Eröffnungserklärung
Eröffnungserklärung
Eröffnungserklärung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Hohes Gericht,<br />
sehr geehrte Herren Staatsanwälte,<br />
– 1 –<br />
die Verteidigung will von ihrem zwar selten ausgeübten, aber gleichwohl bestehenden<br />
Recht 1 Gebrauch machen, eine<br />
<strong>Eröffnungserklärung</strong><br />
abzugeben und die aus Sicht der Verteidigung wesentlichen rechtlichen<br />
Verteidigungsgründe kurz erläutern, die die von der StA behauptete strafrechtliche<br />
Zurechnung entweder ganz beseitigen oder zumindest doch beträchtlich in Frage<br />
stellen.<br />
I.<br />
Neben dem rein rechtlichen Interesse sind es aber auch noch zwei weitere Aspekte, die<br />
eine <strong>Eröffnungserklärung</strong> der Verteidigung dringend gebieten:<br />
� Die Berichterstattung der gewerblichen Medien im Vorfeld des Prozesses war<br />
von einer erschreckenden Parteilichkeit geprägt, die z. T. in geradezu<br />
schandbarer Art und Weise über Wochen, Monate und Jahre hinweg das<br />
Neutralitätsgebot missachtete, indem schon vorab unkritisch strafrechtlich<br />
relevante Schuldzuweisungen vorgenommen wurden, man sich eindeutig und<br />
einseitig gegen die Angeklagten positionierte und so zu einer der Aufklärung der<br />
Sache abträglichen Emotionalisierung des Verfahrens beitrug und noch immer<br />
beiträgt.<br />
1 LG Mannheim (24) 6 KLs 9/96 – Verfahren gegen Peter Graf; LG Mannheimm 1 KLs 400 Js 37766 –<br />
Verfahren gegen Harry Wörz; Hammerstein, in: FS Salger (1995), S. 293, 298 f.; Hohmann StraFo<br />
1999, 153, 154; König AnwBl. 1997, 541, 542; E. Müller, in: FS Hanack (1999), S. 67, 76; Salditt StV<br />
1993, 442, 443; Schäfer, Praxis des Strafverfahrens (6. Aufl. 2000), Rdnr. 901; Schlag, in:<br />
Schriftenreihe der Arge Strafrecht des DAV (1988), S. 9 ff.
– 2 –<br />
Herr Dr. Neupert und seine Verteidiger sind daher in Sorge, dass die nicht-<br />
professionellen Teilnehmer an dieser Hauptverhandlung dadurch unbewusst<br />
determiniert sein könnten, zumal solche Sorgen durch die Erkenntnisse der<br />
sozialpsychologischen Forschung bestätigt sind:<br />
Nach der empirisch abgesicherten Theorie der kognitiven Dissonanz 2 , neigt der<br />
mit solch verzerrten und parteilichen Information Vorbefasste in einer die<br />
Wahrheitsfindung gefährdenden Weise dazu, Informationen, etwa Aussagen und<br />
Prozesserklärungen, die mit den Vorinformationen übereinstimmen – konkordant<br />
sind – für wichtiger und „wahrer“ zu halten als solche Informationen, die den<br />
Vorinformationen nicht entsprechen, also dissonant sind.<br />
Herr Dr. Neupert und seine Verteidiger bitten daher um den fairen, rationalen<br />
Diskurs, mag er auch aus Gründen der Kompliziertheit der Rechtslage, der<br />
Komplexität des Sachverhalts und der geschürten Emotionen schwierig sein.<br />
Die gewerblichen Medien hätten sich die wohltuend neutrale und zurückhaltende<br />
Pressearbeit der Staatsanwaltschaft Dortmund zum Beispiel nehmen sollen.<br />
Wäre das geschehen, so wäre es z. B. gestern nicht dazu gekommen, zum<br />
wiederholten Mal die Krankheit des kleinen Neil A. mit PCB-Werten im Blut<br />
seiner schwangeren Mutter in Zusammenhang zu bringen und gegen Herr Dr.<br />
Neupert zu instrumentalisieren: Der Junge war mit einer Zyste an der Niere<br />
geboren worden. Das Organ musste ihm im Januar 2012 entfernt werden. Nach<br />
dem Gutachten eines toxikologischen Sachverständigen wurden bei der<br />
Schwangeren zwar „geringe Überschreitungen der Hintergrundwerte der drei<br />
niedrigchlorierten PCB-Kongenere gemessen.... Der Summenwert der sechs<br />
Indikatorkongeneren lag bei ihr (aber) unterhalb des Referenzwertbereichs“ (für<br />
die Allgemeinbevölkerung), nämlich bei 0,919 Mikrogramm/Liter. „Eine pcb-<br />
bedingte Gefährdung des Fötus lässt sich aus dieser Belastung nicht ableiten,<br />
2 Ausf. zur Übertragung dieser Theorie auf den Strafprozess vgl. etwa Schünemann GA 1978,<br />
S. 161 ff.; ders. KR 1999, 146, 148 ff.; Barton StraFo 1993, 11, 13 ff.; ders. Einführung in die<br />
Strafverteidigung (2007) mit zahlr. Nws.
– 3 –<br />
auch nicht im Hinblick auf entwicklungstoxische Effekte“. Derart objektive<br />
entlastende Umstände wurden von den Nebenklägern und deren Vertretern<br />
offenbar nicht zur Kenntnis genommen und daher – einmal mehr – in der<br />
Presseberichterstattung unterschlagen. 3<br />
� Darüber hinaus ist das Verfahren auch deshalb schon jetzt beschädigt, weil sich<br />
der Umweltminister in beschämender, das Gewaltenteilungsprinzip und die<br />
verfassungsrechtlich aus gutem Grund garantierte Unabhängigkeit der Gerichte<br />
in grob missachtender Weise einmischte, indem er durch Schreiben vom 22.<br />
September 2011 an den Herrn Vorsitzenden in belehrender Weise Einfluss zu<br />
nehmen versucht hat; das Gericht sollte zu einer Verschärfung der Vorwürfe<br />
veranlasst werden. Schlimmer, weil evident verfassungswidrig, kann ein<br />
politischer Missgriff nicht sein. Weil dem Minister ganz zweifellos bekannt ist,<br />
was Gewaltenteilung und die durch Art. 97 GG garantierte Unabhängigkeit der<br />
Gerichte in unserer rechtsstaatlich verfassten Ordnung bedeuten, ist die<br />
erwähnte Eingabe nicht weniger als eine populistische Unverschämtheit, die<br />
mehr an Unrecht enthält – weil tragende Verfassungsprinzipien unserer<br />
Gesellschaft angegriffen wurden – als die Angeklagten jemals hätten<br />
verwirklichen können.<br />
Wir Verteidiger wissen aus unserer Perspektive professioneller Distanz, dass es dieses<br />
Appells um Entemotionalisierung und Einkehr der Rationalität Ihnen gegenüber, Hohes<br />
Gericht, ganz sicher nicht bedarf. Gegenüber Ihnen als entscheidungstragende<br />
Personen zweifeln wir nicht. Hinweisen auf die zwar nicht von Ihnen zu<br />
verantwortenden, aber dennoch beträchtlichen Gefahren für die Wahrheits- und<br />
Rechtsfindung darf die Verteidigung sicherlich, und man muss Verständnis dafür haben,<br />
dass u. a. Herr Dr. Neupert in Sorge ist. Wir sind sicher, Sie werden dies<br />
nachempfinden können.<br />
Für Irritierung sorgte allerdings, das will die Verteidigung nicht verschweigen, dass der<br />
Herr Vorsitzende im April 2012 der BezReg Akteneinsicht gewährte, obgleich in seinem<br />
3 Der vorstehende Absatz zu Neil A. wurde nicht verlesen, sondern erst nachträglich in die<br />
<strong>Eröffnungserklärung</strong> eingefügt. Der Pressebericht konnte aus zeitlichen Gründen vor der Verlesung<br />
der <strong>Eröffnungserklärung</strong> im Gericht nicht mehr eingefügt werden.
– 4 –<br />
Vermerk vom 2. April 2012 die Auffassung der Verteidigung, die sich aus<br />
Rechtsgründen gegen die beantragte Akteneinsicht ausgesprochen hatte, als<br />
„durchdringend“ bestätigt wurde.<br />
Nun zur Anklageschrift selbst:<br />
II.<br />
Herr Dr. Neupert würde bedauern, wenn Personen, namentlich (ehemalige) Mitarbeiter,<br />
durch ihre Tätigkeit bei oder für ENVIO an ihrer Gesundheit geschädigt worden sein<br />
sollten. Gleiches würde für die Beeinträchtigung der durch die Umwelttatbestände<br />
geschützten Rechtsgüter gelten. Es mag formale genehmigungsrechtliche Mängel<br />
gegeben haben. Eine strafrechtlich relevante Verantwortlichkeit bestand aber nicht. Im<br />
Einzelnen:<br />
1. Körperverletzung - § 223 StGB<br />
Die Anklageschrift wirft u. a. Herrn Dr. Neupert vor, dafür verantwortlich zu sein, dass<br />
51 Personen an ihrer Gesundheit beschädigt wurden. Die Verteidigung weist diesen<br />
Vorwurf zurück:<br />
a.) Schon der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt:<br />
Eine Gesundheitsbeschädigung liegt nur dann vor, wenn ein von den Normalfunktionen<br />
des menschlichen Organismus nachteilig abweichender Zustand hervorgerufen (oder<br />
gesteigert) wird. Das ist gesicherter Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 4<br />
Schon eine solche nachteilige Veränderung des individuellen körperlichen oder<br />
psychischen Zustandes ist unbewiesen und wird es bleiben. Zwar wurden bei den<br />
arbeitsmedizinisch-toxikologisch untersuchten Mitarbeitern Auffälligkeiten festgestellt,<br />
namentlich der Leber und der Schilddrüse. Doch diese und alle anderen erhobenen<br />
pathologischen Befunde kommen auch in der nicht beruflich pcb-belasteten<br />
Allgemeinbevölkerung vor. Eine Beziehung zwischen PCB-Konzentation im Körper und<br />
4 Vgl. BGHSt 36, 1, 6; 36, 262, 265; 43, 346, 354.
– 5 –<br />
spezifisch pathologischen Wirkungen ist bis auf die Erkrankung an Chlorakne, einer<br />
auch pcb-bedingten Hautkrankheit, in den wissenschaftlichen Studien zur<br />
berufsbedingten PCB-Belastung als toxischer Effekt nicht belegt. Es ist beredt und<br />
hätte aus Sicht der Verteidigung bei rationaler Betrachtung längst Anlass zum<br />
Nachdenken über die angeblich kausalen Erkrankungen der untersuchten Mitarbeiter<br />
sein müssen, dass keiner (!) der untersuchten Mitarbeiter an dieser eigentlich zu<br />
erwartenden, typischen Erkrankung leidet oder litt. Der Grund liegt auf der Hand:<br />
Die Auffälligkeiten der untersuchten Mitarbeiter sind nicht auf die PCB-Belastung<br />
zurück zu führen. Sie lassen sich vielmehr – das jedenfalls ist die Auffassung des<br />
Sachverständigen Herrn Prof. Dr. Rettenmeier – plausibel mit ungesunden<br />
Lebensstilfaktoren dieser Mitarbeiter erklären.<br />
Um es abzurunden: Es gibt noch nicht einmal eine erhöhte statistische Wahrschein-<br />
lichkeit für den in der Anklageschrift zumindest mittelbar behaupteten kausalen<br />
Zusammenhang. Denn Menschen aus der Allgemeinbevölkerung leiden genauso oft<br />
unter den in den Untersuchungen z. T. festgestellten Auffälligkeiten.<br />
b.) Selbst wenn es einen statistisch gesicherten Zusammenhang zwischen erhöhten<br />
PCB-Werten im menschlichen Körper und gewissen pathologischen Auffälligkeiten<br />
(außerhalb von Chlorakne) gäbe, wäre unbewiesen, dass die erhöhte PCB-<br />
Konzentration relevant auf die behaupteten Unregelmäßigkeiten bei ENVIO zurück zu<br />
führen ist. Daher müssen alle PCB-Werte unberücksichtigt bleiben, die auf legalen<br />
Expositionen beruhen, bei denen also der Arbeitsplatz-Grenzwert (AGW) eingehalten<br />
wurde. Kurz: Niemand hat sich bislang die aus Sicht der Verteidigung bedeutsame<br />
Frage vorgelegt, welche PCB-Werte eigentlich bei angenommener legaler Exposition<br />
bei den untersuchten Mitarbeitern vorliegen würden.<br />
Darüber hinaus wurde kein Mitarbeiter bei der Aufnahme der Tätigkeit für ENVIO auf<br />
die bereits vorhandenen PCB-Werte untersucht. Über die Vorbelastungen ist daher<br />
nichts bekannt. PCB, das sich im menschlichen Körper ansammelt, wurde in vielen<br />
Industriebereichen und auch des häuslichen Lebens eingesetzt. Kurz: Man weiß bis<br />
heute nicht, was jeder Mitarbeiter an PCB-Belastung „mitgebracht“ hat.
– 6 –<br />
c.) Darüber hinaus fehlt es auch am Vorsatz. Die bei ENVIO tätigen Arbeiter und<br />
Angestellten wurden regelmäßig im „Betriebsarztzentrum Dortmund und Umgebung“<br />
untersucht. Dort war selbstverständlich bekannt, dass mit PCB gearbeitet wurde.<br />
Dennoch gab es an die Betriebsleitung keine Hinweise, also auch nicht an Herrn Dr.<br />
Neupert, dass gesundheitliche Gefährdungen drohen oder gar eingetreten seien. Im<br />
Gegenteil:<br />
Unter der Rubrik „Clophen“, was nichts anderes ist als ein Handelsname für PCB, findet<br />
sich in den Berichten der durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig der<br />
Eintrag: „Keine Bedenken“. Es leuchtet der Verteidigung nicht ein, warum Herr Dr.<br />
Neupert auf diese Auskünfte nicht hätte vertrauen dürfen.<br />
Selbstverständlich wird es die Verteidigung nicht bei Behauptungen belassen. Vielmehr<br />
wird sie die genannten und andere Verteidigungsgründe durch Urkunden, Zeugen und<br />
Sachverständige im Einzelnen darlegen.<br />
d.) Schließlich geht die Verteidigung bei allem davon aus, dass z.B. die entsprechenden<br />
Gutachten, die die Auffassung der Verteidigung stützen, den Nebenklägern bekannt<br />
sind. Denn kommt es nicht zu einer Verurteilung wegen Körperverletzung, dann haben<br />
die Nebenkläger ihre Kosten selbst zu tragen. Es bedarf keines Hinweises, dass diese<br />
Kosten für jeden Einzelnen beträchtlich wären.
2. Die Umweltdelikte<br />
– 7 –<br />
a.) § 326 StGB – Unerlaubter Umgang mit gefährlichen Abfällen<br />
Der Tatbestand liegt aus Sicht der Verteidigung allein schon deshalb nicht vor, weil es<br />
sich bei ENVIO um einen zugelassenen PCB-Entsorgungsbetrieb handelte. § 326 StGB<br />
pönalisiert aber nur die Entsorgung gefährlicher Abfälle außerhalb einer solchen<br />
Anlage. Die – wie in der Anklageschrift behauptet – Entsorgung innerhalb einer<br />
grundsätzlich genehmigten Anlage, aber außerhalb der Genehmigungsgrenzen, ist<br />
allein in § 327 StGB erfasst.<br />
aa.) Die Verteidigung übersieht hier nicht, dass § 326 StGB in seiner zweiten Alternative<br />
schlicht von einer Behandlung in „wesentlicher Abweichung von einem<br />
vorgeschriebenen oder zugelassenen Verfahren“ spricht. Aber diese Alternative darf<br />
nicht dahin verstanden werden, dass damit Abweichungen innerhalb einer<br />
zugelassenen Anlage gemeint wären. Denn es gibt auch Abfallbeseitigungen, die<br />
außerhalb einer Anlage zulässig sind, aber dennoch ein bestimmtes Verfahren<br />
einhalten müssen:<br />
Man denke an Gülle, die der Bauer auf seinem Feld ausbringt. Das Feld ist sicherlich<br />
keine „Anlage“, aber dennoch darf er die Gülle ausbringen, doch nur unter Einhaltung<br />
eines bestimmten Verfahrens: nicht zu viel an einer Stelle, nur innerhalb bestimmter<br />
Jahreszeiten usw.; oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen: die Beseitigung eine toten<br />
Haustieres, etwa des Hundes oder der Katze, durch Vergraben im eigenen Garten<br />
erfolgt außerhalb einer „Anlage“ und ist prinzipiell erlaubt, doch nur bei Einhaltung<br />
bestimmter Regeln, nämlich nicht in Wasserschutzgebieten und einer Grubentiefe von<br />
mindestens 50 cm (§ 5 TierkörperbeseitigungsG). Man sieht: Auch die<br />
Tatbestandsalternative „wesentliche Abweichung von einem vorgeschriebenen oder<br />
zugelassenen Verfahren“ meint die Fälle der Abfallbeseitigung außerhalb einer dafür<br />
vorgesehenen Anlage.<br />
Kurzum: § 326 StGB und § 327 StGB schließen sich in ihren Anwendungsbereichen<br />
aus. 5<br />
5 Die Verteidigung sieht ihre Auffassung bestätigt u.a. durch die Kommentierung des Bundesrichters<br />
Joachim Steindorf in: LK, § 326 Rn. 115; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrafR BT/2 (9. Aufl. 2005),<br />
§ 58 Rn. 22 sowie OLG Düsseldorf NVwZ-RR 1990, S. 11. ff.
– 8 –<br />
ab.) Aber selbst wenn die Vorschrift anwendbar wäre, fehlte es aber bei den außerhalb<br />
des sog. Schwarzbereiches bearbeiteten Gegenständen am angeklagten<br />
Tatbestandsmerkmal „für den Menschen krebserzeugend, fruchtschädigend oder<br />
erbgutverändernd“. Wann ein Abfall diese Gefährlichkeitsmerkmale des § 326 StGB<br />
erfüllt, etwa „krebserzeugend“ ist, richtet sich nicht nach der reinen Gefährlichkeits-<br />
betrachtung des Gefahrstoffes PCB, sondern ist gesetzlich geregelt, und zwar in der<br />
AbfallverzeichnisVO. Danach sind gefährliche Abfälle nur solche, die im Katalog der<br />
AVV mit einem Sternchen versehen sind. Hierunter fallen zwar auch Transformatoren<br />
und Kondensatoren, die PCB enthalten. Dies besagt aber noch nichts darüber, ob alle<br />
Bestandteile der Transformatoren und Kondensatoren gefährlich sind. Um ein<br />
einfaches, unmittelbar einleuchtendes Beispiel zu nennen: Schrauben, die keinerlei<br />
Kontakt mit dem Innenleben eines Transformators hatten. Sie sind zwar Bestandteile,<br />
aber nicht gefährlich.<br />
Deshalb unterscheidet die AVV zwischen der Behandlung des gefährlichen Abfalls<br />
(hier: der angelieferten Transformatoren) als solchem und der Behandlung der<br />
Bestandteile. Bezüglich der Bestandteile enthält die AVV indessen eine Regelung. Sie<br />
besagt, dass Abfälle dann nicht mehr im Rechtssinne gefährlich („krebserzeugend“ pp.)<br />
sind, wenn die Konzentration des jeweiligen Gefahrstoffes, hier also PCB, unter 1%<br />
liegt. So liegen die Dinge hier:<br />
Vorab: Das Öl selbst ist zwar weiterhin ein gefährlicher Abfall. Es wurde jedoch in den<br />
Anlagen von ENVIO nicht entsorgt, sondern an dritte Entsorger abgegeben.<br />
Es geht also nur um die bei ENVIO verbliebenen Metall-Bestandteile (z.B. Bleche), an<br />
denen noch Öl-Anhaftungen zu finden sind. Die 1%-Regelung führt hier aber dazu, dass<br />
die Metall-Bestandteile gerade nicht mehr gefährliche Abfälle darstellen. Denn bezogen<br />
auf die Masse des jeweiligen Bleches liegt der PCB-Anteil (deutlich) unter 1%, sei es,<br />
weil sie den Grenzwert von 1% von vornherein nicht erreichten, sei es, weil sie nach<br />
durchgeführter Vorreinigung durch ENVIO den Grenzwert nicht mehr erreichten. 6<br />
§ 326 StGB ist deshalb entweder von vornherein nicht anwendbar oder tatbestandslos.<br />
6 Die sog. Spiegel-Einträge der AVV tragen diesem Umstand Rechnung.
– 9 –<br />
b.) § 327 StGB – Unerlaubtes Betreiben von Anlagen<br />
Wir werden im Verfahren nachweisen, dass es keine materiellen Genehmigungsdefizi-<br />
te gab, d. h.:<br />
ba.) Entgegen den Behauptungen der Anklage wurden keine Entsorgungstätigkeiten<br />
durchgeführt, die im Widerspruch zu den gesetzlichen Bestimmungen und dem Stand<br />
der Technik standen. Die durchgeführten Tätigkeiten waren entweder von bereits erteil-<br />
ten Genehmigungen, insbesondere der Änderungsgenehmigung vom 14. Oktober 1996<br />
gedeckt oder wurden mit behördlicher Duldung so durchgeführt, wie dies der später er-<br />
teilten Genehmigung aus dem Jahre 2009 entspricht.<br />
bb.) Soweit für einen gewissen Zeitraum, das verkennt die Verteidigung keineswegs,<br />
ein formelles Genehmigungsdefizit bestand, so ist dieser Umstand strafrechtlich irrele-<br />
vant. An dieser Stelle nur so viel:<br />
� Zum Einen lag eine aktive Duldung seitens der Bezirksregierung Arnsberg vor,<br />
die auch dem Probebetrieb für eine abweichende Betriebsweise, die sich insbe-<br />
sondere auf die Entsorgung von sog. UTD-Transformatoren bezogen hat, zuge-<br />
stimmt hatte. Hierbei ging es im Wesentlichen um die Umstellung von einer ge-<br />
nehmigten Reinigung durch Spülvorgänge auf eine Dampfreinigung. Aus ver-<br />
schiedenen Dokumenten ist ersichtlich, dass gegen die neu eingesetzte Be-<br />
dampfungstechnik überhaupt keine Einwände bestanden, sondern diese als be-<br />
sonders fortschrittliche Vorgehensweise anerkannt war. So sind auch Äußerun-<br />
gen der Berufsgenossenschaft bereits im Zusammenhang mit dem Probebetrieb<br />
aktenkundig, wonach keinerlei Bedenken gegen die Änderung der Anlagentech-<br />
nik bestanden haben. In diesem Zusammenhang wurde etwa mit Schreiben vom<br />
23. Dezember 2005 festgestellt, dass "keine offensichtlichen Mängel im Arbeits-<br />
verfahren“ bestehen 7 , und dass unter diesen Voraussetzungen auch "keine Be-<br />
7 Gekürztes Zitat: Vollständig geht der Satz weiter: „… wenn die Maßnahmen der Gefährdungsbeurteilung<br />
umgesetzt werden“ Wir stehen aber auf dem Standpunkt, dass dies der Fall ist, deshalb<br />
entstellt die Kürzung im Ergebnis nicht den Sinn.
– 10 –<br />
denken gegen den weiteren Betrieb der dargestellten Arbeitsverfahren" beste-<br />
hen.<br />
� Auch nach Ablauf der Zeitspanne, für die der Probebetrieb zugestanden war, er-<br />
folgt die Reinigung nicht abweichend von der später erteilten Genehmigung. Ge-<br />
rade die antragsgemäße Erteilung der Genehmigung im Jahre 2009 verdeutlicht,<br />
dass keinerlei Bedenken gegen die bereits zuvor insbesondere im Rahmen des<br />
Probebetriebs praktizierte Änderung der Anlage und des Betriebsablaufs bestan-<br />
den hatten. Soweit darauf hingewiesen wird, dass die umgerüstete Anlage noch<br />
nicht abgenommen gewesen sei, ist dies für die Beurteilung des Straftatbestan-<br />
des eines unerlaubten Betreibens einer immissionsschutzrechtlich genehmi-<br />
gungsbedürftigen Anlage unerheblich. § 327 StGB stellt auf die nach dem Ge-<br />
setz erforderliche Genehmigung ab, nicht jedoch auf die Abnahme der genehmi-<br />
gungskonform errichteten Anlage.<br />
� Was die Entsorgungsvorgänge vor Erteilung der formellen Genehmigung, soweit<br />
sie von den Vorgaben der bisherigen Genehmigung abwichen, anbetrifft, wird die<br />
Verteidigung nachweisen, dass - wie auch sonst häufig im Rahmen laufender<br />
Genehmigungsverfahren üblich - ein rechtmäßiges aktives Dulden seitens der<br />
Bezirksregierung Arnsberg erfolgte.<br />
bc.) Darüber hinaus verkennt die Staatsanwaltschaft aus Sicht der Verteidigung, dass<br />
allein aus der Tatsache des Auffindens von Boden- und Anlagenkontaminationen nicht<br />
auf einen rechtswidrigen Anlagenbetrieb geschlossen werden kann. Denn nachträglich<br />
gewonnene Erkenntnisse oder politische Entscheidungen, die zu strengeren Anforde-<br />
rungen bezüglich geltender Standards geführt haben, können nicht den Angeklagten<br />
zur Last gelegt werden. Im Einzelnen zu betrachten sein wird, dass es überhaupt keine<br />
rechtlichen Anforderungen zur Einhaltung eines in der Anklage als "geschlossenes Sys-<br />
tem" bezeichneten Vorgehens gibt. Vielmehr war die Freisetzung von PCB in gewissem<br />
Umfang nach der gelten Genehmigungslage bei ENVIO ebenso akzeptiert, wie bei an-<br />
deren Betreibern. Nicht zu leugnen ist nämlich, dass die ENVIO erteilten Genehmigun-<br />
gen bereits einen erheblichen Ausstoß von PCB über geführte Quellen, d.h. Schorn-<br />
steine, erlauben. Die insoweit mindestens seit 1996 bis zum neuen Bescheid 2009 er-
– 11 –<br />
laubte Emissionsmenge von sage und schreibe 5g PCB täglich (!), das sind 5.000 mg<br />
täglich - wurde von ENVIO nicht ausgeschöpft! 8 Nicht ausgeschöpft wurde ferner die<br />
ab 2009 reduzierte zulässige Ausstoßmenge von immerhin noch 2,25 g PCB täglich.<br />
Wären die erlaubten Werte von ENVIO ausgeschöpft worden, hätten sich im Hafenbe-<br />
reich noch höhere Belastungswerte ergeben. Allein schon deshalb ist die verbreitete<br />
mediale Bezeichnung der Vorkommnisse als „ENVIO-Skandal“ eine die Tatsachen ver-<br />
zerrende Dramatisierung.<br />
Das eilige Erfinden eines in keiner Rechtsvorschrift zum Ausdruck kommenden Flä-<br />
chengrenzwertes von 1 mg/m² ist ein beredtes Beispiel für die Politisierung des Verfah-<br />
rens. Wenn ein solcher Flächengrenzwert maßgebliche Bedeutung im Rahmen eines<br />
ordnungsgemäßen Anlagenbetriebs erlangen soll, so hätte er im Genehmigungsbe-<br />
scheid bzw. dessen Nebenbestimmungen Niederschlag finden müssen. Dies ist jedoch<br />
auch in der aktuellen Genehmigung aus dem Jahre 2009 in keiner Weise der Fall.<br />
Als weiteres Beispiel dafür, dass die bestehende Genehmigungslage sowie die objekti-<br />
ven Fakten nicht das hergeben, was in dramatisierenden Beschreibungen drastischer<br />
Grenzwertüberschreitungen zum Ausdruck kommt und was nur zu gern medienwirksam<br />
aufgegriffen wird, sei noch Folgendes erwähnt:<br />
Die Behauptung, dass in großen Mengen PER freigesetzt worden sei, entbehrt jeder<br />
Grundlage. Wären nämlich tatsächlich die beschriebenen PER-Mengen in den Hallen-<br />
bereich und von dort in die Umwelt gelangt, so hätte bereits nach kurzer Zeit nicht mehr<br />
genügend PER für den Anlagenbetrieb zur Verfügung gestanden. Es hätte auf der Ba-<br />
sis der in der Anklageschrift genannten PER-Freisetzungen vielmehr in großem Umfang<br />
PER nachgekauft werden müssen, was nicht nur wirtschaftlicher Unsinn gewesen wäre,<br />
sondern auch nach den dokumentierten Stoffströmen und den Materialbeschaffungen<br />
eindeutig nicht der Fall war.<br />
bd.) Ohne bereits auf zu viele Details eingehen zu wollen, sei an dieser Stelle lediglich<br />
noch darauf hingewiesen, dass auch die Behauptung, Sicherheitstechnik sei aktiv um-<br />
gangen worden, nicht den Tatsachen entspricht. Es gibt durchaus Anhaltspunkte dafür,<br />
8 Dieser Wert errechnet sich bei sachverständiger Hochrechnung der Emissionswerte aus der<br />
zugelassenen Massenkonzentration und dem zugelassenen Abgasvolumen-Strom.
– 12 –<br />
dass zwar in der Tat eine bewusste Manipulation vorgelegen hat, diese jedoch nicht von<br />
Verantwortlichen des Unternehmens zur Steigerung der Produktivität vorgenommen<br />
wurde, sondern es sich um einen gezielten Sabotageakt zum Zwecke der Anschwär-<br />
zung handelte.<br />
be.) Unabhängig von all diesen tatsächlichen und materiell-rechtlichen Aspekten, die<br />
aus Sicht der Verteidigung bei Anklageerhebung unbeachtet geblieben sind, liegen in<br />
Bezug auf den hier angesprochenen § 327 StGB - aber auch in Bezug auf die sonstigen<br />
Umweltstraftatbestände, soweit diese von der Missachtung verwaltungsrechtlicher<br />
Pflichten abhängen - prozessuale, die Verteidigung bei Erfüllung ihrer Aufgabe be-<br />
trächtlich behindernde Mängel der Anklageschrift vor:<br />
Die Anklageschrift lässt nämlich keinerlei Differenzierung hinsichtlich der behaupteten<br />
Verstöße Herrn Dr. Neuperts und der anderen Angeklagten gegen geltende Genehmi-<br />
gungen, insbesondere deren Nebenbestimmungen und dort in Bezug genommene<br />
technische Regelwerke erkennen.<br />
So wird insbesondere nicht in gebotener Weise zwischen den einzelnen Behandlungs-<br />
schritten und den diesbezüglichen verwaltungsrechtlichen Anforderungen unterschie-<br />
den. Es wird stattdessen pauschal behauptet, dass Arbeiten in Betriebsbereichen<br />
durchgeführt worden seien, die dort nach der geltenden Genehmigungslage nicht hätten<br />
durchgeführt werden dürfen. Beispielsweise wird vollständig ausgeblendet, dass die<br />
Weiterbearbeitung sowie Lagerung nicht vollständig pcb-gereinigter Transformatoren-<br />
bestandteile außerhalb des sog. Schwarzbereichs der Halle 1 durchaus zulässig war.<br />
Es wird auch verkannt, dass die Annahme und Behandlung kontaminierter UTD-Trafos<br />
keineswegs auf Grundlage der bestehenden Genehmigungen von vornherein ausge-<br />
schlossen war. Unklar ist also bisher, gegen welche konkreten verwaltungsrechtlichen<br />
Vorschriften durch welches konkrete Verhalten in welchem Umfang verstoßen worden<br />
sein soll.
– 13 –<br />
Herr Dr. Neupert und seine Verteidiger beantragen daher gem. § 265 StPO i.V.m. Art 6<br />
Abs. 3 lit. a) MRK<br />
in dem<br />
und<br />
einen konkretisierenden Hinweis,<br />
� die genauen verwaltungsrechtlichen Vorgaben genannt werden<br />
� wer<br />
� durch welches konkrete Verhalten gegen diese Vorgaben<br />
� wann<br />
verstoßen haben soll.<br />
Nicht zuletzt wegen der verwaltungsrechtlichen Akzessorietät kann nur auf diese Weise<br />
geklärt werden, durch welches konkrete individuelle Verhalten gegen zwingende<br />
Rechtsvorschriften verstoßen worden sein soll.<br />
Bezeichnend ist insoweit, dass die gesamte Anklageschrift darauf verzichtet, Neben-<br />
stimmungen zu den Genehmigungen und konkrete Anforderungen aus technischen Re-<br />
gelwerken, gegen die verstoßen worden sein sollen, auch nur zu erwähnen, geschwei-<br />
ge denn, beanstandeten Vorgängen konkret zuzuordnen. Die bislang von der Staats-<br />
anwaltschaft vorgelegte Anklageschrift erfüllt die ihr in § 200 StPO zugedachte Informa-<br />
tionsfunktion hier nicht. Ohne diesen Hinweis sieht sich die Verteidigung in einem we-<br />
sentlichen Punkt beschränkt.<br />
Hier wird das Gebäude der Anklage - mit Verlaub - mit der "groben Kelle" gemauert und<br />
aus festgestellten Umgebungskontaminationen sowie PCB-Konzentrationen, die im<br />
Rahmen von Blutuntersuchungen festgestellt worden sind, darauf geschlossen, dass in<br />
schwer wiegender Weise gegen materielle Anforderungen des Immissionsschutzrechts<br />
und der bestehenden Genehmigungen verstoßen worden sei. So einfach geht es nicht!
– 14 –<br />
3. § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB – Unerlaubter Umgang mit gefährlichen Stoffen<br />
Soweit die Anklage Herrn Dr. Neupert einen unerlaubten Umgang mit gefährlichen Stof-<br />
fen vorwirft, trifft dies schon aus Rechtsgründen nicht auf die in Rede stehenden Abfälle<br />
zu. Weder die entsorgten Transformatoren noch deren Bestandteile stellen Gefahrstoffe<br />
im Sinne des Chemikaliengesetzes dar. Es handelt sich vielmehr insgesamt um Abfälle,<br />
auf die § 328 StGB von vornherein nicht anwendbar ist.<br />
Allenfalls für Betriebsstoffe, hier namentlich PER, käme überhaupt eine Anwendung<br />
dieser Bestimmung in Betracht. Dann aber müsste eine grobe Verletzung verwaltungs-<br />
rechtlicher Pflichten vorliegen, was nach Auffassung der Verteidigung aber gerade nicht<br />
der Fall ist:<br />
Durch die Verwendung von PER ist insbesondere keine konkrete Gesundheitsgefahr<br />
entstanden. Jedenfalls hat dies nichts mit dem angeblichen "PCB-Skandal" zu tun. PCB<br />
ist nämlich gerade nicht im Sinne dieser Bestimmung „gelagert, bearbeitet, verarbeitet<br />
oder sonst verwendet“ worden. Die Anlage von ENVIO war vielmehr auf die Reinigung<br />
pcb-haltiger Materialien gerichtet, also ausschließlich auf die von § 328 StGB nicht um-<br />
fasste Entsorgung. Gefahrstoffe im Sinne des Chemikaliengesetzes sind nämlich – was<br />
auch die Gefahrstoffverordnung ausdrücklich klarstellt - lediglich Stoffe, Zubereitungen<br />
und Erzeugnisse, jedoch keine Abfälle.<br />
4. § 330 StGB – Besonders schwerer Fall einer Umweltstraftat<br />
Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein besonders schwerer Fall nicht vorliegen kann,<br />
wenn es schon an der Verwirklichung der Grundtatbestände fehlt.<br />
Soviel für heute. Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
Dortmund, den 9. Mai 2012<br />
Prof. Dr. Ralf Neuhaus Dr. Chr. Tünnesen-Harmes Lars A. Brögeler<br />
RA & FA Strafrecht RA & FA Verwaltungsrecht RA & FA Strafrecht