit Abstand teuerste Hostel auf der Reise kostete<br />

mich elf Euro pro Nacht, das günstigste nur vier,<br />

wobei meistens ein Frühstücksomelette mit Brot<br />

und Kaffee inklusive war.<br />

Die Auszeit hat neue<br />

Erkenntnisse gebracht.<br />

In Saigon machte ich noch eine spannende<br />

Hostel-Bekanntschaft: Jerry, ein sportlicher<br />

30-jähriger Südkoreaner. Er hatte alles verkauft,<br />

was er besaß, um mit einem Rennrad auf Weltreise<br />

zu gehen. Er war seit drei Monaten unterwegs und<br />

wollte so lange reisen wie sein Geld reicht: „Am<br />

liebsten fünf Jahre“.<br />

Verglichen damit wirkten meine vier Wochen<br />

Auszeit geradezu lächerlich. Dennoch haben<br />

sie mir gereicht. Um zu erkennen, wie wenig ich<br />

brauche, um glücklich zu sein. Um mich zu erinnern,<br />

wie wichtig gute zwischenmenschliche Beziehungen<br />

sind. Um zu merken, dass Reisen so glücklich<br />

macht wie kaum etwas anderes. Und dass ich zwar<br />

ab und zu Chaos und Abenteuer brauche, aber mein<br />

geregeltes Leben in Berlin doch sehr mag.<br />

Bevor es zurück an den Schreibtisch ging,<br />

gönnte ich mir einige Tage Erholung auf der Insel<br />

Phu Quoc im Süden Vietnams. Wie gut, dass ich<br />

während der Reise meine lässige Seite entdeckt<br />

hatte, denn direkt neben meinem Hostelzimmer lag<br />

unerwartet eine laute Baustelle.<br />

Trotz des Lärms ab sieben Uhr frühmorgens<br />

ließ ich mich davon nicht stressen – ganz wie<br />

der Fahrer im Hanoier Verkehrschaos zu Beginn<br />

meiner Reise. Von Vietnam lernen heißt eben, im<br />

Chaos zu entspannen.<br />

14<br />

NINH BINH, VIETNAM


Tipps und<br />

Informationen<br />

Anreise:<br />

Etwa nonstop mit Vietnam<br />

Airlines oder via<br />

Singapur mit Singapore<br />

Airlines nach Hanoi.<br />

Backpacking:<br />

Wer länger als zwei<br />

Wochen durch Vietnam<br />

reist, benötigt<br />

ein Visum und eine<br />

Einladung, die es<br />

online bei Anbietern<br />

wie e-visums.de gibt.<br />

Das Visum bekommt<br />

man schnell und<br />

günstig am Ankunftsflughafen<br />

als „Visa on<br />

Arrival“. Vor der Reise<br />

sollte man sich über<br />

Impfungen informieren,<br />

ein Malaria-Medikament<br />

mitnehmen.<br />

Mit Kreditkarten kann<br />

man vielerorts Geld abheben<br />

und bezahlen.<br />

Um Preise zu feilschen<br />

ist üblich. Hostels und<br />

günstige Unterkünfte<br />

findet man am besten<br />

vor Ort.<br />

Auskunft:<br />

vietnamtourism.com<br />

15


WELTKIND<br />

TEXT: GREENPEACE FOTOS: UNSPLASH<br />

GLOBA<br />

Massenhaft gehen die Menschen<br />

gegen Freihandelsabkommen<br />

auf die Straße,<br />

massenhaft strömen sie<br />

aber auch in die Filialen<br />

von global agierenden<br />

Konzernen wie H&M, Apple<br />

und Co. Wenn es um die<br />

Haltung zur Globalisierung<br />

geht, wird es schnell kompliziert.<br />

Die Globalisierung durchdringt Politik und<br />

Gesellschaft in aller Welt immer tiefgreifender.<br />

Wie verändert sie unser Leben? Kann<br />

das Zusammenwachsen der Märkte fair gestaltet<br />

werden – und wenn ja: wie? Ist ein Rückzug aus der<br />

globalisierten Welt überhaupt noch denkbar? Oder<br />

sind Nationalismus und Protektionismus, die derzeit<br />

vielerorts zu erstarken scheinen, eigentlich längst<br />

Makulatur? Was sich heute mehr zeigt denn je: Wir<br />

können nicht länger nur die Vorteile der Globalisierung<br />

genießen, aber über ihre Schattenseiten<br />

hinwegsehen. Wir haben deshalb mit Joseph E.<br />

Stiglitz gesprochen, dem ehemaligen Chefökonom<br />

der Weltbank und Wirtschafts-Nobelpreisträger, der<br />

die gegenwärtigen Spielregeln der Weltwirtschaft<br />

scharf kritisiert. „Um Ungerechtigkeit, Armut und<br />

soziale Verwerfungen zu lindern, benötigen wir<br />

einen neuen sozialen Gesellschaftsvertrag“, sagt<br />

Stiglitz im Interview mit Vito Avantario und Chefredakteur<br />

Kurt Stukenberg. Allerdings wendet er sich<br />

gegen die Aufkündigung von Regeln der globalen<br />

Zusammenarbeit, wie US-Präsident Donald Trump<br />

sie favorisiert, und setzt stattdessen auf Reformen<br />

existierender Systeme. „Auch dieser Weg kann zu<br />

radikalen Veränderungen führen. Trump hingegen<br />

bevorzugt den Weg der Zerstörung. In seiner Welt<br />

ohne Regeln siegt aber immer der Starke über den<br />

Schwachen.“<br />

In vielen weiteren Geschichten ziehen wir<br />

mit Ihnen unsere Runden durch das „große Ganze“.<br />

Wussten Sie zum Beispiel, dass unsere moderne<br />

Welt im wahrsten Sinne des Wortes auf Sand gebaut<br />

ist? Denn ohne den vermeintlichen Allerweltsstoff<br />

gäbe es weder Beton noch Asphalt, also auch keine<br />

Straßen, Startbahnen, Hochhäuser, kurz: keine effiziente<br />

Infrastruktur. Doch der Rohstoff wird knapper,<br />

die explodierende Nachfrage macht ihn zu einer<br />

kostbaren, global gehandelten Ware – die sogar aus<br />

Kriegs- und Konfliktregionen exportiert wird, wie<br />

der Autor David Owen erzählt. Er wirft ein Blick auf<br />

die „Sandmafia“, deren Macht in einigen Weltregionen<br />

unaufhaltsam wächst. Und er legt dar, weshalb<br />

der Sandhunger auch in Zukunft kaum zu stillen<br />

sein wird: Weil die feinen Gesteinskörnungen auch<br />

zur Herstellung von Solarpaneele und Windturbinen<br />

unersetzlich sind. Owens Geschichte wird begleitet<br />

durch eindrucksvolle Bilder der Dokumentarfotografin<br />

Sim Chi Yin, die sich in einem Langzeitprojekt<br />

16


POLITIK<br />

LISIERUNG<br />

dem Thema „Sand“ gewidmet hat.<br />

Auf den Spuren der Geschichte der Globalisierungskritik<br />

haben wir auch Veteranen der<br />

Bewegung getroffen: Unser Autor Pepe Egger ist<br />

der Frage nachgegangen, was sie zu ihren Protesten<br />

damals wie heute antreibt, was gleich geblieben ist<br />

und was sich seit Seattle, Genua und Heiligendamm<br />

verändert hat. Egger porträtiert Menschen, die die<br />

Welt analysieren, mit ihr hadern, sie manchmal<br />

auch verwünschen – aber sich eben um sie bemühen.<br />

Denn hinter aller Kritik steckt ja die Hoffnung<br />

darauf, dass es besser werden kann. Ein guter und<br />

wichtiger Gedanke!<br />

Und weil die Globalisierung unser Leben<br />

bis in den kleinsten Winkel durchdrungen hat,<br />

beginnt die Reportage von Greta Taubert genau da:<br />

in ihrem Schlafzimmer. Dort hängt, Trophäen gleich,<br />

ihre stattliche Sammlung an Nylonstrümpfen in<br />

allen erdenklichen Farben und Mustern. Tauberts<br />

Herz hängt an den billigen Wegwerfartikel, deren<br />

Herstellung und Abfallprodukte das Wasser und die<br />

Atmosphäre verschmutzen. Nun hat sie sich auf den<br />

Weg gemacht, den Strümpfen und ihren Laufmaschen<br />

auf den Grund zu gehen – und besuchte auf<br />

ihrer Reise Vorreiter der Textil-Branche auf dem Weg<br />

zur Nachhaltigkeit.<br />

Mit dem Geografen Rüdiger Glaser sprach<br />

unser Autor Fabian Federl über Grenzen. Wie sind<br />

sie entstanden, wann haben sie sich verändert und<br />

wurden neu verhandelt? Glaser berichtet von seiner<br />

Forschung über Grenzverschiebungen durch Kriege,<br />

durch Klimawandel und durch gesellschaftlichen<br />

Wandel. In naher Zukunft, so Glaser, werde die<br />

Digitalisierung ihr Versprechen, die Auflösung aller<br />

Grenzen im virtuellen Raum, nicht halten können.<br />

Denn das Verschwinden von Grenzen sei zunächst<br />

keine technische, sondern eine gesamtgesellschaftliche<br />

Frage. Dem Gespräch zur Seite gestellt haben<br />

wir eindrucksvolle Bilder innereuropäischer Grenzverläufe,<br />

die der Fotograf Valerio Vincenzo in seinem<br />

Fotoprojekt „Borderline“ festgehalten hat: Die Utopie<br />

einer Welt ohne Grenzen, in Vincenzos Bildern manifestiert<br />

sie sich.<br />

Die Fotoreihe findet ihr Online unter:<br />

www. greenpeace.de<br />

17


ERNÄHRUNG<br />

WELTKIND<br />

TEXT: GREENPEACE<br />

FOTOS: UNSPLASH<br />

WIE VIEL ZUCKER<br />

BRAUCHST DU?<br />

18


ERNÄHRUNG<br />

Die Deutschen werden im Schnitt immer<br />

dicker. „Wir haben ein massives Überfettungsproblem<br />

hierzulande“, sagt Gerrit<br />

Heinemann, Handelsexperte von der Hochschule<br />

Niederrhein. Krankheiten wie Fettleibigkeit (Adipositas)<br />

und Diabetes nähmen überhand, „und die<br />

Gesundheitskosten fliegen uns um die Ohren“. Die<br />

Lebensmittelbranche habe ihren Anteil an dieser<br />

Misere, kritisiert Heinemann.<br />

Discounter und Supermarktketten verkünden<br />

nun, das Problem stärker in den Fokus zu nehmen<br />

– indem sie die Rezeptur ihrer Eigenmarken<br />

„optimieren“. Was genau das heißt, lassen sie häufig<br />

aber offen.<br />

Einzig Lidl tut sich hervor mit einer erstaunlich<br />

konkreten Zielvorgabe. Bis 2025 soll der<br />

Salz- und Zuckergehalt der Eigenmarken um 20<br />

Prozent sinken. Gestartet wurde mit Frühstücksflocken:<br />

Der Zuckeranteil von „Honey Rings“ wurde<br />

nach Angaben der Firma um rund 30 Prozent<br />

gesenkt. Er liegt damit zwar immer noch bei 23,9<br />

Gramm pro 100 Gramm. Aber: „Lidl bringt Schwung<br />

in die Debatte“, sagt Oliver Huizinga von Foodwatch.<br />

„Die anderen Handelskonzerne tun sich noch sehr<br />

schwer, ein konretes Ziel mit einer Zahl zu nennen.“<br />

20 Prozent weniger Zucker und Salz sei durchaus<br />

ambitioniert.<br />

Meist nur vage<br />

Versprechen<br />

WENIGER ZUCKER?<br />

WIE DIE LEBENSMITTEL-<br />

BRANCHE AN IHREN<br />

PRODUKTEN FEILT.<br />

Zum Frühstück Cornflakes, später<br />

noch ein Knusperriegel: Süßes steht<br />

bei vielen Deutschen ganz oben auf<br />

dem täglichen Speiseplan. In den Supermärkten<br />

haben selbst scheinbar<br />

gesunde Produkte oft einen hohen<br />

Zuckergehalt. Mediziner halten das<br />

für gefährlich. Jetzt will die Branche<br />

umsteuern – sagt sie zumindest.<br />

Wie die Lebensmittel-<br />

Tatsächlich äußern sich andere Händler bei dem<br />

Thema vage. „Wir wollen die ausgewogene Ernährung<br />

unserer Kunden fördern und setzen uns seit<br />

einigen Jahren für eine gesündere Produktzusammenstellung<br />

ein“, teilt Aldi Nord mit. Von Aldi Süd<br />

heißt es, man sei „grundsätzlich bestrebt, den Zuckergehalt<br />

in den von uns gehandelten Artikeln so<br />

gering wie möglich zu halten“. Man habe „in vielen<br />

Warenbereichen bereits individuelle Rezepturänderungen<br />

im Hinblick auf die Reduktion von Salz und<br />

Zucker durchgeführt“, etwa bei Broten, Müsli oder<br />

Pudding. Die Supermarktkette Real will bis Ende<br />

2017 die Rezepturen von Eigenmarkeprodukten<br />

„überprüfen und gegebenenfalls optimieren“.<br />

Kürzlich legte Rewe seine Pläne auf den<br />

Tisch. Das langfristig angelegte Reduktionsprogramm<br />

für Speiseeis, Cerealien, Brot und Getränke<br />

aus Eigenmarken soll „möglichst ohne wesentliche<br />

19


WELTKIND<br />

Veränderung der Sensorik der Produkte einhergehen“.<br />

Die Geschmackserwartungen der Kunden ließen<br />

sich nur über einen längeren Zeitraum ändern,<br />

so ein Rewe-Sprecher. „Wir wollen unseren Kunden<br />

Zeit geben, sich geschmacklich auf die veränderten<br />

Rezepturen einzustellen.“ Um wie viel Prozent der<br />

Zucker- und Salzgehalt sinken soll, sagt Rewe im<br />

Gegensatz zu Lidl nicht.<br />

Die Kunden selbst bekommen von dem<br />

schleichenden Prozess wohl nichts mit – nur wenn<br />

sie die Angaben auf Produkten mit älteren Verpackungen<br />

vergleichen, könnten sie den geringeren<br />

Zuckergehalt bemerken. Eine gesonderte Auszeichnung<br />

ist laut Rewe erst ab einer Reduktion um 25<br />

Prozent bei Salz und 30 Prozent bei Zucker zulässig,<br />

bezogen auf ein vergleichbares Lebensmittel.<br />

Das aber wird nicht angestrebt. „Eine derart starke<br />

Reduktion in einem Schritt ist geschmacklich so gut<br />

wie nicht möglich, da der Kunde geschmacklich so<br />

ein ‘anderes Produkt‘ erhält“, so ein Rewe-Sprecher.<br />

„Die meisten Erfrischungsgetränke machen nicht<br />

frisch, sondern krank.“<br />

„DAS ANGEBOT IN DEN<br />

REGALEN WIRD ETWAS<br />

BESSER, ABER GUT IST DAS<br />

NOCH LANGE NICHT.“<br />

Gerrit Heinemann<br />

Handelsexperte Heinemann hat Zweifel, dass sich<br />

am ungesunden Konsumverhalten in Deutschland<br />

alsbald etwas ändert. „Es gibt in Deutschland eine<br />

große Diskrepanz zwischen bekundetem und tatsächlichem<br />

Konsumverhalten“, sagt der Professor.<br />

„Fragt man den Verbraucher, was er kaufe im Supermarkt,<br />

nennt er nur gesunde Lebensmittel – doch<br />

wenn er vor dem Regal steht, kauft er trotzdem<br />

Cola und fettigen Schweinebauch zum Grillen.“ Der<br />

Verbraucher müsse dringend besser aufgeklärt werden.<br />

Es sei zwar positiv, dass es in der Supermarktund<br />

Discounterbranche Anzeichen zum langsamen<br />

Wandel gebe.<br />

Mit ihrem Weniger-Zucker-Kurs liegen Lidl und die<br />

anderen Ketten auf Linie des Bundesernährungsministeriums<br />

– die Behörde hatte kürzlich eine Strategie<br />

entwickelt, der zufolge der Zucker- und Salzgehalt<br />

in Lebensmitteln mit freiwilligen Vorgaben der<br />

Firmen gesenkt werden soll.<br />

Aus Sicht von Foodwatch ist das jedoch<br />

der falsche Weg. Fettleibigkeit und Diabetes sind<br />

aus Sicht der Organisation eine enorm hohe Gefahr<br />

für die öffentliche Gesundheit. „Da darf der Gesetzgeber<br />

nicht allein auf freiwillige Empfehlungen für<br />

die Wirtschaft setzen“, sagt Gesundheitsexperte<br />

Huizinga. Schon jetzt sei jeder vierte Bundesbürger<br />

stark übergewichtig, Tendenz steigend.<br />

Lustig lacht die süße Biene: Dieses Müsli<br />

von Lidl beinhaltet viel Zucker. Der Discounter-Riese<br />

hat den Anteil zwar um 30 Prozent gesenkt – es<br />

bleiben aber immer noch rund 24 Gramm je 100<br />

Gramm Knusperringe.<br />

Firmen sollten zum Beispiel für die Herstellung<br />

besonders zuckriger Lebensmittelprodukte wie<br />

Cola extra besteuert werden. Aus seiner Sicht zeigen<br />

Supermärkte und Discounter nun zwar richtige<br />

Ansätze, aber das reiche nicht aus, so Gesundheitsexperte<br />

Huizinga.<br />

20


WARUM FÄLLT ES SO SCHWER, SÜSSEM<br />

ZU WIDERSTEHEN?<br />

Zum einen ist das psychologisch bedingt,<br />

man nennt es „angeborene Prägung“. Schon die<br />

Muttermilch schmeckt süß – und das prägt uns für<br />

alle Zeiten: Süß steht für nahrhaft und ungiftig. „Es<br />

ist aber nicht nur Vorliebe, sondern auch erlerntes<br />

Verhalten“, sagt Dr. Thomas Ellrott, Mediziner<br />

am Göttinger Institut für Ernährungspsychologie:<br />

„Schon als Kinder werden wir mit ganz bestimmten<br />

Lebensmitteln, meist Süßem, belohnt. Das lässt sich<br />

später nicht mehr entkoppeln – und so belohnen wir<br />

uns als Erwachsene selbst.“ Meist öfter, als es für die<br />

Gesundheit gut ist.<br />

Rund 26 Kilogramm Zucker verdrückt<br />

jeder von uns pro Jahr. Das ist der Anteil, den wir in<br />

den Kaffee rühren und mit dem wir Kuchen backen.<br />

Dazu kommt der Zucker, den die Industrie bei der<br />

Herstellung verarbeitet. Der versteckt sich in Fertigprodukten<br />

oft hinter Bezeichnungen wie Dextrose,<br />

Galaktose, Invert-Zucker, Isoglukose, Laktit, Maltodextrin<br />

oder Maltose. Allesamt sind sie nichts anderes<br />

als Geschwister des normalen Haushaltszuckers<br />

(Saccharose), die uns klammheimlich untergejubelt<br />

werden und so die Lust auf Süßes anheizen.<br />

UND DA STECKT DAS DICKE PROBLEM:<br />

Zucker im Stoffwechsel ist wie Zeitungspapier<br />

im Kamin – es gibt eine kurze Stichflamme,<br />

dann erlischt das Feuer ohne nachhaltige Wärme.<br />

Oder fachlich ausgedrückt: Süßes lässt unseren Blutzuckerspiegel<br />

hochschnellen, danach fällt er rapide<br />

ab – von langfristiger Sättigung keine Spur. Folge:<br />

Erneuter Hunger, und zwar wieder auf Süßes. Auch<br />

der Konsum von einfachen Kohlenhydraten (etwa<br />

aus Weißbrot, Kuchen, Nudeln, Fritten, weißem Reis)<br />

hat die gleiche Wirkung im Körper. Und, was viele<br />

nicht wissen: Selbst Pikantes kann süß sein. In Ketchup<br />

steckt deutlich mehr Zucker als in Vanilleeis<br />

(14 bis zu 24 Prozent).<br />

NACH SÜSSEN BELOHNUNGEN KOMMT<br />

STETS SCHNELL DER KATER:<br />

Unsere Konzentration lässt nach, wir<br />

werden gereizt, auch die körperliche Leistung sinkt.<br />

Alles Folgen des instabilen Blutzuckerspiegels.<br />

Besondere Vorsicht ist bei Fruktose geboten. Als<br />

natürlicher Stoff in Obst schadet sie uns nicht. Als<br />

hochdosierte Zutat in Industrieprodukten (High<br />

Fructose Corn Sirup) ist sie vor allem in den USA in<br />

vielen Getränken und Fertiggerichten enthalten.<br />

Experten sehen in dem Stoff eine der Hauptursachen<br />

für die Übergewichtsproblematik in Amerika.<br />

Deshalb:Achten auch Sie zukünftig sehr genau auf<br />

Packungsangaben wie Fruktose, Maissirup oder<br />

Fruktosesirup!<br />

DOCH WIE RAUS AUS DER<br />

ZUCKERFALLE?<br />

„Ganz weglassen können wir Süßes nicht“,<br />

sagt die Psychologin Dr. Ilona Bürgel, „gegen den<br />

ererbten Appetit kommen wir einfach nicht an. Besser<br />

ist es, Süßes sinnvoll zu integrieren. Etwa in Form<br />

von Obst oder getrockneten Beeren. Auch Nüsse<br />

sind süß, wenn man genau hinschmeckt.“ Und was<br />

ist mit echten Sweets? Bürgels Tipp: „Dunkle Schokolade<br />

mit 70 Prozent Kakao oder mehr befriedigt<br />

den Süßhunger, ohne Lust auf mehr zu machen.“<br />

Schaffen Sie sich ein Ritual: Einmal am Tag gibt es<br />

ein paar Nüsse, einen Tee und einen Riegel dunkle<br />

Schokolade. Netter Nebeneffekt: Während normale<br />

Süßigkeiten Karies fördern, schützen die in Schokolade<br />

enthaltenen Substanzen Tannin und Fluor<br />

sogar davor.<br />

DAS GROSSE ZIEL: DEN BLUTZUCKER-<br />

SPIEGEL MÖGLICHST KONSTANT ZU<br />

HALTEN.<br />

Wie? „Ganz wichtig sind regelmäßige<br />

Mahlzeiten“, sagt Ernährungswissenschaftler Prof.<br />

Dr. Michael Hamm, „am besten mit Kohlenhydraten<br />

in Verbindung mit Ballaststoffen wie in Vollkorn,<br />

Gemüse, Hülsenfrüchten oder Beeren“. So hält die<br />

Sättigung lange vor, Heißhunger bleibt aus. Noch<br />

besser: die täglichen Schwankungen des Blutzuckerspiegels<br />

vorbeugend vermeiden. Da gibt<br />

es nämlich am späten Vormittag und Nachmittag<br />

einen Tiefpunkt. Der beste Schutz: ausgiebig<br />

frühstücken, etwa Müsli mit Joghurt und Früchten<br />

oder Vollkornbrot mit Salat, Tomate und Käse. Am<br />

Nachmittag helfen eine Handvoll Studentenfutter<br />

oder ein paar Käsewürfel mit Trauben. Und ab und<br />

an darf’s gern auch mal ein Lebkuchen sein.<br />

21


WELTKIND<br />

TEXT: GREENPEACE FOTOS: UNSPLASH<br />

BALD AUCH BEI UNS?<br />

KOSTENLOSER<br />

NAHVERKEHR<br />

Was wir von der estnischen<br />

Hauptstadt Tallinn lernen können<br />

belgische Stadt Hasselt das Projekt nach 16 Jahren<br />

wieder auf – die Zahl der Fahrgäste war in den<br />

Gratis-Bussen auf das 13-fache explodiert, die hohen<br />

Kosten konnten nicht mehr gedeckt werden. Auch<br />

die US-Städte Seattle und Portland stellten ihre Gratisfahrten<br />

wieder ein. Seattle hatte Finanzierungsprobleme.<br />

In Portland kamen die Busse wegen der<br />

vielen Kurzstrecken-Fahrgäste zu langsam voran.<br />

NORMALE FAHRSTREIFEN WURDEN<br />

ÜBER NACHT ZU BUSSPUREN.<br />

Wer in Tallinn wohnt, fährt seit 2013 umsonst<br />

mit öffentlichen Verkehrsmitteln.<br />

Begeistert sind nicht nur die Bewohner,<br />

sondern auch die Stadt, die dadurch sogar zwanzig<br />

Millionen Euro Gewinn im Jahr macht. Ein Vorzeigemodell?<br />

Kleingeld suchen oder nach dem Ticket<br />

kramen beim Einsteigen; Kontrolleure, die Herzklopfen<br />

verursachen; die Entscheidung, ob es eine<br />

Tageskarte oder ein Einzelticket sein soll – all das<br />

gibt es nicht. Für die Bewohner von Tallin ist der<br />

öffentliche Nahverkehr seit 2013 gratis. Wer in der<br />

Hauptstadt des kleinen Landes im Baltikum gemeldet<br />

ist, muss sich nur eine Chipkarte für zwei Euro<br />

ausstellen lassen, und kann fortan so viel mit Bus<br />

und Bahn fahren wie er möchte. Bei den Bewohnern<br />

kommt das natürlich gut an. Umfragen zufolge, sind<br />

90 Prozent der Städter zufrieden mit dem kostenlosen<br />

Nahverkehr. Und auch der ehemalige Bürgermeister<br />

Edgar Savissar, der das Projekt auf den Weg<br />

gebracht hat, sagte stolz: „Tallinn ist eine innovative<br />

Stadt. Wir sind die erste Hauptstadt, in der ein derartiges<br />

Konzept in einem solchen Umfang umgesetzt<br />

wird.“<br />

Schon bei der Digitalisierung gilt Estland<br />

als das Musterland der EU. Könnte nun auch die<br />

Mobilität der Zukunft in Tallinn seinen Ursprung<br />

finden? Nun übernimmt Estland erstmals die<br />

EU-Ratspräsidentschaft. Vielleicht nehmen die<br />

EU-Kommissare, die heute zur Visite anreisen, ein<br />

paar Impulse mit.<br />

Ursprünglich hatte Savissar den Gratis-Nahverkehr<br />

nur vorgeschlagen, um sein Image<br />

aufzupolieren – so sagen es zumindest viele seiner<br />

Kritiker. Ein wagemutiges Unterfangen: Denn schon<br />

viele Städte waren an der Umsetzung des<br />

kostenlosen Nahverkehrs gescheitert. So gab die<br />

Doch Tallinns damaliger Bürgermeister<br />

Savisaar war fest entschlossen, seinen Bürgern zu<br />

geben, was er angekündigt hatte. Nachdem in einer<br />

Volksbefragung im Jahr 2012 gut 75 Prozent der<br />

Wähler für den kostenlosen Nahverkehr gestimmt<br />

hatten, setzte Savisaars Stadtverwaltung alle Hebel<br />

in Bewegung. Buchstäblich über Nacht wurden<br />

mehrere Fahrstreifen in der Innenstadt zu Busspuren<br />

umfunktioniert. Die Ampelschaltung wurde so<br />

umprogrammiert, dass sie für Bus und Bahn besonders<br />

schnell auf Grün wechselt. Für beides hagelte<br />

es Kritik von den Autofahrern, die in der Innenstadt<br />

nun noch länger im Berufsverkehr standen als zuvor.<br />

Die Finanzierung des Nahverkehrs organisierte<br />

die Stadt über die Steuer derjenigen, die<br />

zuvor in der Peripherie der Stadt lebten und nun<br />

ihren Hauptwohnsitz in Tallinn angemeldet haben.<br />

Rund 15.000 Esten ließen sich von der Aussicht auf<br />

kostenlose Bus- und Bahntickets animieren, sich in<br />

Tallinn zu melden. Sie waren bislang entweder gar<br />

nicht oder in umliegenden Kleinstädten rund um<br />

Tallinn registriert gewesen. Die Einwohnerzahl stieg<br />

von 416.000 im Jahr 2012 schlagartig auf 431.000<br />

im Mai 2014. Derzeit wohnen gar 443.000 Esten in<br />

Tallinn.<br />

Jeder Einzelne zahlt im Schnitt 1000 Euro<br />

jährlich. Mithilfe dieses Geldes konnte die Stadt den<br />

Ausfall der jährlich zwölf Millionen Euro kompensieren,<br />

die die Bürger zuvor für öffentliche Verkehrsmittel<br />

bezahlt hatten. Obendrein zahlen Besucher und<br />

Touristen ja weiter ganz regulär ihre Tickets für die<br />

öffentlichen Verkehrsmittel. So kommt es zustande,<br />

dass der Gratis-Nahverkehr laut Zahlen der Stadt<br />

einen Gewinn von etwa zwanzig Millionen Euro<br />

jährlich bringt. Von Finanzierungsproblemen, unter<br />

denen die Städte Hasselt und Seattle kapituliert hatten,<br />

keine Spur.<br />

22


UMWELT<br />

ACHT PROZENT DER TALLINNER<br />

STIEGEN AUF BUS ODER BAHN UM.<br />

„Wir hoffen, dass immer mehr Bürger ihr<br />

Auto stehen lassen und auf öffentliche Verkehrsmittel<br />

umsteigen“, sagte Savisaar noch zum Start des<br />

Projekts im Frühjahr 2013. Zwar ist er heute nicht<br />

mehr Bürgermeister – er musste wegen Korruptionsvorwürfen<br />

zurücktreten – doch sein Herzensprojekt,<br />

der kostenlose Nahverkehr, blieb bestehen. Immerhin<br />

acht Prozent der Tallinner stiegen vom Auto auf<br />

Bus oder Bahn um, schreibt Dr. Oded Cats, Professor<br />

für Transportwissenschaften an der Technischen<br />

Universität im niederländischen Delft, in einer Studie.<br />

Paradox: Gleichzeitig stieg die durchschnittliche<br />

Zeitspanne, die Tallinner im Auto verbringen um 31<br />

Prozent.<br />

Dieser Anstieg habe allerdings wenig mit<br />

dem Gratis-Nahverkehr zu tun, so Transportwissenschaftler<br />

Cats. Es sei vielmehr eine Folge veränderter<br />

„Shopping- und Freizeit-Gewohnheiten“. Um den<br />

Pkw-Verkehr noch weiter einzudämmen, empfiehlt<br />

Cats, das Autofahren teurer zu machen – zum<br />

Beispiel mit höheren Parkgebühren oder Steuern<br />

auf Pkws. Immerhin: Für Kurzstrecken von unter fünf<br />

Kilometern nutzen im Jahr 2015 etwa 52 Prozent<br />

der Tallinner die öffentlichen Verkehrsmittel. Nur 25<br />

Prozent legten diese Strecken mit dem Auto zurück.<br />

Die Stadt selbst ist mit ihrem Projekt noch<br />

lange nicht fertig. Bis zum Jahr 2020 will Tallinn<br />

zwei Tramlinien ausbauen, damit künftig auch<br />

der Flughafen und zwei beliebte Einkaufszentren<br />

erreicht werden können. Alte Busse sollen nach<br />

und nach durch neue, umweltfreundliche Modelle<br />

ersetzt werden.<br />

Außerdem will die Stadt Anreize dafür<br />

schaffen, dass mehr Bürger Fahrrad fahren. Laut<br />

Allan Alaküla, Sprecher der Stadt in Transportfragen,<br />

bewegen sich bislang nur ein Prozent der Tallinner<br />

mit dem Fahrrad fort. Das soll sich ändern. Bis 2020<br />

werden neue Radwege in einem Umfang von insgesamt<br />

vierzig Kilometern gebaut. Dazu sollen ein<br />

Sharing-System für Fahrräder, neue Grünanlagen<br />

und mehr autofreie Zonen kommen.<br />

23


WELTKIND<br />

INTERVIEW: LISCHEN MÜLLER<br />

FOTOS: SARAH KAUFMANN<br />

Interview:<br />

Die Queen unter<br />

den Veganern<br />

Hallo Sarah, bitte stelle Dich und Deinen<br />

Vegan-Blog kurz vor.<br />

Ich heiße Sarah und betreibe seit Oktober<br />

2010 den Food-Blog „Vegan Guerilla“. Auf<br />

meinem Blog findet ihr in erster Linie Rezepte<br />

für jede Gelegenheit – über die Jahre haben sich<br />

mehrere hundert vegane Gerichte angesammelt.<br />

Kochen gehört zu meinen liebsten Beschäftigungen.<br />

Obwohl ich keine ausgebildete Köchin bin,<br />

habe ich in der Vergangenheit für verschiedene<br />

vegane Restaurants in der Küche gestanden. 2011<br />

erschien außerdem mein erstes Kochbuch „Vegan<br />

Guerilla – die Revolution beginnt in der Küche“.<br />

Aktuell arbeite ich an einem neuen veganen<br />

Kochbuch, welches im Sommer 2017 im Ventil<br />

Verlag erscheinen wird.<br />

Darüber hinaus blogge ich auch über<br />

andere Themen mit Veganismus-Bezug, wie z.B.<br />

Filme und Bücher zu den Themen Tierrecht und<br />

Umweltschutz, Veranstaltungen, vegane Produkte<br />

und auch über meine Reisen.<br />

Als Zuhause würde ich Hamburg bezeichnen,<br />

allerdings mit Einschränkung: Dort lebe ich seit<br />

etwa zehn Jahren, habe jedoch insgesamt ca. drei<br />

davon verschiedene Länder Lateinamerikas bereist<br />

und dort zum Teil gelebt. Daher spreche ich<br />

unter anderem auch Spanisch und Portugiesisch<br />

und habe kürzlich meinen Master in Lateinamerika-Studien<br />

beendet. Obwohl ich Hamburg liebe<br />

würde ich Europa gerne in ein paar Jahren den<br />

Rücken kehren um irgendwo in der Ferne und<br />

Wärme zu leben und dort am liebsten ein kleines<br />

Hostel mit veganem Café eröffnen. Privat kann<br />

ich nicht ohne meine tägliche Dosis Koffein, bin<br />

Schokoladen- und Avocado-Junkie, spiele einigermaßen<br />

Ukulele, singe dafür aber schlecht und<br />

habe am liebsten Punkrock auf den Ohren.<br />

Sarah Kaufmann<br />

Warum hast Du Dich entschlossen zu bloggen<br />

und was sind Deine Lieblingsthemen<br />

und warum?<br />

Das haben irgendwie andere für mich<br />

beschlossen: Das es “Vegan Guerilla” gibt, ist<br />

eigentlich einerseits meinem Exfreund und<br />

andererseits meinen damaligen KollegInnen zu<br />

verdanken. Irgendwo zwischen ab und an etwas<br />

gebackenes auf die Arbeit mitbringen, „gib mir<br />

24


INTERVIEW<br />

mal das Keks-Rezept“ und „Fotografieren und Kochen<br />

sind doch eh deine Hobbys“ ging Vegan Guerilla<br />

online.<br />

Meine Lieblingsthemen ergeben sich ohnehin aus<br />

dem Schwerpunkt meines Blogs: vegane Rezepte,<br />

die anderen Menschen zeigen sollen, dass es nicht<br />

schwer ist sich abwechslungsreich vegan zu ernähren,<br />

auch wenn im Alltag oft die Zeit fehlt stundenlang<br />

in der Küche zu stehen. Aufgrund meiner<br />

Leidenschaft für Lateinamerika und Reisen mag ich<br />

persönlich jene Gerichte am liebsten, die aus diesen<br />

Regionen inspiriert sind – schmeckt irgendwie nach<br />

Urlaub!<br />

recht hatten. Entsprechend bin ich nicht nur bei der<br />

veganen Ernährung geblieben, sondern habe ich<br />

auch andere Bereiche meines Lebens umgestellt.<br />

Ist Veganismus heutzutage weniger dogmatisch<br />

als noch vor 10 Jahren?<br />

Das finde ich schwer zu generalisieren. Ich<br />

denke aber schon, dass sich mit der wachsenden<br />

Zahl an VeganerInnen und veganen Produkten<br />

auf dem Markt auch der Umgang mit dem Thema<br />

Veganismus geändert hat, facettenreicher und teils<br />

auch undogmatischer geworden ist.<br />

Was glaubst Du schätzen Leser von veganen<br />

Blogs am Meißten?<br />

Inspirationen für den eigenen Teller und<br />

Hilfe beim Einstieg in ein veganes Leben.<br />

Lebst Du selbst vegan, wenn ja wie lange<br />

schon und was war der Auslöser?<br />

Mittlerweile lebe ich seit ca. sieben Jahren<br />

vegan. Vorher war ich längere Zeit Vegetarierin. Der<br />

Umstieg ging bei mir sehr schleichend vonstatten:<br />

Zunächst blieben frische Eier weg, dann verarbeitete<br />

Ei-Produkte, kurz darauf auch Milch. Zum<br />

Schluss „hakte“ es nur noch am Käse. Ich hatte zu<br />

diesem Zeitpunkt viele VeganerInnen in meinem<br />

Umfeld und habe dann irgendwann beschlossen,<br />

mich für einen Monat testweise vegan zu ernähren.<br />

Allerdings zunächst heimlich, da mir einige Argumente<br />

meiner FreundInnen ziemlich auf den Sack<br />

gingen und ich der Überzeugung war, dass meine<br />

Ernährung als Vegetarierin ethisch korrekt sei. Aus<br />

diesen persönlichen Erfahrungen entstand später<br />

auch meine Art zu bloggen und die Tatsache, dass<br />

ich den Menschen lieber mit leckerem Essen statt<br />

erhobenen Zeigefinger zeigen will, dass eine vegane<br />

Küche und auch ein veganes Leben nicht nur easy<br />

machbar, sondern ebenso lecker sind. Eine Herangehensweise<br />

die bei mir damals sicherlich auch eher<br />

gefruchtet hätte, als die Argumente die mir als Veggie<br />

regelmäßig um die Ohren flogen – auch wenn<br />

selbst aus ethischen Gründen vegan lebe. Während<br />

meines „veganen Testmonats“ schaute ich jedenfalls<br />

viele Dokus, informierte mich über das Internet und<br />

durfte dabei feststellen, dass meine FreundInnen<br />

Wie stehst du zum Thema vegane Fleischalternativen,<br />

die aussehen und schmecken<br />

„wie das Original“?<br />

Soja, Seitan und Tempeh mag ich sehr<br />

gerne. Produkte wie vegane Shrimps oder ganze<br />

„Enten“ finde ich persönlich allerdings ziemlich<br />

gruselig. Trotzdem finde ich es okay, dass es diese<br />

Produkte gibt – die Nachfrage besteht ja scheinbar<br />

auf dem Markt und natürlich ist es mir lieber, wenn<br />

dann jemand zur nachgebauten Fake-Ente greift als<br />

zur ehemals lebendigen.<br />

Mehr über Sarah Kaufmann und eine leckere<br />

vegane Ernährung erfahrt ihr auf ihrem Food Blog<br />

www.veganguerilla.de.<br />

25


WELTKIND<br />

TEXT: MARTHE KNIEP FOTOS: UNSPLASH<br />

TREUE<br />

26


LIEBE<br />

Monogamie:<br />

Ist sie heute<br />

noch möglich?<br />

Treue ist in den meisten Beziehungen<br />

ein hohes Gut. Aber ist ewige (sexuelle)<br />

Treue wirklich realistisch? Familientherapeutin<br />

Marthe Kniep über<br />

Monogamie und ihre Tücken.<br />

27


WELTKIND<br />

Ewige Liebe und Treue, für<br />

immer mit diesem einen<br />

Menschen zusammen sein.<br />

Ist das heute überhaupt<br />

noch realistisch?<br />

Auf Tinder schreibt uns ein verheirateter Kerl<br />

an, im Club gräbt uns ein Mann an, während<br />

seine Freundin gerade auf Klo ist. Und „Partner<br />

auf Zeit“ ist ein total normales Lebensmodell.<br />

In Liebe und Treue bis ans Lebensende<br />

eng miteinander verbunden zu sein, stellt für viele<br />

Menschen die Idealvorstellung einer Beziehung<br />

dar. Andere hingegen kriegen die Krise, wenn<br />

jemand Monogamie bis zum letzten Atemzug als<br />

Lebensentwurf von ihnen einfordern will. Und seit es<br />

das Internet gibt, explodieren die Möglichkeiten, einen<br />

anderen Weg als den der Treue einzuschlagen.<br />

Wie bei vielen Idealen, die die Messlatte<br />

unerhört hoch legen, scheint somit das Scheitern<br />

am Konzept der Treue quasi vorprogrammiert.<br />

Zumindest dann, wenn dieser Anspruch auch auf<br />

sexuelle Treue erhoben wird.<br />

Doch es gibt Paare, die sich treu bleiben<br />

und die dabei nicht (übermäßig) zu leiden scheinen,<br />

sondern sogar fröhliche Gesichter zeigen. Familientherapeutin<br />

Marthe Kniep aus Jesteburg wirft<br />

für uns einen Blick auf die Frage, ob es heute noch<br />

Treue gibt und wie Paare klingen, die seit 50 Jahren<br />

und mehr zusammen sind.<br />

Ewige Treue,<br />

bloß im Märchen?<br />

Treue wird in den meisten Beziehungen<br />

als hohes Gut geschätzt. Deshalb starten viele Paare<br />

mit dem guten Vorsatz, sich nicht betrügen zu<br />

wollen. Doch es gibt dabei einen Knackpunkt: Treue<br />

kann man mit oder ohne sexuelle Treue leben. Deshalb<br />

sollten sich frisch gebackenen Liebespaare zu<br />

Beginn ihrer Beziehung über das jeweilige Verständnis<br />

von Treue auszutauschen, damit es später zu<br />

keinen folgenreichen Missverständnissen kommt.<br />

Trotz guter Vorsätze, monogam leben zu<br />

wollen, ist es manchmal so, dass sich im Laufe des<br />

Lebens immer wieder die Triebe einmischen und<br />

das „Durchhalten“ phasenweise schwermachen.<br />

Dabei ist es Typsache, wieviel Disziplin es jemandem<br />

abverlangt, den auf allen medialen Kanälen und<br />

manchmal auch nebenan lauernden Anfechtungen<br />

aus dem Weg zu gehen.<br />

28


LIEBE<br />

Wann Treue gefährdet ist<br />

Es gibt Menschen, die kommen gar nicht<br />

auf die Idee, etwas mit jemand anderem anzufangen.<br />

Andere bemühen sich, der Versuchung zu<br />

widerstehen, schaffen es aber nicht immer. Und<br />

manche haben schlicht keine Lust, auf irgendwas<br />

zu verzichten und geben sich in Sachen treue sehr<br />

flexibel. Bei keinem dieser „Treue-Typen“ kann von<br />

vornherein gesagt werden, dass ihre Einstellung<br />

bereits etwas über die Qualität ihrer Beziehung<br />

aussagt. Da schreibt das Leben höchst unterschiedliche<br />

Geschichten, wo auch Therapeuten immer mal<br />

wieder staunen.<br />

Fest steht in meinen Augen: Es ist möglich,<br />

ein und demselben Menschen treu zu bleiben und<br />

dabei zufrieden zu sein. Denn es gibt viele Paare,<br />

die glaubhaft versichern, dass es keine oder keinen<br />

anderen gab und dass sie einander gern treu sind.<br />

Vielleicht klappt das nicht gleich mit dem ersten<br />

oder zweiten Partner. Aber da wo sich Liebe richtig,<br />

reif und tief anfühlt, kann man auch lange verwei-<br />

Außerdem zwingt uns ja niemand, die Fühler<br />

in eine andere Richtung auszustrecken. Wenn<br />

man es allerdings trotzdem tut, deutet das oft darauf<br />

hin, dass in der Beziehung etwas fehlt. Manche<br />

Paare versuchen dann, das Fehlende wieder in die<br />

Beziehung zurück zu holen, um nicht fremdgehen<br />

oder sich nicht trennen zu müssen. Das kann guter<br />

Sex sein. Zugegeben nicht leicht, was dieses Thema<br />

angeht, in eine langjährige Beziehung neuen sexuellen<br />

Schwung zu kriegen. Aber nicht unmöglich. Es<br />

kann aber auch ganz andere Bereiche betreffen, in<br />

denen sich eine unerfüllte Sehnsucht einschleicht.<br />

Und weil es vielen so geht, sind unerfüllte<br />

Bedürfnisse ein häufiges Thema in der Paartherapie.<br />

Dieses Gefühl von Mangel zu verändern ist oft mit<br />

intensiver Arbeit an der Beziehung und sich selber<br />

verbunden. Doch es ist möglich, drohendes Fremdgehen<br />

abzubiegen und sich wieder auf den Partner<br />

zu besinnen.<br />

Allerdings versucht nicht jeder diesen Weg<br />

zu gehen und die Liebe neu zu beflügeln. Deshalb<br />

gehen viele mit ihrem unerfüllten Bedürfnis nach<br />

außen und gehen fremd. Letzteres birgt meist das<br />

Risiko, den anderen sehr zu kränken. Es sei denn,<br />

beide erleben Seitensprünge und finden es in Ordnung.<br />

Auf jeden Fall bringt es hier nichts, den<br />

Moralapostel zu spielen und anderen vorzuschreiben,<br />

dass nur Monogamie der Weg zum Glück zu<br />

sein hat. Jedes Paar muss selber mit sich ausmachen,<br />

wie es mit dem Thema umgehen will und ob<br />

und unter welchen Bedingungen die Vorsätze vom<br />

Anfang der Beziehung dauerhaft Bestand haben<br />

können.<br />

Wann Treue zu viel<br />

erwartet ist<br />

Manche Beziehungsverläufe entwickeln<br />

sich so ungünstig, dass das Versprechen der Treue<br />

auf Dauer nicht einzuhalten zu sein scheint. Dann<br />

ist die Frage: Ergebe ich mich dem vermeintlichen<br />

Schicksal und stehe zu meinem Wort? Versuche ich,<br />

mit meinem Partner eine Lösung zu finden? Oder<br />

breche ich mein Versprechen, weil es wirklich zu<br />

viel verlangt ist? Die Antwort darauf fällt oft schwer,<br />

29


WELTKIND<br />

auch aus Angst vor den Folgen. Mit Hilfe eines Paartherapeuten<br />

kommt oft Klarheit in die Sache.<br />

Eins sollte dabei klar sein: Niemand kann<br />

von seinem Partner erwarten, in ewiger und auch<br />

körperlicher Treue mit ihm zusammenzuleben,<br />

wenn in der Beziehung trotz Gesundheit anfänglich<br />

vorhandene und wichtige Lebensbereiche völlig zu<br />

kurz kommen oder wegfallen, die einem der Partner<br />

aber noch sehr wichtig sind. Sexualität zum Beispiel.<br />

Aber auch der Respekt voreinander.<br />

Trotzdem gibt es nicht wenige Paare, die<br />

nach der alten Familienregel „Bei uns trennt man<br />

sich nicht“ jahrelang unglücklich zusammenleben,<br />

und sich nicht aus der Bindung entlassen. Vielleicht<br />

sind sie sich noch körperlich treu. Aber von der<br />

Treue, die wir mit Exklusivität im positiven Sinne<br />

verbinden, sind diese Paare oft weit weg.<br />

Geheimrezepte lang<br />

verheirateter Paare<br />

Die Frage ist deshalb in meinen Augen<br />

nicht unbedingt, ob Treue so wichtig ist für ein<br />

langes Zusammenbleiben. Spannender finde ich die<br />

Frage, was langjährige Paare dazu sagen, warum sie<br />

noch gern miteinander verheiratet sind. Um dieser<br />

Frage auf den Grund zu gehen, unterhalte ich mich<br />

gern mit älteren Paaren darüber. Allerdings sind die<br />

wirklich lange verheirateten Paare aus den Jahrgängen,<br />

die den Krieg und seine Auswirkungen noch<br />

direkt mitbekommen haben. Und diese Generation<br />

ist zurückhaltender damit, über intime Dinge zu<br />

sprechen. Also frage ich eben durch die Blume,<br />

wenn es sich ergibt, um keinem zu nahe zu treten.<br />

So sind auch die Antworten selten direkt,<br />

aber gern verschmitzt. „Wart ihr euch immer treu?<br />

Oder wollte von euch schon mal einer den Koffer<br />

packen?“ wollte ich vor einigen Jahren von einem<br />

Bekannten wissen, dessen Kinder längst aus dem<br />

Haus waren. Er lächelte vielsagend und sagte: „Ach<br />

du. Koffer haben wir viele.“ Aber zusammen sind<br />

sie trotzdem noch bis zu seinem Tode gewesen.<br />

Bei einem anderen Paar habe ich gefragt: „Habt ihr<br />

euch denn niiiiiee für jemand anderes begeistert?“<br />

Auch hier antwortet die Frau amüsiert und sagt: „Oh.<br />

Begeistert oft. Das ist ja klar. Aber mehr nicht.“<br />

Was wirklich trägt<br />

Wichtige Hinweise, was für eine lange<br />

Beziehung rückblickend wichtig war, bekommen<br />

wir auch, wenn lange verheiratete „Jubelpaare“<br />

anlässlich ihres Festes von den Regionalzeitungen<br />

nach ihrem Geheimrezept für eine lange (und gute)<br />

Ehe gefragt werden. Ich liebe diese Interviews. So erklärten<br />

dort zum Beispiel Anneliese und Alex Pogga<br />

anlässlich ihrer Diamantenen Hochzeit:<br />

„Ab und zu muss es auch mal donnern,<br />

dann ist die Luft wieder rein!“<br />

„Wir verstehen uns gut. Wir respektieren<br />

uns“, beschreiben Ilse und Walter Geffers ihr Geheimnis<br />

für ihre ebenfalls schon 60-jährige Ehe. Und<br />

Hans-Georg Heitmann, der mit seiner Lisa ebenfalls<br />

zum sechzigsten Hochzeitstag befragt wurde, erklärt:<br />

„Wir haben dem anderen nie<br />

zu sehr reingeredet“.<br />

Für Helga Bernau und ihren Ernst waren im Interview<br />

wichtig, dass man rücksichtsvoll ist und auch<br />

verzeihen kann. Der Gedanke an Trennung sei ihnen<br />

nie gekommen. „Und wir waren immer gleichberechtig.<br />

Mein Mann hat im Haushalt und bei den<br />

Kindern mitgeholfen, damit ich auch etwas Zeit für<br />

mich hatte.“ erklärte Helga.<br />

Die Bedeutung der Treue hat keines der<br />

Paare in den Vordergrund gehoben, auch wenn sie<br />

vielleicht wichtig war. Das wissen wir nicht. Diese ältere<br />

Generation spricht nun mal meist nicht so offen<br />

über Beziehungsgestaltung und Sexualität. Muss sie<br />

ja auch nicht. Doch wenn man älteren Paaren zuhört,<br />

scheint ihnen über all die Jahre doch vor allem<br />

wichtig gewesen zu sein, dass sie sich respektieren,<br />

auf Augenhöhe sind, einander helfen und den Mut<br />

zu klärenden Gesprächen behalten.<br />

Wovon diese Paare gern erzählen, sind all<br />

die schönen und tragenden Ereignisse auf die sie<br />

zurückschauen können und dass sie froh sind, auch<br />

im Alter noch Seite an Seite zu sein. Trotz all der<br />

Widrigkeiten, die das Leben zwischendurch zu bieten<br />

hatte. Oft berichten sie davon, dass gerade die<br />

schwierigen Zeiten sie sehr miteinander verbunden<br />

30


LIEBE<br />

haben. Und davor habe ich großen Respekt.<br />

Vor allem, wenn beide dann noch Lust<br />

haben, nach 60 Jahren immer noch ihre Liebe zu<br />

feiern. Warum sollen das junge Menschen von heute<br />

nicht auch hinkriegen, wenn es ihnen wichtig ist?<br />

Ich finde keinen Grund. Das Internet ist jedenfalls<br />

keiner!<br />

31


WELTKIND<br />

TEXT: CHRISTOPHER PILTZ<br />

FOTOS: UNSPLASH<br />

STRESS<br />

MICH<br />

NICHT.<br />

Wie du die Kontrolle über deine Freizeit<br />

zurückgewinnst.<br />

Eltern, Partner, Freunde: Ständig haben<br />

andere Erwartungen an uns. Passen wir<br />

kurz nicht auf, hetzen wir täglich durch<br />

einen Terminmarathon. Wie wir es<br />

schaffen, die Momente zurückzugewinnen,<br />

die eigentlich nur einem gehören<br />

sollten: uns selbst.<br />

32


LEBEN<br />

33


WELTKIND<br />

Freizeitstress. Ein Widerspruch in sich. Die Zeit, die<br />

wir nutzen, um uns vom Stress zu erholen, stresst<br />

uns zusätzlich.<br />

Knapp vier Stunden<br />

Freizeit hat jeder<br />

Deutsche im Schnitt<br />

werktags, dazu einige<br />

Stunden am Wochenende.<br />

Und trotzdem<br />

kämpft jeder Dritte mit<br />

Freizeitstress.<br />

34<br />

Das Jahr begann gerade, da<br />

hatte ich schon mit ihm abgeschlossen.<br />

Ich saß am Küchentisch und<br />

telefonierte mit einem Freund. Wäre<br />

schön, wenn wir uns bald mal wiedersehen<br />

würden, sagte ich. Er fragte:<br />

"Wann passt es dir? Ich bin flexibel."<br />

Dann: "Aber bei dir ist das ja nicht so<br />

einfach."<br />

Ich blätterte durch meinen<br />

Kalender. Februar, März, April belegt<br />

mit fernen Zukunftsversprechen.<br />

Mai, Juni. Kein freies Wochenende.<br />

Mitte Juni könnte es klappen, sagte<br />

ich schließlich. Erst hörte ich Lachen<br />

am anderen Ende der Leitung. Dann<br />

Schweigen. Ich fühlte mich hilflos,<br />

spürte ein schlechtes Gewissen. Ich<br />

klang wie die Sprechstundenhilfe eines<br />

Orthopäden: Natürlich haben wir<br />

einen Termin für Sie, in sechs Monaten!<br />

"Bei dir ist das ja nicht so einfach."<br />

Der Satz meines Freundes blieb<br />

hängen. Ich habe das in den letzten<br />

Jahren häufig gehört, oft von Freunden.<br />

Ich wollte es nicht wahrhaben.<br />

Aber sie hatten recht.<br />

Im Rückblick wirkt 2017 wie ein Staffellauf.<br />

Blicke ich auf das Jahr 2017<br />

zurück, wirkt es auf mich wie ein Staffellauf.<br />

Nur sehe ich da ausschließlich<br />

einen Menschen, der gehetzt die gesamte<br />

Zeit den Staffelstab trägt, ohne<br />

Pause. Mich. An 46 Wochenenden war<br />

ich in diesem Jahr unterwegs oder<br />

bekam Besuch, von Freunden, meinen<br />

Eltern. Ich fuhr durch Deutschland,<br />

nach Braunschweig, Freiburg, Berlin,<br />

Düsseldorf. Bitte nicht falsch verstehen:<br />

Ich genieße viele der Treffen. Die<br />

anderen sind nicht das Problem.<br />

Das Problem bin ich.<br />

Ich traue mich nicht abzusagen.<br />

Mache ich es doch, erfinde ich<br />

Ausreden. Ich müsste mal wieder das<br />

Bad putzen. Noch an den Schreibtisch.<br />

Am nächsten Morgen früh<br />

aufstehen. Ich hätte Kopfschmerzen.<br />

Meine dämlichste Notlüge: Ich müsste<br />

Klamotten waschen. Als sehne sich<br />

die Waschmaschine nach Gesellschaft,<br />

um schleudern zu können.


LEBEN<br />

Dass ich hin und wieder einfach mal<br />

Zeit für mich bräuchte, einen Moment<br />

Ruhe, sage ich nie. Knapp vier<br />

Stunden Freizeit hat jeder Deutsche<br />

im Schnitt werktags, dazu einige<br />

Stunden am Wochenende. Und<br />

trotzdem kämpft jeder Dritte mit<br />

Freizeitstress. Das ergab eine Umfrage<br />

der Techniker Krankenkasse im<br />

vergangenen Jahr. "Zu viele Termine<br />

und Verpflichtungen" landete auf<br />

Platz drei der Stressursachen, hinter<br />

"Arbeit" und "Hohe Ansprüche an sich<br />

selbst" .<br />

Freizeitstress dürfte<br />

es nicht geben<br />

Ich finde das absurd. Eigentlich<br />

dürfte es das Wort gar nicht<br />

geben: Freizeitstress. Ein Widerspruch<br />

in sich. Die Zeit, die wir nutzen, um<br />

uns vom Stress zu erholen, stresst<br />

uns zusätzlich. Das ist, als würden wir<br />

essen, doch anstatt den Hunger zu<br />

stillen, verstärkt jeder Bissen ihn. Was<br />

läuft da falsch?<br />

Offenbar einiges. So fanden<br />

Forscher der Pennsylvania State University<br />

vor einigen Jahren heraus, dass<br />

uns das Privatleben stärker stresst als<br />

das Berufsleben. Dafür beobachteten<br />

sie bei 122 Probanden die Werte des<br />

Stresshormons Cortisol. Gerade zum<br />

Feierabend oder an Wochenenden<br />

schnellten die Werte dramatisch hoch<br />

der Alltag überforderte die Probanden<br />

mehr als ihre Arbeit. Die Erklärung<br />

der Wissenschaftler: Es fehle oft<br />

an klaren Strukturen im Privaten. Im<br />

Beruf wissen wir, welchen Arbeitsauftrag<br />

wir zuerst fertig machen müssen,<br />

welches Meeting überflüssig ist; wir<br />

können abschätzen, was wir schaffen<br />

müssen. Unsere Freizeit hingegen<br />

gleicht einem endlosen Fußballfeld<br />

ohne Seitenlinien. Wir erkennen<br />

nicht, wann es genug ist.<br />

"Zu Hause sollte es<br />

etwas mehr sein wie<br />

im Büro"<br />

Der US-Psychologe Richard<br />

Levak fordert deshalb: "Zu Hause sollte<br />

es etwas mehr sein wie im Büro. Auch<br />

das Privatleben braucht Struktur. " Levak<br />

arbeitet seit 30 Jahren als Psychologe.<br />

Er hat ein Persönlichkeitsmodell<br />

entwickelt, beriet Castingshows bei<br />

der Teilnehmerauswahl. Er versteht,<br />

wie Menschen ticken. Doch auf den<br />

ersten Blick wirkt diese Logik verquer<br />

auf mich: Wir engen uns ein durch<br />

Regeln, beschränken uns, um mehr<br />

Freiheit zu haben. Klingt wie eine<br />

sicherheitspolitische Forderung der<br />

CSU.<br />

Ob Levak jetzt ein strammkonservativer<br />

To-do-Listen-Fanatiker<br />

ist oder ob er selbst unter seiner<br />

Freizeit leidet, weiß ich nicht. Aber<br />

ich gebe zu, je länger ich über seinen<br />

Ansatz nachdachte, umso reizvoller<br />

fand ich ihn. Und dann erzählte mir<br />

neulich auch noch eine Kollegin, wie<br />

strikt sie sich ihre Woche organisiere.<br />

Vier Abende blockt sie immer für<br />

Freunde; für Dani und Irmi, für Maren<br />

und Stephan. Den Freitag hält sie sich<br />

frei. Zeit für spontane Treffen, Zeit für<br />

sich. Dieser Wechsel zwischen Vertrautem<br />

und Unbekanntem entlaste sie.<br />

Vielleicht hat Levak Recht. Vielleicht<br />

überfordert mich gerade die Freiheit.<br />

Wo kann ich Zeit einsparen?<br />

Aber wo soll ich anfangen?<br />

Ich brauche Hilfe, das ist klar.<br />

Aber ich will mir nicht von einem<br />

Burn-out-Spezialisten in Räucherstäbchensätzen<br />

erklären lassen, wie ich<br />

wieder zur Ruhe komme. Wenn meine<br />

Freizeit schon dem Arbeitsalltag glei-<br />

35


WELTKIND<br />

chen soll, will ich sie von einem Meister<br />

der Effizienz auseinandernehmen<br />

lassen: einem Unternehmensberater.<br />

Er soll erkennen, wo ich Ressourcen<br />

verschwende, wo ich Zeit einsparen<br />

kann. Meine größte Hoffnung: Wer es<br />

schafft, anderen zu erklären, dass sie<br />

gekündigt werden, der kann mir auch<br />

beibringen, wie ich Freunden souverän<br />

absage.<br />

Ein sonniger Herbsttag<br />

Anfang November. Ich sitze in Zürich<br />

in der Lounge eines Luxushotels. Um<br />

mich herum gelebte „Mad Men“-Kulisse;<br />

Geschäftsleute geschäfteln, Kellner<br />

kellnern, ein weicher Teppich schluckt<br />

die Schritte. In weiten Kübeln kühlt<br />

Champagner.<br />

Vor mir sitzt Caspar Fröhlich.<br />

Fröhlich hat jahrelang als Unternehmensberater<br />

gearbeitet; zu seinen<br />

Kunden zählten Konzerne wie Swiss<br />

und Migros. Heute arbeitet er als<br />

Coach, formt „High Performance<br />

Teams“, leitet einen „Leadership Circle“<br />

, bei dem sich regelmäßig Geschäftsführer<br />

großer Unternehmen treffen.<br />

Gerade hat er ein Buch veröffentlicht,<br />

„Manage your boss“ . Auf seiner<br />

Internetseite beschreibt er sich mit<br />

drei Worten: „engagiert, individuell,<br />

resultatsorientiert“.<br />

Wie ein Politiker auf<br />

Wahlkreisbesuch<br />

Was ich gerade erlebe, klingt<br />

vor allem: direkt. Fröhlich beleidigt<br />

mich. Er nennt mich „Opfer“ , „Untertan“<br />

, spricht von Missbrauch. Zwei<br />

Stunden hatte ich Fröhlich geschildert,<br />

was in meiner Freizeit falsch<br />

läuft. Wie ich Freunde zu mir einlud,<br />

obwohl ich wusste, dass ich mit anderen<br />

Freunden verabredet war. Wie ich<br />

versuchte, zwei Partys nacheinander<br />

zu besuchen. Wie ich für ein Kaffeetrinken<br />

zu meiner Oma fuhr, 200<br />

Kilometer. Abends wieder zurück. Wie<br />

ich manchmal das Gefühl habe, für<br />

die Menschen, die mir wichtig sind, für<br />

meine engsten Freunde, zu wenig Zeit<br />

zu haben.<br />

Ich erzählte Fröhlich von<br />

meiner Familie. Davon, dass meine Eltern<br />

geschieden sind. Ich bei meinem<br />

Vater und meiner Stiefmutter aufgewachsen<br />

bin. Die sich auch wieder<br />

getrennt haben. Heute leben sie alle<br />

in der gleichen Region. Mein Vater mit<br />

seiner neuen Frau, meine Stiefmutter<br />

mit einem neuen Mann, meine Mutter<br />

allein. Meist besuche ich alle an einem<br />

Wochenende. Und komme mir dabei<br />

vor wie ein Politiker auf Wahlkreisbesuch:<br />

Hände schütteln, lächeln, weiter.<br />

„Das muss aufhören,<br />

oder?“<br />

Während ich das alles erzählte,<br />

schrieb Fröhlich Notizen. Zeichnete<br />

meine Familienkonstellation auf.<br />

Schüttelte zwischendurch den Kopf.<br />

Manchmal fragte er: „Warum machen<br />

Sie das?“ Weil ich Angst habe, andere<br />

zu enttäuschen, antwortete ich. Weil<br />

ich mich sorge, dass mich Freunde<br />

irgendwann nicht mehr fragen, ob<br />

ich abends mit in die Kneipe komme,<br />

wenn ich ständig absage. Weil ich<br />

niemanden verletzen will.<br />

Als ich fertig bin, schaut mich<br />

Fröhlich ernst, aber zuversichtlich an.<br />

Ein typischer Fall, sagt er. Es sei wie in<br />

einem Unternehmen. Nur dass es in<br />

meinem Fall nur einen Angestellten<br />

gebe und mehrere Bosse. Ich sei der<br />

Angestellte und versuche, alle zufriedenzustellen.<br />

„Das muss aufhören,<br />

oder?“ , fragt er mich. Natürlich muss<br />

es das. Nur wie? Fröhlich stellt eine<br />

Liste zusammen, vier Tipps, die meine<br />

private Revolution einleiten sollen:<br />

36


LEBEN<br />

1.<br />

Sei ehrlich beim Absagen<br />

"Natürlich haben Sie ein schlechtes Gewissen, wenn Sie mit einer Notlüge absagen weil Sie<br />

eben nicht ehrlich sind. Hören Sie auf mit den Ausreden und trauen Sie sich zu sagen: ‚Danke,<br />

dass du an mich denkst. Das freut mich. Aber heute brauche ich einen Abend für mich. Ich<br />

hoffe, das ist okay für dich. Ich melde mich bei dir, wir finden einen anderen Termin. ‘ Diskutieren<br />

Sie das nicht. "<br />

2.<br />

Gestalte die Treffen aktiv mit<br />

"Entscheiden Sie, worüber gesprochen wird. Was unternommen wird. Wenn Sie keine Lust<br />

auf die Treffen am Küchentisch haben oder auf die immer gleiche Kneipe: Schlagen Sie neue<br />

Orte vor. Drehen Sie sich das Treffen so, wie es Ihnen passt! Das ist selbstbestimmtes Leben. "<br />

3.<br />

Plane dein Jahr<br />

"Der beste Weg, um Freizeitstress zu vermeiden: Halten Sie die Wochenenden im Vorfeld frei.<br />

Setzen Sie sich schon jetzt für 2018 hin und blocken Sie jeden Monat zwei Wochenenden für<br />

sich. Handeln Sie wie ein Manager, der zwischen Terminen Zeit zum Abarbeiten und Besinnen<br />

braucht. Und verzichten Sie auf halbgare Freundschaften, die oberflächlich bleiben. Die<br />

rauben nur Kraft. "<br />

4.<br />

Such dir einen Mentor<br />

nicht in alte Muster zurück. "<br />

"Um das alles einzuhalten, brauchen Sie jemanden, mit dem Sie diskutieren können, der Sie<br />

begleitet. Durch den sozialen Druck verlieren Sie das Ziel nicht aus den Augen und fallen<br />

37


WELTKIND<br />

"Der wichtigste<br />

Mensch sind Sie<br />

selbst"<br />

Am Ende des Gesprächs fragt<br />

mich Fröhlich: "Wissen Sie, wer der<br />

wichtigste Mensch in Ihrem Leben<br />

ist?" "Meine Freundin." "Falsch. Der<br />

wichtigste Mensch sind Sie selbst.<br />

Wenn Sie nicht auf sich achten,<br />

können Sie niemandem helfen. Das<br />

ist keineswegs egoistisch gedacht. Sie<br />

verbringen schließlich jeden Tag mit<br />

sich."<br />

Fröhlich hat diese Balance<br />

in seinem Leben schon gefunden. Er<br />

geht nicht mehr zu jeder Veranstaltung.<br />

Er versucht, jeden Tag Zeit für<br />

sich zu haben, morgens zu meditieren,<br />

abends zu joggen oder Salsa zu tanzen.<br />

Einmal im Jahr geht er allein in<br />

den Bergen wandern. Fröhlich nimmt<br />

sich die Zeit, wenn er sie braucht.<br />

Der wichtigste Mensch bin ich noch<br />

Wochen später denke ich über diesen<br />

Satz nach. Ich fand ihn zunächst<br />

irritierend, verstand dann aber, dass<br />

Fröhlich nicht an meinen Egoismus<br />

appelliert. Was er meint, ähnelt eher<br />

der Forderung, die man jedes Mal im<br />

Flugzeug bei den Sicherheitshinweisen<br />

hört: Ziehen Sie bei einem Druckverlust<br />

die Sauerstoffmaske erst über<br />

Ihren Kopf und helfen Sie danach<br />

anderen Passagieren.<br />

Es gibt Menschen, die es gut<br />

schaffen, an sich zu denken, die sich<br />

zurückziehen können, wenn sie es<br />

brauchen. Der Schauspieler Christian<br />

Ulmen sagte neulich in einem<br />

NEON-Interview: „Wenn ich zum<br />

Beispiel einen freien Tag habe, ist das<br />

Letzte, das mir einfällt, einen Freund<br />

anzurufen. Ich verbringe eben sehr<br />

gerne Zeit mit mir selbst. „<br />

Ich habe eher Angst, alleine zu sein.<br />

Entdecke ich ein Wochenende ohne<br />

Termine, ohne Verabredungen, merke<br />

ich, wie ich mich kurz freue. Auf die<br />

freien Stunden. So lange im Bett<br />

gammeln, wie ich es mag. Bundesliga<br />

schauen. Den ganzen Tag Jogginghose<br />

tragen. Doch je näher die Tage<br />

rücken, umso nervöser werde ich.<br />

Zweifel, ob ich mich nicht<br />

langweilen werde. Angst, einsam auf<br />

dem Sofa zu liegen, während Freunde<br />

zusammensitzen, lachen, Legendäres<br />

erleben, an das sie sich noch Jahre<br />

später erinnern. Von einem freien<br />

Wochenende werde ich meinen<br />

Kindern später einmal sicherlich nicht<br />

erzählen.<br />

Oft greife ich dann doch<br />

noch zum Smartphone, schreibe<br />

Freunde an, hoffe auf ein Treffen. Lieber<br />

einen Termin als Tristesse.<br />

Und wenn ich wirklich mal<br />

fliehen muss, weil mir die Welt zu viel<br />

wird, das ganze Gerede, die ganzen<br />

Bedürfnisse, habe ich mir eine spezielle<br />

Taktik angewöhnt: Ich gehe alleine<br />

in ein Restaurant. Dort, am Tisch, bin<br />

ich abgekapselt vom Alltag, gefangen<br />

an meinem Platz, gezwungen auszuharren.<br />

Die entscheidende<br />

Komponente: die<br />

Zeit für sich<br />

Wissenschaftler raten dazu,<br />

regelmäßig allein zu sein. Die Psychologin<br />

Pia Weiherl etwa kritisiert das<br />

gängige Work-Life-Modell. Es fokussiere<br />

sich zu stark auf zwei Faktoren, auf<br />

Arbeit und Sozialleben, und vernachlässige<br />

eine dritte Komponente, eine<br />

entscheidende: die Zeit für sich.<br />

Für ihre Doktorarbeit befragte<br />

Weiherl 489 Studenten. Diejenigen,<br />

die sich bewusst regelmäßig<br />

zurückzogen, waren gesünder und<br />

ausgeglichener als andere Kommilito-<br />

38


LEBEN<br />

nen. Auch eine Studie der Universität<br />

Münster zeigt, dass Menschen, die ihre<br />

Mittagspause allein verbrachten, oft<br />

besser entspannen und abschalten<br />

konnten als jene, die mit Kollegen<br />

essen gingen.<br />

Dabei hat der Einzelgänger<br />

einen schlechten Ruf in unserer<br />

Gesellschaft. Wer unterwegs ist, Leute<br />

trifft, der hat angeblich sein Leben<br />

im Griff. Wer hingegen auf dem Sofa<br />

gammelt, wer alleine in einem Restaurant<br />

sitzt, der verplempert Zeit, gilt als<br />

Außenseiter.<br />

Aber ist das nicht eine Illusion?<br />

Ist es nicht genau andersherum?<br />

Läuft der eine vielleicht davon, vor<br />

sich, seinen Sorgen, bedeckt sich mit<br />

neuen Eindrücken und fremden Gedanken?<br />

Und der andere ruht in sich?<br />

Ist Ulmen vielleicht mein heimliches<br />

Vorbild?<br />

Um darauf Antworten zu<br />

finden, fahre ich wenige Tage später<br />

über einen Feldweg im Osnabrücker<br />

Land. Mein Wagen springt durch die<br />

Schlaglöcher, Schlamm spritzt. Mein<br />

Ziel: Maria Anna Leenen. Sie ist die Königin<br />

im Absagen, denn konsequenter<br />

kann man es kaum durchziehen: Sie<br />

hat der ganzen Welt abgesagt, sich<br />

zurückgezogen in ein windschiefes<br />

Fachwerkhaus, in dem sie mit ihren<br />

Katzen Herr Max und Frau Findus lebt,<br />

mit sechs Ziegen auf der Weide und<br />

zwei alten Kachelöfen. Ein Leben außerhalb<br />

der Gesellschaft, als Eremitin.<br />

Leenen ist 61, seit 23 Jahren<br />

lebt sie abgewandt von der Gesellschaft.<br />

Sie sagt, früher, als sie jung war,<br />

da führte sie ein normales Leben. Sie<br />

begeisterte sich für Kinofilme, spielte<br />

Tennis, kochte abends mit Freunden,<br />

rauchte. Sie liebte Tauchen, reiste<br />

durch Europa. Ihr Leben war gut, sagt<br />

sie heute. Aber sie war nicht zufrieden.<br />

Das Gefühl, etwas<br />

machen zu<br />

müssen<br />

Als sie 29 war, wanderte<br />

Leenen aus, nach Venezuela. Mit<br />

ihrem damaligen Freund wollte sie<br />

eine Büffelfarm aufbauen und reich<br />

werden. Doch die Beziehung zerbrach,<br />

sie saß alleine in Venezuela. Dachte<br />

über das Leben nach. Ein Freund gab<br />

ihr ein Buch, das Einzige auf Deutsch,<br />

das gerade verfügbar war. Ein Buch<br />

über Marienerscheinungen.<br />

Leenen war bis zu dem Zeitpunkt<br />

nicht gläubig. Doch nach der<br />

Lektüre wusste sie, was sie wollte: für<br />

Gott da sein. Sie sagt, es war wie eine<br />

Mauer, die in ihr zerbrach.<br />

Zurück in Deutschland<br />

schloss sie sich den Klarissen an,<br />

einem katholischen Frauenorden, der<br />

in <strong>komplett</strong>er Zurückgezogenheit lebt.<br />

Hinter sechs Meter hohen Klostermauern,<br />

meist schweigend. Nur beim<br />

Abendessen durfte Leenen reden. Sie<br />

mochte es, aber kam sich fremd vor.<br />

Da sagte eine Ordensschwester zu ihr:<br />

Vielleicht hast du die Berufung, als<br />

Einsiedlerin zu leben. Als Eremitin.<br />

Leenen sagt, es war für sie<br />

eine Erlösung, sich von dem Gefühl zu<br />

befreien, etwas machen zu müssen.<br />

Sie spricht damit etwas an, das der<br />

Philosoph Martin Heidegger den<br />

Modus des „Man“ nennt. Wir erfüllen<br />

Erwartungen, die andere auf uns projizieren.<br />

Man sollte doch Sport machen.<br />

Man sollte Freunde treffen. Man sollte<br />

reisen. „Man sollte alleine sein“ gehört<br />

nicht dazu.<br />

Maria Anne Leenen ist ihren<br />

Weg gegangen. Sie hat dabei Freunde<br />

verloren. Aber sie führt jetzt ihr Leben,<br />

sagt sie. Erst wenn wir wahrnehmen,<br />

was wir wirklich wollen, und nicht,<br />

was andere erwarten, könnten wir<br />

unsere Freizeit und unser Leben nach<br />

39


WELTKIND<br />

unseren Wünschen gestalten, sagt<br />

Leenen. Wir müssen anfangen, uns<br />

selber kennenzulernen.<br />

Aber ist das nicht auch sehr<br />

langweilig, frage ich.<br />

„Natürlich. Und am Anfang<br />

ist es schwierig, alleine zu sein. Es ist<br />

eine Herausforderung: Man ist sich<br />

selbst ausgesetzt, mit seinen Sorgen<br />

konfrontiert. Man muss erst lernen,<br />

ehrlich zu sich zu sein. Dann klappt<br />

das.“ Aber wie mache ich das: ehrlich<br />

zu mir zu sein? „Setzen Sie sich jeden<br />

Tag zehn Minuten hin. Machen Sie<br />

nichts, kommen Sie einfach zur Ruhe.<br />

Sie müssen sich nicht verstellen. Irgendwann<br />

spüren Sie, was Sie bewegt.<br />

Sobald Sie das aushalten können,<br />

gehen Sie alleine ins Theater, ins Kino.<br />

Lösen Sie sich von der Scham. Egal<br />

was andere denken: Wichtig ist, was<br />

Sie wollen!“<br />

Der eigene Takt im<br />

Alltagskonzert<br />

Ich merke, wie ich die vergangenen<br />

Jahre genau andersrum<br />

gedacht habe. Wie ich immer wieder<br />

nachgespürt habe, was die Wünsche<br />

anderer sind. Wie ich mit meinem<br />

Vater auf ein Konzert ging, weil ich<br />

wusste, wie sehr ihn das freut. Wie ich<br />

samstags mit meiner Freundin shoppen<br />

ging, obwohl ich lieber auf dem<br />

Sofa geblieben wäre.<br />

Natürlich ist es nett, anderen<br />

einen Gefallen zu tun. Und es ist<br />

für mich auch keine Option, alles<br />

aufzugeben und mich von der Welt<br />

abzuwenden. Den <strong>komplett</strong>en Gesellschaftsentzug<br />

will ich gar nicht. Ich<br />

bin umgeben von Menschen, jeden<br />

Tag. Im Büro, im Supermarkt, in meiner<br />

Wohnung, in der ich mit meiner<br />

Freundin lebe. Darin muss ich eine<br />

Balance finden, meinen eigenen Takt<br />

im Alltagskonzert.<br />

Anruf bei Andreas Orth.<br />

Er arbeitet bei der Europäischen<br />

Raumfahrtorganisation. Sein Job ist<br />

es, sich um die Freizeit und Erholung<br />

von Menschen zu kümmern, die sich<br />

in einer Extremsituation befinden,<br />

sechs Monate, gefangen an einem<br />

Ort, 400 Kilometer über der Erde:<br />

Orth kümmert sich um die Astronauten<br />

der Internationalen Raumstation<br />

ISS. Dort oben hat jeder eine kleine<br />

Schlafkammer, keine drei Quadratmeter<br />

Privatsphäre.<br />

Schafft man es, dort Freizeit zu haben?<br />

„Natürlich“ , sagt Orth. „Die<br />

Astronauten haben eine Arbeitswoche,<br />

von Montag bis Freitag. An diesen<br />

Tagen stehen sie zwölf Stunden<br />

in Kontakt mit den Bodenstationen.<br />

Sie funken mit dem Control Team,<br />

werden von Kameras beobachtet.<br />

Danach, an den Abenden und an Wo-<br />

40


LEBEN<br />

chenenden, herrscht Funkverbot. Nur<br />

in Ausnahme- oder Notfällen ruft das<br />

Bodenpersonal zu den Astronauten<br />

hoch. Die restliche Zeit bleibt ihnen<br />

frei zur Verfügung. Freiwillige Arbeiten.<br />

Schlafen. Filme gucken. Nur Sport<br />

ist Pflicht, auch an Feiertagen.“<br />

Gibt es klare Regeln, wie<br />

man sich zurückziehen kann?<br />

„Nein, was zählt, ist der<br />

Menschenverstand. Man muss spüren<br />

können, wenn andere Ruhe brauchen.<br />

Und sich auch selbst die Zeit nehmen,<br />

die man braucht.“<br />

Alexander Gerst lebte 2014<br />

für sechs Monate an Bord der ISS. In<br />

einem Interview nach seiner Rückkehr<br />

erzählte er, wie er möglichst viel<br />

Zeit an seinem Lieblingsort verbrachte:<br />

einem Glaskubus, der unter der<br />

Raumstation angebracht ist. Etliche<br />

Fenster sind dort eingelassen, durch<br />

die man auf die Erde blicken kann, ein<br />

360-Grad-Panorama unseres Alls. Dort<br />

machte Gerst Fotos. Dachte nach. Er<br />

konnte nicht fliehen, die anderen waren<br />

weiterhin da. Und trotzdem fand<br />

er Ruhe.<br />

Flügen. Ich habe sie lange nicht mehr<br />

gesehen, die Party wird sicherlich gut.<br />

Doch ich beschließe, dass es reicht.<br />

Dass 2018 anders werden soll, entspannter,<br />

spontaner. Freier.<br />

Auch ihnen sage ich ab. Niemand<br />

nimmt es mir übel. Ich plane, Silvester<br />

in Hamburg zu bleiben. Spontan zu<br />

schauen, was passiert. Darauf freue ich<br />

mich gerade.<br />

Ich muss nur lernen,<br />

mir diese Momente<br />

zu nehmen<br />

Ich merke, dass ich nicht<br />

allen absagen muss. Ich muss nur<br />

lernen, mir bewusst diese Momente<br />

zu nehmen, wenn ich sie brauche.<br />

Mitte November lädt mich eine Freundin<br />

zu einer Party ein. Ich schaue kurz<br />

in meinen Kalender. Bislang habe ich<br />

nichts vor. Dann denke ich an Fröhlich.<br />

Daran, wie ich mir Wochenenden bewusst<br />

freihalten soll. Ich schreibe der<br />

Freundin, bedanke mich und sage ab.<br />

Kurz danach melden sich andere<br />

Freunde. Sie planen eine Silvesterfeier<br />

in Stuttgart. Ich suche nach<br />

41


WELTKIND<br />

DER<br />

POET<br />

DES<br />

MONATS<br />

Jeden Monat veröffentlichen<br />

wir hier einen Text<br />

eines Poetry Slammers.<br />

Name: Hinnerk Köhn<br />

Jahrgang: 1993<br />

Herkunft: Eckernförde<br />

HINNERK KÖHN:<br />

EINMAL RIO UND ZURÜCK<br />

„Einmal den Karneval in Rio sehen, weißt du, mein Sohn, einmal, das war schon immer mein<br />

Traum“ sagt Walter und trinkt seinen Tomatensaft mit ekelerregend viel Salz und Pfeffer. Für<br />

Walter geht dieser Flug nach Rio de Janeiro und damit entspannte zwölf Stunden, ich wollte<br />

nur sparen bei meiner Reise nach Madrid und zahle 31,40€ und fliege 38 Stunden. Für Walter<br />

ist das aber auch eine nette Situation, dem Jungspund nochmal was vom Leben erklären, für<br />

mich ist es ein Gespräch aus dem Jenseits. Seine Hand zittert durch die Diabetes-Erkrankung<br />

und er verkleckert ein wenig Saft auf dem Sitzklapptisch, der zu klein für alles ist, bis auf ein<br />

Buttercroissant und ein 0,2-Getränk, das mit dem Blut von Gewerkschaftsführern bezahlt<br />

wurde.<br />

„Ja, das ist bestimmt ein tolles Erlebnis.“ Sage ich und krame demonstrativ meine Kopfhörer<br />

raus um zu signalisieren, dass Walter und sein Reiseziel mir sehr egal sind. Das Flugzeug<br />

brummt und kurz, wie bei jedem Flug, weiß ich, dass ich sterben werde und zwar sehr<br />

grausam und langsam und es wird meine Mutter zum Weinen bringen und mein Onkel wird<br />

sagen: „Hab ich es doch gesagt, diese Billigflüge bringen einen um!“<br />

Es ist eine ganz normale Flugsituation, überall schreien Kinder und Eltern sagen, dass das<br />

ganz normal sei, der Kaffee ist kalt und das Sandwich, dass zum Essen gereicht wird, hat<br />

einen Belag à la „Pute-Mandarine“.<br />

„Weißt du, mein Sohn, es geht nicht nur um die Stimmung, den Tanz und das alles,“, er beugt<br />

42


SPASS<br />

sich rüber zu mir, so dass sein Kölnisch Wasser angreift, „die Brüste von den jungen Chicas, das<br />

ist es!“<br />

„Thailand ist billiger.“, sage ich und stecke mir die Kopfhörer in die Ohren. Stunde 1 Der<br />

Karneval in Rio hat Walter in selige Träume versetzt und lehnt an meiner Schulter, höhnisch<br />

schnarchend, als würde er seiner verstorbenen Frau im Himmel zeigen wollen „Guck mal, der<br />

studiert nicht BWL, so wie Jonas unser Sohn!“. Sein Kölnisch Wasser hat Verstärkun gerufen<br />

und so dringt langsam aber sicher dieser typische Altersheim-Geruch durch, ein wenig Urin,<br />

ein wenig Schweiß und diese unbezeichenbare, dieses käsige wo doch ein wenig Thymian<br />

mitschwingt. Ein Luftloch hat dafür gesorgt, dass der Rest des Tomatensafts meine Hose ziert<br />

und ich finde das alles furchtbar unangenehm. Stunde 2 Walter hat aufgehorcht zu schnarchen.<br />

Stunde 3 Walter hat auch aufgehört zu atmen. Ich werde panisch und drücke auf den<br />

Stewardess-Rufknopf. Stunde 5 „Sir, sie hatten schon ihre zwei Freigetränke!“ Die Stewardess<br />

guckt mich erbost an.<br />

„Der Mann ist tot, verdammt!“ schreie ich und zeige auf Walter, der sehr doll nach vorne kippt.<br />

„Psst, was haben Sie gesagt?“<br />

„Der ist tot, mann! Der ist tot, ich glaube, der is‘ tot!“<br />

Die Stewardess guckt mich, dann sich um, dann nimmt sie unauffällig den Puls.<br />

„Und?“<br />

„Ich zähle noch.“<br />

„Bei wieviel sind sie?“<br />

„Null.“<br />

Ich atme tief aus und schau die Stewardess an.<br />

„Und jetzt?“<br />

„Beruhigen Sie sich, ich komme gleich wieder!“<br />

„Sie lassen mich hier alleine?!“<br />

„Nur kurz, ich bringe ihnen auch noch ein Freigetränk mit. Was wollen sie denn?“<br />

„Nicht neben einer Leiche sitzen!“<br />

„Jetzt stellen sie sich nich‘ so an, ich bringe ihnen einen Weißwein.“ Stunde 6 „Hören Sie, ich<br />

kann sie wirklich nicht umsetzen, der Flug ist ausgebucht.“<br />

„Sagen Sie, wollen sie mich verarschen? Der fängt schon an zu riechen!“<br />

„Jetzt werden sie mal nicht frech!“<br />

„Und was ist, wenn wir ihn wegtragen?“<br />

„Viel zu auffällig, die anderen Gäste kriegen Panik, setzen sie sich doch gleich noch einen<br />

Turban auf und schreien laut rum.“<br />

„Ja, ok, is‘ ja gut. Kann ich dann noch einen Weißwein haben?“ Stunde 7 Ich drücke genervt<br />

auf den Klingelknopf, die Flasche Wein ist schon wieder alle.<br />

Was hat Walter wohl so in seinem Leben gemacht? War er erfolgreich? Hat er Kinder? Schwere<br />

Ehe, zerbrochen an Alkohol und Gelüsten nach fremden Frauen? Streitgespräche, nachdem<br />

er nachts betrunken nach Hause kam und nach einer anderen roch? Oder eigenes Architekten-Büro<br />

und Cocker-Spaniel namens Watson? Ich mustere ihn.<br />

Seine Augen sind eingefallen, sein weißes, nach hinten gekämmtes Haar schüttern. An der<br />

linken Hand ein Ehering. Ich sehe mich um. Die meisten schlafen. Ich greife in seine Jackettasche<br />

und nehme sein Portemonnaie raus. AOK, ADAC, Sparkasse, Barclay-Card, Mitgliedsausweis<br />

vom Lions Club Harvestehude.<br />

Oh fuck, denke ich, und nehme zwei Bilder raus. Auf einem ein Junge, großgewachsen,<br />

lächelt verhalten in die Kamera, klamottentechnisch so um die 1995, Mickey-Maus-Pulli in<br />

Türkis-Grün. Das Andere Bild zeigt einen Säugling.<br />

Erleichtert stecke ich die Bilder wieder zurück ins Portemonnaie. Enkelkinder, da kann der<br />

43


WELTKIND<br />

Oppa schon mal wegtreten, halb so wild. Die 130 Euro behalte ich trotzdem. Stunde 8 Mein<br />

Handy Akku ist leer, also kann ich mich nicht mal mehr mit meiner Spotify-Playlist namens<br />

„Afroschranz & Ethnogabber“ ablenken. Die Leute aus der Reihe neben uns tuscheln und<br />

zeigen auf Walter, ich winke ab und mache eine „viel zu viel getrunken“-Geste. Sie schütteln<br />

den Kopf und zeigen auf meine Hose, wo der Tomatensaft blutähnliche Rückstände hinterlassen<br />

hat. Ich winke ab und mache eine „viel zu viel getrunken“-Geste. Stunde 9 Eigentlich<br />

schon ein ziemlich ehrenloser Tod. Auf dem Weg ins Busenparadies an Unterzuckerung oder<br />

Altersschwäche zu sterben. Ganz schön unverantwortlich, ich meine, neben ihm hätte ja auch<br />

ein Kind sitzen können. Mensch, Walter, ein bisschen mehr Rücksicht auf deine Mitmenschen<br />

wäre in manchen Momenten schon angebracht, denke ich und gebe ihm eine Nackenschelle.<br />

Stunde 10 Schöner Anzug, denke ich, als ich in seiner anderen Innentasche rumfummle auf<br />

der Suche nach etwas Essbarem. Alte Menschen haben doch immer Eukalyptus-Bonbons<br />

oder so eine Unart bei sich, irgendwas womit man kleine Kinder geil auf Süßigkeiten macht<br />

und dann gibt es, pf, keine Ahnung, Butter mit Zucker. „Wir hatten ja nichts!“, sagen die dann<br />

immer oder „Mhhh, Helbing Kümmel!“. Ich greife in ein Stofftaschentuch, was einerseits<br />

meinen Großvater-Verdacht erhärtet, andererseits auch dafür sofort, dass ich angewidert die<br />

Hand zurückziehe. Welche Schuhgröße er wohl hat? Stunde 11 Echtes Leder, denke ich und nicke<br />

anerkennend, als ich mit meinem Blick über meine neuen Budapester streife. Walter hat<br />

Geschmack, wer hätte das gedacht? Kathi, die Stewardess, bringt mir noch einen Weißwein,<br />

wir sind mittlerweile per du und flaxen von Zeit zu Zeit. Eine Durchsage befiehlt, wir sollen die<br />

Sitze geradestellen und den Flugmodus an unseren Mobilfunkgeräten anstellen, mache ich<br />

natürlich. Auch für Walters Handy.<br />

Die Maschine setzt sanft auf dem Rollfeld auf, ein paar Leute klatschen, ein paar sehen beschämt<br />

zur Seite, die meisten schnallen sich viel zu früh ab und holen ihre Taschen aus dem<br />

Ablagefach. Ich drücke mich an Walter vorbei und streichle über seine Hand, die mittlerweile<br />

in Totenstarre auf seinem Knie liegt. Beim Rausgehen nicke ich dem Kapitän zu, lächle Kathi<br />

an und steige die Treppe runter zum Shuttlebus. Hat sich jetzt schon gelohnt, die Reise, denke<br />

ich, stolpere, komme auf dem Boden auf und breche mir das Genick.<br />

Mehr von Hinnerk Köhn findet ihr hier:<br />

Youtube: Hinnerk Köhn<br />

Instagram: behinnerk<br />

Facebook: Hinnerk Köhn/köhnich<br />

44


SPASS<br />

WISSEN, DAS MAN NICHT<br />

BRAUCHT, ABER AUCH NIEMALS<br />

VERGISST<br />

Kraken haben<br />

einen Lieblingsarm.<br />

Das Wort Vanille ist<br />

von Vagina abgeleitet.<br />

Haie haben Geschmacksknospen<br />

am ganzen Körper.<br />

Ob eine Beute<br />

ihnen schmeckt,<br />

können sie prüfen,<br />

indem sie sich an<br />

ihr reiben.<br />

In öffentlichen Toiletten<br />

wird das Klo,<br />

das dem Ausgang<br />

am nächsten liegt,<br />

am wenigsten benutzt,<br />

das mittlere<br />

am häufigsten.<br />

Der klarste See<br />

der Welt ist<br />

der Mashusee<br />

in Japan. Die<br />

Sicht reicht bis<br />

42 Meter Tiefe.<br />

Ein Kondom darf<br />

nach deutscher<br />

Industrienorm erst<br />

bei achtzehn Litern<br />

Füllmenge platzen.<br />

Es leben mehr<br />

Papageien in<br />

menschlicher<br />

Obhut als in der<br />

Natur.<br />

An Wahltagen darf<br />

in Norwegen kein<br />

Alkohol verkauft<br />

werden.<br />

Jeder zweite Elefant ist<br />

Linksrüssler.<br />

45


WELTKIND<br />

IMPRESSUM<br />

Imperaturiae offici consequi sit ersperum<br />

fuga. Qui simendi gnissinvende<br />

cus venecernate que nonempori blat<br />

voluptaestio et earum fugia quide<br />

niam explani mporrumquam cus<br />

maio entemoluptas exerum aceribea<br />

volorit enihit anderunt lit, arum<br />

facepudame quiatin cipsandam rene<br />

qui officienim hicipsum etur arum<br />

cusanissim facerferunt alit est aut alit<br />

odiatquam alibernatem quis ratur?<br />

Ehenima gniendi ossit, elecearis<br />

sinventia que omniendes comnient,<br />

nobis ma velesto volutat.<br />

Tus, si dolendam, ipit hicilis nonectus<br />

doluptia corrum et ut quis dem. Nam,<br />

ipsa sitae cum id exeriam exceatur?<br />

Ugit vendell orporecupta exces arum<br />

aboresc ilibusd aectur, utaspelenis velent<br />

volendebis et aborero vendescia<br />

soluptis re, ommod quistrum aut repe<br />

et officid icatur, corempernat officium<br />

dempelitem. Nam, consequ iduciis<br />

eum harchilias aperchi tatius destia<br />

voloris rerrum ellent fugias re mo eat.<br />

Everrum est, quasped et maximpor si<br />

debitias idelignis inctect atquaspedici<br />

omnim quatqui bereperibus, sum<br />

quatior emporem oloribu sapeliqui nis<br />

rerende cusdandia ni ut ratquidunt<br />

vendae miniet vel molupicimus quiam<br />

ut evenia num vel id maximin eum<br />

intureh enecea volori volorernat.<br />

Fuga. Nametur? Imodici piendit qui<br />

con essi nem ut ea dolorio reperuptatem<br />

duciet quat faccus, sin et vel<br />

modis veliam invenis nonsero dolupti<br />

ntiorro eium, quia dellectiam quis moluptas<br />

rem rem is es alitem alibus as<br />

deles rendaestem id qui nimporrum<br />

et, sit deruptat qui con nonsequid et<br />

listrum inctat re qui optatis andis.<br />

DIE NÄCHSTE AUSGABE<br />

ERSCHEINT AM 25. APRIL.<br />

46


VEGAN<br />

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dass uns Pizza<br />

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JETZT IN DER TIEFKÜHLTRUHE<br />

47


WELTKIND<br />

WAS WAR DAS<br />

nOCH MAL FÜR<br />

EIn FISCH?<br />

Schwer zu sagen. Und eigentlich auch egal,<br />

wenn es keine Fische mehr gibt.<br />

Tragen Sie dazu bei, die dramatische Überfischung unserer Meere zu stoppen.<br />

Informationen erhalten Sie telefonisch unter 040 306 18 120, per E-Mail unter<br />

mail@greenpeace.de oder auf www.greenpeace.de/fischratgeber<br />

48

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