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Ole Hansen<br />
Das gefundene Kind<br />
Roman<br />
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Ole Hansen: Das gefundene Kind<br />
Copyright 2018 by <strong>GRO</strong> Verlag, Pfaffenhofen<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
Einbandgestaltung: <strong>GRO</strong> Verlag, Pfaffenhofen<br />
Einbandabbildung: istockphotos.de<br />
Lektorat: Prof. Dr. Joachim Schwend, Leipzig<br />
Satz&Layout: <strong>GRO</strong> Verlag, Pfaffenhofen<br />
Druck: n.n.<br />
ISBN: n.n.<br />
Der Roman ist auch als e-book, portable<br />
document file und als Hörbuch erschienen.<br />
Erhältlich unter:<br />
www.gratis-roman.de<br />
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Prolog<br />
Es war der Abend des vierundzwanzigsten Dezember. Vom Meer her<br />
wehte ein eisiger Wind über den Strand ins Landesinnere und verursachte<br />
ein lautes, gleichmäßiges Rauschen, das Paul Thailer jedoch<br />
nicht wirklich wahrnahm.<br />
Der Strand war menschenleer, die Nacht klirrend kalt und tiefschwarz.<br />
Der Sand war hart gefroren, die Wasserpfützen dazwischen spiegelglatt.<br />
Es war nicht einfach, sich auf den Beinen zu halten, aber selbst<br />
das drang nicht bis in sein Bewusstsein vor.<br />
Er war betrunken und er befand sich auf der Flucht. Flucht vor dem<br />
Schweigen, das sich seit drei Monaten über Nina und ihn gelegt hatte<br />
wie eine schwere Decke und das im Laufe dieses Weihnachtsabends<br />
immer bedrückender geworden war.<br />
Sie hatten sich ihre Geschenke gemacht und bei einer Flasche Rotwein<br />
und wenigen Worten die Kerzen an dem kleinen Baum niederbrennen<br />
lassen. Dann war Nina früh zu Bett gegangen. In aller Stille<br />
hatte Paul noch ein paar Grappa getrunken und war schließlich aufgebrochen<br />
zum Strand, fast panikartig, als befürchte er, das Dach könne<br />
über ihm zusammenstürzen.<br />
Als er das runde Duschhaus beim Wasser erreichte, war es plötzlich<br />
ruhig. Der Wind machte eine unerklärliche Pause. Auch vom Meer<br />
war nichts zu hören. Es war Ebbe, das Wasser hatte sich kilometerweit<br />
zurückgezogen. Das Watt war wie erstarrt von der Kälte.<br />
Bewegungslos stand Paul am Strand und lauschte angestrengt. Er<br />
wusste nicht, auf was oder warum er lauschte, aber er lauschte in<br />
diese Stille hinein, als könne sie ihm eine Antwort geben auf die Fragen,<br />
die sich in seinem Schädel drehten wie ein Karussell.<br />
Seit Nina und er im Herbst von der Baleareninsel zurückgekehrt waren,<br />
wo sie die Asche ihres Kindes von einer Felsenklippe ins Meer<br />
gestreut hatten, war zwischen ihnen nichts mehr wie zuvor. Und es<br />
würde auch nie wieder so werden, das wusste er genau.<br />
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Plötzlich glaubte er, etwas zu hören,<br />
das wie das Schreien eines<br />
Säuglings klang, aber da spielte<br />
seine Phantasie ihm sicher nur<br />
einen Streich. Er hatte getrunken<br />
und zu viel an das verlorene Kind<br />
gedacht.<br />
Niemand außer ihm war so verrückt,<br />
in einer Weihnachtsnacht<br />
wie dieser hierher an den Strand<br />
zu kommen, schon gar nicht mit<br />
einem Baby. Schließlich setzte wie<br />
eine Erlösung der Wind wieder<br />
ein.<br />
Aber irgendwo in ihm blieben<br />
Spuren der Stille zurück und das<br />
Gefühl, tatsächlich das Schreien<br />
eines Säuglings gehört zu haben.<br />
Lauschend machte er ein paar<br />
Schritte um das Haus herum. Sein<br />
Gesicht war wie erfroren. Es war<br />
zehn, vielleicht fünfzehn Grad unter<br />
Null.<br />
Er redete sich ein, dass das Geschrei<br />
von einer streunenden Katze<br />
gekommen war und kehrte um.<br />
Aber schon nach den ersten zwei<br />
Schritten hörte er es wieder. Diesmal<br />
zweifelte er nicht. Es war die<br />
Stimme eines menschlichen Säuglings.<br />
Er ging zurück, drehte eine<br />
weitere Runde um das Haus. Ununterbrochen<br />
hörte er das Baby<br />
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jetzt, aber er fand nichts. Dabei schien es ihm immer, als müsste er<br />
beim nächsten Schritt ganz unweigerlich über das Kind stolpern. So<br />
nah klang es.<br />
Obwohl es sich so anhörte, konnte das Schreien unmöglich aus dem<br />
Duschhaus kommen, das im Winter verschlossen war. Paul Thailer<br />
drehte noch eine weitere Runde, aber der Eindruck, dass die Stimme<br />
vor ihm davonlief, blieb. Schließlich griff er doch nach der Klinke der<br />
alten Eisentür, die sich problemlos öffnen ließ. Die vereisten Scharniere<br />
knarrten und quietschten.<br />
Paul schlug der Geruch des feuchtkalten Gemäuers entgegen. Unter<br />
seinen Sohlen knirschten kleine Steine. Seine Schritte hallten nach,<br />
laut und unwirklich. Das Schreien des Kindes kam näher.<br />
„Hallo?“, rief er in die kühle Dunkelheit. Es war ein Ruf gegen seine<br />
eigene Furcht, auf eine Antwort hoffte er nicht. Das Schreien verstummte,<br />
als habe es jemand abgestellt. Vorsichtig bewegte er sich<br />
weiter. Immer befürchtete er, beim nächsten Schritt auf das Kind zu<br />
treten, das jetzt nur noch leise krähte. Endlich sah er etwas, wenn<br />
auch zunächst nur schemenhaft. Seine Augen hatten sich ein wenig<br />
an die Dunkelheit gewöhnt. Nur ein paar Meter von ihm entfernt lag<br />
etwas auf dem Boden.<br />
Es waren die dunklen Umrisse eines Pakets, das viel kleiner war, als<br />
er es erwartet hatte. Das gurgelnde und gluckernde Geräusch, das er<br />
nun hörte, ging zweifellos von diesem Päckchen aus. Er beugte sich<br />
hinunter und tastete vorsichtig mit der linken Hand danach. Es fühlte<br />
sich weich an und erschien ihm seltsam warm. Das Kind war in eine<br />
Decke gewickelt und jetzt wieder still. Es schien ebenso gespannt wie<br />
Paul selbst. Beide hielten sie den Atem an. Er hob das Baby hoch. Es<br />
blieb ruhig. Paul fühlte ein Loch in der Decke und darin das winzige<br />
Gesicht. Erkennen konnte er weiterhin kaum etwas, die Dunkelheit<br />
war hartnäckig und zäh. Er zog seine Jacke aus und wickelte den Säugling<br />
darin ein.<br />
Im nächsten Moment fuhr er zusammen wie vom Blitz getroffen.<br />
Fast hätte er vor Schreck das Kind fallen lassen. Er brauchte ein paar<br />
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Sekunden, um zu begreifen, was passierte: Ein schwarzer Schatten<br />
sprang aus einem dunklen, hinteren Winkel des Gebäudes auf, zuerst<br />
noch halb zusammengekauert, dann groß und größer werdend und<br />
schließlich fast lautlos an ihm vorbeifliegend zur Ausgangstür.<br />
Er folgte dem Schatten, aber als er draußen stand, das Kind noch<br />
fester in seinem Arm haltend als zuvor, sah er die dunklen Umrisse<br />
des fliehenden Menschen nur noch an der Grenze zum Watt entlanglaufen.<br />
Er entfernte sich immer mehr. Paul rief irgendetwas, aber die<br />
Kälte schluckte seine Worte und fraß sie gierig. Die Figur verschwand<br />
in der Dunkelheit. Ratlos und verwirrt machte Paul sich auf den Heimweg.<br />
Mit dem atmenden Paket auf dem Arm kam er nur langsam voran.<br />
Zweimal rutschte er aus, schaffte es aber irgendwie, dem Baby dabei<br />
nicht wehzutun. Es blieb ganz ruhig in seinem Arm und schrie nicht.<br />
Endlich hatte er den Strand hinter sich. Unter einer Straßenlaterne<br />
blieb er stehen, um das Gesicht des Kindes zu betrachten. Gemessen<br />
an dem, was es erlebt haben musste, sah es merkwürdig freundlich<br />
aus. Es hatte große und dunkle Augen. Es schien Paul, dass sie ihn anlächelten.<br />
Er lächelte zurück und fragte den Säugling, was er denn am<br />
eiskalten Strand zu suchen hatte.<br />
„Und wer hatte es da so eilig“, fügte er nachdenklich hinzu, „von dir<br />
fortzukommen?“<br />
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Er selbst konnte nicht mal sagen, ob die dunkle Gestalt ein Mann gewesen<br />
war oder eine Frau.<br />
Nina schlief tief und fest. Paul weckte sie. Als sie das Kind sah, erschrak<br />
sie, lächelte dann aber. Sie zögerte lange, es auf den Arm zu<br />
nehmen.<br />
Bevor sie ins Krankenhaus fuhren, tauschte Paul die Windel des Babys<br />
gegen ein Handtuch und wusch es bei dieser Gelegenheit. Dabei sah<br />
er, dass das Baby ein Junge war. Und noch etwas anderes entdeckte<br />
er: ein Muttermal auf dem rechten Schulterblatt des Säuglings. Die<br />
Form erinnerte ihn an die kleine Insel, die man vom Strand aus sehen<br />
konnte. Und genau wie die Insel sich sanft aus dem Wasser erhob, so<br />
erhob sich dieses Mal auf der Haut des Kleinen.<br />
Kapitel 1<br />
„Warum willst du Maurice nicht in diese Gruppe geben?“, fragte Nina.<br />
Ich sah ihr an, dass sie wirklich nicht begriff, weshalb ich es nicht wollte.<br />
Ratlos stand sie vor dieser Frage und ebenso ratlos stand sie vor<br />
mir. Ich wunderte mich, wie wenig sie mich kannte. Ich fragte mich,<br />
ob das schon immer so gewesen war oder ob es nur eine Entwicklung<br />
der letzten Jahre war.<br />
„Was schaust du mich so an?“, fragte sie gereizt. „Du tust fast, als hätte<br />
ich von dir verlangt, das Kind aus dem Fenster zu werfen.“<br />
Ich verkniff mir eine Bemerkung über den unpassenden Vergleich und<br />
sagte stattdessen:<br />
„Ich weiß, dass es nicht schlimm wäre, Maurice in diese Krabbelgruppe<br />
zu geben. Aber ich weiß nicht, warum ich es nur aus diesem Grund<br />
tun sollte. Ich komme sehr gut klar mit ihm. Er stört mich nicht, ich<br />
störe ihn nicht. Warum also …?“<br />
Ich legte eine kurze Pause ein, nahm dann einen neuen Anlauf: „Was<br />
ich sagen will: Wenn ich etwas ändere, dann muss ich doch einen<br />
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Grund dafür haben. Hab ich ihn nicht, dann ist es besser, alles beim<br />
Alten zu belassen. Findest du nicht?“<br />
Nina steckte sich eine der dünnen Zigaretten an, die sie in letzter Zeit<br />
qualmte, nachdem sie seit dem Beginn ihrer Schwangerschaft keine<br />
Zigarette mehr angerührt hatte. Das lag jetzt drei Jahre zurück.<br />
Wenigstens rauchte sie nicht in Maurices Gegenwart. War er da, verkniff<br />
sie sich das Rauchen oder sie ging hinaus. Ich musste sie nicht<br />
einmal dazu auffordern. Das erschien mir nicht selbstverständlich bei<br />
der Distanz, die sie ansonsten nach wie vor zu Maurice besaß.<br />
„Nein“, sagte sie, „das finde ich nicht.“ Viel zu früh streifte sie die erste<br />
Asche ihrer Zigarette ab. „Maurice muss unter andere Kinder.“<br />
Sie trug eins dieser schicken, grauen Kostüme mit den kurzen Röcken,<br />
die sie seit einiger Zeit bevorzugte. Die Beine, die in schwarzen<br />
Strümpfen steckten, hatte sie übereinander geschlagen. Sie sah gut<br />
aus, ohne dass es ihr in diesem Moment bewusst war, was sie nur<br />
noch hübscher machte. Ihr blondes, langes Haar hatte sie lose hinten<br />
zusammengebunden.<br />
Nina war schon immer eine gut aussehende Frau gewesen, aber in<br />
letzter Zeit drehten sich die Männer auf der Straße nach ihr um. Und<br />
es war nicht zu übersehen, dass ihr das gefiel.<br />
„So?“, fragte ich. „Und warum unbedingt gerade jetzt?“<br />
„Weil es höchste Zeit dafür wird!“, rief sie fast.<br />
Sie drückte ihre Zigarette wieder aus und stand auf. Mehr als drei<br />
oder vier Züge hatte sie nicht geraucht. Unruhig ging sie im Zimmer<br />
hin und her.<br />
„Er ist über zwei Jahre alt und hat, außer beim Einkaufen, noch nie<br />
andere Kinder gesehen. Das kann nicht gut sein!“<br />
„Du übertreibst“, sagte ich, wusste aber, dass sie nicht ganz Unrecht<br />
hatte.<br />
Für mich war es noch nie wichtig, viel unter Menschen zu gehen. Aber<br />
seit den Ereignissen vor zwei Jahren war dieses Bedürfnis geringer als<br />
je zuvor. Am liebsten war ich zu Hause wo ich arbeitete oder mich mit<br />
Maurice beschäftigte.<br />
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„Wenn du so weitermachst“, fuhr Nina fort, „erziehst du ihn zum absoluten<br />
Einzelgänger.“ Sie setzte sich neben mich und legte beschwörend<br />
eine Hand auf meinen Arm.<br />
„Du übertreibst“, wiederholte ich mechanisch.<br />
„Ich kann Maurice doch nicht einfach einer wildfremden Frau anvertrauen“,<br />
sagte ich schließlich. „Wer weiß, was die mit ihm anstellt? Die<br />
Zeitungen sind voll von solchen Geschichten.“<br />
„Von was für Geschichten?“ Ungläubig sah Nina mich an.<br />
„Von Geschichten“, sagte ich laut, „in denen Erwachsene Kindern<br />
furchtbare Dinge antun.“<br />
Nina lachte kurz und freudlos auf und zog die Hand von meinem Arm<br />
zurück.<br />
„Wenn hier jemand übertreibt“, sagte sie, „dann wohl du, oder?“ Wieder<br />
wusste ich, dass sie Recht hatte, auch wenn ich es nicht wollte.<br />
„Frau Kramer“, fuhr sie fort, „ist Erzieherin und wohnt zwei Straßen<br />
weiter. Sie ist alles andere als ein Ungeheuer. Sie ist einfach nur nett.“<br />
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„Nett!“, rief ich und sprang auf. „Was heißt das schon? Wer ist nicht<br />
alles nett? Trotzdem strotzen die Zeitungen von diesen Geschichten.<br />
Nette Menschen vergreifen sich an Kindern. Man liest doch kaum<br />
noch etwas anderes. Oder willst du das vielleicht abstreiten?“<br />
Ich stellte mich ans Fenster und sah hinaus, die Hände tief in den Taschen<br />
meiner Jeans vergraben. Ich mochte selbst nicht, was ich da<br />
sagte. Und ich mochte nicht, wie ich es sagte. Ich mochte weder meinen<br />
misstrauischen Ton noch die Gedanken. Ich hasste das alles.<br />
Ich hatte keine Ahnung, warum ich es trotzdem sagte. Dabei war das<br />
Misstrauen, das ich gegenüber dieser Frau Kramer an den Tag legte,<br />
nur vorgetäuscht. In Wahrheit existierte es nicht. Ich hatte nichts<br />
gegen sie und ich hielt sie auch nicht für böse. Nina aber glaubte mir,<br />
dass ich es dachte.<br />
„Außer Maurice“, fuhr sie fort, als müsse sie mich tatsächlich vom<br />
Gegenteil überzeugen, „sind jeden Vormittag drei bis sechs andere<br />
Kinder in dieser Gruppe. Was sollte sie da mit ihm anstellen?“<br />
„Gar nichts“, gab ich endlich zurück. „Darum geht es auch nicht.“<br />
„So?“ Nina stand auf und stellte sich neben mich. „Und worum geht<br />
es dann?“<br />
Ich sah sie an. Sie war dezent geschminkt. So wie ich es am liebsten<br />
an ihr mochte. Ihre großen, dunklen Augen waren voller Leben. Ich<br />
selbst kam mir neben ihr wie abgestorben vor. Wie ein kahler, abgesägter<br />
Baumstumpf neben einer Pflanze voller neuer Blüten. Ich<br />
wandte mich von ihr ab, als ich antwortete:<br />
„Er muss noch früh genug raus in die Welt.“ Meine Stimme hörte sich<br />
rau an und ein wenig brüchig. „Warum denn schon mit zwei? Da geht<br />
so viel Nestwärme verloren. Früher mussten wir doch vor der Schule<br />
auch nirgendwo hin. Und ich habe meine Kindheit geliebt.“<br />
„Das ist ja lachhaft“, sagte Nina. „Ich will ihn nicht verstoßen. Er soll<br />
ein paar Stunden am Tag mit anderen Kindern spielen, das ist alles.“<br />
Und nach einer kurzen Pause fügte sie resigniert hinzu: „Ich verstehe<br />
dich nicht, Paul. Ich verstehe dich schon eine ganze Weile nicht mehr.“<br />
Wir standen nebeneinander wie zwei Fremde. Nina sah aus dem<br />
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Fenster in den Garten, in dem sich langsam die ersten Blätter an den<br />
Bäumen und Sträuchern entfalteten. Und ich starrte irgendwo in den<br />
Raum, der zwischen draußen und drinnen lag. Meine Blicke gingen<br />
ins Leere.<br />
Nachdem wir Maurice zu uns genommen hatten, gab es eine kurze<br />
Zeit in unserem Leben, in der Nina und ich noch einmal glücklich waren.<br />
Vielleicht war es für uns sogar die beste Zeit überhaupt.<br />
Wir kannten uns damals seit fünf Jahren, drei davon waren wir verheiratet.<br />
Für uns beide war es die zweite Ehe. Nina war von Robert geschieden<br />
und meine erste Frau, Loni, war acht Jahre zuvor bei einem<br />
großen Zugunglück ums Leben gekommen. Wir hatten beide keine<br />
Kinder.<br />
Als wir heirateten, war ich bereits 38, Nina 34 Jahre alt. Trotzdem<br />
waren wir fest entschlossen, so viele Kinder in die Welt zu setzen,<br />
wie es in unserem Alter noch möglich war. Wir waren beide wie ausgehungert<br />
danach.<br />
Während, wie ich damals noch sicher war, Loni keine Kinder kriegen<br />
konnte, hatte Robert um keinen Preis Nachwuchs in eine Welt setzen<br />
wollen, deren unmittelbar bevorstehenden Untergang ihm klar war.<br />
Nina sagte, dass dies letztlich der Grund ihrer Trennung von ihm war:<br />
Auf Dauer ein Leben ohne Kinder konnte und wollte sie sich nicht vorstellen.<br />
Dieser lange mit anderen Partnern gewachsene und unerfüllte<br />
Wunsch war wohl unsere größte und stärkste Gemeinsamkeit. Nina<br />
und ich traten vor den Traualtar, weil wir zusammen Kinder haben<br />
wollten.<br />
Finanziell ging es uns gut. Nach langen Jahren bescheidener Mittelmäßigkeit<br />
hatte ich in kurzer Zeit zwei Bestseller hintereinander veröffentlicht,<br />
bei denen allein der Verkauf der Filmrechte alles in den<br />
Schatten stellte, was ich bis dahin für möglich gehalten hatte. Nina<br />
war freischaffende Fotografin, die es sich aufgrund meiner neuen Situation<br />
erlauben konnte und wollte, den Beruf so lange hintan zu stel-<br />
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len, wie unsere Kinderpläne es erforderlich machten.<br />
Die Bedingungen schienen perfekt. Das einzige Problem war, das Nina<br />
nicht schwanger wurde. Eine zermürbende Zeit begann.<br />
Kapitel 2<br />
Nachdem ich begriffen hatte, dass Nina sich wirklich Sorgen um Maurices<br />
Entwicklung machte, stimmte ich dem Plan mit der Kindergruppe<br />
zu. Zunächst hatte ich gedacht, es ginge ihr um einfache Gewissensberuhigung:<br />
Wenn sie mich von Maurice entlastet wusste, konnte sie<br />
mit besserem Gefühl ihren eigenen beruflichen Wegen folgen.<br />
„Du hast dann wenigstens diese drei Stunden am Tag durchgehend<br />
Zeit, zu schreiben.“ Das war im Laufe unserer zermürbenden, eine<br />
Woche anhaltenden Diskussion, ihr häufigstes Argument gewesen.<br />
Tatsächlich hatte ich seit fast einem Jahr nichts Brauchbares mehr zu<br />
Papier gebracht. Seit Nina in der Werbeagentur arbeitete, war Maurice<br />
meine Hauptaufgabe. Durch ihn waren meine Tage mit Leben gefüllt.<br />
Zum Schreiben kam ich bestenfalls abends, nachts oder wenn Maurice<br />
zwischendurch schlief. Das Letzte kam allerdings so unregelmäßig<br />
vor, dass ich mich, wenn es mal passierte, nicht automatisch konzentrieren<br />
konnte.<br />
So sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, eine mehr als<br />
dreiseitige Geschichte zu Papier zu bringen. Für meinen Verleger natürlich<br />
zu wenig. Ich überlegte ernsthaft, Kindergeschichten zu schreiben,<br />
weil die kürzer waren, aber ich konnte es nicht und verwarf den<br />
Gedanken wieder.<br />
Inzwischen hatten wir Maurice offiziell adoptiert, aber der Weg dahin<br />
war nicht einfach gewesen. Nie hätte ich gedacht, wie kompliziert es<br />
ist, einem elternlosen Kind ein Zuhause zu geben. Noch nicht mal,<br />
wenn man es selbst gerettet hat.<br />
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„Seien Sie doch froh“, hatte die Mitarbeiterin des Jugendamtes noch<br />
nach einem Jahr gesagt, „dass Maurice erstmal in Adoptionspflege<br />
bei Ihnen leben kann. Das ist gar nicht so selbstverständlich, wie Sie<br />
vielleicht annehmen. Wir haben uns da ja schon sehr unbürokratisch<br />
gezeigt. Für eine Adoption brauchen Sie schon einen längeren Atem.<br />
Schließlich kann jederzeit ein Elternteil gefunden werden.“<br />
„Und was ist“, hatte ich gefragt, „wenn das passiert und wenn sie<br />
Maurice zurückhaben wollen?“<br />
Wie sich herausstellte, hätten wir in diesem Fall kaum Rechte gehabt.<br />
„Dann freuen Sie sich einfach, dass der Junge seine Eltern wiederhat.<br />
Gerade wenn Ihnen am Wohl des Kleinen etwas liegt. Ein Kind gehört<br />
zu den Eltern. Alles andere sind doch letztlich nur Notlösungen.“<br />
Nina hatte meine Reaktion, die Dame unmittelbar nach dieser Aussage<br />
vor die Tür zu setzen, für zu impulsiv gehalten. Ich dagegen freute<br />
mich noch Tage später, wenn ich an ihr verdattertes Gesicht dachte,<br />
als ich sie an beiden Schultern hinausschob. Nina hat später bei ihr<br />
angerufen und sich für mein überzogenes Verhalten entschuldigt.<br />
„Er ist in letzter Zeit mit den Nerven am Ende, hat sie am Telefon gesagt.<br />
In meinen Augen waren wir zu diesem Zeitpunkt bereits die Eltern<br />
von Maurice. Und dann wollte diese Frau uns erzählen, wir seien nur<br />
eine Notlösung! Wer hatte denn den Winzling in eiskalter Nacht am<br />
Strand ausgesetzt? Wir vielleicht? Nina versuchte vergeblich, mich zu<br />
beruhigen.<br />
„Solche Eltern müssen ihr Kind doch hassen“, sagte ich. „Ihre Elternrechte<br />
haben sie in meinen Augen lebenslang verscherzt.“<br />
„Vielleicht stimmt das“, meinte Nina nachdenklich. „Vielleicht aber<br />
auch nicht. Ich finde, man kann das nur beurteilen, wenn man die<br />
ganze Geschichte kennt. Ich glaub nicht, dass unbedingt Hass dahinter<br />
stecken muss, wenn jemand sein Kind aussetzt.“<br />
„Pah!“, zischte ich. „Was denn sonst? Liebe vielleicht?!“<br />
„Vielleicht sogar das“, sagte Nina. „Aber gerade denke ich, dass es<br />
auch etwas ganz anderes sein kann.“<br />
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„So? Und was, bitte schön, sollte das sein?“<br />
Ninas Besonnenheit puschte mich nur noch mehr.<br />
„Angst?“, schlug sie vor. „Wie wäre es mit Angst?“<br />
Der Gedanke ließ mich lange Zeit nicht mehr los.<br />
Immerhin war ich schon nach der ersten Woche so weit, Maurice<br />
erstmals eine komplette halbe Stunde allein bei Charlotte Kramer zu<br />
lassen. Während dieser Zeit erledigte ich ein paar Einkäufe. Ich kaufte<br />
nur Unsinniges, aber fürs Erste war das egal.<br />
Als ich aber zurückkam und an der Haustür mit dem Schild Seepferdchen<br />
klingelte, wurde ich wieder unsicher. Bestimmt hatte er sich den<br />
Finger eingeklemmt oder sich auf die Zunge gebissen und keiner kümmerte<br />
sich um ihn. Ich klingelte ein zweites und ein drittes Mal, ohne<br />
dass jemand öffnete. Meine Sorge wuchs.<br />
„Kommen Sie doch ums Haus herum, Herr Thailer.“ Urplötzlich war<br />
Charlotte Kramer neben mir aufgetaucht. Freundlich lächelte sie. „Wir<br />
sind im Garten. Die Sonne ist schon so wunderbar warm. Kommen<br />
Sie. Maurice fühlt sich pudelwohl mit den anderen.“<br />
Ich konnte das nur schwer glauben. Wie sollte Maurice sich wohl fühlen<br />
inmitten einer Gruppe wildfremder Kleinkinder, wenn ich nicht<br />
dabei war? Unter der Aufsicht dieser ebenso fremden Frau?<br />
Noch nie hatte ich ihn länger als eine halbe Minute unbeobachtet gelassen.<br />
Außer wenn er schlief, zugegeben. Dann konnten es schon mal<br />
ein, zwei Stunden sein. Wurde es auch nur eine Minute mehr, was<br />
nachts manchmal vorkam, plagte mich sofort ein schlechtes Gewissen.<br />
Ich konnte dann unmöglich wieder einschlafen. Es gab so viele<br />
Dinge, die mit einem kleinen Kind passieren konnten. Und es gab<br />
kaum einen Ort auf der Welt, an dem sie wirklich sicher waren.<br />
Da aber alles stimmte, was Charlotte Kramer über Maurice und sein<br />
Befinden bei den Seepferdchen sagte, war ich einen Monat später<br />
soweit, ihn bis zu zweieinhalb Stunden allein dort zu lassen. Und das<br />
an bis zu fünf Tagen die Woche! Noch vor kurzer Zeit hätte ich das für<br />
vollkommen unmöglich gehalten.<br />
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Auf diesem Weg konnte ich sogar wieder regelmäßig schreiben. Nicht<br />
lange, eine gute Stunde vielleicht, die mir netto blieb, aber eben doch<br />
regelmäßig. Tatsächlich begann ich mit einem Roman. Mein Druck<br />
war nicht so groß, weil Nina in der Werbeagentur gut verdiente.<br />
Sie ging vollständig in ihrer Arbeit auf. Oft war sie tagelang nicht zu<br />
Hause, weil sie an großen Aufträgen in verschiedenen Städten arbeitete.<br />
Eine Weile gelang es mir, die Augen davor zu verschließen, dass<br />
wir dabei waren, uns im Höllentempo auseinander zu leben.<br />
Kapitel 3<br />
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Nina wurde nicht schwanger.<br />
Vom ersten Tag unserer Ehe an verzichteten wir auf sämtliche Verhütungsmethoden,<br />
aber nichts passierte. Da Nina bis dahin die Pille ge-<br />
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nommen hatte, dachten wir uns anfangs nichts dabei. So was konnte<br />
dauern.<br />
Ein halbes Jahr verging. Zwar wurden wir nicht gerade unruhig, aber<br />
wir waren auch nicht mehr ganz so gelassen wie noch zu Beginn. Nach<br />
einem Jahr verlor Nina die Geduld und besprach die Sache noch einmal<br />
ausführlich mit ihrem Frauenarzt.<br />
Noch von der Stadt aus rief sie mich an, es war früher Abend.<br />
„Kommst du hierher?“, fragte Nina. „Wir könnten zusammen essen<br />
gehen.“<br />
Sofort war mir klar, dass irgendetwas passiert war. Ninas Stimme verriet<br />
mir, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Einladung zum Essen<br />
handelte.<br />
„Wie wär’s mit chinesisch?“, schlug sie vor, und ich willigte ein. Eine<br />
halbe Stunde später standen wir nebeneinander am Buffet eines neu<br />
eröffneten chinesischen Restaurants und legten Vorspeisen auf unsere<br />
Teller. Nina hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf.<br />
„Ich war bei Dr. Bode“, sagte sie und schaute lange eine Frühlingsrolle<br />
an, ließ sie am Ende doch liegen.<br />
Das Thema des Abends war damit klar. Unsere Versuche, ein Kind zu<br />
zeugen, hatten seit einiger Zeit geradezu zwanghafte Züge angenommen.<br />
Schon lange ging es, wenn wir miteinander im Bett waren, nicht<br />
mehr um Lust, sondern um Schwangerschaft. Kam der Eisprung, dann<br />
schliefen wir so oft wie möglich miteinander. Wir benahmen uns nicht<br />
mehr wie ein Liebespaar, sondern wie Zeugungsroboter. Aber wir beide<br />
wollten ein Kind. Wir handelten in stillem Einverständnis, keiner<br />
hätte jemals den anderen überreden müssen.<br />
„Und?“, fragte ich in einer seltsamen Mischung aus Spannung und<br />
Langeweile. „Was sagt er?“<br />
Mich selbst fragte ich dagegen, ob sie mir das – was immer es sein<br />
mochte ¬– nicht auch am Telefon hätte sagen können. Oder später<br />
zu Hause. Etwas Spektakuläres konnte es kaum sein. Soweit ich informiert<br />
war, hatte es keine neuen Untersuchungen gegeben. Mit meinen<br />
Gedanken war ich mehr bei dem Roman, den ich gerade schrieb.<br />
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24<br />
Nina redete erst weiter, als wir<br />
am Tisch saßen. Sie tauchte den<br />
Löffel in ihre Suppe und rührte<br />
unkonzentriert darin herum. Ich<br />
aß das erste Stück meiner Frühlingsrolle.<br />
„Ich hab mit ihm noch einmal<br />
über die Fruchtbarkeitstests gesprochen“,<br />
sagte sie.<br />
„Und? Wann kann er sie machen?<br />
Ist es kompliziert?“<br />
„Komplizierter als bei Männern“,<br />
antwortete sie kurz. So kurz,<br />
dass ich wusste, dass es eine<br />
besondere Bedeutung hatte.<br />
Schließlich ließ sie die Katze aus<br />
dem Sack:<br />
„Er wollte wissen, ob du dich<br />
schon hast untersuchen lassen.“<br />
Ich schwieg, denn wir beide<br />
kannten die Antwort.<br />
„Hat Loni jemals einen Fruchtbarkeitstest<br />
machen lassen?“,<br />
fragte Nina.<br />
„Nein“, sagte ich. „Aber ihr war<br />
klar, dass sie keine Kinder kriegen<br />
konnte. Sie …“<br />
„Wie konnte ihr das klar sein“,<br />
hakte Nina nach, „wenn sie es<br />
nicht hat untersuchen lassen?“<br />
Tatsächlich war nicht nur ich,<br />
sondern auch Loni immer davon<br />
ausgegangen, dass die Sache an
ihr lag.<br />
„Dr. Bode meint“, sagte Nina, „viele Frauen machen das, um den Mann<br />
zu schonen. Kannst du dir so was Dummes vorstellen?“ Die Ironie in<br />
ihrer Stimme war nicht zu überhören.<br />
Ich startete zwei oder drei Versuche, mich zu rechtfertigen, aber die<br />
Worte blieben mir im Hals stecken.<br />
„Wohin“, fragte ich schließlich, „muss ich da gehen?“<br />
Die Untersuchung beim Urologen ergab, dass ich zwar nicht grundsätzlich<br />
zeugungsunfähig war, meine Spermiendichte aber so gering<br />
war, dass es beim normalen Geschlechtsakt für eine Befruchtung<br />
nicht reichte. Praktisch sicher war das auch schon in meiner ersten<br />
Ehe der Grund unserer Kinderlosigkeit gewesen.<br />
Für meine Blödheit und Ignoranz hätte ich mich erstmal stundenlang<br />
ohrfeigen können. Aber dann dachte ich wieder an die Zukunft: Im<br />
Labor ließ sich die Spermiendichte vergrößern. Nina und ich konnten<br />
Kinder haben! Meine Freude war riesig. Mir wurde klar, dass ich nicht<br />
mehr daran geglaubt hatte.<br />
Aber es gab Komplikationen und bis zum großen Tag sollte noch ein<br />
volles Jahr ins Land gehen. Es war ein Neujahrsmorgen. Wir waren<br />
erst früh von einer kleinen Party bei Freunden nach Hause gekommen.<br />
Nina hatte nichts getrunken. Seit sie praktisch ständig damit<br />
rechnete, schwanger zu werden, rührte sie keinen Tropfen mehr an.<br />
Ich dagegen hatte getrunken und als allmählich ein Katergefühl einsetzte,<br />
verschwand ich ins Schlafzimmer.<br />
Um sechs Uhr kam ich noch einmal in die Küche, um Wasser zu trinken.<br />
Nina saß im Halbdunkel auf der Küchenbank. Sie trug den seidenen<br />
Morgenmantel, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte und<br />
schien tief in ihre Gedanken versunken.<br />
„Was machst du denn hier?“, fragte ich erschrocken.<br />
Ich hatte nicht mal gemerkt, dass sie nicht im Bett gewesen war. Ich<br />
schaltete das Licht ein, Nina blinzelte mich an. Ihr Gesichtsausdruck<br />
war ganz anders als sonst. Sie war blass und sah so erschrocken aus<br />
25
Anzeige<br />
wie ich es war. Gleichzeitig leuchteten ihre Augen und irgendetwas in<br />
ihrem Gesicht wirkte seltsam entspannt. Sie sah müde aus, aber doch<br />
auch schön. Ich lächelte vorsichtig und setzte mich zu ihr.<br />
Irgendetwas war passiert, aber ich wusste nicht was. Ich hatte nicht<br />
die leiseste Ahnung, was mich erwartete. Gebannt hielt ich den Atem<br />
an.<br />
Auch Nina sagte nichts, aber sie schaute mich an. Immer noch war<br />
dieses kleine Lächeln um ihre Lippen. Ich dachte, dass so niemand<br />
aussah, der eine Hiobsbotschaft überbrachte und registrierte erst<br />
jetzt, dass sie etwas in der Hand hatte.<br />
„Hier“, sagte sie und hielt mir ein Plastikröhrchen hin.<br />
„Was ist das?“, fragte ich. Ich war wie vernebelt.<br />
„Unser Kind“, strahlte sie und hielt mir das Röhrchen so dicht unter<br />
die Nase, dass ich überhaupt nichts mehr erkennen konnte.<br />
26
Kapitel 4<br />
„Was macht Ihre Frau?“, fragte Charlotte Kramer. „Ich habe sie schon<br />
ewig nicht mehr gesehen.“ Es klang ein wenig besorgt.<br />
Zum ersten Mal suchte sie ein Gespräch mit mir, das über den üblichen<br />
Smalltalk beim Kommen und Gehen hinausging. Meine Alarmglocken<br />
schrillten. Ich hatte keinerlei Interesse, unsere Beziehung in<br />
irgendeiner Weise zu vertiefen. Ich suchte keine Freundschaft. Die<br />
Welt war für mich in Ordnung, wie sie war. Auch wenn selbst die Gespräche<br />
mit Nina in letzter Zeit seltener geworden waren und immer<br />
regelmäßiger in Streits ausarteten.<br />
Ich hatte Maurice, um den ich mich kümmerte. Mit ihm verbrachte<br />
ich meine Zeit. Das machte mich zufrieden, es füllte mich aus. Und ich<br />
arbeitete wieder. Mehr brauchte ich nicht.<br />
„Ihr geht es gut“, sagte ich höflich und half Maurice dabei, seine Jacke<br />
anzuziehen. „Danke der Nachfrage. Übrigens soll ich Sie von ihr<br />
grüßen.“<br />
Wenn das kein gelungener Abschluss für unser Gespräch war ...<br />
„Danke“, sagte Frau Kramer unkonzentriert. „Grüßen Sie zurück.“<br />
Meine Rechnung ging auf, erleichtert öffnete ich die Tür.<br />
„Also dann …“<br />
Charlotte Kramer behielt ihr nachdenkliches Gesicht bei. Sie war eine<br />
gut aussehende Frau irgendwo zwischen fünfzig und sechzig. Ihr wild<br />
gelocktes, schwarzes und – wie mir schien –¬ nicht gefärbtes Haar<br />
hatte sie am Hinterkopf mit einem einfachen Haargummi gebändigt.<br />
„Warum laufen Sie immer so schnell weg?“<br />
Die Frage überrumpelte mich. Sie lächelte vorsichtig.<br />
„Ich muss viel arbeiten“, gab ich ausweichend zurück.<br />
„Eine Viertelstunde werden Sie übrig haben?“<br />
Das klang freundlich, aber auch fordernd. Ich fühlte mich unbehaglich.<br />
Was wollte diese Frau von mir?<br />
27
„Nein“, sagte ich. „Ich erwarte gleich einen Anruf. Ich muss schnell<br />
zurück sein.“<br />
„Und morgen?“, fragte sie. An fehlender Hartnäckigkeit litt sie offenbar<br />
nicht.<br />
„Um diese Zeit ist es bei mir immer schlecht.“<br />
Ich hasste Erklärungen, vor allem, wenn ich es war, der sie geben sollte.<br />
Deshalb nahm ich Maurice bei der Hand und versuchte, mich ohne<br />
Erklärung zu verdrücken. Das ging aber nicht, weil Maurice in die andere<br />
Richtung an meiner Hand zog. Warum auch immer: er wollte<br />
mich nicht gehen lassen.<br />
Als ich nicht nachgab, fing er an zu nörgeln, was eher untypisch für<br />
ihn war. Charlotte Kramers Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen.<br />
„Er ist nicht einverstanden“, meinte sie. „Trinken Sie Tee oder Kaffee?“<br />
„Kaffee“, gab ich schließlich nach. „Aber erst morgen.“<br />
Das Unbehagen, mit dem ich Maurice am nächsten Tag abholte, löste<br />
sich schnell auf. Statt mich mit Fragen zu bombardieren, womit ich irgendwie<br />
gerechnet hatte, erzählte Charlotte Kramer von sich. Sie war<br />
gelernte Erzieherin, ihr Mann, ein Lehrer, war vor zehn Jahren gestorben.<br />
Eigene Kinder hatte sie nicht.<br />
Sie hatte eine angenehme Stimme, deren Timbre warm war und<br />
weich. Ich hörte ihr gern zu. Sie kochte phantastischen Kaffee. Sie<br />
selbst trank Tee, allerdings so schwarz, dass er ebenfalls an Kaffee<br />
erinnerte.<br />
Ich könnte nicht sagen, wie sie es hingekriegt hatte, aber plötzlich<br />
erwischte ich mich selbst mitten im Erzählen. Schon das machte Charlotte<br />
Kramer zu einer bemerkenswerten Frau. Zwar schrieb ich Romane,<br />
aber ich habe sie noch nie gerne erzählt. Und während der<br />
letzten Jahre hatte meine Redelust eher noch abgenommen. Manche<br />
Menschen, denen ich nicht widersprach, bezeichneten mich mittlerweile<br />
als wortkarg.<br />
Jetzt aber saß ich im Wohnzimmer von Charlotte Kramer und redete,<br />
als sei dies meine Leidenschaft, während sie ihre dunklen, ein wenig<br />
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29<br />
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südländisch wirkenden Augen sanft und wohlwollend auf mir ruhen<br />
ließ und mich so dazu verführte, immer weiter zu erzählen. Maurice<br />
spielte vertieft in einer Ecke auf dem Teppich. Er war immer ein in<br />
sich ruhendes, ausgeglichenes Kind, aber in diesen Minuten schien<br />
er mir besonders zufrieden. Unser Gespräch unterbrach er nicht ein<br />
einziges Mal. Fast war es, als wolle er so seine Zustimmung darüber<br />
ausdrücken, dass ich mein Herz erleichterte.<br />
Nachdem ich zunächst über dies und jenes geredet hatte, saß ich<br />
mittlerweile da und erzählte dieser fremden Frau tatsächlich, wie<br />
sehr Nina und ich uns im letzten Jahr auseinandergelebt hatten.<br />
„Es gab schon einmal eine solche Zeit“, sagte ich. „Damals, bevor<br />
Maurice zu uns kam.“<br />
„Er ist nicht ihr leibliches Kind?“, fragte sie überrascht.<br />
Kurz musste ich schlucken. Maurice war für uns, war vor allem für<br />
mich, unser Kind. Deshalb redeten wir auch kaum über seine Herkunft.<br />
Ob adoptiert oder leiblich spielte bei mir schon lange keine<br />
Rolle mehr. Meine Liebe für ihn war uneingeschränkt. Ohne mit der<br />
Wimper zu zucken, hätte ich in jedem Augenblick mein Leben für ihn<br />
gegeben.<br />
„Er ist ein Findelkind“, sagte ich. „Ich habe ihn am Strand aufgelesen,<br />
an einem Weihnachtsabend.“<br />
„Ach“, sagte Charlotte Kramer nachdenklich, „das waren Sie?“<br />
Der Fall hatte damals hohe Wellen geschlagen. Ebenso intensiv wie<br />
erfolglos war nach der Mutter gesucht worden. Ein paar heiße Spuren<br />
hatte es zwar gegeben, aber am Ende waren sie allesamt im Sand verlaufen.<br />
Natürlich war ich darüber nicht unglücklich gewesen. Niemand konnte<br />
wissen, wie eine Mutter sich entschied, die plötzlich ihr eigenes<br />
Kind wieder sah. Und ein Leben ohne Maurice war für mich schon<br />
nach sehr kurzer Zeit unvorstellbar geworden. Charlotte Kramer stöberte<br />
in ihren Erinnerungen.<br />
„Hätten Sie damals die Mutter nicht fast noch erwischt?“, fragte sie<br />
und schenkte Tee und Kaffee nach.<br />
30
„Ich habe jemanden fliehen sehen“, sagte ich. „Das ist alles. Aber<br />
ich könnte nicht mal sagen, ob es ein Mann war oder eine Frau. Dieser<br />
Mensch war nicht klein und er floh in geduckter Haltung. Er verschwand<br />
sehr schnell, als habe er sich in Luft aufgelöst.“<br />
„Sie rechnen also nicht mehr damit“, fragte sie, „dass die Mutter –<br />
oder der Vater ¬– eines Tages wieder auftaucht?“<br />
„Nicht mehr nach so langer Zeit“, sagte ich. „Und selbst wenn, wäre<br />
das inzwischen kein Problem mehr. Mittlerweile ist Maurice rechtmäßig<br />
adoptiert. Ein Gerichtsentscheid hat das nach zwei Jahren möglich<br />
gemacht.“<br />
Maurice kletterte auf meinen Schoß.<br />
„Er ist ein sehr hübscher Junge“, meinte Charlotte lächelnd. „Und er<br />
hat Ähnlichkeit mit Ihnen.“<br />
„Ja“, meinte ich. „Das sagen viele. Obwohl es ja eigentlich nicht sein<br />
kann.“<br />
„Warum nicht?“, fragte sie munter. „Kinder lernen und entwickeln<br />
sich vor allem durch Vorbild und Nachahmung.“<br />
Maurice kletterte von meinem auf ihren Schoß. Im allerletzten Moment<br />
konnte ich meinen Kaffeebecher noch festhalten.<br />
„Was geht in einem Menschen vor“, fragte Charlotte nachdenklich,<br />
„der sein Kind aussetzt? Ich vermag mir das nicht vorzustellen.“<br />
Sie streichelte Maurices volles Haar und klemmte eine winzige Strähne<br />
hinter sein Ohr.<br />
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„Ich kann kaum zählen“, sagte ich, „in wie vielen Nächten ich über<br />
dieser Frage wach gelegen habe. Eine überzeugende Antwort hab ich<br />
trotzdem nicht gefunden.“<br />
Charlotte fischte eine Banane aus dem Obstkorb, schälte sie und gab<br />
Maurice die halbe Frucht.<br />
„Vielleicht war es gar nicht ihr Plan“, meinte Charlotte, „das Kind dort<br />
auszusetzen? Allein wäre er doch erfroren.“<br />
„Genau deshalb“, sagte ich, „gehe ich von einer Tötungsabsicht aus.<br />
Es kann nicht anders sein.“<br />
Maurice kletterte nun auch von Charlottes Schoß herunter. Dabei<br />
schmierte er ein Stück Banane in ihren Pullover. Ohne darauf einzugehen,<br />
entfernte sie es mit einem kleinen Löffel.<br />
„Ist es nicht auch denkbar“, sagte sie langsam, „dass sie … ich meine,<br />
dass sie nicht nur das Kind töten wollte, sondern …?“<br />
„Natürlich ist das denkbar“, antwortete ich. „Aber würde das wirklich<br />
etwas ändern? Nina meinte auch schon mal, dass vielleicht Angst ein<br />
Motiv war …“<br />
„Ich finde schon“, unterbrach sie mich entschieden, „dass es etwas<br />
ändern würde. Und es würde sich ergänzen mit der Vermutung Ihrer<br />
Frau. Wenn ich beide Vermutungen zusammennehme, komme ich<br />
auf neue Worte.“<br />
Ernst sah sie mich an und fuhr dann fort:<br />
„Verzweiflung. Tödliche Verzweiflung. Ausweglosigkeit. Vielleicht erschien<br />
ihr der Tod die bessere Alternative zu dem, was das Leben ihr<br />
und dem Kind in diesem Augenblick anbot.“<br />
„Sie hätte Maurice in einem Krankenhaus abliefern“, sagte ich unerbittlich,<br />
„und sich dann von mir aus selbst töten können. Sie hatte<br />
kein Recht, über sein Leben zu entscheiden.“<br />
Ich stand auf und ging zum Fenster. Eine plötzliche tiefe Unruhe erfüllte<br />
mich wie lange nicht mehr.<br />
„Natürlich hatte sie dieses Recht nicht“, sagte Charlotte.<br />
Ich spürte, dass sie mich nicht aus den Augen ließ.<br />
„Aber es gibt Augenblicke, da können wir Menschen nicht so rational<br />
32
entscheiden. Augenblicke, in denen unsere Verzweiflung oder Angst<br />
so groß ist, dass wir Dinge tun, die wir sonst nie tun würden.“<br />
Ihre Worte waren so eindringlich, dass ich plötzlich dachte, sie rede<br />
vielleicht von sich selbst. Sie war jetzt sehr blass geworden. Sie schaute<br />
mich weiter an.<br />
„Ich selbst“, bestätigte sie meine Vermutung, „habe das bei mir schon<br />
erlebt. Ich war damals so verzweifelt wie noch nie in meinem Leben.“<br />
Kurz überlegte sie, ob sie weiterreden sollte, entschied sich dann<br />
aber anders.<br />
„Ich erzähle es Ihnen ein anderes<br />
Mal“, sagte sie und lächelte<br />
wieder leise und freundlich.<br />
„Jetzt bin ich zu erschöpft.“<br />
Tatsächlich wirkte sie nun sehr<br />
müde, fast ausgelaugt. Sogar<br />
die kleinen Fältchen um ihre<br />
Augen schienen eine Spur tiefer<br />
zu sein als sonst.<br />
„Dann werd ich mal“, sagte ich.<br />
„Maurice und ich müssen noch<br />
einkaufen fahren.“<br />
Wir verabschiedeten uns. Mit<br />
einem Blick auf die Uhr stellte<br />
ich fest, dass ich mich beeilen<br />
musste. In einer knappen Stunde<br />
erwartete ich einen wichtigen<br />
Anruf von Hübner, meinem<br />
Verleger.<br />
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33
Kapitel 5<br />
Nina war schwanger! Noch gute sieben Monate und wir würden Eltern<br />
sein! Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich gewesen.<br />
Nina ging es nicht anders. Für uns erfüllte sich ein Traum. Endlich,<br />
endlich, endlich!<br />
Nina war sechsunddreißig, ich vierzig Jahre alt, weshalb die Schwangerschaft<br />
als Risikoschwangerschaft galt. Das bedeutete, dass Untersuchungen<br />
wie die des Fruchtwassers Routine waren. Natürlich waren<br />
wir aufgeregt und ängstlich, als die Verkündung der Ergebnisse<br />
anstand. Aber es war alles okay. Unsere Erleichterung war grenzenlos.<br />
Unser Kind würde nicht behindert sein. Wir würden es kriegen können,<br />
alles war im normalen Rahmen, Auffälligkeiten gab es nicht.<br />
Auch die weitere Schwangerschaft verlief wie ein ruhiger Fluss mit<br />
klarem Wasser, das in der morgendlichen Sonne glänzt und funkelt.<br />
Unser Leben zu dieser Zeit war wunderbar und in Ordnung.<br />
Auch meine Arbeit ging mir von der Hand wie selten und ich hatte für<br />
mein nächstes Buch einen verbesserten Vertrag erhalten. Ich überlegte,<br />
zur Feier dieses Abschlusses eine kleine Reise mit Nina zu machen.<br />
Sie hatte Bedenken, in ihrem Zustand zu fliegen.<br />
Mittlerweile war Juli und sie im achten Schwangerschaftsmonat. Da<br />
bisher alles glatt gelaufen war, glaubte ich nicht, dass der kurze Flug<br />
auf die Balearen ein besonderes Risiko darstellte, aber natürlich fragten<br />
wir Dr. Bode, der meine Sorglosigkeit bestätigte.<br />
„Passieren kann natürlich immer und überall etwas“, sagte er mit<br />
freundlichem Lächeln. „Kein Mensch kann das Gegenteil garantieren.<br />
Aber ein besonderes Risiko stellt ein so kurzer Flug zu diesem Zeitpunkt<br />
weder für Sie noch für den Nachwuchs dar, Frau Thailer. Sie<br />
können beruhigt fliegen.“<br />
Wie immer sprach er von „dem Nachwuchs“. Das Geschlecht des Kindes<br />
wollten wir vor der Geburt auf keinen Fall erfahren.<br />
Die Einschätzung Bodes zerstreute Ninas Bedenken zumindest so<br />
34
weit, dass sie sich auf den Urlaub einließ. In bester Stimmung setzten<br />
wir uns in den Flieger.<br />
Der Flug verlief reibungslos.<br />
Wir verlebten fünf sorgenfreie und sonnige Tage in einem wunderbaren<br />
kleinen, weißen Ferienhaus mit Meerblick. Das Leben konnte<br />
kaum schöner sein. Und dann passierte das Unfassbare. Ohne jede<br />
Vorankündigung erlitt Nina eine Fehlgeburt, mitten hinein in unsere<br />
knallblauen Tage.<br />
Sofort fuhr ich sie ins Krankenhaus, wo man sehr schnell feststellte,<br />
dass das Kind nicht mehr zu retten war. Es war ein Junge. Ich sah seinen<br />
kleinen, blauen, toten Körper. Wir gaben ihm einen Namen: Joshua.<br />
Mit der Urne fuhren wir zur Steilküste und streuten seine Asche<br />
ins Meer. Es war ein strahlender Tag. Ein leichter Wind wehte. Das<br />
azurblaue Wasser schluckte die Überreste unseres Kindes restlos.<br />
Mit den Rosen, die wir von oben hinunterwarfen, verschwand unser<br />
Glück.<br />
Wir beide waren vollkommen sprachlos. Im Krankenhaus hatte Nina<br />
viel geweint, jetzt weinte sie nicht mehr. Ich hatte es die ganze Zeit<br />
über nicht gekonnt. Alles in mir war wie zugeschnürt. Wir aßen und<br />
tranken kaum. Unsere Fassungslosigkeit war schwer wie Blei.<br />
Finsterste Nacht war mitten in unseren hellblauen Sommer gebrochen<br />
und hatte unser Leben komplett verdunkelt. Wir beide hatten<br />
keinen Schimmer, wie es weitergehen sollte. Lange Zeit besaßen wir<br />
nicht einmal die Kraft, darüber auch nur nachzudenken.<br />
Wir kamen überein, dass Dr. Bode keine Vorwürfe zu machen waren.<br />
Wie er gesagt hatte, konnte überall etwas passieren. Es gab keine Garantien<br />
in diesem Leben. Andere Ärzte bestätigten zudem, dass der<br />
Flug nach Lage der Dinge kein besonderes Risiko dargestellt hatte und<br />
mit großer Wahrscheinlichkeit auch in keinerlei Zusammenhang mit<br />
Ninas Fehlgeburt zu sehen war. Wir waren uns einig, dass wir in dieser<br />
Sache nicht weiter herumbohren wollten. Joshua war tot, und keine<br />
Schuldzuweisung der Welt würde ihn uns zurückgeben.<br />
35
36
37<br />
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Die einzige Konsequenz bestand darin, dass Nina den Arzt wechselte.<br />
„Ohne Groll“, wie sie oft betonte.<br />
Auch mir wies sie keine Schuld zu. Das versicherte sie mir mehrmals<br />
in ruhigem und absolut glaubwürdigem Ton.<br />
Die Vorwürfe, die ich mir selbst machte, ließen mich monatelang<br />
kaum schlafen. Ich trank mehr Alkohol als jemals in meinem Leben.<br />
Aber auch das half nicht gegen den Schmerz, der war, als hätte ich<br />
eine Säure geschluckt, die mich von innen her langsam zerfraß.<br />
Das einzige, was ich in dieser Zeit schaffte, war schreiben. Immer wieder<br />
bekam ich es dabei für ein paar Minuten hin, an etwas anderes zu<br />
denken als an den kleinen blauen Leichnam, den wir verbrannt und<br />
dessen Asche wir dem Meer vor einer fernen Insel anvertraut hatten.<br />
Nina hatte nichts Vergleichbares. Sie arbeitete nicht. Sie zog sich, innerlich<br />
wie äußerlich, vor mir und der Welt zurück. Sie schrie nicht,<br />
sie weinte nie mehr. Sie sprach nur sehr wenig. Sie lebte ganz und gar<br />
für sich. Kontakte zu Freundinnen brach sie fast vollständig ab.<br />
Ich bat sie, zum Arzt zu gehen, sich helfen zu lassen. Ich glaubte, dass<br />
sie vielleicht unter Depressionen litt. Aber jede Hilfe von außen lehnte<br />
sie strikt ab. Dass sie auch meine Hilfe nicht wollte, verletzte mich.<br />
Auch ich konnte sie nicht befreien aus dem dunklen Käfig, in dem sie<br />
damals lebte.<br />
Wenn überhaupt, redete sie mit mir über Belanglosigkeiten. Niemals<br />
über Joshua, niemals über unseren Flug auf die Insel. Nie mehr darüber,<br />
ob es ein Fehler gewesen war, dorthin zu fliegen. Jeden meiner<br />
Versuche in diese Richtung würgte sie schroff ab und verurteilte dadurch<br />
uns beide zu bedingungsloser Einsamkeit.<br />
Weit und breit gab es für uns kein Entkommen.<br />
Der Gedanke an eine neue Schwangerschaft war weiter weg als die<br />
Insel, auf der unser Kind gestorben war. In manchen Augenblicken,<br />
in denen mein Kopf klar genug war –¬ unabhängig davon, ob ich getrunken<br />
hatte oder nicht ¬–, begriff ich, dass es nur eine Rettung geben<br />
konnte für uns beide. Von da an hoffte und wartete ich auf den<br />
Moment, in dem einer von uns genug Kraft gesammelt hatte, um sich<br />
38
vom anderen zu trennen. Vielleicht könnten wir beide von da an mit<br />
dem Weiterleben anfangen. Eine andere Möglichkeit sah ich nicht<br />
mehr.<br />
Die Rettung, die tatsächlich auf uns wartete, war vollkommen unvorhersehbar.<br />
Und doch frage ich mich manchmal, ob es nicht eine tief<br />
sitzende Ahnung war, die mich in jener eisigen Weihnachtsnacht an<br />
den menschleeren Strand trieb.<br />
Durch dieses Ereignis habe ich wieder angefangen, an das Leben zu<br />
glauben und sogar an einen Gott, der Gutes für uns bereithält. Vielleicht<br />
bietet er es uns genau in dem Moment an, in dem wir uns nicht<br />
mehr trauen, darauf zu hoffen.<br />
Kapitel 6<br />
Ich ärgerte mich, dass ich mein Handy nicht mitgenommen hatte. Damit<br />
hätte ich auch unterwegs den Anruf Hübners entgegennehmen<br />
können. Die Bedingungen wären nicht optimal gewesen – immerhin<br />
sollte es um die Frage gehen, ob wir unsere Zusammenarbeit fortsetzen<br />
würden oder nicht –, aber jetzt musste ich mich enorm abhetzen,<br />
um rechtzeitig zu Hause zu sein.<br />
Gleich nach dem Gespräch wollte Hübner in Urlaub fahren und dort,<br />
wie jedes Frühjahr, für zwei Wochen unerreichbar bleiben.<br />
„Dafür bin ich den Rest des Jahres rund um die Uhr für jeden da, der<br />
mich braucht“, pflegte er mit verschmitztem Lächeln zu sagen.<br />
Ich dachte an ihn, als ich aus dem Supermarkt geeilt kam und zum<br />
Auto hetzte. Mein Einkaufswagen war halb voll. Fast im Galopp war<br />
ich durch die Regalreihen geflogen und hatte noch wahlloser als üblich<br />
zugelangt. Maurice hatte die ganze Zeit staunend im Kindersitz<br />
des Wagens gesessen, da er mich so aufgedreht noch nicht erlebt hatte.<br />
An der Kasse drängelte ich mich bis an die zweite Stelle vor. Nur eine<br />
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Anzeige<br />
40<br />
dünne Frau ganz vorn, die nach<br />
Schweiß roch und ein spitzes<br />
Gesicht hatte, weigerte sich,<br />
mich vorzulassen, obwohl ihr<br />
Wagen rettungslos überfüllt<br />
war.<br />
„Glauben Sie vielleicht“,<br />
schimpfte sie laut, „andere<br />
Menschen hätten ihre Zeit gestohlen?“<br />
Da ich das nicht glaubte, ergab<br />
ich mich meinem Schicksal,<br />
was meine Eile nicht verringerte.<br />
In ein paar Minuten würde<br />
zu Hause das Telefon klingeln.<br />
Hübner hasste es, versetzt zu<br />
werden. Und unser Verhältnis<br />
war in letzter Zeit aufgrund stagnierender<br />
Verkaufszahlen angespannt<br />
genug.<br />
Hektisch stellte ich den Einkaufswagen,<br />
in dem Maurice<br />
geduldig wartete, neben dem<br />
Auto ab und öffnete die Heckklappe.<br />
Vor dem Umladen<br />
musste ich noch den Benzinkanister,<br />
Werkzeuge und Ähnliches<br />
zur Seite räumen, wofür<br />
ich mich halb auf die Ladefläche<br />
kniete. Für ein paar kurze Momente<br />
beachtete ich den Einkaufswagen<br />
mit Maurice darin<br />
nicht. Dann hörte ich den auf-
Anzeige<br />
heulenden Motor eines Autos,<br />
das viel zu schnell fuhr.<br />
Im nächsten Augenblick folgten<br />
der erschrockene Schrei einer<br />
Frau, ein lang gezogenes, schrilles<br />
Hupen, das Quietschen von<br />
Bremsen und ein metallenes<br />
Scheppern, das sich anhörte,<br />
als kippe der Einkaufswagen<br />
um. Dies alles innerhalb eines<br />
Sekundenbruchteils. Mein Herz<br />
zog sich zusammen und wurde<br />
schwer wie ein Stein. Was war<br />
passiert? Vor meinem inneren<br />
Auge spielten sich in blitzartiger<br />
Geschwindigkeit unbeschreibliche<br />
Horrorszenarien ab.<br />
Als ich mich umdrehte, sah ich<br />
als erstes eine Frau, die meinen<br />
Einkaufswagen festhielt. Vor<br />
Schreck war sie weiß wie eine<br />
Wand. Maurice saß unverletzt<br />
vor ihr im Sitz des Wagens. Ich<br />
sprang aus dem Kofferraum.<br />
Ich wusste nicht, was ich sagen<br />
oder tun sollte. Das Auto,<br />
das gebremst und gehupt hatte,<br />
ein schwarzer Sportwagen,<br />
fuhr mit einem Affenzahn wieder<br />
an. Der Fahrer, ein Typ mit<br />
gegeltem Haar und spiegelnder<br />
Sonnenbrille, streckte den<br />
hochgestellten Mittelfinger der<br />
41
echten Hand in unsere Richtung.<br />
„Arschloch!“ schrie die Frau und rief ihm noch einmal wütend hinterher:<br />
„Verdammtes Arschloch!“<br />
Endlich war ich bei Maurice und hob ihn aus dem Wagen. Er war erstaunlich<br />
ruhig.<br />
„Wo kam dieser Idiot denn plötzlich her?“, fragte ich die Frau, als ich<br />
endlich wieder reden konnte.<br />
„Keine Ahnung“, sagte sie. Auch sie hatte Schwierigkeiten, sich zu beruhigen.<br />
„Kam einfach um die Ecke geschossen. Im allerletzten Moment<br />
hab ich’s noch gesehen, purer Zufall. Er hatte überhaupt keine<br />
Chance, dem Einkaufswagen auszuweichen.“<br />
„Aber der stand doch an der Seite“, rief ich und eine nachträgliche<br />
Panik kam in mir hoch.<br />
„Irgendwie“, sagte sie, „hatte er sich selbstständig gemacht und war<br />
auf den Weg gerollt. Genau in diesem Moment kam das Auto um die<br />
Ecke gerast.“<br />
„Haben Sie sich das Nummernschild gemerkt?“<br />
„Leider nicht. Wollen Sie ihn anzeigen?“<br />
Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass die Frau Maurice<br />
wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Ohne ihr Eingreifen hätte er<br />
keine Chance gehabt.<br />
„Wie kann ich mich bei Ihnen bedanken?“, fragte ich. Es klang unbeholfen,<br />
am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen.<br />
„Ist schon okay“, sagte sie. „Hätte doch jeder gemacht. Vergessen<br />
Sie’s.“<br />
Sie tat einen Schritt zur Seite und ich sah, dass sie Schwierigkeiten<br />
beim Auftreten hatte. Ihr Gesicht verzerrte sich etwas.<br />
„Haben Sie sich verletzt?“, fragte ich besorgt. „Kann ich irgendwas für<br />
Sie tun?“<br />
„Nicht der Rede wert“, meinte sie. „Der Fuß ist nur umgeknickt. Eigene<br />
Ungeschicklichkeit. Ist gleich wieder okay. Mir passiert so was öfter,<br />
müssen Sie wissen.“<br />
Ich setzte Maurice in den Kindersitz des Autos und schnallte ihn an.<br />
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Hübner hatte ich zu diesem Zeitpunkt völlig vergessen.<br />
„Ist es wirklich nicht schlimm?“, fragte ich unsicher.<br />
„Nein“, sagte sie. „Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Hauptsache,<br />
dem Kleinen geht es gut.“<br />
Wir standen beide da und wussten plötzlich nicht mehr, was wir<br />
sagen sollten. Es war eine merkwürdige Situation, die eigentlich zu<br />
Ende war. Alles schien gesagt, erledigt und getan, aber wir benahmen<br />
uns, als würden wir noch auf irgendetwas warten, von dem wir nicht<br />
wussten, was es war.<br />
„Warum“, lächelte sie verlegen, „muss ich mir auch immer diese hohen<br />
Schuhe anziehen? Das hat meine Mutter früher schon immer zu<br />
mir gesagt. Aber ich hab nun mal ein Faible für die Dinger. Obwohl ich<br />
andauernd damit umknicke. Heute genau wie damals.“<br />
Ihre Schuhe hatten zwar einen leicht erhöhten Absatz, aber so hoch<br />
waren sie nun auch wieder nicht.<br />
„Da haben Sie natürlich Recht“, versuchte ich einen Scherz. „In jedem<br />
Fall war damit zu rechnen, dass Sie einem unaufmerksamen Vater das<br />
Kind retten mussten. Wie konnten Sie da nur so leichtsinnig sein und<br />
keine Turnschuhe anziehen? Das war unverantwortlich von Ihnen. Sie<br />
haben es aber auch wirklich nicht anders verdient, als dass Ihnen der<br />
Fuß umknickt.“<br />
Sie lachte.<br />
„Also dann. Wenn mit dem Kleinen alles okay ist … wie heißt er eigentlich?“<br />
„Maurice.“<br />
„Maurice“, wiederholte sie. „Ein wirklich schöner Name.“<br />
Noch immer machte sie keine Anstalten zu gehen. Maurice lächelte<br />
sie an.<br />
„Er mag Sie“, meinte ich.<br />
„Ein hübscher Junge“, sagte sie. „Er hat Ähnlichkeit mit Ihnen.“<br />
„Ja“, meinte ich etwas verlegen, „das sagen viele.“<br />
„Also“, wiederholte sie. „Dann werd ich mal wieder.“<br />
Ich reichte ihr die Hand, die groß war und schlank.<br />
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„Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich …“<br />
„Keine Ursache“, versicherte sie noch mal. „Ich konnte gar nicht anders<br />
reagieren.“<br />
Dann ging sie los und ich sah, dass ihre Schmerzen stärker waren als<br />
sie gesagt hatte. Sie konnte kaum auftreten.<br />
„Warten Sie!“, rief ich. „Ich bring Sie zum Arzt.“<br />
Sie drehte sich um.<br />
„Nein danke“, sagte sie. „Ein Arzt ist wirklich nicht nötig. Es ist halb so<br />
wild.“<br />
„Ich bestehe darauf. Sie können doch nicht so …“<br />
„Ich will nicht zum Arzt“, beharrte sie. „Auf Wiedersehen!“<br />
Plötzlich war ihr Tonfall fast schroff.<br />
„Dann lassen Sie mich wenigstens den Fuß anschauen“, schlug ich<br />
vor. „Ich könnte Ihnen einen Verband anlegen. Mein letzter Erste-Hilfe-Kurs<br />
liegt noch gar nicht so lange zurück.“<br />
Sie überlegte kurz und kam dann zurückgehumpelt. Ich wollte sie<br />
stützen, aber das lehnte sie ab.<br />
„Na gut“, sagte sie. „Wenn Sie sich ein bisschen auskennen mit so<br />
was, kann anschauen ja nicht schaden.“ Es klang etwas kleinlaut.<br />
Kapitel 7<br />
Maurice hat uns nicht geholfen, Joshua zu vergessen, denn das war<br />
unmöglich und wir wollten es auch gar nicht. Für immer würde er<br />
einen großen und festen Platz sowohl in Ninas als auch in meinem<br />
Herzen einnehmen.<br />
Aber Maurice half uns, aus dem Tief um Joshuas Tod herauszufinden.<br />
Der schwarze Tunnel, in dem wir seit Monaten gelebt hatten, hatte<br />
plötzlich am Ende ein Licht, auf das wir uns mit großen Schritten zu<br />
bewegten.<br />
Für uns beide stand sehr schnell fest, dass er bei uns leben sollte, falls<br />
44
Anzeige<br />
die Mutter nicht gefunden werden<br />
konnte. Und schon nach<br />
wenigen Tagen fingen wir an<br />
zu hoffen, dass sie unentdeckt<br />
blieb.<br />
Die ersten Tage verbrachte<br />
Maurice im Krankenhaus, wo<br />
festgestellt wurde, dass er gesundheitlich<br />
okay war. Trotz<br />
der Kälte hatte er sich nicht mal<br />
einen Schnupfen eingehandelt.<br />
Seine Widerstandskraft musste<br />
enorm sein.<br />
Zunächst wurde das Jugendamt<br />
zum Vormund bestimmt, von<br />
dort die rechtlichen Belange<br />
des Kindes geregelt. Dazu gehörte<br />
unter anderem die Frage,<br />
wo Maurice leben sollte. Nach<br />
vielem Hin und Her wurden wir<br />
als seine Adoptionspflegeeltern<br />
zugelassen. Auch seinen Namen<br />
bekam er von uns.<br />
Polizeiapparat und Staatsanwaltschaft<br />
liefen auf Hochtouren.<br />
Die Öffentlichkeit wurde<br />
eingeschaltet. Zeitungen, Radio und Fernsehen waren voll mit Appellen<br />
an die Eltern, sich doch endlich zu melden. Man wendete sich<br />
an die Bevölkerung auf der Suche nach eventuellen Zeugen, und es<br />
gingen hunderte Hinweise ein, von denen aber kein einziger etwas<br />
erbrachte.<br />
Während der ersten drei Monate lebten Nina und ich noch in ständiger<br />
Unruhe, dass die Eltern gefunden würden. Auch danach ging die<br />
45
Suche der Polizei natürlich weiter, aber wir wurden ruhiger. Die Nachforschungen<br />
schienen nicht mehr ganz so fieberhaft zu laufen, und<br />
es gab weiter nichts Zählbares. Auch in der Presse las man nur noch<br />
selten über den Fall.<br />
Unsere Hoffnungen, dass wir nun endlich unsere Familie gründen<br />
konnten, wurden konkreter. Auch wenn diese nun kleiner ausfallen<br />
würde als ursprünglich geplant. Ich für meinen Teil konnte schon damals<br />
sagen, dass Maurice mir voll und ganz genügte.<br />
Bei Nina schien das zunächst ähnlich zu sein. Wir teilten die Sorge,<br />
dass Maurice uns wieder weggenommen werden könnte. Ebenso wie<br />
die Freude über seine tolle Entwicklung. Wir hatten jede Menge Spaß<br />
mit ihm und waren glücklich über jeden Tag, den wir zusammen verbringen<br />
konnten.<br />
Das Schweigen voll unausgesprochener Vorwürfe und Selbstvorwürfe,<br />
das uns seit Monaten beherrscht hatte, löste sich auf. Wie eine<br />
schwere Decke hatte es auf uns gelastet, und jetzt flatterte es wie ein<br />
leichtes, buntes Tuch im Sommerwind davon. Es war, als könnten wir<br />
beide endlich wieder frei atmen.<br />
Und unser Glück hatte einen Namen: Es hieß Maurice.<br />
So jedenfalls empfand ich es. Mein Himmel war wieder ungetrübt<br />
blau. Dass sich an Ninas Himmel dagegen schon bald erste kleine<br />
Wölkchen bildeten, spürte ich zunächst nicht, und ich könnte auch<br />
nicht sagen, wann genau es damit anfing. Vielleicht war ich in meinem<br />
eigenen Glück blind für ihre wachsende Unzufriedenheit. Als ich<br />
es endlich merkte, glaubte ich zunächst an etwas Vorübergehendes<br />
wie schlechte Laune. Mit den Möglichkeiten, mir selbst etwas vorzumachen,<br />
war es erst vorbei, als Nina mich direkt ansprach:<br />
„Ich bin keine gute Mutter für Maurice“, sagte sie.<br />
Wir befanden uns auf einem kleinen Spaziergang am gepflasterten<br />
Strand. Es war ein sonniger, aber noch recht kühler Frühlingstag. Wie<br />
immer auf diesen Spaziergängen schlief Maurice tief und fest. Ich<br />
schob seinen Wagen vor mir her. Ich liebte den Anblick seines friedlichen<br />
Gesichts auf dem Kissen.<br />
46
Ich glaubte zunächst, mich verhört zu haben. Aber als ich in ihr Gesicht<br />
sah, begriff ich, dass das nicht stimmte.<br />
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich hilflos. „Wenn du keine<br />
gute Mutter bist, wer dann?“<br />
Über ihre spontane Antwort musste sie selbst im Voraus lächeln:<br />
„Du“, sagte sie. „Du bist eine viel bessere Mutter als ich.“<br />
Ich fragte sie, ob sie mich auf den Arm nehmen wolle.<br />
„Nein“, antwortete sie. „Du bist viel näher dran an Maurice als ich es<br />
bin.“ Und nach einer kleinen Pause fügte sie leise hinzu. „Auch als du<br />
und ich aneinander dran sind, Paul.“<br />
Ich war geschockt. Ich hatte nicht mitgekriegt, dass solche Dinge sie<br />
beschäftigten.<br />
„Ich komme bei euch beiden nicht dazwischen“, sagte sie.<br />
Draußen fuhr ein riesiger Tanker Richtung Weltmeere. Ein Entenschwarm<br />
flog auf.<br />
„Aber das ist doch …“. Ich suchte nach den richtigen Worten. „Das<br />
stimmt doch einfach nicht.“<br />
„Doch“, sagte sie unbeirrt. „Es stimmt. Ihr beide seid ein Herz und<br />
eine Seele. Ihr seid so, wie Mutter und Kind es sein sollten.“<br />
Sie sah mich eindringlich an. Ihr Haar wehte etwas im leichten Wind,<br />
der aus Norden kam.<br />
„Ich bin sein Vater“, behauptete ich trotzig, obwohl ich längst begriffen<br />
hatte, was sie meinte.<br />
„Natürlich bist du das“, sagte sie liebevoll. „Aber du bist auch viel<br />
mehr seine Mutter als ich es bin.“<br />
„Und was bist du dann, bitte schön?“<br />
„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Und genau das ist das Problem.“<br />
Stumm gingen wir nebeneinander her. Der Tanker draußen nahm allmählich<br />
Fahrt auf.<br />
„Ich habe Arbeit gefunden“, sagte sie schließlich. „Bei einer Werbeagentur.<br />
Zum nächsten Ersten fange ich an.“<br />
47
Kapitel 8<br />
Maurice ging mit wachsender Begeisterung zu den „Seepferdchen“.<br />
Er verstand sich dort gut mit den anderen Kindern, sie hatten Spaß zusammen<br />
und lernten voneinander. Maurice entwickelte sich schneller<br />
als zuvor. Diese Gruppe tat ihm gut, Nina hatte Recht gehabt. Und vor<br />
allem mochte er Charlotte Kramer. Ein Umstand, den ich mit der Zeit<br />
immer besser verstehen konnte.<br />
Vielleicht gab sie ihm das, was Nina ihm nicht geben konnte. Charlotte<br />
war eine warmherzige und offene Frau. Sie hatte ein Gespür für<br />
Menschen, wie ich es bisher noch bei keinem anderen wahrgenommen<br />
hatte. Die Kinder ihrer Gruppe brauchte sie nur anzuschauen,<br />
um zu wissen, wie sie sich fühlten. Sie sah ihnen an, ob es ihnen gut<br />
ging oder schlecht, und zwar auf den ersten Blick. Sie konnte in ihren<br />
Gesichtern lesen wie in aufgeschlagenen Büchern.<br />
Maurice gegenüber hatte ich diese Fähigkeit an ihr schon länger beobachtet,<br />
aber allmählich begriff ich, dass es bei den anderen Kindern<br />
genauso war.<br />
„Hallo Phillip! Na, heute Morgen schon ein bisschen Ärger gehabt mit<br />
der Mama?“<br />
Mir erschien Phillip nicht anders als sonst. Seine Mutter jedoch bestätigte<br />
Charlottes Vermutung mit gequältem Lächeln.<br />
Als Nächstes wurde mir klar, dass Charlottes besonderes Talent sich<br />
nicht nur auf Kinder bezog. Auch mich durchschaute sie mit einer<br />
Leichtigkeit, die mich bei jedem anderen gestört hätte. Bei ihr sah ich<br />
es anders.<br />
Sie spürte, wenn ich reden wollte. Dann hörte sie mir zu, ohne mich<br />
zu bedrängen. Aber sie sah auch auf den ersten Blick, wenn aus mir<br />
kein Wort herauszuholen war. Dann ließ sie mich in Ruhe. Sie konnte<br />
warten. Ihre Geduld schien unerschöpflich.<br />
Schlechte Laune erkannte sie bei mir genauso leicht wie gelegentlichen<br />
Überschwang. Den Mund brauchte ich dafür gar nicht zu öffnen,<br />
48
49<br />
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ein Blick in mein Gesicht reichte ihr. Sie selbst dagegen war von einer<br />
Ausgeglichenheit, die ich bewunderte.<br />
Wenn ich dazu in der Stimmung war, lud sie mich auf einen Kaffee in<br />
ihr Wohnzimmer ein oder im Sommer auf ihre Gartenterrasse. Wir redeten<br />
miteinander wie zwei alte Vertraute, während Maurice spielte<br />
und wartete.<br />
„Schreiben Sie gerade etwas?“, fragte Charlotte mich einmal.<br />
Wir saßen in ihrem Garten. Es war einer der ersten wärmeren Spätfrühlingstage<br />
des Jahres. Statt Kaffee tranken wir eisgekühlten Apfelsaft,<br />
den sie in einem tönernen Krug servierte. An diesem Tag ging es<br />
mir nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Irgendetwas bedrückte<br />
mich, ohne dass ich selbst gewusst hätte, was es war.<br />
„Schreiben ist mein Beruf“, sagte ich ein wenig mürrisch. „Ich schreibe<br />
immer irgendetwas.“<br />
Charlotte durchschaute mich problemlos: „Tatsächlich?“<br />
Ich fühlte mich ertappt. „Wenigstens sollte es so sein“, korrigierte ich<br />
kleinlaut.<br />
„Und wie ist es gerade jetzt?“<br />
Ihr Apfelsaft funkelte in einem Sonnenstrahl wie Bernstein. Sie drehte<br />
das Glas und betrachtete das Glitzern.<br />
„Ich hab vor ein paar Wochen einen neuen Roman begonnen“, sagte<br />
ich und trank ebenfalls einen Schluck. „Es läuft ganz gut.“<br />
„Das ist schön“, sagte sie munter. „Von was handelt er?“<br />
„Ich red nur ungern über ungelegte Eier.“<br />
Meine Laune hatte sich nicht gebessert. Ich lehnte mich etwas auf<br />
meinem Stuhl zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. Trotz meiner<br />
Worte, oder vielleicht gerade deshalb, schaute Charlotte mich erwartungsvoll<br />
an, als wolle sie sagen: Nun, von was?<br />
Sie spürte, dass ich nicht halb so abgeneigt war zu reden, wie ich mich<br />
aufführte. Es war nahezu unmöglich, ihr etwas vorzumachen.<br />
„Eine Liebe“, sagte ich obenhin, „die sich dem Ende zuneigt. Nichts<br />
Besonderes also.“<br />
„Und?“, fragte sie. „Woran hakt es?“<br />
50
„Es hakt nicht“, behauptete ich.<br />
Ihr stummes Nun, woran ? Sie lächelte.<br />
„In einem Roman ist es immer gut“, sagte ich, „wenn es eine neue<br />
Liebe gibt.“<br />
„Die nicht in Sicht ist?“<br />
Sie trank einen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch. Ich schüttelte<br />
den Kopf.<br />
„Die nicht in Sicht ist“, bestätigte ich. Es klang resigniert.<br />
Charlotte stand auf, half Maurice auf die Schaukel und gab ihm einen<br />
Schwung.<br />
„Vielleicht denken Sie beim Schreiben zu sehr an ihr eigenes Leben?“,<br />
fragte Charlotte vorsichtig.<br />
Ich überlegte nur kurz.<br />
„Das kann schon sein“, gab ich schließlich zu.<br />
„Was nicht gut ist, oder?“ Sie setzte sich wieder.<br />
„Mehr“, verlangte Maurice.<br />
„Was nicht gut ist“, bestätigte ich.<br />
Ich ging zu Maurice und gab ihm neuen Anschwung.<br />
„Soso“, sagte Charlotte und: „Aha“, wobei sie mich über den Rand ihres<br />
Glases hinweg nicht aus den Augen ließ. „Denn schließlich schreiben<br />
sie nicht autobiographisch, oder?“<br />
„Nein“, sagte ich. „Das tue ich nicht.“<br />
Plötzlich mussten wir beide lachen. Vielleicht über den Stil unseres<br />
Gesprächs, vielleicht aber auch über seinen Inhalt. Jedenfalls spürte<br />
ich, wie es mir langsam besser ging.<br />
„Dann sind Sie doch frei in ihrer Geschichte“, sagte Charlotte leichthin.<br />
„Das ist doch wunderbar. Sie haben alle Möglichkeiten der Welt.“<br />
Wieder gab ich Maurice Anschwung. Ich stellte mir vor, dass es für ihn<br />
ein Gefühl sein müsse, als würde er fliegen. Ein kleines bisschen fühlte<br />
ich mich plötzlich auch so. Aber natürlich waren Charlottes Gedanken<br />
naiv. Sie verbrachte einfach zu viel Zeit mit Kindern, das färbte ab.<br />
„Schreiben ist eine komplizierte Arbeit“, sagte ich.<br />
„Das glaube ich schon“, meinte Charlotte ernst. „Aber liegt nicht auch<br />
51
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wirklich eine große Freiheit darin?“<br />
„Nein“, sagte ich. „Schreiben hat viel mehr damit zu tun, Erwartungen<br />
von allen möglichen Leuten zu erfüllen. Freiheit nenne ich etwas<br />
anderes.“<br />
Charlotte dachte über meine Worte nach. Sie war schön, wie sie da<br />
saß auf ihrem Stuhl in der Frühlingssonne. Man sah, dass sie keine<br />
junge Frau mehr war, aber das gehörte zu ihrer Art von Schönheit.<br />
„Sie haben doch sicher nicht mit dem Schreiben begonnen“, sagte sie<br />
schließlich, „weil Sie Erwartungen anderer erfüllen wollten, oder?“<br />
„Am Anfang hat man Illusionen“, räumte ich ein. „Aber die verliert<br />
man schnell.“<br />
„Vielleicht ist es manchmal ganz gut“, sagte sie, „sich auf die Anfänge<br />
zu besinnen. Und sich etwas von der Kraft zurückzuholen, die man am<br />
Anfang hatte.“<br />
Plötzlich schien es, als spräche sie nicht mehr von mir, sondern von<br />
52
sich selbst. Nicht vom Schreiben, sondern vom Leben.<br />
„Schreiben Sie wieder aus Lust an der Sache“, forderte sie mit fester<br />
Stimme. „Aus Leidenschaft fürs Schreiben. Wie damals, als Sie begonnen<br />
haben. Lassen Sie sich das nicht nehmen von Erwartungen. Das<br />
ist schon deshalb verkehrt, weil die anderen vielleicht gar nicht die Erwartungen<br />
haben, die Sie ihnen unterstellen. Ich bin überzeugt, wenn<br />
Ihnen das gelingt, löst sich auch der Knoten in Ihrer Seele.“<br />
Ich wollte etwas entgegnen, war aber völlig sprachlos.<br />
„Nun machen Sie mal den Mund wieder zu, Paul Thailer“, sagte sie<br />
lächelnd und stand auf. „So schwer sind Sie nun wirklich nicht zu<br />
durchschauen. Außerdem weiß ich mehr von Ihnen als Sie ahnen. Inzwischen<br />
habe ich alle Ihre Bücher gelesen. Und auch wenn sie nicht<br />
autobiographisch sind, sagen sie jede Menge über den Autor aus.“<br />
Sie zwinkerte mir zu und stellte Gläser und Krug auf ein Tablett. Das<br />
unmissverständliche Zeichen, dass sie unsere kleine Konversation für<br />
beendet hielt. Ich akzeptierte ihre Entscheidung. Sie war die Meisterin<br />
des Gesprächs.<br />
„Übrigens“, sagte sie schließlich, „werde ich in Zukunft mit der Arbeit<br />
etwas kürzer treten müssen.“<br />
Sie ging mit dem Tablett in die Küche, ich folgte ihr. Maurice hatte ich<br />
bereits auf dem Arm. Fragend sah ich sie an.<br />
„Keine Sorge“, fuhr Charlotte mit einem plötzlich etwas müden Lächeln<br />
fort, „für den kleinen Mann hier wird weiter in vollem Umfang<br />
hervorragend gesorgt sein. Vielleicht sogar besser.“<br />
„Wie wär’s mit einer Erklärung?“, schlug ich vor und setzte Maurice<br />
auf die Anrichte neben dem Herd. Gespannt wartete ich. Mein Gefühl<br />
sagte mir, dass ich nichts Gutes zu erwarten hatte.<br />
„Ich habe eine junge Frau angestellt“, sagte sie, „Sie wird mich in dieser<br />
und auch in der größeren Nachmittagsgruppe unterstützen. Sie ist<br />
ein absoluter Glücksfall für mich. Sie ist ausgebildete Kinderpflegerin<br />
und verlangt so wenig Geld, dass ich mir ihre Hilfe leisten kann. Sonst<br />
müsste ich die Gruppen schließen. Eine normal teure Kraft könnte ich<br />
mir nicht leisten.“<br />
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Anzeige<br />
54<br />
„Aber wieso?“<br />
„Ich habe Krebs“, sagte Charlotte<br />
ohne Umschweife, während<br />
sie die Gläser in den Geschirrspüler<br />
räumte. „Schon zweimal<br />
habe ich geglaubt, ihn besiegt<br />
zu haben, aber jetzt ist er wieder<br />
da.“<br />
Sie schaute nicht auf und sprach<br />
in einem Tonfall, als würde sie<br />
die schlechte Qualität des Geschirrspülers<br />
beklagen. Es dauerte,<br />
bis ihre Worte in vollem<br />
Umfang mein Bewusstsein erreicht<br />
hatten.<br />
Danach schossen so viele Fragen<br />
gleichzeitig durch meinen<br />
Kopf, dass ich keine davon aussprechen<br />
konnte. Sie standen<br />
sich gegenseitig im Weg.<br />
Charlotte schloss den Geschirrspüler<br />
und drehte sich langsam<br />
zu mir um. Ihre dunklen Augen<br />
erschienen mir so eindringlich<br />
wie noch nie.<br />
„Vor zehn Jahren wurde Brustkrebs<br />
diagnostiziert“, sagte sie.<br />
„Seit acht Jahren fehlt mir die<br />
linke Brust. Danach schien alles<br />
gut. Bis sie vor drei Jahren etwas<br />
in der Lunge entdeckten.“<br />
Sie setzte sich auf die Küchenbank.<br />
Ich holte mir einen Stuhl.
„Mit einer Chemotherapie und mit Strahlen haben sie dann auch das<br />
in den Griff gekriegt.“<br />
Ich holte ihr ein Glas Wasser, an dem sie etwas nippte.<br />
„Diesmal ist es ein Hirntumor“, fuhr sie schließlich aufgesetzt munter<br />
fort. „Für Abwechslung ist also gesorgt.“<br />
Instinktiv legte ich meine Hand auf ihre und streichelte sie etwas.<br />
„Damals hab ich mir geschworen“, sagte sie, ohne mich anzusehen,<br />
„nie wieder Chemo. Es war eine Hölle, durch die ich nicht wieder gehen<br />
wollte. Und wissen Sie was?“<br />
Ich antwortete nicht, hielt nur weiter ihre Hand, die auf dem Tisch lag.<br />
„Nun mache ich es doch wieder.“ Sie entzog mir die Hand, stand auf<br />
und sah aus dem Fenster in den Garten. „Es ist meine einzige Chance,<br />
noch ein bisschen was abzukriegen von diesem Leben.“<br />
Sie drehte sich zu mir und sah mich an, als erwarte sie meine Zustimmung.<br />
Ich stand auf und stellte mich neben sie an den Schrank. Es<br />
klingelte.<br />
„Das ist meine neue Kollegin“, sagte sie. „Wir müssen noch ein paar<br />
Dinge besprechen.“<br />
Maurice und ich gingen mit ihr zur Tür.<br />
„Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt verschwinde?“, fragte ich. Ich konnte<br />
nicht einschätzen, in welchem Zustand Charlotte sich wirklich befand.<br />
„Natürlich“, sagte sie. „Bis auf den ungebetenen Gast in meinem Kopf<br />
geht es mir gut. Es ist alles in Ordnung. Das Gespräch jetzt wird auch<br />
etwas länger dauern.“<br />
Sie öffnete die Tür. Ich war mir noch immer nicht ganz sicher.<br />
„Gut, also dann …“<br />
„Hey“, sagte eine überraschte Stimme vor der Tür. „Was machen Sie<br />
denn hier?“<br />
Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, wer die neue Kollegin von Charlotte<br />
war. Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie oft ich in<br />
letzter Zeit an sie gedacht hatte.<br />
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Anzeige<br />
Kapitel 9<br />
Ich hatte es damals versäumt, mir ihre Adresse oder wenigstens ihre<br />
Handynummer geben zu lassen. Aber schließlich war ich verheiratet<br />
und hatte einen zweijährigen Sohn. Was sollte ich da mit der Handynummer<br />
einer anderen Frau? Auch wenn ausgerechnet Nina sich an<br />
jenem Abend darüber wunderte.<br />
„Wir müssen uns doch wenigstens bei ihr erkundigen“, sagte sie, „wie<br />
es ihrem Fuß geht. Nachdem sie das für uns getan hat. Sie hat Maurice<br />
vielleicht das Leben gerettet.“<br />
„Ihrem Fuß geht es gut“, gab ich genervt zurück. „Ich hab dir doch<br />
gesagt, dass ich ihr diesen Verband gemacht habe. Oder vielmehr sie<br />
selbst.“<br />
56
„Du hättest sie zum Arzt fahren müssen oder ins Krankenhaus“, sagte<br />
sie. „Unbedingt. Vielleicht ist etwas gebrochen.“<br />
„Sie wollte nicht ins Krankenhaus“, erklärte ich zum wiederholten<br />
Mal. „Und zu einem Arzt wollte sie auch nicht. Um keinen Preis. Hätte<br />
ich sie vielleicht zwingen sollen?“<br />
Wir saßen zusammen bei einem Glas vom besseren Sekt aus unserem<br />
Keller. Maurice lag im Bett und schlief tief und fest. Es war bereits<br />
nach zehn Uhr. Nina war gerade erst nach Hause gekommen. In letzter<br />
Zeit war es nicht selten, dass sie erst sehr spät Feierabend machte.<br />
Für ihre Arbeit ließ sie alles und jeden sitzen und mich schon lange.<br />
An diesem Abend hatten wir etwas zu feiern. Das Telefonat mit Hübner,<br />
meinem Verleger, war mehr als gut verlaufen, wir würden unsere<br />
Zusammenarbeit fortsetzen. Der Vorfall vom Nachmittag auf dem<br />
Parkplatz des Supermarktes war mir die ganze Zeit nicht aus dem<br />
Kopf gegangen und gerade hatte ich Nina davon erzählt. Statt, wie<br />
geplant, ein bisschen zu feiern, steckten wir jetzt fast schon wieder in<br />
einem Streit.<br />
„Und du kennst nicht mal ihren Namen?“ Nina schien es nicht fassen<br />
zu können.<br />
„Was soll ich denn mit ihrem Namen?“<br />
Ich stürzte ein halbes Glas Sekt auf einmal hinunter. Ich war schon<br />
nicht mehr ganz nüchtern, da ich vor Ninas Rückkehr bereits allein gefeiert<br />
hatte. Laut stellte ich das Glas auf den Tisch und schenkte nach.<br />
Der Sekt perlte über den Rand.<br />
„Es ist doch egal, wie sie heißt“, sagte ich viel zu laut. „Und es ist auch<br />
egal, wo sie wohnt oder wie ihre Telefonnummer ist. Sie hat Maurice<br />
gerettet und sich dabei den Fuß verknackst. Für das eine habe ich<br />
mich bedankt, mehrmals, wie du dir vorstellen kannst. Und um ihren<br />
Fuß hat sie sich meinen Verband gewickelt und ich habe ihr angeboten,<br />
sie zum Arzt zu fahren, was sie abgelehnt hat. Das sind die Fakten.<br />
Und damit ist die Geschichte auch schon zu Ende. Sie hat weiter<br />
keinen Spannungsbogen, was auch gut ist so.“<br />
Als ich fertig war gönnte ich mir erstmal einen Schluck.<br />
57
„Wir hätten ihr wenigstens einen Blumenstrauß schicken können“, beharrte<br />
Nina. „Oder ich hätte sie mal zum Tee eingeladen.“<br />
Ich fragte mich, warum sie mich so damit nervte. Dabei hatte es nur<br />
einen Grund dafür gegeben, dass ich mir ihre Telefonnummer nicht<br />
hatte geben lassen, nur einen einzigen.<br />
Zuerst hatte ich Maurices Retterin als Person nicht weiter beachtet.<br />
Mein Schock, meine Verwirrung und meine Dankbarkeit waren so<br />
groß, dass ich nicht den geringsten Sinn dafür hatte, wie sie aussah<br />
oder auf mich wirkte.<br />
Erst als sie im offenen Kofferraum meines Autos saß und mir ihren angeschlagenen<br />
Fuß zum Verbinden hinhielt, änderte sich das. Hätte sie<br />
sich aber bis dahin plötzlich in Luft aufgelöst, ich hätte nicht mal eine<br />
Personenbeschreibung von ihr abgeben können.<br />
‚Groß’, hätte ich vielleicht gesagt. ‚Ziemlich groß und schlank. Und sie<br />
hatte kurzes, blondes Haar.’<br />
Damit wäre Schluss gewesen.<br />
Ihr Fuß war für ihre Körpergröße klein, fast zierlich. Sie hatte den<br />
Schuh abgestreift. Ich war sicher, dass das Fußgelenk leicht geschwollen<br />
war, aber sie stritt es ab.<br />
„Das sieht immer so aus“, beharrte sie. „Ich hab so komische Füße.“<br />
‚Komisch ist was anderes’, dachte ich. Aber ich sagte nichts, sondern<br />
holte einen Verband aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Ich zog die Plastikfolie<br />
ab und überlegte, wie ich anfangen sollte.<br />
Sie hatte ihre Jeans bis zum Knie hochgezogen. Genau wie ihre Füße<br />
waren auch ihre Waden leicht gebräunt und von sanft geschwungener<br />
Form. Ich setzte mich neben sie in den Kofferraum und sie legte<br />
ihren Fuß auf meinen Oberschenkel. Es tat ihr weh, aber sie bemühte<br />
sich krampfhaft, sich nichts anmerken zu lassen. Ich fing an, den Verband<br />
um ihr Gelenk zu wickeln.<br />
„Wohnen Sie hier?“ Ich musste irgendwas sagen, weil die weiche Haut<br />
ihrer Waden mich mehr in Anspruch nahm als mir lieb war.<br />
„Ich wohne in Hamburg“, sagte sie und irgendwie klang es vorsichtig.<br />
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59<br />
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Als dürfe es eigentlich niemand wissen. Meine Phantasie war ziemlich<br />
überreizt.<br />
„Aber wahrscheinlich ziehe ich bald in diese Gegend“, fügte sie<br />
schließlich hinzu.<br />
„Haben Sie einen Job gefunden?“, fragte ich. Eine andere Erklärung<br />
fiel mir nicht ein, warum jemand aus Hamburg ausgerechnet hierher<br />
kommen sollte. Es wimmelte nur so von Arbeitslosen, aber zum<br />
Sommer hin gab es doch immer wieder Möglichkeiten im Tourismusgeschäft.<br />
„Noch nicht“, sagte sie unbestimmt.<br />
„Was treibt Sie dann hierher?“ Wenn ich wollte, konnte ich ganz<br />
schön penetrant sein mit meiner Fragerei. Und plötzlich wollte ich.<br />
„Und nun sagen Sie nicht, die schöne Gegend.“<br />
„Doch“, lächelte sie. „Die schöne Gegend.“<br />
Überhaupt hatte ihr Gesicht sich jetzt etwas entspannt. Die Schmerzen<br />
schienen allmählich nachzulassen. An meinem Verband konnte<br />
das kaum liegen. Wenn ich ihn mir so ansah, war stümperhaft noch<br />
pure Schmeichelei. Sie lachte und nahm die Sache selbst in die Hand.<br />
Das Lachen war das zweite, das mir an ihr auffiel. Es war natürlich und<br />
ungezwungen und ohne jede Übertreibung. Die meisten Menschen<br />
lachen zu laut oder zu schrill. Sie glucksen oder trauen sich nicht richtig.<br />
„Im Ernst“, sagte sie. „Mir gefällt es hier. Das Meer, der weite Himmel,<br />
die ruhige, klare Landschaft. Alles ist so …“, sie suchte nach den richtigen<br />
Worten, mir fiel ihr Mund auf, die Lippen ungeschminkt und eher<br />
schmal als breit, „ … alles ist so übersichtlich. Das gefällt mir sehr.“<br />
Ich musste lächeln, weil ich das Gleiche auch über ihr Gesicht hätte<br />
sagen können. Es war klar und offen und es gefiel mir sehr.<br />
„Und wie kommen Sie gerade auf diese gottverlassene Gegend?“,<br />
fragte ich. Die Zahl der Neuansiedler an diesem Küstenstreifen war<br />
seit vielen Jahren eher gering. Die meisten Menschen schienen nicht<br />
mal zu wissen, dass es diese Ecke des Landes überhaupt gab.<br />
„Ich hab hier mal Urlaub gemacht“, sagte sie und war mit dem Ver-<br />
60
Anzeige<br />
band jetzt schon viel weiter als ich zuvor in der doppelten Zeit. Ihre<br />
Hände bewegten sich schnell und geschickt. „Ist lange her. Aber ich<br />
hab das alles nie vergessen.“<br />
„Haben Sie niemand in Hamburg?“ Ich befürchtete sofort, dass diese<br />
Frage vielleicht zu weit ging, aber sie schien das nicht so zu sehen.<br />
„Ich trenne mich gerade von meinem Mann“, sagte sie. „Und ich hab<br />
eine kleine Erbschaft gemacht, sodass ich mir meinen Traum erfüllen<br />
und wenigstens eine Weile hier leben kann.“<br />
Sie war fertig mit dem Verband. Ich riss zwei Streifen Pflaster ab und<br />
reichte sie ihr zum Verkleben.<br />
Dass jemand davon träumen<br />
konnte, hier zu leben, überstieg<br />
meine Vorstellungskraft.<br />
Ich hab schon immer in dieser<br />
Gegend gelebt. Ich bin hier geboren<br />
und aufgewachsen. Mein<br />
halbes Leben lang hab ich mich<br />
mit dem Gedanken geplagt,<br />
fort zu gehen von hier, und die<br />
andere Hälfte versucht, mich<br />
damit abzufinden, dass ich den<br />
Absprung doch niemals schaffen<br />
würde. Meine Wurzeln an<br />
dieser Küste saßen tiefer als ich<br />
es mir wünschte.<br />
„Außerdem ist es keine gottverlassene<br />
Gegend“, meinte<br />
sie plötzlich und schaute mich<br />
aufmerksam an. „Sagen Sie so<br />
was nicht.“ Ihre Blicke waren<br />
von großer Intensität, gleichzeitig<br />
aber fast scheu. Die Augen<br />
waren groß, ihre Farbe eine Mi-<br />
61
schung aus grau und grün.<br />
„So“, sagte ich und stand auf, denn Hübner und das ausstehende Telefonat<br />
waren mir wieder in den Sinn gekommen. Maurice war mittlerweile<br />
in seinem Kindersitz eingeschlafen. „Und warum nicht, wenn<br />
ich fragen darf?“<br />
„Weil Sie dann nicht hier leben würden“, sagte sie sicher und kam<br />
ebenfalls hoch. „Nicht mit Ihrem tollen, kleinen Sohn. Sie wären dann<br />
schon längst woanders. Meinen Sie nicht?“<br />
„Da haben Sie vielleicht sogar Recht“, sagte ich und lächelte sie an.<br />
In diesem Augenblick wollte ich sie fragen, wie sie heißt. Und ich wollte<br />
sie nach ihrer Handynummer fragen. Und es gab einen Grund, warum<br />
ich es nicht machte: Ihre letzten Worte und wie sie mich dabei<br />
angesehen hatte. Beides hatte etwas in mir angerührt, das sehr tief<br />
saß. Ich hatte keine Ahnung, was es war, aber es fühlte sich gut an.<br />
Ein bisschen zu gut. Trotz all der Schwierigkeiten, die Nina und ich<br />
miteinander hatten, hatte ich doch all die Jahre noch nie ernsthaft<br />
an eine andere Frau gedacht. Und ich wollte auch nicht, dass sich das<br />
änderte.<br />
Da ihr Schuh nicht über den Verband passte, streifte sie auch den<br />
zweiten ab und ging barfuss zu ihrem Auto. Ich fand, dass es mit dem<br />
Gehen schon wieder ganz gut klappte.<br />
Sie stieg in einen kleinen roten Fiat. Nachdem sie den Motor gestartet<br />
hatte, winkten wir uns noch einmal zu. Dann fuhr auch ich los. Ich versuchte,<br />
meine Gedanken abzuschütteln wie einen Traum, mit dem ich<br />
nichts anfangen konnte.<br />
Als ich zu Hause ankam, klingelte das Telefon. Hübner entschuldigte<br />
sich, weil er sich mit seinem Anruf verspätet hatte.<br />
62
Kapitel 10<br />
Jetzt erfuhr ich ihren Namen. Sie hieß Lara Braun. Charlotte stellte<br />
uns einander vor, als wir in ihrer Haustür aneinander vorbei gingen.<br />
„Wir haben uns schon kennen gelernt“, sagte Lara zu Charlotte. Dann<br />
fragte sie mich nach Maurice: „Wie geht es ihm?“<br />
„Wie geht es Ihrem Fuß?“, fragte ich zurück.<br />
„Alles wieder in Ordnung. Hier, schauen Sie.“<br />
Lara hob den Fuß ein Stück in die Luft und ließ ihn im Gelenk kreisen.<br />
Heute hatten ihre Schuhe keine Absätze.<br />
„War nichts Schlimmes“, sagte sie. „Schon am nächsten Tag habe ich<br />
nichts mehr gespürt.“ Dann wiederholte sie ihre Frage nach Maurice:<br />
„Wie geht es ihm? Ist er gar nicht hier?“<br />
„Wenn wir hier sind“, antwortete ich und lächelte Charlotte an, „geht<br />
es ihm immer gut. Inzwischen ist er fast lieber hier als zu Hause. Da<br />
kommt er übrigens gerade.“<br />
Maurice versteckte sich hinter der halb geöffneten Küchentür und<br />
schielte zu uns herüber. Lara ging zu ihm und er strahlte sie sofort an.<br />
Sie spielte „Kuckuck“ mit ihm, eine Minute später lachte er laut. Ganz<br />
sicher hatte sie die richtige Arbeit gewählt.<br />
„Haben Sie eigene Kinder?“, fragte ich.<br />
„Nein“, sagte sie. „Leider nicht.“<br />
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, meinte ich. „Sie sind noch sehr<br />
jung.“<br />
„Wenn Sie fünfunddreißig sehr jung nennen“, lachte sie, „dann haben<br />
Sie Recht. Aber im Ernst, ich glaube, in meinem Leben ist es für eigene<br />
Kinder zu spät.“<br />
Ich hätte noch gern weiter mit ihr geredet, aber der Rahmen dafür<br />
war denkbar ungeeignet: Ich in der offenen Haustür, sie auf dem Fußboden<br />
bei Maurice hockend. Und neben uns Charlotte, die uns aufmerksam<br />
beobachtete.<br />
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Lara übernahm zunächst stundenweise die Vormittagsgruppe. Wenn<br />
Charlotte zur Therapie jeweils ein paar Tage im Krankenhaus war,<br />
würde sie dann ganz übernehmen.<br />
Sie machte ihre Sache in der Gruppe gut. Nur wenn alle Kinder da<br />
waren, war es nicht immer ganz einfach.<br />
Aber die Kinder mochten sie, was das Wichtigste war. Vor allem Maurice<br />
behandelte Lara wie eine gute Freundin. Ich war mir nicht sicher,<br />
aber vielleicht erkannte er sie als seine Retterin wieder.<br />
Lara hatte von Anfang an einen besonderen Draht zu Maurice, was<br />
ich mir mit der besonderen Art erklärte, in der sie ihn kennen gelernt<br />
hatte. Da Maurice der Bevorzugte war, erhob ich keine Einwände.<br />
Wie schon bei Charlotte, so blieb ich auch bei Lara immer noch eine<br />
Weile bei den „Seepferdchen“, nachdem ich Maurice gebracht hatte.<br />
Anfangs hatte ich das Gefühl, dass meine Gegenwart sie eher verunsicherte,<br />
aber das änderte sich schnell. Schließlich versuchte sie sogar,<br />
mich in ihre Arbeit einzuspannen.<br />
„Wenn Sie schon hier sind“, sagte sie keck, „wie wär’s, wenn Sie ein<br />
bisschen mithelfen.“<br />
„Ein anderes Mal vielleicht“, sagte ich und lachte. „Jetzt muss ich leider<br />
los. Meine eigene Arbeit wartet auf meinem Schreibtisch.“<br />
Sie begleitete mich zur Haustür.<br />
„Dann kann man wohl nichts machen.“<br />
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Irrte ich mich oder klang das ein bisschen enttäuscht?<br />
„Nein“, sagte ich und ging langsam Richtung Tür. „Das kann man wohl<br />
nicht.“ Einen Moment hielt ich inne. „Na ja, dann werd ich also mal.“<br />
„Okay. Holen Sie Maurice nachher wieder selbst ab?“<br />
Ich hatte keine Ahnung, warum sie das fragte. Ich holte Maurice immer<br />
selbst ab. Wer sollte ihn auch sonst holen? Nina war die ganze<br />
Woche in Kiel. Aber auch, wenn sie in Wilhelmshaven war, hatte sie<br />
mittags nie Zeit.<br />
„Ja, natürlich“, sagte ich. „Also bis dann.“<br />
„Schön. Dann sehen wir uns ja noch. Bis dann.“<br />
Wir sahen uns ein paar Augenblicke länger an als nötig. Dann ging sie<br />
zurück zu den Kindern. Ich schaute ihr hinterher, bis sie im Zimmer<br />
verschwunden war. Vorher drehte sie sich noch einmal um und wir<br />
lächelten uns zu.<br />
Als ich schließlich vor dem Haus stand und die Sonne mir ins Gesicht<br />
schien, fragte ich mich, was um alles in der Welt eigentlich mit mir los<br />
war.<br />
Am nächsten Morgen stand ich schon um halb sechs statt um acht<br />
Uhr auf.<br />
Um sechs Uhr fand ich mich bereits mit einem großen Becher Kaffee<br />
an meinem Schreibtisch wieder, draußen war es noch dunkel. Ich<br />
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wischte mir mit beiden Händen den letzten Schlaf aus dem Gesicht<br />
und schaltete den Laptop ein. Nach einer kurzen Aufwärmphase begann<br />
ich zu schreiben. Wenn ich jetzt schon arbeitete, konnte ich es<br />
mir später erlauben, zwei Stunden des Vormittags bei den „Seepferdchen“<br />
zu verbringen. Ich hatte Lara für diesen Tag zugesagt, ihr ein<br />
bisschen zu helfen.<br />
Als erstes machten wir einen Morgenkreis. Wir saßen mit den Kleinen<br />
zusammen auf dem Fußboden, sangen ein paar Lieder und spielten<br />
Spiele wie Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht rum.<br />
Danach frühstückten wir, malten Bilder, schnitten kleine Formen aus<br />
Tonpapier. Später gingen wir in den Garten, in dem sich ein kleiner<br />
Spielplatz befand. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dies alles ohne<br />
Charlotte zu sehen. Es war ihr Haus, ihr Garten und es war ihre Gruppe.<br />
Ich erinnerte mich daran, wie oft ich sie hier hatte arbeiten sehen.<br />
Aber wieder fand ich, dass Lara ihre Sache gut machte. Charlotte hatte<br />
eine würdige Vertreterin gefunden.<br />
Ich für meinen Teil musste zugeben, dass die Arbeit mit der Horde<br />
Kinder mir schnell auf die Nerven ging. Es war etwas anderes, mich zu<br />
Hause allein mit Maurice zu beschäftigen, den ich liebte, als hier mit<br />
Kindern, die oft schon reichlich verzogen waren. Bekamen sie ihren<br />
Willen nicht, schrien sie, was das Zeug hielt und waren nur schwer<br />
wieder zu beruhigen.<br />
Insgeheim sehnte ich mich bereits nach fünf Minuten an meinen ruhigen<br />
Arbeitsplatz am Schreibtisch zurück. Und eins gebe ich ohne<br />
Umschweife zu: Wäre Lara nicht gewesen, hätte ich die Sache keine<br />
Viertelstunde durchgehalten. So aber verbrachte ich statt der geplanten<br />
zwei glatte dreieinhalb Stunden bei den „Seepferdchen“ und ging<br />
auch dann nur, weil es vorbei war.<br />
„Haben Sie etwas von Charlotte gehört?“, fragte ich, nachdem ich mir<br />
meine Jacke über die Schulter gehängt hatte. Zum Anziehen war es zu<br />
warm geworden.<br />
„Nein“, sagte Lara, „aber in zwei Tagen kommt sie erstmal wieder<br />
nach Hause.“<br />
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67<br />
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„Dann sind Sie also nicht mehr hier?“<br />
Ich hörte, wie Enttäuschung in meiner Stimme mitschwang. Obwohl<br />
es mich für Charlotte freute, wenn sie wieder nach Hause kam. Lara<br />
sagte, sie glaube leider nicht, dass Charlotte ihre Arbeit ohne weiteres<br />
wieder aufnehmen könne.<br />
„So eine Chemotherapie ist sehr Kraft raubend“, erklärte sie. „Das<br />
weiß ich von Charlotte. Es ist ja nicht das erste Mal, dass sie diese<br />
Tortor mitmacht.“<br />
„Ja“, sagte ich. „Davon hat sie mir erzählt.“<br />
Ich wunderte mich selbst, wie froh ich war, dass Lara ihre Arbeit hier<br />
nicht beenden würde. Jedenfalls nicht so bald.<br />
„Glauben Sie …?“, fragte sie zögernd. Sie fand die richtigen Worte<br />
nicht.<br />
„Ob ich glaube“, half ich ihr, „dass sie wieder gesund wird? Das weiß<br />
ich nicht. Aber ich denke nicht, dass es leicht sein wird, die Krankheit<br />
erneut zu besiegen.“<br />
Wir schauten uns nicht an. Ich hatte das dringende Bedürfnis, noch<br />
mal das Thema zu wechseln, bevor ich verschwand.<br />
„Soll ich … also darf ich“, stammelte ich.<br />
Lara lachte.<br />
„Nein, das brauchen Sie nicht, Herr Thailer. Ich komme morgen schon<br />
wieder alleine klar. Aber ich danke Ihnen, dass Sie mir heute geholfen<br />
haben.“<br />
Innerlich wischte ich mir gewissermaßen den Schweiß von der Stirn,<br />
versuchte aber, mir davon nichts anmerken zu lassen. Gleichzeitig war<br />
ich enttäuscht.<br />
„Können wir uns dann vielleicht mal“, stammelte ich „… ich meine …<br />
mal nachmittags treffen. Auf einen kleinen Strandspaziergang oder<br />
so. Muss ja nichts Großes sein.“<br />
Zuerst schien sie ein bisschen nervös zu werden. Dann sah sie mich<br />
nachdenklich an.<br />
„Ich glaube“, sagte sie schließlich nach einer kleinen Ewigkeit, „es ist<br />
besser, wenn wir das nicht machen. Oder?“<br />
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Ich musste zweimal schlucken. Enttäuschung bohrte sich wie ein Messer<br />
zwischen meine Rippen, wovon ich selbst übertölpelt war.<br />
„Doch“, sagte ich in purer Selbstverleugnung, „Sie haben sicher<br />
Recht.“<br />
Ich nahm Maurice bei der Hand, ging zur Tür und öffnete sie.<br />
„Also dann.“<br />
„Bis morgen“, sagte Lara und blieb in der Tür stehen.<br />
Ich ging den gepflasterten Weg zur Straße, wo mein Auto stand.<br />
„Ach, Herr Thailer …?“, rief sie mir hinterher.<br />
Mein Herz schlug schneller. Schneller und höher. Ich war mir selbst<br />
fremd, aber es war nicht unangenehm.<br />
„Ja?“ Ich drehte mich um. Maurice an meiner Hand ebenfalls.<br />
„Danke noch mal für die Hilfe“, sagte sie. „Es hat Spaß gemacht mit<br />
Ihnen.“<br />
„Wirklich keine Ursache“, sagte ich lächelnd und dachte noch einmal<br />
daran, wie unbeholfen ich mich in manchen Situationen angestellt<br />
hatte.<br />
Lara lächelte zurück. Ich war schon eine Weile aus ihrem Sichtfeld<br />
verschwunden, da hörte ich erst, wie hinter der Hecke die Haustür ins<br />
Schloss fiel.<br />
Kapitel 11<br />
Den ganzen Nachmittag und Abend versuchte ich, mit meinem Roman<br />
weiterzukommen, aber es gelang mir kaum.<br />
Immer wieder gingen meine Gedanken zu Charlotte, die jetzt im Krankenhaus<br />
lag und tapfer die verhasste Chemotherapie über sich ergehen<br />
ließ.<br />
Und immer wieder dachte ich an Lara.<br />
Ich dachte an ihr Lächeln, an das kleine Grübchen, das ich links neben<br />
ihrem Mund entdeckt hatte. Und ich erwischte mich dabei, wie ich<br />
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selbstvergessen zurücklächelte statt zu arbeiten. Ich dachte an ihren<br />
sanften und verführerischen Hüftschwung beim Gehen und mir wurde<br />
heiß und kalt im gleichen Moment.<br />
Als es plötzlich an der Tür klingelte, erschrak ich. Schon tagsüber bekam<br />
ich so gut wie nie Besuch, aber abends noch seltener. Es war<br />
schon weit nach neun. Ich entschied mich, nicht zu öffnen.<br />
Aber dann dachte ich, dass es vielleicht Nina war. Möglicherweise war<br />
sie krank geworden, stand jetzt vor der Tür und fand so schnell ihren<br />
Schlüssel nicht.<br />
Auf dem Weg zur Tür dachte ich, dass es auch ein Nachbar sein könnte,<br />
der zu einer der üblichen Feiern einlud, zu denen ich am Ende<br />
doch nie ging. Ich öffnete trotzdem. Vor der Tür stand Lara. Sie lächelte<br />
verlegen und sagte sofort, was sie wollte:<br />
„War ich unhöflich vorhin?“ Es klang unsicher.<br />
„Nein, äh, unhöflich? … Aber wieso? Nein, äh … Kommen Sie doch<br />
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herein.“ So viel zusammengestottert wie die letzten Tage hatte ich<br />
schon lange nicht mehr.<br />
„Ich möchte mich trotzdem dafür entschuldigen.“<br />
„Was ist?“, fragte ich. „Kommen Sie kurz herein?“<br />
„Nein“, sagte sie. „Ich weiß nicht. Ihre Frau will doch sicher ihren Feierabend<br />
…?“<br />
„Meine Frau ist nicht da“, antwortete ich schnell und öffnete die Tür<br />
in voller Weite. „Wir sind allein, Maurice und ich. Er schläft. Nun kommen<br />
Sie schon. Auf ein Glas Wein. Ich wollte sowieso grad eine Flasche<br />
köpfen.“<br />
„Nein“, erwiderte sie. „Das ist unmöglich. Und deshalb bin ich auch<br />
nicht gekommen.“<br />
„Natürlich nicht“, sagte ich. „Das ist mir klar.“<br />
„Ich hab nur einen kleinen Spaziergang gemacht“, meinte sie. „Und<br />
da ich praktisch zwangsläufig an Ihrem Haus vorbeigekommen bin,<br />
dachte ich mir …“ Sie hielt mitten im Satz inne, als wisse sie nicht<br />
recht weiter. Tatsächlich hatte sie inzwischen eine Wohnung ganz in<br />
der Nähe gemietet.<br />
„Ja?“, hakte ich nach. „Was dachten Sie sich?“<br />
„Ich dachte mir, da klingelst du mal und entschuldigst dich für dein<br />
unhöfliches Verhalten. Ich finde das wirklich unmöglich von mir … ich<br />
… ich hab mich ja benommen, als würden Sie …“.<br />
„Als würde ich was?“<br />
„Na, als würden Sie irgendetwas Bestimmtes verfolgen mit Ihrer<br />
harmlosen Einladung zum Spaziergang.“<br />
Ich hatte einen Frosch im Hals und räusperte mich.<br />
„Dabei weiß ich natürlich“, sagte sie, „dabei habe ich das natürlich<br />
nicht wirklich gedacht, sondern es ist einfach so …“<br />
Unwillkürlich musste ich lächeln. Sie stotterte noch mehr als ich.<br />
„Wollen Sie nicht doch lieber reinkommen? Da redet es sich besser.<br />
Und wie gesagt, der Wein…“<br />
„Nein danke“, sagte sie. „Wirklich nicht, ich … ich hätte nur auch gern<br />
Ihre Frau mal kennen gelernt. Weil sie die Mutter von Maurice ist,<br />
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meine ich. Also, ich werd dann mal wieder.“<br />
Sie redete viel schneller als für sie üblich.<br />
Sie war ungefähr einen halben Kopf kleiner als ich. Ihre Absatzschuhe<br />
schon abgerechnet. Ich selbst war barfuss ¬– eine alte Angewohnheit<br />
von mir, sobald ich zu Hause war. Die Blicke ihrer graugrünen Augen<br />
huschten an mir vorbei. Entgegen ihrer Ankündigung machte sie<br />
keinerlei Anstalten zu gehen. Sie blieb einfach stehen und ich hatte<br />
nichts dagegen.<br />
„Also dann“, wiederholte sie.<br />
Irgendwas an ihr wirkte unglücklich. Nichts, was mit diesem Augenblick<br />
zu tun hatte, sondern etwas, das immer da war. Es war nicht das<br />
erste Mal, dass es mir auffiel.<br />
„Ich werd Sie auch nicht beißen ….“ Mein Lächeln war nett und harmlos.<br />
„Versprochen.“<br />
Sie stand weiter nur da.<br />
„Ist das jetzt nicht wieder unhöflich?“, fragte ich. „Ich lade Sie ein und<br />
Sie sagen nichts? Vielleicht sollten wir mal im Knigge nachschauen.“<br />
Sie lachte ein bisschen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.<br />
„Stimmt. Sorry.“<br />
„Wir sollten über Maurice reden“, schlug ich vor. „Schließlich ist er<br />
unser gemeinsames Thema.“<br />
Sie sah mich an, als würde sie nicht verstehen.<br />
„Er ist mein Sohn“, erklärte ich lächelnd, „und Sie seine Betreuerin.<br />
Schon vergessen?“<br />
„Ach so, ja, natürlich“, lachte sie erleichtert. „Ich meine, natürlich<br />
nein. Natürlich hab ich das nicht vergessen. Ich dachte nur gerade<br />
… entschuldigen Sie. Ich bin irgendwie etwas durcheinander heute.“<br />
„Wie wär’s“, schlug ich vor, „wenn Sie aufhören, sich andauernd zu<br />
entschuldigen und einfach hereinkommen. Es ist ganz schön frisch<br />
hier draußen.“<br />
Unsere Blicke gingen zeitgleich zu meinen nackten Füßen und wir<br />
lachten. Trotzdem zögerte sie weiter. Und nicht nur pro forma: Sie<br />
zögerte wirklich. Sie kämpfte mit sich. Dann plötzlich, jetzt schon fast<br />
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unerwartet, gab sie sich einen Ruck. Ohne ein weiteres Wort ging sie<br />
an mir vorbei ins Haus. Sie rannte fast. Ich wurde nicht schlau aus ihr.<br />
„Sind Sie inzwischen von Ihrem Mann getrennt?“<br />
Die Frage brannte mir auf der Zunge, seit Lara mit mir an unserem<br />
Esszimmertisch saß. Aber erst jetzt, nach zwei Stunden, stellte ich sie.<br />
Ich wollte sie nicht wieder durch eine missverständliche Äußerung in<br />
Verlegenheit bringen.<br />
Gerade aber hatte sie selbst Hamburg erwähnt und die Gelegenheit<br />
schien mir günstig. Bei unserer ersten Begegnung auf dem Parkplatz<br />
des Supermarktes hatte sie von der anstehenden Trennung gesprochen.<br />
Aber die Frage behagte ihr nicht.<br />
„Natürlich sind wir getrennt“, antwortete sie notgedrungen und fuhr<br />
sich nervös mit den Fingern durchs Haar. „Sonst wäre ich ja in Hamburg<br />
und nicht hier.“<br />
Plötzlich befürchtete ich, sie könnte einfach aufstehen und gehen.<br />
Das war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. Die letzten Stunden<br />
waren wie im Flug vergangen.<br />
„Manche Paare“, sagte ich, „leben unter der Woche getrennt, verbringen<br />
aber die Wochenenden gemeinsam.“<br />
„Dazu gehören wir nicht“, meinte sie gereizt. Sie ließ ein paar ihrer<br />
kurzen Haarsträhnen unruhig durch die Finger gleiten. „Unsere Trennung<br />
ist absolut. Wir werden uns nie wieder sehen.“<br />
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73
„Vielleicht ist es dann ganz gut“, sagte ich, „dass Sie keine Kinder haben?“<br />
„Ja“, sagte sie. „Das ist sicher gut.“<br />
Sie versuchte zu lächeln. Der Versuch stand verloren neben ihren<br />
Worten. Plötzlich konnte ich nicht anders, als vorsichtig ihr Gesicht<br />
zu streicheln.<br />
„Was ist passiert?“, fragte ich leise.<br />
Prüfend sah sie mich an. Offenbar bestand ich die Prüfung nicht.<br />
„Es ist besser“, sagte sie und stand auf, „wenn ich jetzt gehe.“<br />
„Aber warum denn? Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahegetreten<br />
bin. Können Sie es nicht einfach vergessen? Es ist nicht wichtig. Ich<br />
hatte nur plötzlich das Gefühl … wenn ich da falsch gelegen habe …“<br />
Ich kam ebenfalls hoch, aber Lara war schon fast bei der Tür. Ich lief<br />
ihr hinterher.<br />
„Ich weiß“, sagte ich, „dass mich die Sache mit Ihrem Mann nichts angeht.<br />
Ich bin oft viel zu neugierig. Entschuldigen Sie.“<br />
„Ist schon in Ordnung“, sagte sie. „Sie sind mir weder zu nahe getreten<br />
noch zu neugierig. Ich kann nur einfach nicht darüber reden.<br />
Noch nicht.“<br />
„Dann lassen sie uns doch einfach über etwas anderes reden“, schlug<br />
ich vor. „Irgendwas anderes.“<br />
Jetzt lächelte sie ein bisschen.<br />
„Ich glaub, einen Themenwechsel schaffe ich heute Abend nicht<br />
mehr“, sagte sie. „Vielleicht ein anderes Mal.“<br />
„Vielleicht?“<br />
„Von mir aus auch mehr als vielleicht“, meinte sie.<br />
„Wie wär’s mit sicher“, schlug ich vor. „Solange Sie mir das nicht versprechen,<br />
lass ich Sie hier nicht raus.“<br />
Scherzhaft versperrte ich ihr den Weg. Ihr Lächeln erstarb augenblicklich.<br />
Fast panisch drängte sie sich an mir vorbei.<br />
„Tut mir leid“, sagte sie ernst. „Aber ich verspreche Ihnen gar nichts.<br />
Ich muss jetzt wirklich gehen.“<br />
Ich war vollkommen ratlos.<br />
74
„Gute Nacht“, sagte sie förmlich und öffnete die Tür. „Danke für die<br />
Einladung. Es war nett, mal etwas länger mit Ihnen zu reden.“<br />
Sie reichte mir die Hand und ging los.<br />
„Halt!“, rief ich. „Warten Sie! Ich kann Sie doch jetzt nicht allein gehen<br />
lassen. Mitten in der Nacht.“<br />
„Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, sagte sie. „Ich kann mich<br />
wehren.“<br />
Sie drehte sich nicht mehr um.<br />
Kapitel 12<br />
Als ich Maurice am nächsten Morgen bei den „Seepferdchen“ ablieferte,<br />
benahm Lara sich, als sei nichts passiert. Sie war freundlich wie<br />
immer, wenn auch eine Spur unverbindlicher. Fast war es, als habe<br />
der zurückliegende Abend sich nur in meiner Phantasie abgespielt.<br />
„Also“, sagte ich beim Gehen, „dann bis heute Mittag.“<br />
Ich wartete weiter auf ein Zeichen. Auf etwas, das eine Verbindung<br />
zum letzten Abend herstellte, aber es kam nichts.<br />
„Bis heute Mittag“, sagte sie lächelnd. „Könnten Sie vielleicht zehn<br />
Minuten früher kommen als sonst? Ich würde gern eher Feierabend<br />
machen.“<br />
„Kein Problem“, meinte ich.<br />
„Prima“, sagte sie. „Ich würde nämlich gern bei Charlotte im Krankenhaus<br />
vorbeischauen und ihr ein paar Sachen bringen. Sie hat mich<br />
darum gebeten.“<br />
„Oh.“ Bisher war ich davon ausgegangen, dass sie an diesem Tag wieder<br />
nach Hause kommen würde. „Dauert es doch länger?“<br />
„Es scheint so, ja.“ Lara machte ein besorgtes Gesicht.<br />
„Gibt es irgendwelche Komplikationen?“, fragte ich.<br />
„Das hat sie so direkt nicht gesagt“, entgegnete Lara. „Sie meinte nur,<br />
es würde ein paar Tage länger dauern.“<br />
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77<br />
Anzeige
Wir sahen uns ein paar Augenblicke an, ohne etwas zu sagen. Lara<br />
schien mit ihren Gedanken nur bei Charlotte.<br />
„Gut“, sagte ich schließlich. „Ich werde heute Mittag eher da sein.“<br />
„Das ist schön“, meinte sie und verschwand mit Maurice im Haus.<br />
Wie bedeppert stand ich vor der Tür.<br />
Ich versuchte zu schreiben, aber außer einer halben Seite, die ich am<br />
Ende wieder löschte, kam an diesem Morgen nichts zustande.<br />
Nina rief an. Sie sagte, ihr derzeitiger Auftrag würde sie länger beschäftigen<br />
als zunächst angenommen. Zwei Tage musste sie dranhängen.<br />
„Wenn es so ist“, antwortete ich, „dann ist es nicht zu ändern.“<br />
Ich bemühte mich, Bedauern in meine Stimme zu legen. Gleichzeitig<br />
wollte ich ihr nicht das Gefühl geben, Maurice und ich würden es allein<br />
nicht schaffen.<br />
Nach ungefähr fünf Minuten beendete Nina das Gespräch. Ich blieb<br />
noch eine Weile auf der Tischkante sitzen, das Telefon in der Hand.<br />
Nachdenklich starrte ich vor mich hin. Ich hatte mich um Bedauern<br />
bemühen müssen. Im Gegensatz zu sonst fühlte ich es nicht wirklich.<br />
Ich war mir selbst fremd. Ehrlichkeit, gerade Nina gegenüber, war mir<br />
immer wichtig gewesen. Was war los mit mir? Was war los mit Nina<br />
und mir?<br />
Statt der angepeilten zehn Minuten klingelte ich eine glatte halbe<br />
Stunde früher als sonst bei den „Seepferdchen“. Mir öffnete ein circa<br />
siebzehnjähriges Mädchen, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Sie<br />
war etwas übergewichtig, pausbäckig und hatte ihr langes, zotteliges<br />
Haar hinten zusammengebunden. Etwas unsicher, aber nicht unsympathisch<br />
lächelte sie mich an. Sie sagte, ihr Name sei Sandra.<br />
„Ich bin die neue Praktikantin“, erklärte sie. „Ich mache eine Ausbildung<br />
zur Kinderpflegerin.“<br />
Ins Haus ließ sie mich erst, nachdem auch ich mich ordnungsgemäß<br />
vorgestellt hatte.<br />
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„Ich bin der Vater von Maurice“, erklärte ich. „Sicher haben Sie ihn<br />
schon kennen gelernt.“<br />
Sie meinte, das habe sie natürlich und Maurice sei ein süßer kleiner<br />
Kerl. Sie wirkte ein wenig altklug.<br />
„Ja“, sagte ich lächelnd. „Das ist er.“<br />
Wir standen jetzt in der offenen Tür des Spielzimmers. Maurice lag<br />
mit zwei anderen Kindern in der großen Kugelkiste. Er war fast ganz<br />
darin versunken, nur sein Kopf guckte noch heraus, er schien etwas<br />
aufgedreht, lächelte mir aber zu.<br />
„Frau Braun gar nicht da?“, fragte ich.<br />
„Lara ist im Büro“, sagte die Praktikantin. „Ich glaube, sie telefoniert.“<br />
Sie war stolz darauf, auf Du und Du mit ihrer Anleiterin zu sein und<br />
machte ein wichtiges Gesicht. Ich unterdrückte ein Grinsen und ging<br />
zum Büro. Die Tür war angelehnt. Ich hörte Laras Stimme, sie telefonierte<br />
tatsächlich. Vorsichtig klopfte ich an, aber sie schien mich nicht<br />
zu hören. Ich wartete kurz.<br />
„Doch, Katja“, hörte ich Lara sagen. „Ich werde mich ganz sicher wieder<br />
melden. Im Moment ist nur alles etwas schwierig. Ich …“. In diesem<br />
Moment sah sie mich und erschrak. Ihr angefangener Satz blieb<br />
unvollendet im Raum hängen. Mit dem Telefon in der Hand saß sie<br />
auf der Schreibtischkante und ließ mich nicht aus den Augen. Entschuldigend<br />
hob ich die Hand und legte dann den Zeigefinger auf den<br />
Mund zum Zeichen, dass ich mich ruhig verhalten würde.<br />
„Gut, Katja“, beendete Lara trotzdem das Gespräch. „Wir reden dann<br />
ein anderes Mal weiter. Ja, ich ruf dich an. Okay.“<br />
Sie legte auf, kam vom Schreibtisch hoch, sah mich fragend an. Der<br />
Schrecken über mein plötzliches Auftauchen war ihr noch immer anzusehen.<br />
„Entschuldigen Sie“, sagte ich endlich. „Es tut mir leid, wenn ich hier<br />
so reingeplatzt bin. Ich hatte geklopft, aber ...“<br />
„Kein Problem“, meinte sie. „Setzen Sie sich doch.“<br />
Lara nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz. Ordentlich<br />
schob sie einige Papiere zu einem kleinen Stapel zusammen.<br />
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Anzeige<br />
„Außerdem muss ich mich viel mehr bei Ihnen entschuldigen“, sagte<br />
sie schließlich und lächelte unsicher. „Mein Verhalten gestern Abend<br />
war wirklich unmöglich. Ich glaube, ich bin noch immer etwas überreizt<br />
wegen der Sache mit meinem Mann.“<br />
Immerhin der Beweis, dass der gestrige Abend nicht nur in meiner<br />
Phantasie existierte.<br />
„Wirklich keine Ursache“, sagte ich eilig. „Trennungen sind Dramen.<br />
Es braucht eine Weile, bis die Wunden geheilt sind. Da kann es schon<br />
mal passieren, dass man … nun, dass man durch irgendetwas unangenehm<br />
erinnert wird.“<br />
Da saßen wir nun, zwischen uns<br />
Charlottes gläserner Schreibtisch,<br />
sagten beide nichts mehr,<br />
beendeten aber auch die Situation<br />
nicht. Es war einer der<br />
Augenblicke, in denen plötzlich<br />
alles um einen herum stillsteht<br />
und man sich nur wünscht, dass<br />
es immer so bleibt. In genau<br />
diesem Moment drang ein gellender<br />
Schrei ins Büro.<br />
Er kam aus Richtung Spielzimmer.<br />
Es war Sandra, die neue<br />
Praktikantin. Es klang panisch.<br />
Lara und ich rannten gleichzeitig<br />
aus dem Büro.<br />
Als wir im Flur waren, schrie<br />
Sandra erneut. Diesmal Maurices<br />
Namen. Es klang verzweifelt.<br />
Ich riss die Tür zum Spielzimmer<br />
auf und erschrak so<br />
sehr wie selten zuvor. Sandra<br />
kniete auf dem Boden. Vor ihr<br />
80
lag ein kleiner, lebloser Körper. Ich brauchte nicht zweimal hinzuschauen,<br />
um zu erkennen, wer es war.<br />
„Maurice!“; schrie sie voller Hysterie. „Was ist denn los, Maurice?<br />
Verdammt noch mal, jetzt sag was!“<br />
In meine panische Sorge mischte sich plötzliche Wut auf dieses Mädchen.<br />
Was, zum Kuckuck, machte sie da mit meinem Sohn? Offenbar<br />
hatte er sich verletzt und sie schrie ihn an! Unsanft wollte ich sie<br />
zur Seite schieben, als sie mir praktisch entgegen flog. Lara war an<br />
mir vorbeigeschossen und hatte die Praktikantin mit solcher Wucht<br />
von Maurice fortgeschleudert,<br />
dass sie jetzt vor mir auf der<br />
Erde lag. Alles war sehr schnell<br />
gegangen. Seit Sandras erstem<br />
Schrei waren kaum zehn Sekunden<br />
vergangen.<br />
Lara kniete vor Maurice und<br />
bettete sanft seinen Kopf auf<br />
ihre Beine. Er lächelte sie an.<br />
Grenzenlose Erleichterung<br />
durchströmte mich. Ich kniete<br />
mich neben Lara und streichelte<br />
sein Gesicht.<br />
Derweil rappelte sich die Praktikantin<br />
hinter uns auf die Knie<br />
und setzte sofort ihr schrilles<br />
Gejammer fort. Es klang grauenvoll.<br />
„Ich kann wirklich nichts dafür!“,<br />
schrie sie. „Ich hab ihm<br />
immer wieder gesagt, …“<br />
„Jetzt halt, verdammt noch<br />
mal, die Klappe!“, zischte Lara<br />
unvermittelt.<br />
81<br />
Anzeige
Sandra war auf der Stelle still und starrte sie mit weit aufgerissenen<br />
Augen an. Sie schien jetzt weit mehr erschrocken über Lara als über<br />
den Unfall.<br />
„Aber …“, versuchte sie es noch einmal, erntete von Lara aber nur<br />
einen weiteren vernichtenden Blick und schwieg wieder.<br />
Lara kam hoch und setzte sich mit Maurice auf den Rand der Kugelkiste.<br />
Ohne jede Einschränkung hatte sie das Regiment übernommen.<br />
Ich setzte mich neben sie und streichelte Maurice weiter.<br />
„Also“, wandte Lara sich jetzt ruhig, aber entschieden an die Praktikantin.<br />
„Was ist passiert? Und ich will weder Geschrei noch Geheule<br />
oder Gejammer hören, klar?“<br />
Sandra hockte noch immer auf der Erde und schaute nun fast demütig<br />
aus ihren mausgrauen Augen von unten nach oben, während sie<br />
erzählte. Immer wieder drohte ihr dabei die Stimme zu versagen. Ein<br />
paar Strähnen waren aus ihrem Haargummi gerutscht, im Gesicht<br />
hatte sie hektische rote Flecken. Sie beruhigte sich nur schwer. Maurice<br />
bewegte sich nun auf Laras Schoß und setzte sich vorsichtig auf.<br />
Es schien ihm gut zu gehen.<br />
„Er ist aus der Kiste geklettert“, sagte Sandra „und hat sich auf den<br />
Rand gestellt. Ungefähr da, wo Sie jetzt sitzen.“<br />
In ihrer Aufregung verzichtete sie darauf, Lara zu duzen.<br />
„Ich hab ihm gesagt“, fuhr sie fort, „er soll da sofort runterkommen.<br />
Aber er hat mich nur blöd angegrinst. Da hab ich es noch mal gesagt.“<br />
„Und dann?“, drängte Lara ungeduldig. „Was ist dann passiert? Nun<br />
rede schon!“<br />
Vollkommen überraschend flennte Sandra los. Eine Weile konnte sie<br />
nicht weiterreden. Dann aber gelangen ihr doch wieder ein paar Worte,<br />
wenn auch immer wieder unterbrochen durch neue Tränenattacken:<br />
„Er ist einfach nicht runtergekommen … und dann sah es aus, als ob er<br />
… als ob er fällt … und dann, dann hab ich ihn … ich wollte ihn festhalten<br />
und dabei … dabei ist er runtergefallen und ist, er ist mit dem Kopf<br />
auf den Boden geknallt und ich glaub … ich glaub, er war ohnmächtig<br />
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… ich … ich kann doch nichts dafür … dieser kleine Blödmann, dieser<br />
verdammte kleine Affe hat einfach nicht auf mich gehört …“<br />
Lara stand auf, Maurice weiter auf dem Arm, er wurde immer munterer.<br />
Lara dagegen schien plötzlich von fast unheimlicher Ruhe erfüllt.<br />
„So“, sagte sie mit klarer Stimme zu Sandra, die immer noch auf dem<br />
Boden hockte und sich ein paar Tränen aus dem Gesicht wischte.<br />
„Wir werden jetzt mit Maurice zum Krankenhaus fahren, um ihn dort<br />
gründlich untersuchen zu lassen. Und Sie werden so schnell wie möglich<br />
Ihre Sachen zusammenpacken und das beseitigen, was Sie an Unordnung<br />
gemacht haben.“<br />
Erstaunt riss Sandra ihre mittlerweile schwer geröteten Augen auf.<br />
„Und wenn wir wiederkommen“, fuhr Lara fort, „haben Sie schon<br />
längst vergessen, dass Sie jemals hier waren.“<br />
Wir gingen zur Haustür. Sandra kam hoch und folgte uns.<br />
„Aber …“, stammelte sie, „aber … soll ich denn nicht … wiederkommen?“<br />
Lara blieb noch einmal stehen und wandte sich zu ihr um, bevor wir<br />
das Haus verließen.<br />
„Hab ich mich etwa so angehört“, fragte sie, „als ob Sie noch einmal<br />
wiederkommen sollen?“<br />
„Nein“, antwortete Sandra ebenso verdutzt wie ehrlich.<br />
„Na also. Sie sind vollkommen ungeeignet für diesen Beruf. Ich werde<br />
83
das natürlich auch Ihrer Schule sagen.“<br />
„Aber das können Sie doch nicht machen“, meinte Sandra tonlos. Mit<br />
offenem Mund ließ Lara sie stehen. Seltsamerweise hatten ihre letzten<br />
Worte eher erleichtert geklungen als anklagend. Aber dann fing<br />
sie doch wieder zu heulen an.<br />
„Meine Mutter bringt mich um!“, schrie sie hysterisch.<br />
Lara, die mit Maurice auf dem Arm schon draußen war, hielt noch<br />
einmal inne.<br />
„Eine Chance kriegen Sie noch“, sagte sie zu Sandra und sah sie durchdringend<br />
an. „Eine allerletzte Chance. Ehe Sie wirklich noch jemand<br />
umbringen.“<br />
Sandra schöpfte Hoffnung. Gespannt stellte sie das Schluchzen ein.<br />
„Im Büro steht eine gepackte Reisetasche“, erklärte Lara. „Die nehmen<br />
Sie, sobald die anderen Kinder abgeholt sind, was in zehn Minuten<br />
der Fall sein wird, setzen sich in die Linie 7 und fahren zum<br />
großen Krankenhaus am Meer. Dort geben Sie die Tasche in der onkologischen<br />
Station für Frau Charlotte Kramer ab. Haben Sie das verstanden?“<br />
„Ja, natürlich.“ Sandra schien vor Dankbarkeit beinahe zu zerfließen.<br />
„Und Sie werden nicht …?“<br />
„Wenn diese Sache einwandfrei funktioniert“, sagte Lara, „erwarte<br />
ich Sie morgen früh wieder hier. Aber bei der kleinsten Kleinigkeit war<br />
es das. Verstanden?“<br />
Sandra schniefte ein letztes Mal nach und seufzte erleichtert.<br />
„Absolut“, sagte sie. „Sie werden sich nicht mehr über mich beklagen<br />
müssen. Ich verspreche es.“<br />
Ich sah Lara an, dass sie daran weniger glaubte. Inzwischen waren wir<br />
beim Auto angekommen. Lara setzte sich mit Maurice auf die Rückbank.<br />
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85<br />
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Kapitel 13<br />
„War das nicht trotz allem etwas hart vorhin?“, fragte ich, als wir das<br />
Krankenhaus hinter uns hatten und wieder im Auto saßen. Bis dahin<br />
hatte ich den Kopf nicht dafür frei gehabt, an die Geschichte mit der<br />
Praktikantin auch nur zu denken.<br />
„Fanden Sie?“, fragte Lara. „Haben Sie nicht gehört, wie sie Maurice<br />
genannt hat? Kleiner Blödmann hat sie gesagt. Verdammter kleiner<br />
Affe.“<br />
„Sie war vollkommen durch den Wind“, sagte ich. „Sie wusste nicht<br />
mehr, was sie von sich gab.“<br />
Wieder saß Lara mit Maurice auf der Rückbank. Ich sah beide im Rückspiegel.<br />
Maurices Verfassung und Stimmung ließen nichts zu wünschen<br />
übrig. Er war so quicklebendig, dass Lara fast schon Schwierigkeiten<br />
hatte, ihn in seinem Kindersitz zu halten. Mein Herz war leicht<br />
wie eine Feder.<br />
„Und möglicherweise“, sagte ich, „war Maurice tatsächlich mehr<br />
schuld an der ganzen Sache als sie.“<br />
Es fiel mir leicht, so zu reden. Die Untersuchungen hatten ergeben,<br />
dass mit Maurice alles okay war. In diesen Minuten hätte ich jedem<br />
Menschen der Welt fast alles vergeben. Der Arzt hatte vermutet,<br />
dass Sandras angebliche Beobachtung von Maurices Bewusstlosigkeit<br />
wahrscheinlich eher eine panische Phantasie von ihr war.<br />
„Sie können ganz beruhigt sein“, hatte er uns mit einem Lächeln verabschiedet.<br />
„Ihr Sohn hat einen guten Schutzengel.“<br />
Seine Worte waren an Lara und mich gerichtet. Natürlich musste er<br />
vermuten, dass sie die Mutter von Maurice war. Während sämtlicher<br />
Untersuchungen war sie dabei gewesen. Nina hatte ich erst telefonisch<br />
informiert, nachdem der Arzt Entwarnung gegeben hatte.<br />
„Von dem Unfall mal abgesehen“, sagte Lara, „dieses Mädchen ist<br />
wirklich vollkommen ungeeignet für den Beruf.“<br />
Unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel.<br />
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„Und warum?“<br />
Plötzlich grinste sie. „Als sie Stephan die volle Windel wechseln sollte,<br />
hat sie sich allein bei dem Gedanken übergeben.“<br />
„Wirklich?“<br />
„Sie hat mitten in Charlottes Wohnzimmer gekotzt“, lachte sie. „Klasse,<br />
oder?“<br />
Als ich mir das entsetzte, rot gefleckte Gesicht der Praktikantin vorstellte,<br />
musste ich auch lachen und schließlich lachten wir zusammen.<br />
„Mitten ins Wohnzimmer“, wiederholte Lara noch ein paar Mal. „Das<br />
muss man sich mal vorstellen. Und wegmachen durfte ich es. Sie<br />
konnte es nicht.“<br />
Beim letzten Satz prustete sie los wie zuvor noch nicht.<br />
„Unglaublich“, rief sie ausgelassen. „Sie konnte es einfach nicht.“<br />
„Was halten Sie davon“, fragte ich, als wir uns allmählich wieder beruhigt<br />
hatten, „wenn wir drei noch etwas zusammen unternehmen?<br />
Zur Feier des Tages, dass Maurice nichts passiert ist. Und danach vielleicht<br />
noch Charlotte im Krankenhaus besuchen? Maurice fragt sehr<br />
viel nach ihr.“<br />
Über den Rückspiegel forschte ich in ihrem Gesicht.<br />
„Warum nicht?“, sagte sie schließlich. „An was haben Sie denn gedacht,<br />
bevor wir zu Charlotte fahren?“<br />
Es war sonnig und warm, aber es war ein gewöhnlicher Mittwochnachmittag<br />
und im Zoo war nicht allzu viel los. Neben den Schimpansen,<br />
Gorillas und den Nilpferden faszinierten Maurice die Erdmännchen<br />
am meisten: witzige kleine Tiere, die meistens auf den Hinterbeinen<br />
stehen und aussehen, als ob sie unentwegt die Lage checken.<br />
„Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr in einem Zoo“, sagte Lara. „Genau<br />
genommen nicht mehr, seit ich ein kleines Kind war.“<br />
Ich erzählte, wie ich als Kind einmal über die Absperrung zum Affenkäfig<br />
geklettert war.<br />
„Irgendein kleiner Affe“, sagte ich, „hat mich an den Haaren gezogen<br />
und einfach nicht mehr los gelassen.“<br />
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Lara machte ein erschrockenes Gesicht, als liege der Vorfall nicht<br />
fünfunddreißig Jahre, sondern zehn Sekunden zurück.<br />
„Und dann?“, fragte sie. Ihre Stimme war voller Mitleid. Als sei ich<br />
noch immer der kleine Junge von damals, den sie trösten musste.<br />
„Wir beide haben ein Riesengeschrei veranstaltet“, lachte ich. „Der<br />
Affe und ich. Dadurch ist mein Vater aufmerksam geworden und hat<br />
mich aus den Klauen des Untiers gerettet.“<br />
„Dann waren Sie aber schon ein etwas vorwitziges Kind, oder?“, fragte<br />
sie amüsiert.<br />
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„Das befürchte ich auch“, sagte ich lächelnd.<br />
Wir schlenderten weiter zum Löwengehege. Maurice schob ich in<br />
seinem Wagen vor uns her. Allmählich waren ihm die Strapazen des<br />
Tages anzumerken. Die Augen drohten ihm zuzufallen.<br />
„Maurice ist da anders, oder?“<br />
Ich wusste nicht, was es war, aber irgendetwas an Laras harmloser<br />
Frage irritierte mich.<br />
„Ich glaube“, sagte ich, „er ist noch zu klein, als dass man das abschließend<br />
beurteilen könnte.“<br />
Von den Löwen war nicht viel zu sehen. Sie dösten im Hintergrund vor<br />
sich hin und ab und zu gähnte einer, gut getarnt im hohen Gras. Langsam<br />
gingen wir weiter.<br />
Ich sprach selten von der Adoption, weil sie für mich keine Bedeutung<br />
hatte. Maurice war wie mein leibliches Kind Aber gerade Lara gegenüber<br />
wollte ich auch kein Geheimnis daraus machen.<br />
„Wir haben ihn adoptiert“, sagte ich. „Man hat ihn am Strand ausgesetzt,<br />
an einem Weihnachtsabend. Ich hab ihn dort gefunden.“<br />
„Ich hab davon in der Zeitung gelesen.“ Lara blieb mitten auf dem<br />
Weg stehen. „Das Weihnachtskind. War das diese Geschichte?“<br />
„Stimmt“, sagte ich. „So haben die Medien ihn genannt.“<br />
Ein Lama beäugte uns, als denke es darüber nach, uns anzuspucken.<br />
„Und die Mutter wurde nie gefunden?“, fragte Lara.<br />
„Nein“, sagte ich. „Von der Mutter gibt es bis heute keine Spur.“<br />
Ein Mini-Flusspferd schnaubte in einem kleinen Betongraben vor sich<br />
hin. Maurice hatte seinen Widerstand gegen den Schlaf aufgegeben.<br />
Sein Kopf war zur Seite gefallen.<br />
„Sind Sie gar nicht neugierig“, fragte Lara, „was für ein Mensch seine<br />
Mutter ist?“<br />
„Die Mutter von Maurice“, sagte ich trotzig, „ist Nina. Und ich bin sein<br />
Vater. Das gilt ohne Einschränkung.“<br />
„Vielleicht“, sagte Lara, „wird Maurice es einmal wissen wollen.“<br />
Ihre Worte behagten mir nicht. Seit zwei Jahren verdrängte ich dieses<br />
Thema so gut es ging.<br />
89
Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Der Weg war<br />
gesäumt von hohen Bäumen. Ein leichter Wind ließ das Laub oben leise<br />
rauschen, die Sonne sprenkelte Schatten vor unsere Füße. Maurice<br />
schlief tief und fest. Er lieferte ein Bild perfekten Friedens.<br />
„Stand damals nicht in der Zeitung“, fragte Lara, „dass Sie die Mutter<br />
noch gesehen haben?“<br />
„Daran erinnern Sie sich?“<br />
„Manche Details merkt man sich“, meinte sie unbestimmt.<br />
„Solche Geschichten“, sagte ich, „interessieren immer viele Menschen.<br />
Niemand begreift, dass es Mütter gibt, die ihre Kinder töten<br />
oder aussetzen.“<br />
„Finden Sie nicht“, fragte Lara, „dass es etwas anderes ist, ein Baby<br />
auszusetzen als es zu töten?“<br />
Wir setzten uns auf eine Bank im Halbschatten. Ich drehte Maurice in<br />
seinem Wagen so, dass er uns gegenüber saß. Er war in seinen Schlaf<br />
versunken wie ein Stein ins Wasser. Ich kriegte nicht genug davon, ihn<br />
anzusehen.<br />
„Bei der Kälte in jener Nacht hätte er keine Überlebenschance gehabt“,<br />
erklärte ich schroff.<br />
„Er hätte“, sagte sie. „Aber Sie waren doch da. Hat die Mutter Sie<br />
denn nicht gesehen?“<br />
„Und wenn schon“, entgegnete ich. „Was hätte sie denn gemacht,<br />
wenn ich nicht zufällig dort gewesen wäre?“<br />
„Keine Ahnung“, sagte Lara leise.<br />
„Aber entschuldigen Sie“, lächelte ich. „Schließlich haben Sie Ihr Kind<br />
ja nicht ausgesetzt.“<br />
Eine junge Familie mit zwei Kindern ging vorbei. Ungeduldig versuchte<br />
der Mann, seiner kleinen Tochter zu erklären, warum sie die Affen<br />
nicht mit Eis füttern sollte. Dann waren sie vorbei. Die Stimme des<br />
Vaters war noch eine Weile zu hören.<br />
„Eigentlich“, sagte Lara, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte,<br />
„hat diese Frau das Kind doch gar nicht ausgesetzt.“<br />
„Sondern?“ Ich war wirklich neugierig.<br />
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„Sie hat es Ihnen anvertraut“, sagte sie. „Finden Sie nicht?“<br />
„Ich weiß nicht“, meinte ich, „ob man es so sehen kann.“<br />
„Vielleicht“, sagte sie leise, „hatte sie vor irgendetwas Angst. Und vielleicht<br />
sah sie nur diese eine Chance, ihr Kind vor dem zu retten, was<br />
sie fürchtete.“<br />
Ich sah sie an. Sie war plötzlich sehr blass geworden. Sie sah hilflos<br />
aus. Wie jemand, der mitten im Sommer auf einmal friert. Ich beugte<br />
mich ein Stück zu ihr und küsste sie. Es gab nichts anderes, was ich in<br />
diesem Augenblick hätte tun können.<br />
Kapitel 14<br />
Der Tag, an dem Charlotte Kramer beerdigt wurde, war ein wunderschöner<br />
Spätfrühlingstag. Die Friedhofskapelle platzte aus allen Nähten.<br />
Ihre Beliebtheit wunderte mich nicht.<br />
Charlotte hatte ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. In ihrem Abschiedsbrief<br />
hatte sie erklärt, dass sie keine Hoffnung mehr habe.<br />
Nachdem sie eindringlich darum gebeten hatte, waren die Ärzte ehrlich<br />
zu ihr gewesen. Weitere Chemo- und Strahlentherapien hätten<br />
bestenfalls ihre Qualen, keinesfalls aber ein für sie lebenswertes Leben<br />
verlängert. Auf ihren Wunsch, aber mit absolutem Einverständnis<br />
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der Ärzte, wurde sie daraufhin nach Hause entlassen.<br />
Dort nahm sie bereits nach wenigen Stunden die Zyankalikapsel zu<br />
sich, die sie offenbar schon vor längerer Zeit bei einer Organisation<br />
gekauft hatte, die für humanes Sterben eintrat. Außer mit ihrem kurz<br />
gehaltenen Brief hatte sie sich von niemandem verabschiedet.<br />
Da Charlotte nicht Mitglied einer Kirche war, predigte kein Pfarrer auf<br />
ihrer Beerdigung. Eine freiberufliche Rednerin hielt die Trauerrede.<br />
Isolde Berger war eine elegante Dame Mitte fünfzig, der man anmerkte,<br />
dass sie Charlotte persönlich gekannt hatte. Die Betroffenheit über<br />
ihren Tod war ungekünstelt und absolut glaubhaft. Dies übertrug sich<br />
auf die Trauergesellschaft und ging von dort zurück. Wir alle schienen<br />
wie in einem Kreis miteinander verbunden. Niemals zuvor hatte ich<br />
an einer solchen Beerdigung teilgenommen.<br />
Und dieses Gefühl geschlossener Trauer war es vielleicht auch, das es<br />
am Ende möglich machte, dass sich auf dem Weg von der Kapelle zum<br />
Grab etwas fast Gelassenes über uns alle legte. Etwas, zu dem nichts<br />
so gut passte wie der wunderbare Sonnenschein und die Vögel, die<br />
in den Bäumen ihr Liedchen trällerten und so das Leben selbst anpriesen.<br />
Als wir vor dem geöffneten Grab standen, gingen mir noch einmal die<br />
Worte Isolde Bergers durch den Kopf. Das Besondere daran war die<br />
große Offenheit gewesen. Auch die heiklen Punkte, die es im Leben<br />
jedes Verstorbenen gibt und die sonst auf Beerdigungen hinter mehr<br />
oder weniger vagen Andeutungen versteckt werden, hatte sie angesprochen:<br />
„Vor allem hat Charlotte es nie wirklich verwunden, dass sie nach<br />
einem schlimmen Streit mit ihrem Mann vor seinem plötzlichen Tod<br />
keine Gelegenheit mehr zur Versöhnung hatte. Sie machte sich unglaubliche<br />
Vorwürfe, weil sie sich schuldig fühlte an diesem Streit. Ob<br />
sie es wirklich war oder nicht, erscheint dabei fast unwichtig, denn sie<br />
selbst fühlte sich schuldig.“<br />
Danach hatte sie eine Pause von vielen Sekunden gemacht.<br />
„Aber die Geschichte geht weiter“, sagte sie schließlich und manch<br />
94
einer sah sie erstaunt an. „Ich weiß nicht, wie vielen von Ihnen sie<br />
davon erzählt hat. Manchmal war es Charlotte ein wichtiges Bedürfnis,<br />
darüber zu reden. In anderen Zeiten breitete sie lieber den Mantel<br />
des Schweigens darüber aus. Ich selbst war mir nicht sicher, ob<br />
ich die ganze Geschichte hier und zu diesem Anlass erzählen dürfte,<br />
und genau genommen bin ich es noch immer nicht. Aber nach Absprache<br />
mit Charlottes engsten Freunden und Angehörigen will ich es<br />
trotzdem tun, denn sie alle haben mir meinen persönlichen Eindruck<br />
bestätigt. Die Ereignisse um den Tod ihres so sehr geliebten Mannes<br />
Enno waren von diesem Tag an zum wichtigsten Bestandteil ihres Lebens<br />
geworden.“<br />
Wieder schwieg sie und schaute eindringlich in die Gesichter der<br />
nächsten Angehörigen, die in der ersten Reihe direkt vor ihr saßen.<br />
„Enno Kramer ist tödlich verunglückt“, fuhr sie schließlich mit schwer<br />
gewordener Stimme fort. „Das wissen wohl die meisten unter Ihnen.<br />
Er saß in dem Auto, das Charlotte gefahren hat. Sie selbst hat den<br />
Unfall völlig unbeschadet überstanden. In gewisser Weise hat sie sich<br />
gerade auch diesen eigentlich glücklichen Umstand nie verziehen, so<br />
paradox sich das auch anhören mag.“<br />
An dieser Stelle erinnerte ich mich daran, dass Charlotte einmal eine<br />
Andeutung zum Tod ihres Mannes gemacht hatte und ich dachte,<br />
dass ich jetzt vielleicht die Auflösung dafür bekam. Sie hatte davon<br />
gesprochen, in Angst und Panik etwas getan zu haben und dies verglichen<br />
mit dem, was in der Mutter von Maurice vorgegangen sein<br />
mochte, bevor sie ihn ausgesetzt hatte.<br />
„Charlotte war eine Frau, die nicht vor vielem Angst hatte im Leben.<br />
Aber ein paar Dinge gab es eben doch, die sie fürchtete. Dazu gehörte<br />
die Vorstellung, dass Enno sie verlassen könnte. Seit ihrem sechzehnten<br />
Lebensjahr waren sie ein Paar. Ein Leben ohne ihn war für sie absolut<br />
unvorstellbar.<br />
Am Tag seines Todes glaubte sie erkannt zu haben, dass Enno eine<br />
Affäre mit einer anderen Frau hatte. Übrigens hat sich nie herausgestellt,<br />
ob das stimmte oder nicht. Eine Ungewissheit, die in Charlotte<br />
95
genagt hat bis zum letzten Atemzug. Damals jedenfalls unterstellte sie<br />
ihm, während beide zusammen im Auto saßen, dass er sie nicht mehr<br />
liebe und verlassen wolle. Ein furchtbarer Streit entbrannte. Mehrmals<br />
forderte Enno sie zum Anhalten auf. Aber sie hörte nicht auf ihn.<br />
Und dann ist es passiert. Sie verlor die Kontrolle über das Auto und<br />
fuhr in hohem Tempo gegen einen Baum. Enno war sofort tot.“<br />
Das Schweigen in der ohnehin stillen Kapelle trat in eine neue Dimension.<br />
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„Ich werde die ‚Seepferdchen’ nicht weiterführen“, sagte Lara. „Noch<br />
bis Ende des Monats, dann ist Schluss.“<br />
Vor gut zwei Stunden hatten wir die Beerdigungsgesellschaft verlassen<br />
und machten jetzt einen Spaziergang im Park. Zwischendurch war<br />
jeder zum Umziehen nach Hause gefahren. Danach hatte ich Lara abgeholt<br />
und wir waren hierher gekommen. Sie trug jetzt ein gelbes,<br />
sommerliches Kleid und helle Schuhe. Ich hatte mir Jeans und ein<br />
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weißes T-Shirt übergestreift. Der Kleiderwechsel hatte etwas Befreiendes.<br />
Nina arbeitete an diesem Tag nicht, um bei Maurice sein zu können.<br />
Sie war mit ihm in eine Spielscheune gefahren, was eine von Maurices<br />
neuen Vorlieben war. Nina war nicht mit auf die Beerdigung gegangen,<br />
da sie Charlotte weniger gut kannte. Laras Mitteilung verpasste<br />
mir einen Stich.<br />
Wir setzten uns auf eine Bank in der Sonne. Vergeblich versuchte ich,<br />
sie zum Weitermachen bei den „Seepferdchen“ zu überreden.<br />
„Ich hab das nur gemacht“, sagte sie, „um Charlotte zu entlasten. Jetzt<br />
macht es keinen Sinn mehr. So eine Gruppe ist nicht mein Ding, das ist<br />
mir inzwischen klar geworden. Vielleicht suche ich mir etwas in einem<br />
Kindergarten, da sind die Kinder etwas älter. Mal sehen.“<br />
Am Himmel zogen ein paar erste Wolken auf und schnell wurden es<br />
mehr.<br />
„Aber du bleibst doch hier wohnen?“, fragte ich zaghaft.<br />
„Das weiß ich noch nicht“, sagte sie.<br />
„Wovon hängt es ab?“<br />
Erstmals verschwand die Sonne hinter einer Wolke und sofort kühlte<br />
es ab. Lara ließ sich Zeit mit der Antwort.<br />
„Das weiß ich auch noch nicht“, sagte sie schließlich.<br />
Wir gingen weiter. Die Sonne kam ab und zu noch durch, aber es wurde<br />
nicht mehr richtig warm. Es roch bereits nach Regen.<br />
„Ich möchte mit dir schlafen“, sagte ich.<br />
Wir blieben stehen. Lara sah mich ernst an und legte einen Finger auf<br />
meine Lippen. Vom Himmel fielen die ersten Tropfen.<br />
„Ich auch mit dir“, sagte sie, „Aber ich glaube nicht, dass wir das tun<br />
sollten.“<br />
Mein Kopf gab ihr sofort Recht. Aber mein Gefühl lehnte sich auf.<br />
Ohne die Arme umeinander zu legen, standen wir uns ganz nah gegenüber.<br />
Wir berührten uns fast nicht, nur ab und zu wie ein Windhauch,<br />
aber ich spürte Lara mit jeder Faser meines Körpers. Von Bäumen ungeschützt<br />
standen wir mitten auf einer großen Wiese. Der Regen wur-<br />
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de stärker. Es dauerte nicht lange und wir waren nass bis auf die Haut.<br />
Ich schloss die Augen und roch Lara. Ich roch ihre Haut. Ich saugte<br />
ihren Duft tief in mich ein. Er berührte mich von innen und ich ließ<br />
mich berühren. Ich war ganz offen. Das war das Schönste, was ich seit<br />
langer Zeit erlebt hatte. Ihr Duft war mir seltsam vertraut, entspannte<br />
und erregte mich gleichzeitig. Es fiel mir schwer, meine Arme weiter<br />
unten zu halten, aber ich zwang mich dazu, weil sonst diese Situation<br />
vorbei gewesen wäre. Ich spürte Lara, weiter fast ohne körperliche<br />
Berührung, immer mehr und immer deutlicher. Und ich wusste, dass<br />
sie das alles genauso empfand wie ich. Die Verbindung zwischen uns<br />
war perfekt. Dann plötzlich drehte sie sich um und ging einfach los.<br />
Quer über die Wiese lief sie davon. Ihre Schritte wurden schneller.<br />
„Lara“, rief ich ihr hinterher. „Ich meine es ernst.“<br />
Sie ließ sich einholen.<br />
„Ich meine es auch ernst“, sagte sie. „Wir sollten das nicht tun. Es<br />
wäre nicht gut. – Fährst du mich nach Hause, bitte?“<br />
„Wollen wir dann nicht wenigstens noch irgendwas anderes zusammen<br />
machen?“, fragte ich hilflos.<br />
„Nein, Paul“, sagte sie. „Ich möchte jetzt lieber allein sein. Nina und<br />
Maurice sind sicher auch schon wieder zu Hause. Du solltest dich besser<br />
um die beiden kümmern. Sie sind deine Familie, vergiss das nicht.<br />
Bitte.“<br />
Ohne jeden weiteren Überredungsversuch fuhr ich sie schließlich<br />
nach Hause. Kurz angebunden nahmen wir Abschied. Als ich danach<br />
allein im Auto saß, war ich so aufgewühlt wie seit Ewigkeiten nicht<br />
mehr. Kaum dass ich es schaffte, zwei klare Gedanken voreinander<br />
zu fassen Was auch immer ich versuchte zu denken: Bilder von Lara<br />
und Gedanken an sie schoben sich davor. Wir beide auf der Wiese im<br />
Park. Der Regen, der Duft ihrer Haut. Das Gefühl, sie in mir zu spüren,<br />
fast ohne sie zu berühren. Und genauso spürte ich sie auch jetzt noch<br />
in mir. Dieses Gefühl lebte weiter. Ich war mir sicher, es nie wieder<br />
zu verlieren. Und ich wusste, dass das mein ganzes Leben verändern<br />
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würde, vielleicht schon verändert hatte.<br />
Erst am Abend kam ich halbwegs wieder zu klarem Verstand. Maurice<br />
lag bereits im Bett und Nina hatte sich in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen,<br />
um noch etwas an ihrem aktuellen Auftrag zu feilen, wie<br />
sie gesagt hatte. Ich saß im Wohnzimmer, versuchte zu lesen, ohne<br />
mich aber wirklich auf das Buch konzentrieren zu können und trank<br />
ein paar Gläser Rotwein, die mir helfen sollten, meine innere Ruhe zu<br />
finden.<br />
Inzwischen war ich Lara fast dankbar, dass sie vorhin im Park die Notbremse<br />
gezogen hatte, während ich im Begriff gestanden hatte, unseren<br />
Wagen in voller Fahrt gegen die Wand zu setzen. Ich fragte mich<br />
allen Ernstes, wie wir beide damit hätten umgehen sollen, wenn wir<br />
tatsächlich miteinander geschlafen hätten. Ich war mir vollkommen<br />
sicher, dass es keine einmalige Angelegenheit geblieben wäre. Weder<br />
100
Lara noch ich hätten es in irgendeiner Form auf die leichte Schulter<br />
nehmen können.<br />
Die Gefahr, dass es mein Leben völlig umgekrempelt hätte, war riesig.<br />
Und wenn ich eins nicht wollte, dann war es das. Mein Leben erschien<br />
mir auch so schon kompliziert genug. Lara hatte dies erkannt, sie war<br />
viel klüger gewesen als ich, und uns davon abgehalten, die Grenze zu<br />
überschreiten.<br />
Ich öffnete die Tür zu Ninas Arbeitszimmer einen Spalt breit. Völlig<br />
versunken saß sie über ihrem Laptop. Ich dachte kurz daran, wie sehr<br />
die Arbeit sie in letzter Zeit verändert hatte. Sie hatte ihr geholfen,<br />
die Sache mit Joshua endgültig zu vergessen. Vielleicht auch nur, sie<br />
besser zu verdrängen, aber dieser Unterschied erschien mir im Moment<br />
fast unwesentlich. Sie war wieder in der Lage, ihr Leben positiv<br />
anzugehen. Im Grunde hatte die Arbeit eine ähnliche Wirkung auf<br />
sie wie Maurice sie von Anfang an auf mich gehabt hatte. Während<br />
er aber für Nina niemals ein Ersatz für ein eigenes Kind hatte sein<br />
können, war ihr neuer beruflicher Erfolg offenbar eine wirkliche Alternative<br />
für sie. Die letzten Wochen und Monate war sie regelrecht<br />
aufgeblüht. Gleichzeitig hatte der Abstand zwischen uns sich immer<br />
mehr vergrößert. Vielleicht war das der Preis, den wir beide bezahlen<br />
mussten.<br />
„Ich fahre noch ein bisschen durch die Gegend“, sagte ich. „Vielleicht<br />
gehe ich noch irgendwo ein paar Schritte. Hast du ein Ohr auf Maurice?“<br />
Ich steckte das Babyphon in die Steckdose neben der Tür.<br />
„Ja, natürlich“, sagte sie, schaute kurz auf und lächelte zerstreut. „Geh<br />
nur. Es kann sein, dass ich schon im Bett bin, wenn du zurückkommst.<br />
Ich bin müde. In der Spielscheune war es doch anstrengender als ich<br />
es mir vorgestellt hatte.“<br />
„Also dann“, sagte ich. „Gute Nacht.“<br />
Ich beugte mich zu ihr herunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf<br />
die Wange, den sie kaum erwiderte. „Gute Nacht.“<br />
„Paul?“, sagte sie, als ich die Tür bereits in der Hand hatte.<br />
101
„Ja?“<br />
„Ich finde es toll, wie du dich um Maurice kümmerst. Ich hab heute<br />
mal wieder festgestellt, wie anstrengend das ist. Und du hast ja daneben<br />
auch noch deine Arbeit. Ich glaub, ich könnte das auf Dauer<br />
nicht.“<br />
Sie lächelte etwas, während ich ihre Worte kurz auf mich wirken ließ.<br />
„Gute Nacht“, wiederholte ich schließlich und ging hinaus.<br />
Ich zog meine Jacke über und trat vor die Tür. Ich setzte mich ins Auto<br />
und fuhr los, ohne auf die Richtung zu achten. Immer wieder dachte<br />
ich an das, was Nina gesagt hatte.<br />
Noch immer hatte sie Maurice nicht als ihr Kind akzeptiert. Sie konnte<br />
es nicht und wahrscheinlich würde sie es niemals können. Joshua war<br />
ihr Baby und würde es immer bleiben. Das war bei mir nicht anders.<br />
Aber in ihr gab es keinen Platz daneben. In gewisser Weise liebte sie<br />
Maurice, das wusste ich, aber sie liebte ihn nicht wie eine Mutter ihr<br />
Kind liebt.<br />
Während ich weiter ziellos durch die nächtlichen Straßen fuhr, dachte<br />
ich über Nina und mich nach. Wir hatten kaum noch etwas gemeinsam.<br />
Auch unsere Gefühle für Maurice waren nicht mehr die gleichen.<br />
Vielleicht waren sie es auch noch nie gewesen. Ich hatte es mir<br />
immer eingeredet, aber Nina selbst dabei irgendwann aus den Augen<br />
verloren.<br />
Wie ein endloser Kreis zogen die Gedanken durch meinen Kopf. Dass<br />
ich dabei ohne Zögern zu Laras Wohnung gefahren war, wurde mir<br />
erst bewusst, als ich schon geparkt und den Motor ausgestellt hatte.<br />
Ich warf einen Blick nach oben. In ihrer Küche brannte Licht. Ich stieg<br />
aus, schloss den Wagen ab und klingelte an der Tür.<br />
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103
Kapitel 15<br />
„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.“<br />
Das waren ihre ersten Worte, nachdem sie mir die Tür geöffnet hatte.<br />
Vollkommen ernst sah sie mich dabei an. Ich wunderte mich nicht mal<br />
über ihre Begrüßung. Ich selbst sagte nichts.<br />
Noch in der offenen Tür küssten wir uns. Lara schlang die Beine um<br />
meine Hüfte und warf in ihrem Rücken mit einer Hand die Tür zu.<br />
Ich schob meine Hände unter ihren Po und trug sie in die Wohnung.<br />
Unseren Kuss unterbrachen wir dabei nicht. Es war, als durchbrächen<br />
viel zu lange zurückgehaltene Wassermassen einen künstlichen<br />
Damm und überschwemmten nun in einer riesigen Welle das Land,<br />
das in den Fluten versank und vollständig unterging. Wir hatten keine<br />
Chance mehr, unser Boot zu steuern. Das Boot hieß Vernunft. Es taumelte<br />
auf den Wellen und war ihnen hilflos ausgeliefert.<br />
Ich ließ Lara von meinem Arm auf die große Holzkommode im Flur<br />
gleiten und sah im Spiegel meine Hände unter ihrem gelben T-Shirt<br />
verschwinden. Hastig streifte sie meine Jacke ab, zog mein Hemd aus<br />
der Hose. Im Spiegel sah ich weiter, wie meine Hände ihr T-Shirt hochschoben.<br />
Ich sah die sanft gebräunte Haut ihres schmalen Rückens.<br />
Ich sah immer mehr davon, nun fast schon bis hinauf zu den Schulterblättern.<br />
Als ich ihr das T-Shirt über den Kopf ziehen wollte, passierte<br />
etwas Seltsames. Etwas, das die Dinge ins Stocken brachte. Mitten in<br />
der Bewegung hielt Lara inne.<br />
„Was ist?“, fragte ich. „Was hast du?“<br />
Lara sagte nichts. Sie sah mich nur an, blieb auf der Kommode sitzen<br />
und verharrte in ihrer seltsamen Erstarrung. Sie sah aus, als stünde<br />
sie vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens. Ich hatte nicht die<br />
leiseste Ahnung, was los war. Ich tappte vollkommen im Dunkeln.<br />
Dann plötzlich entspannte sie sich wieder etwas, als habe sie nun ihre<br />
Entscheidung getroffen. Sie ließ es zu, dass meine Hände sich unter<br />
ihrem T-Shirt weiter vortasteten. So fühlte ich das Muttermal mit mei-<br />
104
ner linken Hand, bevor ich es sah. Lara ließ es geschehen. Auch als ich<br />
endlich das Mal im Spiegel sehen konnte, unternahm sie nichts dagegen.<br />
Sie hielt den Atem an, wartete auf meine Reaktion. Genau wie<br />
bei Maurice war das Mal auf der rechten Schulter, an exakt derselben<br />
Stelle. Und wie bei ihm hatte es die Form der kleinen Insel vor unserer<br />
Küste, die sich sanft aus dem Meer erhob. Es konnte keinen Zweifel<br />
geben: Lara war die Frau, nach der die Polizei bis zum heutigen Tag<br />
vergeblich suchte. Sie war die Mutter von Maurice.<br />
Lara war die Mutter meines Sohnes.<br />
Nachdem wir uns wortlos weiter geliebt hatten, saßen wir in ihrer<br />
Küche und tranken ein Glas Sambuca mit Kaffeebohnen. Nach meiner<br />
Entdeckung hatten wir zwei denkbar einfache Möglichkeiten gehabt:<br />
Entweder wir brachen unser Liebesspiel ab, oder wir machten weiter.<br />
Ohne darüber nachzudenken, hatten wir uns für die zweite Möglichkeit<br />
entschieden, auch wenn alles plötzlich und unwiderruflich anders<br />
geworden war. Mein ganzes Leben schien mir in fast absurder Weise<br />
auf den Kopf gestellt. Es würde eine Weile dauern, bis ich das Ausmaß<br />
wirklich begriffen hatte.<br />
Auch als wir nun in Laras Küche saßen, ein Gläschen tranken und uns<br />
lange Zeit anschwiegen, wurden die Dinge nicht klarer. Immer wollte<br />
ich etwas sagen, tausend verschiedene Worte lagen mir auf der Zunge.<br />
Aber jedes Mal erschien mir im letzten Moment alles falsch und<br />
Anzeige<br />
105
ich blieb weiter stumm wie ein Fisch. Lara schien es nicht anders zu<br />
gehen.<br />
„Woher … ich meine … wie hast du ihn gefunden?“<br />
Ich konnte nicht bis ans Ende meiner Tage schweigen. Lara sah mich<br />
zunächst an, als verstünde sie die Frage nicht.<br />
„Woher wusstest du, dass er es war?“, sagte ich.<br />
„Das war nicht schwer.“<br />
„Aber wie …?“<br />
„Ein bisschen Zeitungsrecherche“, meinte sie. „Ein bisschen Herumfragen<br />
in der Gegend. Der Kreis um Maurice ließ sich schnell enger<br />
ziehen. Es war wirklich nicht schwer.“<br />
„Aber wie konntest du sicher sein, dass er es tatsächlich war?“<br />
Lara stand auf und fing an, in der Küche hin und her zu gehen. Ihren<br />
Sambucca hatte sie kaum angerührt. Ich füllte mein Glas erneut.<br />
„Das war der schwierigste Punkt“, gab sie zu. „Zwar war ich mir so gut<br />
wie sicher, aber das reicht auf Dauer natürlich nicht.“<br />
„Hast du …“, es fiel mir nicht leicht, die Frage auszusprechen, „hast du<br />
uns beobachtet?“<br />
Lara setzte sich wieder. Sie legte eine Hand auf meine und sah mich<br />
an.<br />
„Was sollte ich denn anderes tun?“, fragte sie. „Ich hatte keine Wahl.“<br />
„Unsere Begegnung beim Supermarkt war also kein Zufall?“ Ich entzog<br />
ihr meine Hände. Ich brauchte etwas Raum für mich.<br />
„Nein“, erklärte sie trocken. „Das war es nicht.“<br />
Wieder stand sie, von Unruhe getrieben, auf. Einen Moment lang kam<br />
mir der furchtbare Verdacht, sie könnte auch den Beinaheunfall von<br />
Maurice im Einkaufswagen inszeniert haben, um …<br />
„Denk das bitte nicht mal zu Ende“, unterbrach sie fast hellseherisch<br />
meine unausgesprochenen Mutmaßungen. „Das kannst du nicht im<br />
Ernst glauben.“<br />
Ich war froh, dass sie das sagte, froh und erleichtert.<br />
„Dass ich das mit diesem Auto gesehen hab“, erklärte sie, „war tatsächlich<br />
Zufall. Einer der glücklichsten in meinem Leben. Dass sich<br />
106
daraus die Möglichkeit ergab, das erste Mal mit dir zu reden, war ein<br />
Zusatzgeschenk.“<br />
„Aber du konntest doch damals noch immer nicht ganz sicher sein,<br />
dass er dein Sohn war. Wie hast du es herausgefunden?“<br />
Erstmals seit ich die Wahrheit kannte, huschte wieder ein kleines Lächeln<br />
über Laras Gesicht.<br />
„Nun denk mal nach“, sagte sie. „Wie hast du denn herausgefunden,<br />
wer ich bin?“<br />
Natürlich, das Muttermal! Aber …<br />
„Warum hab ich wohl bei Charlotte um Arbeit gefragt?“, unterbrach<br />
Lara meine Gedanken. „Na, was meinst du?“<br />
„Wusste sie, wer du bist?“, fragte ich, nachdem es langsam bei mir<br />
geklickert hatte.<br />
Lara setzte ihr Glas an die Lippen und nippte daran. Dann nahm sie ihr<br />
rastloses Hin und Her durch die Küche wieder auf.<br />
„Ich glaub, sie hat es geahnt“, sagte sie, ohne mich anzusehen. „Vielleicht<br />
auch ein bisschen mehr. Charlotte war während der letzten Monate<br />
meine wichtigste Freundin. Ich hatte bei ihr das Gefühl, dass sie<br />
vieles verstand, ohne dass ich es direkt aussprechen musste.“<br />
„Ja“, sagte ich, „sie war eine ungewöhnliche Frau.“<br />
„Sie fehlt mir sehr“, sagte Lara leise.<br />
Ich hielt sie an der Hand, zog sie sanft auf meinen Schoß. Ich legte<br />
einen Arm um ihre Hüfte.<br />
„Ganz sicher ist dies nicht der richtige Augenblick, es zu sagen“, meinte<br />
ich. „Aber ich möchte, dass wir drei zusammen leben: Du Maurice<br />
und ich.“<br />
Völlig entgeistert sah Lara mich an. Ihr rechter Arm lag auf meiner<br />
Schulter.<br />
„Du bist mit Nina verheiratet“, sagte sie. „Für Maurice ist sie seine<br />
Mutter. Ich bin nicht gekommen, um eure Familie zu zerstören. Erst<br />
recht nicht, um Maurice die Mutter zu nehmen.“<br />
„Aber … du bist doch gekommen, um dir Maurice zurückzuholen.<br />
Oder nicht?“<br />
107
Lara stand auf und setzte sich auf einen eigenen Stuhl.<br />
„Ich hoffe“, sagte sie, „das denkst du nicht wirklich. Ich bin gekommen,<br />
um ihn kennen zu lernen. Um zu sehen, ob es ihm gut geht.<br />
Ob die Menschen ihn lieben, bei denen er lebt. Ganz sicher nicht,<br />
um sein Glück zu zerstören. Einmal hab ich das ja fast geschafft. Aber<br />
dann kamst Gott sei Dank du. Und eins kannst du mir glauben, Paul:<br />
ich hab nicht vor, den gleichen Fehler ein zweites Mal zu machen. Es<br />
gibt keinen Menschen, dem ich Glück so sehr wünsche wie Maurice.“<br />
Eine Weile sagten wir beide nichts, dann fügte sie hinzu: „Es ist besser,<br />
wenn du jetzt gehst. Wir können morgen über alles weiterreden.<br />
Ich bin sehr müde.“<br />
„Aber … Es gibt so viel …“<br />
„Das weiß ich“, sagte sie. „Wir werden noch genug Zeit haben, die<br />
Dinge zu klären.“ Ihre Stimme war sanft, aber entschieden. Vorsichtig<br />
streichelte sie mein Gesicht.<br />
Es gab nichts, was ich lieber getan hätte als zu bleiben. Aber mir war<br />
klar, dass Lara das nicht zulassen würde. Also ging ich.<br />
Kapitel 16<br />
Als ich zu Hause ankam, schlief Nina schon. Ich weckte sie nicht, obwohl<br />
ich kurz darüber nachdachte. Ein Teil von mir wollte nichts als<br />
die Dinge so schnell wie möglich klären.<br />
Nina hatte ein Recht darauf, umgehend zu erfahren, dass Lara die<br />
Mutter von Maurice war. Außerdem glaubte ich nun sicher zu sein,<br />
dass es für uns beide nur eine einzige richtige Lösung gab: Wir mussten<br />
uns trennen.<br />
Ich hatte immer gedacht, dass Maurice Grund genug war, dies nicht<br />
zu tun. Er sollte einen Vater haben und eine Mutter, er sollte in einer<br />
intakten Familie aufwachsen. Aber jetzt war mir klar geworden, dass<br />
wir das schon lange nicht mehr waren.<br />
108
109<br />
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Ich versuchte zu arbeiten. Aber alles, was ich bisher geschrieben hatte,<br />
war seltsam weit weg von mir. Ich stand kurz davor, es mit einem<br />
Mausklick zu löschen, konnte mich aber gerade noch zusammenreißen.<br />
Ich streifte meine Jacke über und ging an den Strand. Ich glaubte<br />
nicht, dass Nina aufwachen würde, hinterließ ihr aber vorsichtshalber<br />
eine kurze Nachricht:<br />
Bin frische Luft schnappen. Falls du wach bist, bleib bitte auf. Wir<br />
müssen dringend reden. Bin bald zurück.<br />
Ich wählte den gleichen Weg direkt am Wasser entlang, den ich auch<br />
vor über zwei Jahren gegangen war. In jener Weihnachtsnacht, in der<br />
ich Maurice gefunden hatte.<br />
Auf den ersten Blick waren es zwei Nächte, die unterschiedlicher nicht<br />
sein konnten. In dieser Nacht lag ein warmer Nieselregen wie ein trüber<br />
Schleier in der Luft. Das Wasser direkt neben mir konnte ich eher<br />
hören als sehen. Es war Flut. Gleichmäßig plätscherten kleine Wellen<br />
gegen die Steinbank.<br />
Aber genau wie damals schien mir auch diese Nacht ein Wendepunkt<br />
meines Lebens zu sein. Mein Entschluss zur Trennung von Nina festigte<br />
sich. Die Gedanken in meinem Kopf wurden immer klarer. Die<br />
Zweifel lösten sich in der diesigen Nachtluft auf und verschwanden<br />
wie Nebelschwaden übers Wasser.<br />
Ich sehnte mich nach Lara. Ich wünschte mir eine gemeinsame Zukunft<br />
mit ihr, mit ihr und Maurice. Ich hatte ein Gefühl, als sei in mir<br />
ein Knoten geplatzt.<br />
Natürlich mussten viele Dinge zwischen Lara und mir noch geklärt<br />
werden. Aber ich meinte zu wissen, dass keine der offenen Fragen<br />
meine Liebe gefährden konnte. Mein Gefühl sagte mir, dass Lara<br />
nichts getan haben konnte, was nicht das Beste für Maurice war. Auch<br />
wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mochte. Daran glaubte<br />
ich so stark wie an meine Liebe zu Maurice.<br />
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Ich war jetzt bei dem runden<br />
Duschhäuschen angelangt, in<br />
dem ich ihn damals gefunden<br />
hatte. Ich ging zur Tür, drückte<br />
die Klinke herunter, die aber<br />
diesmal verschlossen war. Als<br />
erfülle ich ein Ritual, umkreiste<br />
ich das Gebäude zweimal und<br />
machte mich dann wieder auf<br />
den Rückweg.<br />
Ich spürte, wie eine ganz neue<br />
Leichtigkeit sich in mir ausbreitete.<br />
Schließlich hatte ich ein<br />
Gefühl, als schwebe ich über<br />
den Strand statt durch den<br />
feuchten, schweren Sand zu<br />
stapfen. Ich fragte mich, woher<br />
dieses Gefühl kam, aber die<br />
Antwort fiel mir nicht schwer:<br />
Ich liebte Lara. Ich konnte es<br />
kaum erwarten, sie wieder zu<br />
sehen.<br />
Nina saß zu Hause im Morgenmantel<br />
in der Küche und wartete<br />
auf mich. Als ich hereinkam,<br />
sah sie mich kurz an und in ihrem<br />
Blick war irgendetwas, das<br />
ich nicht erwartet hatte, auch<br />
wenn ich nicht sofort ausmachen<br />
konnte, was das war.<br />
Vor sich hatte sie einen dampfenden<br />
Becher stehen. Es roch<br />
111
nach schwarzem Tee. Sie wirkte bedrückt, so, wie ich sie seit langer<br />
Zeit nicht mehr erlebt hatte. Aber sie sagte nichts und sie fragte mich<br />
nichts. Und genau das war es wohl, womit ich eigentlich gerechnet<br />
hatte. Nicht einmal in ihrem Blick lag eine Frage. Das war merkwürdig.<br />
„Ich leg mich eben trocken“, sagte ich. „Bin gleich zurück.“<br />
Ich ging ins Bad, streifte mir die nassen Klamotten vom Leib und warf<br />
sie in die Wäsche. Dann zog ich meinen Morgenmantel an und rubbelte<br />
mein Haar trocken. Das Handtuch ließ ich auf meiner Schulter<br />
liegen.<br />
Als ich in die Küche zurückkam, stand auch an meinem Platz ein<br />
dampfender Becher. Über den Rand hing der Faden eines Teebeutels.<br />
„Danke“, sagte ich und setzte mich. „Ich glaub, den kann ich jetzt<br />
wirklich vertragen.“<br />
Das Aroma des Tees stieg mir in die Nase. Noch immer leicht verunsichert<br />
sah ich Nina an. Die Situation blieb merkwürdig. Nina rührte<br />
gedankenverloren in ihrem Becher. Leise klackerte der Löffel gegen<br />
das Porzellan.<br />
„Woher weißt du es?“<br />
Nina hatte diese Frage gestellt, ohne dass ich es zunächst wirklich registrierte.<br />
Es war, als seien die Worte einfach aus ihrem Mund gefallen.<br />
Wie kleine Zuckerstücke in den Tee. Ich wusste nichts mit ihnen<br />
anzufangen.<br />
„Woher weiß ich was?“, fragte ich erstaunt zurück.<br />
Nina schaute mich an. Sie sah müde aus, wirkte aber entschlossen.<br />
Trotzdem war da jetzt auch etwas Fragendes in ihrem Gesicht.<br />
„Du bist gut“, sagte sie. „Du hast mir doch den Zettel geschrieben.<br />
Also, woher?“<br />
„Moment mal“, antwortete ich. „Da komm ich jetzt nicht ganz mit.“<br />
Ich versuchte, mir zu vergegenwärtigen, was genau ich geschrieben,<br />
welche Worte ich gewählt hatte. Aber es gelang mir nicht. Ich sah den<br />
Zettel vor Nina liegen und griff danach.<br />
Bin frische Luft schnappen. Falls du wach bist, bleib bitte auf. Wir<br />
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113<br />
müssen dringend reden. Bin<br />
bald zurück.<br />
Ich konnte das noch so oft lesen:<br />
Ich hatte keine Ahnung,<br />
was Nina meinte. Sie schwieg<br />
weiter. Sie pustete in ihren<br />
Tee, der trotzdem heiß blieb<br />
und schlürfte einen kleinen<br />
Schluck. Ich stand auf, um die<br />
Flasche Rum aus dem Schrank<br />
unter der Spüle zu holen. Sie<br />
war noch ungeöffnet, der Verschluss<br />
am Deckel knackte laut,<br />
als ich ihn aufdrehte. Ich kippte<br />
einen kräftigen Schluck in meinen<br />
Becher.<br />
Ich setzte mich und hielt Nina<br />
fragend die Flasche hin. Sie<br />
lehnte nicht ab und ich schenkte<br />
auch ihr ein. Ich zog den Teebeutel<br />
aus meinem Becher. Der<br />
Tee hatte etwas zu lange gezogen<br />
und war schon eine Spur<br />
zu dunkel. Mit Hilfe des Löffels<br />
drückte ich den Beutel aus und legte ihn auf einen kleinen, durchsichtigen<br />
Teller, den Nina dafür auf den Tisch gestellt hatte. Ihr eigener,<br />
ausgedrückter Beutel lag auch drauf. Ich rührte meinen Tee um und<br />
plötzlich hatte ich es.<br />
Es konnte nicht anders sein. Ich wunderte mich nur noch, dass ich<br />
nicht gleich drauf gekommen war: Nina wusste bereits, dass Lara die<br />
leibliche Mutter von Maurice war! … Und nur Lara selbst konnte es ihr<br />
mitgeteilt haben. Auch wenn mir bis jetzt völlig entgangen war, dass
überhaupt eine Verbindung zwischen ihnen existierte.<br />
Nina schwieg hartnäckig.<br />
Und dann schwante mir, dass sie auf einem völlig anderen Planeten<br />
war. Ein Planet, der weder mit Maurice noch mit Lara irgendetwas zu<br />
tun hatte. Meine Naivität begann zu bröckeln.<br />
„Wovon redest du eigentlich?“, fragte ich.<br />
„Irgendjemand muss es dir schließlich erzählt haben“, meinte sie.<br />
„Oder wie sonst bist du drauf gekommen?“<br />
„Wie, verdammt, bin ich auf was gekommen?“<br />
Immer klarer rückte die Wahrheit in mein Bewusstsein. Ninas Lippen<br />
öffneten sich, aber es kam kein Wort heraus. Verdattert sah sie mich<br />
an.<br />
„Du hast also nicht …“, stammelte sie endlich. „Du weißt nicht …?“<br />
„Was weiß ich nicht? Könntest du vielleicht so freundlich sein und<br />
dich etwas deutlicher ausdrücken?“<br />
In diesem Moment begriff sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.<br />
Sie war dabei, mir etwas zu gestehen, von dem sie geglaubt hatte,<br />
dass ich es längst wüsste. Im dumpfen Schein der Küchenlampe konnte<br />
ich es nicht erkennen, aber ich war sicher, dass sie vor Schreck blass<br />
geworden war.<br />
Durch den Rum war mein Tee so weit abgekühlt, dass ich ihn in drei<br />
großen Schlucken problemlos trinken konnte. Der Alkohol stieg mir<br />
sofort zu Kopf, ich war nicht knauserig gewesen.<br />
„Wer?“, fragte ich als der Becher leer war.<br />
Nina ging zum Fenster und schaute hinaus, als könne sie da draußen<br />
die Antwort finden. Das Licht der Küche spiegelte sich in der regennassen<br />
Scheibe.<br />
„Frank“, sagte Nina leise und ohne sich umzudrehen.<br />
Unter ihrem Morgenmantel zeichnete sich deutlich die Form ihres<br />
Hinterns ab. Für Sekunden befiel mich ein absurdes Verlangen, das<br />
aber schneller verflog als es gekommen war. Schon seit Ewigkeiten<br />
hatten wir nicht mehr miteinander geschlafen. Und jetzt war sicher<br />
nicht der richtige Zeitpunkt, das zu ändern.<br />
114
Frank Schulte war ihr Chef.<br />
„Nicht besonders phantasievoll“, sagte ich und kippte einen doppelten<br />
Rum in meinen Becher. Dieses Mal ließ ich den Tee weg, bevor ich<br />
ihn in einem Schluck hinunterspülte.<br />
„Sollte es auch nicht sein“, meinte Nina. „Eigentlich sollte es überhaupt<br />
nicht sein. Es ist einfach passiert. Ich hab nie die Absicht gehabt,<br />
dich zu betrügen.“<br />
In einer schnellen Bewegung drehte sie sich zu mir um und sah mich<br />
an. Eine Strähne ihres nur notdürftig gebürsteten Haares fiel ihr ins<br />
Gesicht. Ihre Augen waren sehr lebendig. Sie gefiel mir wie lange<br />
nicht mehr. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, etwas Seltsames<br />
ging in mir vor.<br />
„Glaubst du mir das?“, fragte sie.<br />
„Ist das noch wichtig?“, wollte ich wissen.<br />
Nina nickte. „Ja“, sagte sie, „das ist es. Wichtig.“<br />
„Ich glaube es dir“, antwortete ich.<br />
Ich beugte mich vor, stützte meine Ellenbogen auf den Beinen ab und<br />
sah sie von unten an. Ihre Brüste fielen mir ins Auge. Für ein paar Sekunden<br />
schaffte ich es nicht, woanders hinzuschauen.<br />
„Ich glaube es dir wirklich“, bekräftigte ich schließlich und versuchte,<br />
auf andere Gedanken zu kommen. „Wie ernst ist es?“<br />
Nina sagte nichts. Aber sie wirkte plötzlich so verloren, dass dies eine<br />
deutliche Antwort war. Ich stand auf, ging zu ihr und legte meinen<br />
Arm um sie.<br />
„Was haben wir falsch gemacht?“, fragte ich.<br />
„Ich weiß es nicht“, sagte Nina. Als sie sprach, spürte ich ihren Atem<br />
an meinem Hals. Und wieder war da die absurde Lust, mit ihr zu schlafen.<br />
Wieder kam die Lust und sie verging, wie die Wellen am Strand.<br />
„Vielleicht haben wir gar nichts falsch gemacht“, meinte Nina schließlich.<br />
„Vielleicht ist es ganz einfach der Lauf der Zeit. Dinge im Leben<br />
beginnen und sie hören wieder auf. So ist das nun mal.“<br />
„Ich wollte mich heute Nacht von dir trennen“, sagte ich, denn ich<br />
lehnte es ab, meine Hände in Unschuld zu waschen.<br />
115
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116
„Ich weiß“, sagte Nina, und ich glaubte ihr, dass es wirklich so war.<br />
Ich spürte ihren warmen, festen Körper in meinem Arm und wieder<br />
kam die Lust, diesmal stärker als zuvor.<br />
Sehr lange waren wir uns nicht mehr so nah gekommen wie in diesen<br />
Momenten. Vielleicht, weil wir beide wussten, dass es das letzte Mal<br />
war. Wir küssten uns. So, wie wir es seit vielen Monaten nicht gemacht<br />
hatten. Wortlos gingen wir ins Wohnzimmer und schliefen dort<br />
hastig und gierig miteinander.<br />
„Lara Braun ist die Mutter von Maurice“, sagte ich, als wir uns danach<br />
erschöpft und atemlos in den Armen lagen. „Ich hab mich in sie verliebt.“<br />
Dass ich Ninas Gesicht in diesem Moment nicht sehen konnte, war<br />
kein Zufall. Ich hatte es so eingerichtet. Ich spürte, wie ihr schweißbedeckter<br />
Körper in meinem Arm erstarrte.<br />
Kapitel 17<br />
Als ich am nächsten Morgen Maurice bei den „Seepferdchen“ abgeben<br />
wollte, erwartete uns vor Charlottes Haus ein kleiner Menschenauflauf.<br />
Sofort befiel mich eine unbestimmte Angst.<br />
Mit Maurice auf dem Arm rannte ich vom Auto zum Haus. Als ich näher<br />
kam, erkannte ich die einzelnen Personen. Es waren vier Mütter<br />
mit ihren Kindern, die ebenfalls zu den „Seepferdchen“ gehörten. Die<br />
Frauen schienen nervös und unschlüssig. Meine Angst milderte das<br />
nicht.<br />
„Hallo Herr Thailer“, wurde ich von einer der Mütter begrüßt. Sie<br />
hieß Susanne Kern. „Es macht niemand auf. Hat Lara Ihnen vielleicht<br />
gesagt, dass sie heute später kommen wollte? Sie ist noch nicht da.<br />
Wir haben schon durch alle Fenster geschaut. Im ganzen Haus ist kein<br />
Mensch.“<br />
Ich schaute auf die Uhr. Lara war noch nie auch nur eine Minute zu<br />
117
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spät gekommen. Eher war sie überpünktlich.<br />
„Wir alle hier kommen zu spät zur Arbeit“, meinte eine zweite Frau,<br />
deren Namen ich nicht kannte. Es klang hysterisch. Sie hatte hektische<br />
rote Flecken auf Hals und Gesicht.<br />
Ich setzte Maurice ab und griff zum Handy.<br />
„Haben wir schon versucht“, schaltete sich Susanne Kern wieder ein.<br />
Auch sie wirkte nun etwas ungehalten. „Bei ihr zu Hause springt nur<br />
der Anrufbeantworter an. Ihr Handy ist ausgeschaltet.“<br />
Trotzdem versuchte ich es noch einmal unter beiden Nummern, kam<br />
aber am Ende zum gleichen Ergebnis.<br />
„Es wird doch nichts passiert sein?“, fragte besorgt die dritte Frau, die<br />
sich bisher zurückgehalten hatte.<br />
Ich steckte mein Handy wieder ein.<br />
„Ich fahr zu ihrer Wohnung und sehe nach“, sagte ich. „Kann ich Maurice<br />
hier lassen?“<br />
Susanne Kern nickte. „Natürlich. Aber beeilen Sie sich bitte. Ich krieg<br />
so schon Ärger, weil ich zu spät komme.“<br />
Ich ließ mir ihre Nummer geben.<br />
„Ich melde mich, sobald ich etwas weiß!“, rief ich und saß fast schon<br />
im Auto. Ich war völlig durch den Wind. Ich überfuhr eine rote Ampel.<br />
Die Sache ging nur haarscharf an einem Unfall vorbei. Die anderen<br />
hatten schon grün gehabt. Ein lautes Hupkonzert verfolgte mich.<br />
118
Vor Laras Wohnung gab es keinen freien Parkplatz. Ich ließ den Wagen<br />
halb auf der Straße im Halteverbot stehen.<br />
Die Haustür war verschlossen. Ich klingelte bei Lara, aber niemand<br />
öffnete. Als ich drei andere Klingeln gleichzeitig drückte, ertönte der<br />
Türsummer sofort. Ich rannte die Treppe hoch und noch ehe einer der<br />
alarmierten Nachbarn auf den Flur trat, stand ich vor Laras Wohnung.<br />
Die Tür war nur angelehnt. Ich schellte trotzdem, bevor ich hineinging.<br />
„Lara?“<br />
Keine Antwort.<br />
Ich rief sie noch zweimal, aber sie war nicht da. Vorsichtshalber schaute<br />
ich in jedes Zimmer, wenn auch ohne Hoffnung. Ich spürte, dass<br />
niemand in der Wohnung war. Schließlich fand ich auf dem Küchentisch<br />
einen Briefumschlag, auf dem mein Name stand.<br />
Ich setzte mich auf einen Stuhl und hielt den Brief in der Hand. Ich<br />
zögerte, ihn zu öffnen. Er war nicht verklebt, nur lose mit der Lasche<br />
verschlossen. Ich spürte mein Herz im Hals schlagen. Meine Hände<br />
zitterten. Endlich zog ich den Brief aus dem Umschlag. Er war handgeschrieben<br />
und bestand aus drei beidseitig und eng beschriebenen<br />
Blättern.<br />
Kerzengerade setzte ich mich auf dem Stuhl zurecht. Mir war klar,<br />
dass ich jetzt stark sein musste. Behutsam faltete ich den Brief auseinander.<br />
Ich begann zu lesen:<br />
Lieber Paul,<br />
ich wusste, dass du als Erster nach mir suchen würdest. Deshalb habe<br />
ich die Wohnungstür offenstehen lassen und diese Zeilen an dich hier<br />
einfach auf den Tisch gelegt.<br />
Wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Das bedeutet natürlich<br />
auch, dass ich Maurice nie mehr sehen werde. Beides zerreißt mir<br />
das Herz, aber ich habe keine andere Wahl. Ich kann nur hoffen und<br />
beten, dass du meine Entscheidung verstehst. Vielleicht hilft dir dieser<br />
Brief dabei ein bisschen.<br />
119
Ich habe schon so viel in meinem Leben zerstört und will nicht noch<br />
mehr zerstören. Die Zerstörung setzt sich aber unweigerlich fort,<br />
wenn du Nina wegen mir verlässt. Ich würde damit nicht nur eure<br />
Ehe, sondern vor allem auch eure Familie kaputtmachen.<br />
Als ich herkam, wusste ich noch nicht genau, warum ich das machte.<br />
Manchmal dachte ich, dass ich unter allen Umständen mein Kind zurückholen<br />
wollte, dann wieder redete ich mir ein, dass ich nur sehen<br />
wollte, wie er aussah, wie er sich entwickelt hatte, wie und wo er<br />
lebte.<br />
Und als ich ihn dann zum ersten Mal aus der Nähe gesehen habe, mit<br />
dir zusammen auf dem Parkplatz des Supermarktes, da befiel mich<br />
ganz überraschend so etwas wie die Gier, ihn zurückhaben zu wollen.<br />
Nächtelang schlief ich nicht und war nur noch erfüllt von dem einen,<br />
übermächtigen Wunsch: In Zukunft ein Leben mit meinem Sohn führen<br />
zu können. Dafür wäre mir jedes Mittel recht gewesen. Auch vor<br />
dem Gedanken, ihn zu entführen, schreckte ich mit den Tagen immer<br />
weniger zurück. Schließlich entwickelte ich dafür einen richtigen Plan.<br />
Ich begann meine Arbeit bei Charlotte und machte ihr den Vorschlag,<br />
ab und zu allein etwas mit einem der Kinder zu unternehmen, um sie<br />
besser kennen zu lernen. Charlotte wollte das zunächst nicht, ließ sich<br />
dann aber doch darauf ein.<br />
Der Tag, für den ich die Entführung von Maurice geplant hatte, rückte<br />
näher. Schließlich stand er unmittelbar bevor. So früh wie möglich<br />
wollte ich mich an diesem Freitag von den „Seepferdchen“ absetzen.<br />
Charlotte sollte denken, wir führen mit dem Rad auf den Spielplatz im<br />
Park und erledigten hinterher noch ein paar Einkäufe. Von unterwegs<br />
wollte ich sie anrufen, um zu sagen, dass sich wegen eines Plattfußes<br />
am Rad alles ein wenig verzögerte. In Wahrheit aber würde ich zu<br />
diesem Zeitpunkt schon lange mit Maurice in sicherer Entfernung auf<br />
der Autobahn sein.<br />
Ich bin noch heute sicher, dass ich diesen Plan durchgeführt hätte,<br />
wäre nicht die Freundschaft mit Charlotte dazwischen gekommen.<br />
Irgendetwas an dem, wie sie war, beeinflusste mich so sehr, dass mei-<br />
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122
ne eigentliche Absicht immer mehr in den Hintergrund geriet.<br />
Und dann, Paul, habe ich dich näher kennen gelernt. Ich fand es großartig,<br />
wie du mit Maurice umgegangen bist. Was für ein zärtlicher und<br />
liebevoller Vater du für meinen Sohn warst. Und ich sah, wie sehr<br />
Maurice dich liebte und was ich ihm genommen hätte, wäre ich mit<br />
ihm ausgerechnet vor dir geflohen. Damals kam ich ins Grübeln. Aber<br />
dann kam noch etwas anderes hinzu. Etwas, das mich endgültig umdenken<br />
ließ.<br />
Eines Tages merkte ich, dass ich in dir nicht nur den Vater von Maurice<br />
sah, sondern auch den Mann. Einen Mann, wie ich ihn mir immer gewünscht<br />
und nie bekommen hatte. Ich habe mich in dich verliebt. Ein<br />
Gefühl, das in großer Geschwindigkeit immer stärker wurde. Noch nie<br />
war ich in jemanden so verliebt wie in dich.<br />
Mein Entführungsplan war schnell vergessen. Schon der Gedanke daran<br />
kam mir vor wie ein Relikt aus einer anderen, längst abgeschlossenen<br />
Welt.<br />
Und so sehr mich das erleichterte, riss es doch andererseits auch ein<br />
großes Loch in mein Leben. Praktisch seit jener Nacht, in der ich Maurice<br />
am Strand verlassen hatte, hatte es für mich nur das Ziel gegeben,<br />
ihn wieder zu finden. Das hatte ich nun geschafft. Was aber sollte ich<br />
jetzt für mein Leben damit anfangen?<br />
Auf keinen Fall wollte ich mich als seine Mutter zu erkennen geben.<br />
Nach den Ereignissen damals habe ich meine ganze Existenz und sogar<br />
meinen Namen geändert. Das alles wollte ich um keinen Preis<br />
auf einer offiziellen Bühne rückgängig machen. Es wäre mit so vielen<br />
Komplikationen und wahrscheinlich sogar mit einer Gefängnisstrafe<br />
verbunden gewesen, dass es für mich nicht in Frage kam. Wobei ich<br />
das Gefängnis für mich nicht fürchtete, aber was sollte Maurice mit<br />
einer Mutter anfangen, die im Gefängnis saß? Dieser Weg erschien<br />
mir genauso falsch wie eine Entführung.<br />
Eine Weile machte ich mir vor, es könnte immer so weitergehen wie<br />
die letzten Wochen: ich würde in seiner Nähe bleiben und ihn täglich<br />
sehen, ohne dass jemand wusste, dass ich seine Mutter war. Aber als<br />
123
ich mich dann in dich verliebt habe, wurde mir klar, dass ich das niemals<br />
durchhalten würde. Es war genauso unmöglich wie alles, was ich<br />
vorher gedacht und geplant hatte.<br />
Und genau deshalb verschwinde ich jetzt wieder aus deinem Leben<br />
und aus dem von Maurice. Vielleicht magst du ihm später, wenn er<br />
groß und verständig geworden ist, von mir erzählen. Sag ihm, dass ich<br />
ihn sehr lieb habe und dass das immer so bleiben wird. Sag ihm, dass<br />
ich ihn damals am Strand nicht sterben lassen wollte. Ganz im Gegenteil,<br />
ich wollte ihn retten.<br />
Ich war auf der Flucht. Und als plötzlich du, Paul, in meinem Versteck<br />
aufgetaucht bist, warst du die einzige Möglichkeit zur Rettung. Zu diesem<br />
Zeitpunkt hatte ich sogar daran gedacht, uns beide zu töten, um<br />
uns vor Schlimmerem zu bewahren. Du warst ein Zeichen des Himmels.<br />
Es war Weihnachten. Ich wusste, dass du mein Kind nicht erfrieren<br />
lassen würdest.<br />
Ich könnte und müsste dir noch so viel mehr schreiben, Paul, aber die<br />
Zeit drängt mich aufzuhören. Draußen ist es schon hell geworden und<br />
gleich werden die ersten Mütter vor Charlottes Haus stehen, um ihre<br />
Kinder abzugeben. Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis<br />
du hier auftauchen wirst. Etwas, das ich auf keinen Fall mehr erleben<br />
darf. Wir dürfen uns nicht mehr sehen, sonst schaffe ich es nicht, meinen<br />
Entschluss durchzuführen. Es ist schon so schwer genug.<br />
Leb wohl! Ich brauche dir nicht zu sagen, dass du gut auf Maurice aufpassen<br />
sollst …<br />
Ich umarme dich,<br />
Lara<br />
PS: Mein Handy habe ich gewechselt. Du brauchst also nicht versuchen,<br />
mich über die alte Nummer zu erreichen. Sorry!<br />
124
Kapitel 18<br />
Nina verließ unser gemeinsames Haus. Sie mietete sich eine Wohnung,<br />
zog also nicht sofort zu Frank Schulte.<br />
Immer wieder las ich Laras Brief, als würde ich ihn zum ersten Mal<br />
lesen. Ich suchte darin nach Hinweisen auf ihren Verbleib, fand aber<br />
keine, auch nicht zwischen den Zeilen.<br />
Ihr Brief warf vor allem die Frage auf, vor wem sie Maurice damals<br />
retten wollte. Der einzige Mensch, der darauf eine Antwort geben<br />
konnte, war Lara selbst. Daneben wunderte ich mich, wo ihr Mann in<br />
dieser Geschichte steckte. Er schien überhaupt nicht stattzufinden.<br />
Lara meldete sich nicht.<br />
Obwohl ich damit nach ihrem Abschiedsbrief auch nicht rechnen<br />
konnte, tat ich es. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute rechnete ich<br />
damit, dass mich irgendeine Nachricht von ihr erreichte. Von woher<br />
und auf welchem Weg auch immer.<br />
Als nach einer Woche Susanne Kern bei mir anfragte, ob sie Maurice<br />
ab und zu morgens zu sich holen könne, damit Stephan Gesellschaft<br />
hatte, stimmte ich zu. Ich musste mich wieder mehr auf meine Arbeit<br />
konzentrieren. Irgendwie musste alles weitergehen.<br />
Ich saß am Laptop und versuchte zu schreiben. In der Küche klingelte<br />
das Telefon. Erst im letzten Moment entschied ich mich ranzugehen.<br />
Vielleicht war etwas mit Maurice passiert.<br />
Ich meldete mich gereizt. Am anderen Ende blieb es still, nach zehn<br />
Sekunden wurde aufgelegt. Ich wusste sofort, dass es Lara gewesen<br />
war. Mein Herz hämmerte. Ich setzte mich, behielt das Telefon in der<br />
Hand, starrte es an. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt worden.<br />
Mich befiel ein Gefühl extremer Hilflosigkeit. Meine Arme sanken herab,<br />
das Telefon glitt mir aus der Hand, fiel zu Boden. Meine Hände<br />
verkrampften sich zu Fäusten, die sich in mein Gesicht pressten. Ich<br />
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Anzeige<br />
fing an zu heulen. Minutenlang flennte ich wie ein Schlosshund. Ich<br />
konnte mich nicht dagegen wehren. Ich war zu nichts anderem in der<br />
Lage. Ich hatte keine Ahnung, wann mir so was zuletzt passiert war.<br />
Ich fühlte mich so weit von Lara entfernt wie nie zuvor.<br />
Als das Telefon wieder klingelte, war ich im Bad. Ich hatte mir das Gesicht<br />
gewaschen und trocknete es gerade ab. Den Apparat hatte ich<br />
auf dem Wannenrand abgelegt. Ich versuchte, die Ruhe zu bewahren<br />
und es einfach ein paar Mal klingeln zu lassen, bevor ich abhob. Der<br />
Plan scheiterte kläglich. Meine Hände zitterten, das Telefon knallte<br />
auf die Fliesen, klingelte aber weiter. Ich hob es auf. Am anderen Ende<br />
war Susanne Kern. Erst spürte ich grenzenlose Enttäuschung, dann<br />
Angst.<br />
„Was ist mit Maurice?“<br />
„Alles okay“, sagte Susanne Kern. „Es ist nur …“ Sie druckste herum.<br />
126
„Was ist nur?“, fuhr ich ungeduldig dazwischen. „Nun reden Sie doch.“<br />
„Lara hat gerade bei mir angerufen“, erklärte sie. „Sie war irgendwie<br />
komisch. Sie wollte wissen, ob ich etwas von Ihnen und Maurice gehört<br />
habe in letzter Zeit. Als ich ihr sagte, dass Maurice bei mir ist,<br />
wollte sie, dass ich ihn ans Telefon hole, was ich dann auch gemacht<br />
habe. Maurice hat sich gefreut, sie zu hören.“<br />
„Was war mit ihr?“ Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben.<br />
Ich setzte mich auf die Fliesen, lehnte mich an die Wanne.<br />
„Ich glaube“, sagte Susanne Kern, „sie hat geweint. Auch wenn sie<br />
sich nichts anmerken lassen wollte. Ich bin mir sicher.“<br />
„Was hat sie gesagt?“ Ich platzte fast vor Ungeduld.<br />
„Ich soll Sie grüßen von ihr“, sagte sie. Ich hörte ihr an, dass das noch<br />
nicht alles war und wartete.<br />
„Ich soll Ihnen ausrichten …“, es schien, als bezweifle sie den Wahrheitsgehalt<br />
ihrer eigenen Worte, „dass sie Sie vermisst. Sie und Maurice.<br />
Viel mehr, als sie es sich vorgestellt hat.“ Sie machte eine Pause,<br />
dann: „Das hat sie so gesagt, wörtlich.“ Es hörte sich an, als wolle<br />
sie sich dafür bei mir entschuldigen. Die Situation war völlig absurd.<br />
Susanne Kern erzählte mir Dinge, die sie nicht verstehen konnte und<br />
die für mich das Wichtigste waren, was es im Moment für mich gab.<br />
„Hat sie gesagt, wo sie ist?“<br />
Ich erwartete die Antwort wie ein unanfechtbares Urteil.<br />
„Nein, leider nicht. Ich hab sie gefragt, aber sie hat ausweichend geantwortet.<br />
Aber …“<br />
Wieder zögerte sie. Wieder wartete ich. Es fiel mir immer schwerer,<br />
ruhig zu bleiben.<br />
„Es hörte sich an“, sagte sie schließlich zögernd. „als käme der Anruf<br />
aus einer U-Bahn oder S-Bahn. Das Gespräch war zwischendurch<br />
unterbrochen. So, als habe sie kein Netz mehr.“<br />
Ich dachte sofort an Hamburg, wo Lara zuletzt gewohnt hatte. Mein<br />
Adrenalinspiegel schnellte hoch. Aber selbst wenn: Hamburg war<br />
kein Dorf. Dort jemanden zu finden, der nicht gefunden werden wollte,<br />
war ein echtes Problem. Meine Hormonzufuhr stoppte abrupt.<br />
127
„Vielleicht ist sie wieder in Hamburg“, sagte Susanne Kern.<br />
„Ja“, entgegnete ich tonlos. „Daran habe ich auch gerade gedacht.“<br />
Ich stand auf und wollte das Gespräch beenden.<br />
„Also dann“, sagte ich. „Vielen Dank für den Anruf. Ich hole dann Maurice<br />
in zwei Stunden ab. Bis nachher.“<br />
Ich wollte gerade auflegen, als ich ihr Zögern spürte.<br />
„Suchen Sie nach ihr?“, fragte sie.<br />
„Ich wüsste gerne“, antwortete ich vorsichtig, „wo sie ist.“<br />
„Wir haben in Hamburg eine gemeinsame Bekannte“, sagte sie. „Katja<br />
Baumeister. Ich bin früher mit ihr zur Schule gegangen. Damals hieß<br />
sie natürlich noch anders, sie ist verheiratet. Aber jetzt heißt sie Baumeister.<br />
Während ihrer Hamburger Zeit war sie so was wie Laras beste<br />
Freundin.“<br />
„Was sagen Sie da?“ Entgeistert setzte ich mich auf den Rand der<br />
Wanne. „Wie kommen Sie denn darauf?“<br />
„Wie wir darauf gekommen sind“, entgegnete Susanne Kern, „weiß<br />
ich nicht mehr. Aber wir haben über sie gesprochen.“<br />
Ich glaubte nicht, was ich hörte.<br />
„Wie heißt diese Frau?“<br />
„Katja“, sagte sie. „Katja Baumeister. Sie wohnt in Sankt Pauli, nicht<br />
weit von der Reeperbahn. Ganz in der Nähe der Landungsbrücken,<br />
wenn ich mich recht entsinne.“<br />
Kapitel 19<br />
Es dauerte ein bisschen, bis ich die richtige Katja Baumeister an der<br />
Strippe hatte. Den Nachnamen gab es in Hamburg nicht nur einmal<br />
und im Internet-Telefonbuch stand nur der Vorname ihres Mannes.<br />
Schließlich aber war es soweit.<br />
„Ja“, sagte sie. „Katja Baumeister hier. Um was geht es?“<br />
Ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet und war erleichtert, dass<br />
128
Anzeige<br />
sie offenbar kein besonders<br />
misstrauischer Mensch war.<br />
„Entschuldigen Sie die Störung“,<br />
wiederholte ich. „Ich suche<br />
nach einer Frau. Sie war die<br />
Betreuerin meines Sohnes und<br />
sie bekommt noch Geld von<br />
mir.“ Ich hielt es für gut, wenn<br />
Katja Baumeister dachte, dass<br />
Lara etwas von mir bekam und<br />
nicht ich etwas von ihr wollte.<br />
„Ihr Name ist Lara Braun. Ich<br />
habe gehört, sie sei eine gute<br />
Freundin von Ihnen.“<br />
„Lara, ja.“ Die plötzliche Skepsis<br />
in ihrer Stimme war nicht zu<br />
überhören. „Die war in der Tat<br />
eine Freundin von mir. Aber seit<br />
sie damals aus Hamburg fort ist,<br />
habe ich nur noch selten von ihr<br />
gehört. Das letzte Mal ist mindestens<br />
zwei Monate her. Ich<br />
befürchte, da kann ich Ihnen<br />
nicht weiterhelfen, Herr …?“<br />
„Thailer“, sagte ich erneut.<br />
„Paul Thailer. Sind Sie wirklich<br />
sicher? Ich meine, das Geld<br />
steht ihr noch zu. Ich habe kein<br />
gutes Gefühl, wenn ich es einfach<br />
…“<br />
„Hören Sie, Herr Thailer“, unterbrach<br />
sie mich entschieden.<br />
„Falls Lara sich bei mir melden<br />
129
sollte, wovon ich allerdings nicht ausgehe, werde ich sie über Ihren<br />
Anruf informieren, wenn Sie das möchten.“<br />
„Ja“, sagte ich, „das möchte ich auf jeden Fall. Sie soll sich dann bitte<br />
bei mir melden. Aber …“<br />
„Gut“, ließ sie mich erneut nicht ausreden, „dann werde ich das gerne<br />
machen. Mehr kann ich aber wirklich nicht für Sie tun. Auf Wiederhören.“<br />
„Ja“, sagte ich. „Auf Wiederhören. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.“<br />
Noch bevor ich den letzten Satz zu Ende gesprochen hatte, unterbrach<br />
Katja Baumeister das Gespräch.<br />
Ich wusste nicht genau warum, aber ich war mir fast sicher, dass sie<br />
nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sie war meine einzige Hoffnung und<br />
meine einzige Chance, Lara wieder zu finden. Die konnte und wollte<br />
ich nicht so schnell aufgeben. Ich war es Lara und mir schuldig, nicht<br />
einfach locker zu lassen.<br />
Kurz entschlossen rief ich bei Ninas Mutter an. Sie hatte schon öfters<br />
auf Maurice aufgepasst. Sie liebte den Kleinen über alles und er liebte<br />
seine Oma. Sie war begeistert, als ich sie fragte, ob Maurice für einen<br />
oder zwei Tage bei ihr bleiben könne. Ich müsse beruflich spontan<br />
nach Hamburg, ein wichtiges Verlagsgespräch stünde dort an.<br />
Eine Stunde später war ich auf der Autobahn, drei weitere Stunden<br />
danach vor dem Haus, in dem Robert und Katja Baumeister ihre Wohnung<br />
hatten. Es war ein sanierter Altbau. Die Wohnungen hier konnten<br />
nicht billig sein, zumal sie über einen direkten Ausblick auf die<br />
Sankt-Pauli-Landungsbrücken verfügten.<br />
Die Sonne knallte von einem tiefblauen Himmel, trotz heruntergekurbelter<br />
Scheibe war es im Auto enorm heiß. Auf der anderen Seite der<br />
Hafenstraße floss träge und mächtig die Elbe dahin. Ich stieg aus, ging<br />
hinüber und suchte mir ein freies Plätzchen auf einer Bank. Touristen<br />
waren in Massen unterwegs. Ich zückte mein Handy und rief bei<br />
Ninas Mutter an, wo alles in Ordnung war. Maurice ging es gut. Er<br />
spielte gerade mit ein paar Nachbarkindern im Garten. Ninas Mutter<br />
wollte ihn trotzdem ans Telefon holen.<br />
130
„Nicht nötig“, sagte ich. „Lass ihn nur spielen. Wenn bei ihm alles okay<br />
ist, ist bei mir auch alles okay. –¬ Ich ruf später noch mal an. Gib ihm<br />
einen dicken Kuss von mir.“<br />
Ich legte auf und dachte noch eine Weile an Maurice.<br />
Die Menschen um mich herum fotografierten sich gegenseitig, stöhnten<br />
über die Hitze, lachten, schimpften mit ihren Kindern und nutzten<br />
eins der unzähligen Angebote zu Hafen-, Speicherstadt- und Elbrundfahrten.<br />
Ich sah das alles und sah es doch nicht. Ich versuchte, mich auf das<br />
zu konzentrieren, was jetzt wichtig war. Ließ Katja Baumeister mich<br />
weiter abblitzen, waren meine Chancen, Lara zu finden, zunächst mal<br />
dahin.<br />
Ich überquerte die Hafenstraße und drückte den Klingelknopf zur<br />
Wohnung von Katja Baumeister. Keine zehn Sekunden später ertönte<br />
der automatische Türsummer.<br />
Sie wusste sofort, wer ich war.<br />
„Paul Thailer, richtig?“<br />
Sie sah mich von unten herauf an. Ich wunderte mich über ihre Hellsichtigkeit<br />
und nickte.<br />
„Kommen Sie herein“, sagte sie. „Ich habe schon mit Ihnen gerechnet.“<br />
Rein äußerlich hatte Katja Baumeister kaum etwas mit Lara gemeinsam.<br />
Als ich hinter ihr in die Wohnung ging, wurde mir klar, dass ich<br />
einen anderen Typ Frau erwartet hatte. Einen, der Lara mehr glich.<br />
Katja war auffällig klein, ich schätzte sie auf allerhöchstens einssechszig<br />
und nicht unbedingt schlank. Ihr Hintern, der in einer engen Jeans<br />
steckte, war nicht übermäßig groß, aber rund wie zwei Fußballhälften.<br />
Die einzige äußerliche Gemeinsamkeit mit Lara bestand darin,<br />
dass auch sie eine gut aussehende Frau war.<br />
Sie führte mich in ihr Wohnzimmer zu einer kleinen Sitzgruppe direkt<br />
unter dem großen Fenster. Von hier hatte man einen großartigen Ausblick<br />
auf die Landungsbrücken und die Elbe. Selbst die Touristenmas-<br />
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Anzeige<br />
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sen wirkten von hier oben angenehmer. Ich fragte mich, wie oft Lara<br />
wohl hier gesessen und so hinausgeschaut hatte wie ich es jetzt tat.<br />
Wir setzten uns. An der Wand mir gegenüber stand ein Regal mit allerlei<br />
Schnickschnack. Leuchttürme, Seemannsfiguren, Klabautermänner<br />
und Schneekugeln. Außerdem gab es eine ganze Reihe Bücher.<br />
Katja zog eine Zigarette aus einem Etui an und bot auch mir eine an.<br />
„Danke“, sagte ich. „Ich rauche nicht. Aber wenn Sie vielleicht ein Glas<br />
Wasser für mich hätten?“<br />
Wortlos ging sie aus dem Zimmer. Ich war neugierig und stand auf, um<br />
mir anzusehen, was für Bücher sie besaß. Das interessierte mich, weil<br />
sie eine Freundin von Lara war. Ich war wie ein trockener Schwamm,<br />
der alles in sich aufsaugen wollte, was irgendwie mit Lara zu tun hatte.<br />
Ich hatte das Gefühl, je mehr ich über Katja Baumeister erfuhr, umso<br />
näher kam ich Lara. Es gab nicht viel, an das ich mich halten konnte.<br />
Fast ausschließlich handelte es sich um esoterische Bücher. Dinge wie<br />
Tarot, Astrologie oder Hypnose waren die Themen. Plötzlich stand<br />
Katja Baumeister hinter mir, zwei Gläser und eine Flasche Wasser in<br />
Händen.<br />
„Suchen Sie vielleicht etwas Bestimmtes?“, fragte sie, aber es klang<br />
nicht unfreundlich.<br />
„Es interessiert mich“, ich setzte mich wieder, „wer welche Bücher<br />
liest. Wahrscheinlich eine Berufskrankheit.“<br />
Sie schenkte uns beiden ein und setzte sich dann ebenfalls.<br />
„Zeig mir deine Bücher, und ich sag dir, wer du bist?“<br />
„So ungefähr“, gab ich zu. „Haben Sie die Bücher alle gelesen?“<br />
„In letzter Zeit vor allem die über Hypnose“, meinte sie. „Das ist<br />
wahnsinnig spannend. Man kann auf diesem Weg in Bereiche seines<br />
Wissens vordringen, die man selbst nicht kennt. Die eigene Vergangenheit,<br />
und dadurch natürlich auch die Gegenwart erschließen sich<br />
einem vollkommen neu. Man lernt sich ganz anders kennen. Und<br />
manches kann man sich vielleicht besser erklären. Das fasziniert mich<br />
sehr. Sie nicht?<br />
Sie hatte eine sehr angenehme, warme und tiefe Stimme. Am Telefon<br />
133
war mir das nicht aufgefallen. Ihr Gesicht war klug und freundlich,<br />
ihre Schminke nicht unbedingt dezent.<br />
„Ich weiß nicht“, sagte ich, vielleicht ein wenig zu schroff. „Solche Dinge<br />
haben mich noch nie wirklich interessiert.“<br />
„Ich war sogar schon ein paar Mal bei einem Hypnotiseur“, sagte sie,<br />
fast ein wenig trotzig. „Ein faszinierender Mann übrigens. Und ich<br />
glaube, die Sache klappt wirklich, ich …“<br />
„Interessiert Lara sich auch für diese Sachen?“, unterbrach ich sie und<br />
trank einen großen Schluck Wasser.<br />
„Weniger“, meinte Katja. „Lara ist eher skeptisch. Bei mir gehört, ehrlich<br />
gesagt, nicht so viel dazu, mich für etwas zu begeistern, wenn es<br />
nur spannend klingt.“<br />
Ihre Selbsteinsicht gefiel mir. Ich war bereit, das Thema damit abzuhaken.<br />
Für ein paar Sekunden schwiegen wir beide.<br />
„Sie suchen nicht nach Lara“, sagte Katja endlich, „um ihr Geld zu geben.<br />
Stimmt’s?“<br />
„Das ist richtig“, antwortete ich. „Ich suche nach ihr, weil ich etwas<br />
sehr Wichtiges mit ihr zu besprechen habe.“<br />
Mir war klar geworden, dass ich nur mit Ehrlichkeit weiterkam. Obwohl<br />
sie sich selbst anders darstellte, glaubte ich nicht, dass man Katja<br />
Baumeister so leicht etwas vormachen konnte. Ihre Augen fixierten<br />
mich ohne jede Unsicherheit. Sie fragte sich, mit was für einem Menschen<br />
sie es zu tun hatte. Nachdenklich zog sie an ihrer Zigarette, den<br />
Rauch inhalierte sie nur oberflächlich. Ihre Augen waren von einem<br />
ungewöhnlich klaren Blau. Im gleichen Moment tranken wir aus unseren<br />
Gläsern.<br />
„So?“, fragte sie. „Und was ist so wahnsinnig wichtig, dass sie deshalb<br />
extra nach Hamburg kommen?“<br />
Unser Gespräch war an einem schwierigen Punkt angelangt. Ich wusste<br />
nicht, was sie wusste. Und wahrscheinlich ging es ihr mit mir nicht<br />
viel anders. Ich entschied mich, meine ehrliche Linie möglichst lange<br />
beizubehalten.<br />
„Ich liebe Lara“, sagte ich. Noch war es mir selbst fremd, das zu sagen,<br />
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135<br />
Anzeige
aber es hörte sich gut an. „Und ich möchte, dass sie dieser Liebe eine<br />
Chance gibt.“<br />
„Was sie nicht tut?“, fragte Katja und schlug entspannt die kurzen Beine<br />
übereinander.<br />
Ich verneinte.<br />
„Und warum nicht? Teilt sie Ihre Gefühle nicht?“<br />
„Doch“, sagte ich. „Ich bin sicher, dass sie das tut.“<br />
Katja drückte ihre Zigarette aus.<br />
„Und?“, fragte sie. „Warum läuft sie dann vor Ihnen davon?“<br />
„Sie läuft nicht vor mir davon.“<br />
„Ach nein?“<br />
Der leise Spott in ihrer Stimme ärgerte mich. Aber sie erwartete meine<br />
Antwort nun mit deutlich gestiegener Spannung.<br />
„Zwar läuft sie davon“, räumte ich ein. „Aber nicht vor mir, sondern<br />
vor ihrer eigenen Vergangenheit.“<br />
„Die Sie kennen?“ Katja Baumeister war hartnäckig und nicht so leicht<br />
zufrieden zu stellen.<br />
„Die ich zum Teil kenne“, meinte ich und leerte mein Glas. „Aber andere,<br />
wahrscheinlich größere Teile, kenne ich nicht.“<br />
„Und von mir erwarten Sie, dass ich Licht in dieses Dunkel bringe?“<br />
Sie lächelte.<br />
Ich blieb meiner Linie treu: „Ich weiß nicht, was ich von Ihnen erwarte,<br />
Katja. Zunächst würde ich nur gerne von Ihnen wissen, ob Lara sich<br />
während der letzten beiden Wochen bei Ihnen gemeldet hat.“<br />
Sie verschärfte ihren Blick in mein Gesicht um eine weitere Spur. Sie<br />
fragte sich, wie weit sie mir vertrauen konnte. Während sie an ihrem<br />
Wasser nippte, ließ sie mich über den Rand ihres Glases hinweg keine<br />
Sekunde aus dem Auge. Dann hatte sie ihre Entscheidung gefällt.<br />
Glücklicherweise schien sie zu meinen Gunsten ausgefallen.<br />
„Ja“, sagte sie. „Lara hat sich bei mir gemeldet.“<br />
„War sie bei Ihnen? Haben Sie sie gesehen?“<br />
Meinen Adrenalinausstoß musste sie mir ansehen. Sie selbst dagegen<br />
blieb ruhig, jetzt bis an den Rand der Unterkühlung.<br />
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Anzeige<br />
„Wieder ja“, sagte sie. „Ich habe sie gesehen. Mehrmals sogar.“<br />
Meine nächste Frage brauchte ich nicht auszusprechen und Katja<br />
Baumeister beantwortete sie trotzdem, weiter ohne mein Gesicht<br />
aus ihrem Blickfeld zu lassen.<br />
„Gestern zuletzt“, sagte sie gelassen. „Aber Sie kommen zu spät. Lara<br />
ist nicht mehr in Hamburg.“<br />
Am frühen Abend zog ein Gewitter auf. Ich saß mit Katja Baumeister<br />
in einem italienischen Bootrestaurant mit Blick auf die Außenalster.<br />
Blitze zuckten über den weiten, düsteren Himmel und spiegelten sich<br />
im dunklen Wasser. Wahre Sturzbäche fielen vom Himmel. Der Donner<br />
war von bombastischer Gewalt. Das Restaurant war gut besucht,<br />
aber durch das Unwetter herrschte eine seltsame Atmosphäre. Die<br />
Welt schien unterzugehen. Wir saßen in der Arche Noah.<br />
Wir hatten fertig gegessen, tranken Chianti, ich dazu einen Grappa<br />
und Katja rauchte eine ihrer Zigaretten, aus der blauer Qualm wie<br />
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ein Strich zur Decke aufstieg.<br />
Nach dem Essen hatte ich noch<br />
einmal bei Ninas Mutter angerufen.<br />
Bei Maurice war alles in<br />
Ordnung. Schon seit Stunden<br />
schlief er tief und fest. Zumindest<br />
in diesem Punkt konnte ich<br />
beruhigt sein.<br />
Inzwischen war mir klarer geworden,<br />
welche Rolle Katja<br />
Baumeister im Leben von Lara<br />
gespielt hatte und vielleicht<br />
noch immer spielte. Während<br />
der letzten Stunden hatte Katja<br />
viel erzählt, aber ich hatte keine<br />
Ahnung, wo sie die Grenze zog<br />
zwischen dem, was sie sagen<br />
durfte und was nicht.<br />
Katja und Lara hatten sich vor<br />
knapp zwei Jahren kennen gelernt.<br />
„An einem diesigen Sonntagmorgen<br />
auf dem Fischmarkt“,<br />
hatte Katja erzählt. „Ich stand<br />
in einer Menschentraube vor<br />
einem der Marktschreier, als<br />
sie vorbeiging. Sie fiel mir sofort<br />
auf.“<br />
Ich wusste bereits, dass sie<br />
Männer und Frauen mochte.<br />
Zwischen ihr und Lara spielte<br />
dies aber keine Rolle, wie sie<br />
mir etwas umständlich erklärt<br />
138
139<br />
hatte, da Laras Vorliebe für<br />
Männer exklusiv war.<br />
„Sie wirkte so verloren. Und<br />
sie war so schön. Unsere Blicke<br />
trafen sich, wir lächelten uns<br />
zu. Ich konnte nicht anders, als<br />
ihr zu folgen. Später haben wir<br />
in einem Café zusammen gefrühstückt.<br />
Ich spürte, dass sie<br />
ein Geheimnis hatte, und dass<br />
dieses Geheimnis sie bedrückte.<br />
Trotzdem haben wir viel<br />
miteinander gelacht. Wir hatten<br />
wirklich Spaß miteinander.<br />
Schon am nächsten Tag haben<br />
wir uns wieder getroffen. Aber<br />
an ihr Geheimnis ließ sie mich<br />
nicht heran, übrigens auch später<br />
nicht. Mir wurde schnell<br />
klar, dass es etwas sein musste,<br />
was das normale Ausmaß eines<br />
Geheimnisses klar überschritt.“<br />
Dies alles musste kurz nach<br />
meiner ersten Begegnung mit<br />
Lara am Strand gewesen sein.<br />
„Sie war ganz neu nach Hamburg<br />
gekommen“, hatte Katja<br />
weiter erzählt. „Sie kannte noch<br />
niemanden, hatte keine Arbeit<br />
und lebte in einer kleinen Pension.<br />
Ich verlangte keine Erklärungen<br />
für ihre Situation und<br />
ich glaube, das wusste sie zu
schätzen. Unsere Freundschaft vertiefte sich schnell. Wir verbrachten<br />
sehr viel Zeit zusammen.“<br />
Katja zündete sich eine neue Zigarette an, ich ließ mir einen weiteren<br />
Grappa bringen.<br />
„Wo ist eigentlich Ihr Mann?“, fragte ich. Bisher hatte sie weder von<br />
ihm geredet noch schien er irgendwo auf sie zu warten.<br />
„Über alle Berge“, sagte sie. „Auf und davon. Mit einer Jüngeren. So<br />
sind die Männer. Ist aber schon eine Weile her.“<br />
Offenbar lag ihr daran, dieses Kapitel kurz abzuhandeln, was mir nur<br />
Recht war. Ich bestellte die Rechnung. Das Gewitter hatte sich beruhigt.<br />
Nur hin und wieder grollte es noch etwas nach. Der Regen war<br />
zum plätschernden Mittelmaß verkümmert.<br />
„Es ist so eine Sache“, meinte Katja, „mit den Menschen, die einem<br />
begegnen im Leben.“ Sie war leicht angetrunken. „Die meisten interessieren<br />
einen nicht. Und von den paar, die einen dann doch interessieren,<br />
bleiben am Ende nur Episoden. In meinem Leben gab es<br />
bisher jedenfalls noch nichts anderes als Episoden. Die Menschen, die<br />
mir etwas bedeutet haben, sind gekommen und wieder gegangen.<br />
Wie dieses Gewitter draußen. Am Ende bleibt nicht viel zurück. Episoden.<br />
Und oft genug weiß man nicht mal, wem man davon erzählen<br />
soll. ¬– Wie steht es damit bei Ihnen?“<br />
Ich dachte an Nina. Auch wenn unsere Liebe sich erschöpft hatte,<br />
so würde doch mehr von ihr bleiben als eine Episode. Dass Maurice<br />
mehr war als eine Episode, war unstrittig. Meine Gefühle für ihn würden<br />
bis an mein Lebensende unverändert bleiben. Der Gedanke, dass<br />
Lara am Ende vielleicht nur eine Episode bleiben könnte, beunruhigte<br />
mich.<br />
„Nein“, sagte ich schnell, „Die Menschen, die mir etwas bedeuten,<br />
sind immer mehr als Episoden.“<br />
„Sie sind ja ein richtiger Idealist“, sagte sie lächelnd. „Ein kleiner Romantiker.“<br />
„Vielleicht“, antwortete ich. „Aber ich glaube, eher nicht.“<br />
Der Kellner brachte die Rechnung. Ich zahlte und bestellte noch einen<br />
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letzten Grappa, den ich in einem Schluck trank. Der Abend schien gelaufen.<br />
Selbst wenn Katja Baumeister mehr wusste über Lara, würde<br />
sie es jetzt nicht mehr erzählen. Ich hielt ihr die kurze Lederjacke, sie<br />
zog sie an.<br />
„Lara ist auch so eine Romantikerin“, sagte sie leichthin. „Über die<br />
Trennung von ihrem Mann ist sie nie hinweg gekommen.“<br />
„Nun“, sagte ich. „Das ist ja auch noch nicht so lange her.“<br />
„Schon wieder sehr romantisch“, grinste sie. „Ich finde, zwei Jahre<br />
sollten ausreichen.“<br />
Zwei Jahre? Ich kämpfte gegen meine Überraschung an.<br />
„Wissen Sie“, fragte ich so ruhig wie möglich, während ich ihr die Tür<br />
aufhielt, „was aus ihrem Mann geworden ist?“<br />
„Nein“, sagte sie. „Sie hat nie viel über ihn gesprochen. Ich weiß nur,<br />
dass für sie nach der Trennung feststand, dass sie ihn nie wiedersehen<br />
würde. Die Konsequenz fiel mir auf.“<br />
Mit dem Regen war es vorbei. Die Luft roch wie frisch gewaschen, was<br />
141
sehr angenehm war.<br />
„Wieso denken Sie“, fragte ich, „dass Lara die Trennung nicht verwunden<br />
hat?“<br />
Wir schlenderten die Alster entlang und mussten immer wieder riesige<br />
Pfützen umkreisen.<br />
„Man merkte es ihr an“, sagte Katja. „Irgendwie war sie immer ein<br />
bisschen … bedrückt. Selbst wenn wir Spaß miteinander hatten oder<br />
einen draufgemacht haben.“<br />
„Was mit der Trennung von ihrem Mann zu tun hatte?“, fragte ich.<br />
Sie blieb stehen und zwang mich so, das Gleiche zu tun. Ihre Augen<br />
glänzten im Licht einer Straßenlaterne.<br />
„Ja“, sagte sie. „Es bedrückte sie, wie sie sich voneinander getrennt<br />
hatten.“<br />
Langsam gingen wir weiter.<br />
Kapitel 20<br />
Ich fuhr gleich die erste Raststätte an. Ich hatte das dringende Bedürfnis<br />
nach einem starken Kaffee. Sonst würde ich noch am Steuer einnicken.<br />
Die Nacht im Hotel hatte ich nicht besonders gut geschlafen.<br />
Es war schon später Vormittag, aber der Tag konnte sich noch immer<br />
nicht entscheiden, wie er werden wollte. Die Sonne wirkte unmotiviert,<br />
die magere Wolkendecke zu verscheuchen. Die Luft war stickig.<br />
Ich stieg aus dem Auto, setzte mich halb auf die Motorhaube und<br />
zog mein Handy aus der Tasche. Ich wählte die Nummer von Ninas<br />
Mutter. An ihrer Stimme hörte ich sofort, dass etwas nicht stimmte,<br />
obwohl sie sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen.<br />
„Was ist mit Maurice?“, fragte ich nervös. Meine Müdigkeit war wie<br />
weggeblasen. Meine Alarmglocken schlugen an.<br />
„Wirklich nichts Schlimmes“, sagte sie. „Er hat nur ein bisschen Fieber.“<br />
142
143<br />
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„Wie hoch?“ Ich saß schon wieder im Auto und startete den Motor.<br />
„Nicht sehr hoch, wirklich …“<br />
„Wie hoch?“, beharrte ich. Der Wagen rollte los.<br />
„39,1“, sagte sie. „Das haben sie in dem Alter leicht mal. Es hat nichts<br />
zu bedeuten.“<br />
„Warst du beim Arzt mit ihm?“<br />
Ich fädelte mich ein und zog gleich rüber nach links.<br />
„Nein. Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Es würde ihn ja auch nur<br />
quälen …“<br />
„Dann lass einen Arzt kommen“, forderte ich und gab Gas.<br />
„Ich weiß wirklich nicht …“<br />
„Bitte tu es!“<br />
„Na schön“, willigte sie schließlich ein. „Wenn es dich beruhigt, werde<br />
ich es tun.“<br />
Als ich ankam, lächelte Maurice mich vom Sofa aus an. Ich eilte zu ihm<br />
und nahm ihn auf den Arm. Ich fühlte, dass er nicht mehr heiß war<br />
und spürte die Angst von mir abfallen.<br />
„Es ist alles in Ordnung“, beruhigte mich Ninas Mutter zusätzlich. „Der<br />
Arzt hat ihm ein leichtes Mittel verordnet. Das Fieber ist fast schon<br />
verschwunden. Du hast dir unnötige Sorgen gemacht.“<br />
Ich sagte irgendwas darüber, dass Sorgen nie unnötig wären, aber natürlich<br />
hatte sie Recht. Bei allen Dingen, die Maurice betrafen, war<br />
ich überempfindlich. Das war mir nicht neu. Nach der Erleichterung<br />
kehrte überfallartig meine Müdigkeit zurück.<br />
„Wie wär’s“, sagte Ninas Mutter und lächelte, „wenn du erst mal nach<br />
Hause fährst und dich ordentlich ausschläfst?“<br />
„Auf keinen Fall“, meinte ich. „Ich kann Maurice doch nicht schon<br />
wieder alleine lassen. Ich …“<br />
„Unsinn!“, sagte sie, plötzlich resolut. „Er ist nicht alleine, sondern bei<br />
mir. Und du fährst jetzt und schläfst. Ich wüsste nicht, was du dem<br />
Jungen in diesem Zustand nutzen solltest.“<br />
Mit diesen Worten schob sie mich zur Tür.<br />
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„Und melde dich hier ja nicht wieder“, meinte sie energisch, „bevor<br />
du nicht restlos ausgeschlafen hast. Ich frage ja lieber nicht, was dich<br />
in Hamburg nicht hat schlafen lassen.“ Immerhin begleitete sie den<br />
letzten Satz erneut mit einem Lächeln, das diesmal neckisch war.<br />
Bevor ich mich hinlegte, wollte ich noch E-Mails checken und stellte<br />
den Laptop an. Während er hochfuhr, hörte ich den Anrufbeantworter<br />
ab, der nichts Besonderes hergab.<br />
Ich duschte, putzte meine Zähne und ging dann zurück ins Arbeitszimmer.<br />
Der Bildschirmschoner des Laptops hatte sich eingeschaltet.<br />
Ich ließ ihn verschwinden und öffnete das E-Mail-Programm. Durchs<br />
Fenster sah ich, dass die Sonne auf einem guten Weg war, sich nun<br />
doch gegen die Wolken durchzusetzen.<br />
Das Mailprogramm brauchte wie immer lange, da musste ich mal etwas<br />
ändern, aber endlich war es soweit. Neun neue Mails wurden angezeigt.<br />
Auf den ersten Blick nichts Wichtiges. Nichts, das nicht hätte<br />
145
warten können. Gerade wollte ich das Programm wieder schließen,<br />
als ich an der vierten Nachricht hängen blieb. Ein Absender, der aus<br />
einer unbekannten Zahlenkombination bestand. Ich öffnete die Mail.<br />
Sie war von Lara.<br />
Lieber Paul,<br />
ich sitze hier in einem Internetcafé und schreibe dir diese Zeilen. Von<br />
draußen scheint die Sonne herein und malt ein Muster auf die Tastatur.<br />
Gerade habe ich mit Katja telefoniert. Sie hat mir gesagt, dass du<br />
nach mir suchst. Ich will das nicht, aber ich freue mich auch darüber.<br />
Eine Freude, gegen die ich mich nicht wehren kann.<br />
Ich weiß nicht, ob ich diese Mail jemals losschicken werde. Ich glaube,<br />
dass es falsch wäre, dies zu tun. Es ist für uns alle das Beste, wenn du<br />
mich so schnell wie möglich wieder vergisst. Für dich, für Maurice, für<br />
Nina und am Ende auch für mich.<br />
Aber im Moment ist es eine schöne Illusion, mir wenigstens vorzustellen,<br />
dass du meine Worte bald lesen wirst.<br />
Ich bin sehr verwirrt. Aber es gab eine Zeit in meinem Leben, in der<br />
ich so nah am Abgrund stand, dass ich im Vergleich dazu heute fast<br />
klar im Kopf bin. Dass du von dieser Zeit nur teilweise weißt, belastet<br />
mich sehr. Du kennst nur den kurzen Abschnitt am Strand. Diesen kleinen<br />
Augenblick, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, ohne<br />
einander wirklich zu begegnen. Die Minuten, in denen aus meinem<br />
Kind dein Kind geworden ist. Ich habe es dir überlassen und du hast<br />
es angenommen.<br />
Aber was davor war und danach, das kannst du nicht wissen. Das<br />
muss dein Bild von mir verzerren, was mir keine Ruhe lässt.<br />
Andererseits denke ich, dass es nicht gut ist, dich mit diesen furchtbaren<br />
Dingen zu belasten. Trotzdem habe ich während der letzten<br />
Wochen mit dir immer stärker den Wunsch verspürt, mich zu öffnen.<br />
Und bin dann wieder genau deshalb verschwunden, weil ich es nicht<br />
konnte.<br />
Keiner außer mir selbst kennt die Geschichte. Auch Katja nicht, ob-<br />
146
Anzeige<br />
wohl sie der Mensch war, bei dem ich zeitweise am nächsten dran<br />
war, sie zu erzählen. Aber ich habe es nie getan.<br />
In jener Weihnachtsnacht bin ich vor Bruno, meinem eigenen Mann,<br />
an den Strand geflohen. Ich war sicher, dass er mein Baby töten wollte.<br />
Maurice hatte damals natürlich einen anderen Namen, aber den<br />
habe ich in meinem Herzen vergraben und werde ihn nie wieder herausholen.<br />
Jetzt ist er Maurice, das ist ein guter Name und er ist ein<br />
toller Junge: Er soll Maurice bleiben!<br />
Warum will ein Vater seinen eigenen Sohn töten, nur wenige Tage<br />
nach der Geburt? Die Antwort darauf ist schwer und leicht zugleich:<br />
Er war nicht sein Sohn.<br />
Ich hatte ein Verhältnis mit einem anderen, ebenfalls verheirateten<br />
Mann, der sofort weg war, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Bruno<br />
von meinem Seitensprung zu erzählen, war unmöglich. Er war sehr<br />
jähzornig und sehr eifersüchtig. Er schlug mich, auch ohne dass ich<br />
147
fremdgegangen war, jetzt hätte er mich wahrscheinlich totgeschlagen.<br />
Meine Angst vor ihm war unglaublich groß. Er war machtbesessen,<br />
egozentrisch und gewalttätig, auch wenn ich das leider viel zu<br />
spät erkannt habe. Als wir geheiratet haben, war ich noch sehr jung.<br />
Er war charmant, sah sehr gut aus, hatte Geld und Erfolg. Er war<br />
Hauptaktionär einer großen Reederei in Kiel. Als er mir einen Heiratsantrag<br />
machte, schien mein Leben perfekt. Ein paar Wochen lang war<br />
ich überglücklich.<br />
Aber schnell zeigte er sein wahres Gesicht, auch wenn ich das zunächst<br />
anders deutete. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich sicher noch die<br />
Kraft gehabt, ihn zu verlassen. Er setzte mich unter Druck, weil ich<br />
angeblich mit anderen Männern flirtete. Und er beschimpfte mich,<br />
wenn ich nicht jedes Detail in meinem Leben exakt nach seinen Vorstellungen<br />
ausrichtete. So durfte ich nur die Kleidung tragen, die er<br />
erlaubte und selbst meine Freundinnen suchte er für mich aus. Mit<br />
alten Freundinnen verbot er mir den Umgang.<br />
Natürlich passierte all das nicht von heute auf morgen, sondern<br />
schleichend. Am Anfang tarnten seine Vorschriften sich als gut gemeinte<br />
Ratschläge. Als ich mich schließlich vorsichtig auflehnte, wurden<br />
aus den Ratschlägen physische Schläge. Die ersten Male kam er<br />
danach noch angekrochen und bereute alles.<br />
Aber auch das ließ nach. Er schlug mich häufiger und immer heftiger.<br />
Begehrte ich auf, wurde er nur noch brutaler. Nach ungefähr einem<br />
Jahr hatte er eine regelrechte Gewaltherrschaft über mich errichtet.<br />
Ich war nicht mehr ich selbst. Denke ich an diese Zeit zurück, dann<br />
ist es, als denke ich an einen ganz anderen Menschen. Ich hatte mich<br />
vollständig verloren.<br />
Es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte. Familie hatte ich<br />
nicht. Meine Eltern sind früh bei einem Unfall ums Leben gekommen,<br />
die letzten Jahre meiner Jugend habe ich in verschiedenen Heimen<br />
gelebt.<br />
Auch Freunde, an die ich mich um Hilfe hätte wenden können, hatte<br />
ich nicht mehr. Nach und nach hatte Bruno sie aus meinem Leben<br />
148
entfernt. Und meine angeblich neuen Freundinnen waren in Wahrheit<br />
seine. Sie waren die einzigen Menschen, die er überhaupt noch<br />
an mich heranließ.<br />
Schon bald sah ich keinen anderen Ausweg mehr als Selbstmord.<br />
Aber dann passierte etwas Unglaubliches: Bruno lockerte die imaginären<br />
Fesseln, die er mir angelegt hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich<br />
begriff, dass ich ihm nur langweilig geworden war.<br />
Immer häufiger ging er jetzt auf Reisen. Ab der zweiten Reise sprach<br />
er offen darüber, welche seiner Gespielinnen er mitnahm.<br />
Meine Gefühle für ihn waren schon so lange tot, dass mir das nichts<br />
ausmachte. Aber nach anfänglicher Skepsis und der permanenten<br />
Angst, er könnte mich beschatten lassen, fing ich an, meine neue Freiheit,<br />
zumindest in Ansätzen, zu genießen. Ich sah etwas wie einen<br />
Silberstreif am Horizont.<br />
In dieser Zeit begann ich auch die Affäre mit dem Vater von Maurice.<br />
Er hieß Kai Werner, wohnte in der Nachbarschaft und gewann nach<br />
und nach mein Vertrauen, während Bruno sich auf einer seiner immer<br />
ausgedehnter werdenden Reisen befand. Dieser Mann erschien<br />
mir stark und ich glaubte ihm, als er davon sprach, sich von seiner<br />
Frau zu trennen. Ich verrannte mich in die Hoffnung, dass er mich aus<br />
meinem Elend befreien könnte. Aber auch das war ein Irrtum.<br />
Bruno war ein brutaler, sadistischer Gewaltmensch, aber Kai war<br />
nichts als ein profilloser Schwächling. Selbst wenn er es tatsächlich<br />
gewollt hätte, er hätte es nie geschafft, sich Bruno in den Weg zu stellen.<br />
Ganz davon abgesehen, dass er es natürlich nicht wollte.<br />
Als Bruno von meiner Schwangerschaft erfuhr, schien er sich schlagartig<br />
zu ändern. Er freute sich wahnsinnig, denn er glaubte, der Vater<br />
zu sein.<br />
Eine Zeitlang dachte ich tatsächlich, wir könnten noch einmal ganz<br />
neu anfangen. Natürlich war das Unsinn, selbst wenn seine Veränderung<br />
echt gewesen wäre. Ich liebte ihn schon so lange nicht mehr.<br />
Ungefähr in der Mitte meiner Schwangerschaft flogen wir auf Brunos<br />
Anregung nach Mallorca. Scheinbar zufällig lernten wir dort Marlies<br />
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Anzeige<br />
150<br />
kennen. Sie kam aus Hamburg<br />
und war ein paar Jahre älter<br />
als ich. Wir freundeten uns ein<br />
wenig an. Sie war freischaffende<br />
Hebamme und wir beschlossen,<br />
dass sie zu meiner Hausgeburt<br />
nach Kiel kommen würde.<br />
Marlies war es auch, die eine<br />
Woche vor dem errechneten<br />
Geburtstermin eine weitere,<br />
diesmal kleinere Reise mit dem<br />
Auto für unbedenklich erklärte.<br />
Es war die Vorweihnachtszeit.<br />
Bruno hatte ein Ferienhaus an<br />
der Küste bei Wilhelmshaven<br />
für uns gemietet. Es lag etwas<br />
abgelegen unweit vom Strand.<br />
Rechtzeitig zum Geburtstermin<br />
wollten wir wieder in Kiel sein.<br />
Als es weiterhin keine Anzeichen<br />
dafür gab, dass die Geburt<br />
direkt bevorstand, verlängerten<br />
wir.<br />
„Wenn etwas sein sollte“, beruhigte<br />
Bruno mich, „sind wir in<br />
ein paar Stunden zu Hause.“<br />
Ich hörte auf ihn. Heute kann<br />
ich nicht sagen, ob aus der alten<br />
Angst heraus oder ob es tatsächlich<br />
wieder etwas wie ein<br />
erstes, hauchdünnes Vertrauen<br />
zu ihm gab. Jedenfalls blieben<br />
wir.
Am übernächsten Tag tauchte plötzlich Marlies auf. Bruno hatte mit<br />
ihr telefoniert und sie herbestellt. Ich konnte mir zunächst keinen<br />
Reim darauf machen. Dann rückte er mit der Sprache heraus.<br />
„Hier ist es viel schöner als in Kiel“, sagte er. „Du bringst das Kind hier<br />
zur Welt. Etwas Besseres kann es nicht geben.“<br />
Da war er wieder, der alte Bruno. Es ging um mich, aber er fragte<br />
nicht nach meiner Meinung. Ich erschrak tief über die plötzlich zurückgekehrte<br />
Herrschsucht in seiner Stimme. Mich befiel eine furchtbare<br />
Angst, die ich zunächst nicht greifen konnte … Paul, ich sitze jetzt<br />
seit einer geschlagenen Viertelstunde vor dieser Mail. Ich schaffe es<br />
nicht, an diesem Punkt weiter zu schreiben. Und sie in diesem Stadium<br />
abzuschicken, macht überhaupt keinen Sinn. Ich werde sie jetzt<br />
also wieder löschen. Verzeih mir, ich kann nicht anders …<br />
Lara<br />
Kapitel 21<br />
Durchs Internet gelang es mir, zwei in Hamburg frei praktizierende<br />
Hebammen mit Vornamen Marlies auszumachen: Marlies Puck und<br />
Marlies Schwalm. In dieser Reihenfolge wählte ich die Telefonnummern.<br />
Marlies Puck praktizierte offenbar nicht mehr. Es meldete sich<br />
ein Herr Janssen, der einfach nur genervt war durch meinen Anruf.<br />
Er hatte die Nummer der Hebamme ohne seine Einwilligung zugewiesen<br />
bekommen und erhielt nun häufig Anrufe, die eigentlich Frau<br />
Puck galten. Ich brach das Gespräch mitten im Satz ab, nachdem ich<br />
erfahren hatte, dass Frau Puck sich vor einigen Monaten zur Ruhe<br />
gesetzt hatte. Die Hebamme, von der Lara geschrieben hatte, war nur<br />
ein paar Jahre älter gewesen als sie.<br />
Marlies Schwalm meldete sich sofort selbst. Ihre Stimme klang verhalten<br />
freundlich. Instinktiv nannte ich mit Werner Berg einen falschen<br />
Namen.<br />
151
Anzeige<br />
„Ich bin der Eigentümer mehrerer Ferienwohnungen und Ferienhäuser<br />
bei Wilhelmshaven. Gerade gehe ich noch einmal die Abrechnungen<br />
der letzten drei Jahre durch.“<br />
An dieser Stelle geriet ich ins Stocken und war dankbar, als Marlies<br />
Schwalm mir ins Wort fiel:<br />
„Ein sehr schöner Küstenstreifen dort unten, Herr Berg“, meinte sie.<br />
„Aber was habe ich damit zu tun?“ Obwohl sie sich ums Gegenteil bemühte,<br />
war eine gewisse Anspannung in ihrer Stimme kaum zu überhören.<br />
„Nach meinen Unterlagen waren Sie vor zwei Jahren in der Weihnachtszeit<br />
für ein paar Tage als Gast von Herrn Bruno …, der Nachname<br />
ist leider etwas unleserlich, jedenfalls in einem von ihm gemieteten<br />
Ferienhaus.“<br />
„Bruno Kirchhoff“, sagte sie. „Ja?“ Sie schien kaum noch zu atmen.<br />
In meinem übermüdeten Schädel begann es zu rauschen. Ich konnte<br />
nichts anderes mehr hören und bekam Angst, das Bewusstsein zu verlieren:<br />
Ich war auf der richtigen Fährte! Ich konnte es kaum fassen.<br />
Dann endlich kehrte ich zurück.<br />
„… wollen Sie das wissen?“, hörte ich nun wieder die Stimme der Hebamme.<br />
„Worum geht es denn?“ Sie klang etwas ungehalten. Wahrscheinlich<br />
fragte sie nicht zum ersten Mal.<br />
Ich griff auf meinen alten Trick zurück:<br />
„Ich habe gerade festgestellt, dass Herr Kirchhoff damals erheblich<br />
152
überzahlt hat. Er bekommt noch Geld zurück.“<br />
Ein längeres verdutztes Schweigen war die erste Antwort.<br />
„Es ehrt Sie natürlich sehr“, sagte dann Marlies Schwalm, „dass Sie<br />
sich nach so langer Zeit deshalb noch melden…“. Ihre Ironie war nicht<br />
zu überhören und ich fühlte mich bereits durchschaut.<br />
„Ich bin für unbedingte Korrektheit“, versuchte ich zu retten, was zu<br />
retten war. „Immer und überall.“<br />
„… aber in diesem Fall“, beendete sie ungerührt, aber ohne weitere<br />
Ironie den angefangenen Satz, „kommen Sie leider zu spät. Herr<br />
Kirchhoff ist meines Wissens noch während seines damaligen Nordseeaufenthaltes<br />
gestorben. Das müssten Sie doch eigentlich wissen,<br />
wenn …“<br />
Erschrocken legte ich auf. Zum einen fiel mir so schnell nichts ein, zum<br />
anderen hatte ich für den Moment das Gefühl, genug gehört zu haben.<br />
Plötzlich befiel mich eine bleierne Müdigkeit. Im Schlafzimmer<br />
fiel ich wie ein Stein ins Bett.<br />
Kapitel 22<br />
Lieber Paul,<br />
wie du gesehen hast, habe ich die Mail nicht gelöscht. Auch wenn<br />
Anzeige<br />
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ich es danach schon wieder tausendmal bereut habe. Ich habe kein<br />
Recht, dich immer tiefer in meinen Sumpf zu ziehen. Aber wenn man<br />
einmal auf das falsche Feld geklickt hat, lässt es sich eben nicht mehr<br />
rückgängig machen. Bitte sei mir nicht böse!<br />
Natürlich kann ich dich jetzt aber auch nicht so hängen lassen. Ich<br />
glaube, dich so gut zu kennen, dass du mit Halbheiten nicht leben<br />
kannst. Es ist überhaupt erschreckend, wie sehr ich glaube, dich zu<br />
kennen. Ich fühle mich dir sehr nahe. Trotz der vielen Kilometer zwischen<br />
uns spüre ich dich fast körperlich. Aber eigentlich will ich so<br />
was jetzt gar nicht schreiben. Ich fühle mich verpflichtet, die abgebrochene<br />
Mail zu einem halbwegs akzeptablen Ende für dich zu bringen.<br />
Maurice wurde tatsächlich in dem Ferienhaus geboren. Nach und<br />
nach gab Bruno mir zu verstehen, dass er davon wusste, nicht der<br />
Vater zu sein. Zuerst waren es nur Andeutungen, die mich verunsicherten,<br />
aber dann ließ er keinen Zweifel mehr.<br />
„Warum hast du dir ausgerechnet diesen Trottel ausgesucht?“, fragte<br />
er mich am Vorabend der Geburt. Es hörte sich an, als sei ihm die<br />
Sache an sich egal. Als wolle er nur meine schlechte Wahl kritisieren.<br />
„Der Kerl“, fuhr er fort, „ist doch nun wirklich der komplette Verlierer.<br />
Nicht nur, dass er aussieht wie Donald Duck mit Mumps“, er lachte<br />
kurz auf über seinen Scherz, „sondern er ist auch noch Finanzbeamter.“<br />
Er machte ein Gesicht, als handele es sich um eine selbstverschuldete<br />
Krankheit, mit der man sich leicht infizieren konnte. „Mal ganz<br />
davon abgesehen, dass er der erbärmlichste Feigling ist, den es gibt.“<br />
Er kam zu mir und nahm mein Gesicht in seine Hände. „Das Mindeste,<br />
was ich mir von meiner Frau erwartet hätte“, sagte er, „ist ein Hauch<br />
von gutem Geschmack.“<br />
Er presste mein Gesicht so stark zwischen Daumen und Zeigefinger,<br />
dass es wehtat. Meine Versuche, mich diesem Griff zu entziehen,<br />
waren vergeblich. Körperlich war er mir hoffnungslos überlegen. Er<br />
quetschte seine Finger zwischen meine Kiefer, sodass ich nicht antworten<br />
konnte. Ich war sicher, dass er mich im nächsten Moment<br />
schlagen würde.<br />
154
155<br />
Anzeige
Aber meine Angst davor war anders als sonst. Viel mehr als um mich<br />
selbst fürchtete ich um das Kind in meinem Bauch. Das gab mir zusätzliche<br />
Kraft und ich schaffte es tatsächlich, mich ihm zu entwinden.<br />
Obwohl ich mit meinem Bauch körperlich unbeweglich war, kam ich<br />
schnell hoch. Ich wollte aus dem Zimmer fliehen, aber die Tür war verschlossen.<br />
Langsam kam Bruno hinter mir her, schubste mich wortlos<br />
und drängte mich immer mehr in eine Ecke.<br />
„Was ist denn?“, fragte er leise und grinste. „Du hast doch nicht etwa<br />
Angst, dass ich dir etwas tue?“<br />
Meine Panik brach über mir zusammen. Diesen Tonfall kannte ich sehr<br />
genau. Er war die letzte Stufe vor der Gewalt. Er wurde leise, zynisch<br />
und er grinste, bevor er zuschlug. Das Grinsen sah aus, als müsste ihm<br />
das Gesicht davon schmerzen, so angespannt war es.<br />
„Ich werde doch mein eigenes Kind nicht gefährden!“, fuhr er fort.<br />
„Die Frucht deines Leibes! Von mir gezeugt.“<br />
Scheinbar nachdenklich legte er eine Hand an sein Kinn und wandte<br />
sich von mir ab. Meine Aufmerksamkeit ließ keine Sekunde nach. Er<br />
war wie ein gefährliches Raubtier, das man nicht aus den Augen lassen<br />
durfte. Seine Angriffe kamen immer dann, wenn man am allerwenigsten<br />
damit rechnete. Plötzlich tippte er sich mit dem Zeigefinger<br />
leicht an die Stirn.<br />
„Ach, so dumm bin ich“, sagte er, drehte sich lächelnd zu mir und kam<br />
während des Redens langsam wieder auf mich zu. „Es ist ja gar nicht<br />
von mir gezeugt, sondern von diesem widerlichen Weichei. Entschuldige<br />
meine Gedankenlosigkeit, Liebling.“<br />
Im selben Sekundenbruchteil zog er den rechten Handrücken so<br />
scharf und ansatzlos hoch in mein Gesicht, dass ich mich trotz aller<br />
Vorsicht nicht dagegen schützen konnte. Ich fiel um, meine Wange<br />
brannte wie Feuer. Als ich mich aufrappeln wollte, trat er in meinen<br />
Rücken.<br />
„Das Kind!“, schrie ich nur. „Hör auf damit! Hör sofort auf!“<br />
Das Lächeln, das während des Schlages restlos aus seinen Zügen verschwunden<br />
war, kehrte so plötzlich zurück, als habe er in seinem In-<br />
156
Anzeige<br />
nern einen Schalter dafür.<br />
„Stimmt ja“, sagte er sanft und hielt mir die Hand hin, als wolle er mir<br />
hoch helfen. „Das Kind, natürlich! Auch wenn es nicht von mir gezeugt<br />
ist, bleibt es natürlich noch immer ein Kind.“<br />
Ich ignorierte seine Hand und wollte mich allein aufrappeln.<br />
„Nun komm schon!“, forderte er mit plötzlicher Schärfe. „Meine Hand<br />
stinkt nicht und ist auch nicht schwitzig wie die von dieser Schwuchtel.<br />
Nur keine Zimperlichkeiten!“<br />
Ich sah keine andere Chance, als mir tatsächlich von ihm aufhelfen zu<br />
lassen. Er tat es, als habe er nur<br />
beste Absichten.<br />
„Ein Kind“, wiederholte er,<br />
„bleibt natürlich ein Kind, wie<br />
auch immer es da hineingekommen<br />
ist.“<br />
Er legte eine Hand auf meinen<br />
Bauch und drückte so fest<br />
zu, dass das Baby erschrocken<br />
zuckte.<br />
„Lass das“, sagte ich panisch.<br />
„Mach mit mir, was du willst.<br />
Aber lass das Kind in Frieden. Es<br />
ist unschuldig. Lass es in Ruhe<br />
auf die Welt kommen.“<br />
„Ach?“, fragte er und machte<br />
ein Gesicht, als sei er an meiner<br />
Antwort tatsächlich interessiert,<br />
„und dann?“<br />
„Was, und dann?“<br />
„Wenn es auf der Welt ist, was<br />
soll dann passieren? Mit ihm<br />
passieren? ¬– Und mit uns? ¬–<br />
Und mit mir?“ Die ganze Zeit<br />
157
über war er in seiner ruhigen Stimmlage geblieben. Das letzte Wort<br />
aber schrie er heraus, als wolle er damit den Schmerz der ganzen<br />
Welt zum Ausdruck bringen.<br />
Es gab nur einen einzigen Menschen, der für ihn irgendeine Bedeutung<br />
hatte. Und nur einen, mit dem er Mitleid empfinden konnte. Unnötig<br />
zu sagen, wer das war. Seine ganze jämmerliche Erbärmlichkeit<br />
wurde mir überdeutlich. Und daraus bezog ich eine plötzliche, neue<br />
Kraft. Meine scheinbare Schwäche wurde zur Stärke.<br />
„Ja“, wiederholte ich provokativ, „was ist dann? Was soll dann passieren?<br />
Mit dem Kind, mit mir, mit dir? Sag du es mir. Ich weiß es nicht.“<br />
Kaum war der letzte Satz ausgesprochen, sickerte das letzte bisschen<br />
Kraft schon wieder aus mir heraus wie Blut aus einer Wunde. Viel war<br />
es nicht gewesen.<br />
Und sofort war ich sicher, mich zu weit vorgewagt zu haben. Seine<br />
Schläge erwartete ich fast schon. Ich wusste nicht mehr, wie ich mein<br />
Kind vor ihm schützen sollte. Hasserfüllt sah er mich an. Er hob die<br />
Hand, ballte sie zur Faust. Machtlos wie nie schloss ich die Augen.<br />
Aber nichts passierte.<br />
Ich öffnete die Augen und er stand weiter vor mir. Die noch immer<br />
geballte Faust hatte er sinken lassen. Er fixierte mich wortlos. Ich<br />
glaubte nicht, was ich sah. Der Hass in seinen Blicken wich Stück für<br />
Stück einer gewissen Hilflosigkeit. Ich hatte keine Ahnung, was plötzlich<br />
mit ihm los war. Er wandte sich ab, ging zur Tür. Wortlos zog er<br />
den Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schloss. Er machte einen<br />
Schritt zur Tür hinaus, drehte sich aber dann noch einmal um.<br />
„Ich weiß es auch nicht“, sagte er tonlos. Seine Blicke waren vollkommen<br />
leer. „Aber ich werde meine Entscheidung treffen. Darauf kannst<br />
du dich verlassen.“<br />
Ruhig zog er die Tür hinter sich zu. Völlig gelähmt hörte ich mit an,<br />
wie er von außen abschloss. Das war neu. Eingesperrt hatte er mich<br />
bisher noch nie. Heute ist mir klar, dass er es bis dahin nicht nötig gehabt<br />
hatte. Seine Macht über mich war viel stärker als ein lächerlicher<br />
Schlüssel es je sein konnte.<br />
158
Anzeige<br />
Er muss die Veränderung gespürt<br />
haben, die durch das Kind<br />
in meinem Bauch kam. Seine<br />
gewohnheitsmäßige Macht<br />
über mich hatte einen ersten<br />
Kratzer bekommen.<br />
Und er täuschte sich nicht: Hätte<br />
er mich in dieser Nacht nicht<br />
eingeschlossen, ich wäre geflohen,<br />
um mein Kind vor ihm zu<br />
retten. Ich wusste nicht genau,<br />
welche Gefahr von ihm ausging,<br />
aber ich zweifelte nicht daran,<br />
dass sie sehr groß war.<br />
Am nächsten Tag kam Maurice<br />
zur Welt. Die Geburt war<br />
unproblematisch. Marlies war<br />
eine gute Hebamme und es<br />
gab keine Komplikationen. Ein<br />
Arzt musste nicht hinzugezogen<br />
werden.<br />
Bruno sah ich während dieser<br />
Zeit nicht. Er hatte Marlies und<br />
mich allein gelassen und tauchte<br />
erst am Abend wieder auf,<br />
nachdem alles passiert war. Er<br />
verhielt sich seltsam neutral.<br />
Die erwartete Feindseligkeit<br />
gegenüber dem Kind blieb zunächst<br />
aus.<br />
Mir gegenüber war er gemäßigt<br />
freundlich. Auf Maurice warf er<br />
hin und wieder Blicke, die zwi-<br />
159
schen Skepsis und gelegentlich aufblitzender Neugier schwankten.<br />
Außer mit seinen Blicken berührte er ihn aber nicht.<br />
Die Hauptversorgung während der ersten Stunden und Tage nach der<br />
Geburt übernahm Marlies. Mein anfängliches Gefühl, sie könnte vielleicht<br />
eine Verbündete oder sogar Geliebte von Bruno sein, verflog<br />
immer mehr. Er hatte sie für diesen Job engagiert, das war alles.<br />
Die Herzlichkeit, die sie mir damals auf Mallorca entgegengebracht<br />
hatte, spürte ich nicht mehr. Sie war sachlich, kühl und distanziert.<br />
Aber sie verstand etwas von ihrer Arbeit. Über die seltsamen Umstände<br />
dieser Geburt schien sie sich keine Gedanken zu machen. Ich<br />
ging davon aus, dass sie von Brunos gewalttätigen Ausbrüchen nichts<br />
mitbekam.<br />
Sie verschwand, als Maurice drei Tage alt war. Kurz angebunden verabschiedete<br />
sie sich.<br />
„Meine Arbeit ist nun erledigt“, sagte sie.<br />
Ich war geschockt. Während der letzten Tage war sie eine wichtige<br />
Hilfe für mich gewesen.<br />
Später habe ich mich gefragt, warum sie sich nicht bei der Polizei<br />
gemeldet hat, als überall nach der Herkunft von Maurice gefahndet<br />
wurde. Außer Bruno und mir war sie die einzige Zeugin der Geburt.<br />
Sie musste einen triftigen Grund für ihr Schweigen haben, den ich<br />
nicht kannte.<br />
An dieser Stelle unterbrach ich das Lesen. In der Küche schenkte ich<br />
mir einen Kaffee ein und ging damit nach draußen. Ich setzte mich auf<br />
die alte Holzbank im Garten. Mir war zumute, als hätte ich die letzten<br />
Minuten mit Lara geredet. Sie war mir sehr nahe. Ich hatte ihr Gesicht<br />
so deutlich vor mir gesehen, als brauche ich die Hand nur danach auszustrecken.<br />
Ich war mit ihr hinab gestiegen in die Hölle ihrer damaligen Tage.<br />
Wahrscheinlich lebten große Teile von ihr auch heute noch darin. Ich<br />
hatte nur den einen Wunsch, ihr herauszuhelfen. Ich fragte mich, welche<br />
Rolle die Hebamme in dieser Geschichte spielte.<br />
160
Mein Kaffee wurde kalt, ich rührte ihn nicht an. Wie versteinert saß<br />
ich auf der Bank. Ich kann nicht sagen, ob es warm war oder kalt oder<br />
ob die Sonne schien. Ich kippte den Kaffee ins Gebüsch und wollte<br />
wieder ins Haus zurück. Aber mehr noch als Neugier spürte ich Angst<br />
vor dem, was Lara weiter geschrieben hatte. Der Boden unter meinen<br />
Füßen schwankte, ich setzte mich wieder. Plötzlich waren meine<br />
Gedanken bei Charlotte. Es gab niemanden, mit dem ich jetzt lieber<br />
geredet hätte. Ich glaubte fest daran, dass sie mir hätte weiterhelfen<br />
können.<br />
Ich sah sie so, wie sie bei dem Krankenhausbesuch von Lara und mir<br />
ausgesehen hatte. Vorher waren wir mit Maurice im Zoo gewesen. Es<br />
war das letzte Mal, dass ich Charlotte gesehen hatte. Wir saßen zusammen<br />
in der Cafeteria auf orangefarbenen Plastikstühlen und tranken<br />
viel zu dünnen Tee.<br />
„Ich spendiere eine Runde“, hatte Charlotte gesagt und fröhlich gelacht.<br />
Sie hatte einen Morgenmantel über ihr Nachthemd gestreift und die<br />
Haare straffer nach hinten gebunden als sonst, wodurch ihr Gesicht<br />
noch stärker zur Geltung kam. Sie sah sehr gut aus und schien voller<br />
Zuversicht.<br />
„Heute geht es mir viel besser“, sagte sie und lächelte ihr sanftes Lächeln.<br />
„Es wird nicht mehr lange dauern und ich bin wieder zu Hause.“<br />
In diesem Moment begriff ich nicht, von welchem Zuhause sie sprach.<br />
Sie fragte nach den Kindern der Seepferdchen-Gruppe. Lara erzählte<br />
länger von Maurice und wollte die anderen am Rande abhandeln.<br />
Aber Charlotte ließ das nicht zu. Sie gab erst Ruhe, als sie vollständig<br />
auf dem Laufenden war.<br />
Danach entstand eine längere Pause. Und plötzlich fühlte ich mich<br />
fehl am Platze.<br />
„Ich muss noch ein paar Einkäufe erledigen“, sagte ich zu Lara. „Ist es<br />
Ihnen Recht, wenn ich Sie in einer Stunde wieder abhole?“<br />
Die beiden Frauen wirkten so vertraut miteinander, ich störte da nur.<br />
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„Nichts da.“ Charlottes Tonfall<br />
duldete keinen Widerspruch.<br />
„Sie bleiben.“ Sie legte eine<br />
Hand auf meinen Arm und sah<br />
mich ernst an. „Wir werden uns<br />
nicht mehr oft sehen. Und ich<br />
möchte noch etwas mit Ihnen<br />
besprechen.“<br />
„Soll ich dann lieber gehen?“,<br />
fragte Lara. „Ich kann ja morgen<br />
noch einmal wiederkommen.“<br />
Sie war bereits aufgestanden.<br />
„Nein“, sagte Charlotte entschieden.<br />
„Ich möchte auch,<br />
dass du bleibst. Ich will mit<br />
euch beiden reden.“<br />
Überrascht sahen wir uns an,<br />
Lara setzte sich wieder. Charlotte<br />
schien zufrieden, sagte aber<br />
lange Zeit nichts. Manchmal<br />
sah sie aus dem Fenster, der<br />
Blick ging in einen langweiligen<br />
Garten, und manchmal schaute<br />
sie einen von uns beiden an. Es<br />
schien nicht, als suche sie nach<br />
Worten. Plötzlich dachte ich,<br />
dass sie uns vielleicht irgendwann<br />
ohne ein weiteres Wort<br />
gehen ließ. Und fast hatte ich<br />
mich schon damit abgefunden,<br />
als sie doch weiterredete.<br />
„Der Anfang“, sagte sie, „fällt<br />
mir nicht leicht.“ Wieder<br />
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schwieg sie und fuhr dann fort: „Ich werde sterben. Sehr bald.“ Lara<br />
und ich wollten protestieren, aber sie winkte unmissverständlich ab.<br />
„Wir sollten uns nichts vormachen“, sagte sie. „Schon gar nicht angesichts<br />
des Todes.“ Wir schwiegen betreten. Charlotte lächelte. „Aber<br />
ich möchte mit euch über etwas anderes reden als über den Tod.“<br />
Diesmal legte sie eine längere Pause ein.<br />
„Ich wünsche mir“, sagte sie schließlich, „dass ihr beide euch nicht<br />
aus den Augen verliert. Niemals.“<br />
Überrascht und etwas verlegen schauten wir uns an.<br />
„Ihr sollt mir das nicht versprechen“, fuhr sie fort. „Ich will nicht theatralisch<br />
werden. Ich wünsche es mir einfach. Ich weiß nicht, wie euer<br />
beider Leben weiter verläuft. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass<br />
es gut für euch ist, wenn ihr füreinander da seid. Zum Glück bin ich<br />
keine Hellseherin“ ¬– sie lachte ¬– „und weiß daher nicht, wie genau<br />
das aussehen kann. Aber ich will, dass ihr nicht den gleichen Fehler<br />
macht wie ich. Tretet nicht das Gute in eurem Leben mit Füßen. Das<br />
ist etwas, das man nie wieder loswird. Achtet darauf, achtet auf euch.<br />
Einen anderen Schatz findet man auf dieser Welt nicht, und wenn<br />
man noch so sehr danach sucht.“<br />
Ihre Worte hallten in meinem Kopf nach, während das Bild von Charlotte<br />
sich langsam zurückzog. Das mulmige Gefühl in meinem Bauch<br />
nahm sie mit sich. Als ich nun an meinen Schreibtisch ging, fühlte ich<br />
mich gestärkt für die Wahrheit.<br />
Kapitel 23<br />
„Aber Sie können doch nicht einfach so gehen“, sagte ich. „Ich brauche<br />
noch Hilfe.“<br />
In Wahrheit hatte ich auch Angst davor, erstmals mit Bruno und dem<br />
Baby allein zu sein.<br />
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„Die Hilfe, die Sie brauchen“, meinte sie ungerührt, „wird Ihr Mann<br />
Ihnen geben. Er ist ein guter Mann.“<br />
Ich resignierte vor diesen Worten und ließ sie ohne weiteren Widerspruch<br />
ziehen. Die Situation, vor der ich mich die ganze Zeit am meisten<br />
gefürchtet hatte, war eingetreten. Es war der Tag vor Heiligabend.<br />
Bruno änderte sein Verhalten noch immer nicht. Mir gegenüber blieb<br />
er weiter ruhig und freundlich. Er nahm jetzt sogar vorsichtigen Kontakt<br />
zu Maurice auf. Einmal streichelte er ihm über die Wange, wenn<br />
auch ohne zu lächeln.<br />
Als ich Maurice die Windel wechselte, sah er mir zu und blieb sogar<br />
im Zimmer, als ich ihn an die Brust nahm. Er betrachtete uns nachdenklich.<br />
Kurzzeitig glaubte ich an eine Wende.<br />
Aber es dauerte nicht lange und ich spürte, wie sich der Feind in ihm<br />
erneut aufbaute. Ich erkannte ihn sofort, er war mein alter Vertrauter.<br />
Diesmal aber konzentrierte er sich weniger auf mich als auf mein<br />
Kind.<br />
Ich wünsche mir nichts so sehr, Paul, als dass du ein halbwegs gutes<br />
Bild von mir in deinem Kopf und Herzen behältst. Deshalb schreibe<br />
ich dir dies alles. Und damit du dieses Bild weitergibst an meinen<br />
Sohn, wenn die Zeit dafür gekommen ist. An unseren Sohn, deinen<br />
und meinen.<br />
All meine Instinkte richteten sich nun auf den Schutz meines Babys.<br />
Ich selbst war nur wichtig als die einzige Person, die ihm diesen Schutz<br />
gewähren konnte. Um mein Kind zu retten, hätte ich mein eigenes Leben<br />
sofort hingegeben.<br />
Meine Ahnungen, dass Bruno Maurice nach dem Leben trachtete,<br />
verdichteten sich immer mehr. Ein Leben mit einem Kind, das durch<br />
einen Betrug an ihm entstanden war, konnte und wollte er nicht führen.<br />
„Dann lass uns gehen“, sagte ich vorsichtig. „Mein Kind und mich.“<br />
Das sollte eine Aufforderung sein, aber es klang wie eine Frage.<br />
Bruno lächelte mich nur müde an.<br />
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte er tonlos. „Dieses Balg hat mein Leben<br />
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zerstört. Mit deiner Hilfe. Und<br />
ich soll euch gehen lassen?“<br />
Ich brauchte ihn nicht anzusehen,<br />
um zu wissen, dass er seine<br />
Worte absolut ernst meinte.<br />
„Und wohin“, fragte er, „soll ich<br />
euch deiner Meinung nach gehen<br />
lassen. Vielleicht zu dieser<br />
Schwuchtel, mit der du mich<br />
hintergangen hast? Ja? Wäre<br />
das in deinem Sinne?“<br />
Äußerlich blieb er weiter ruhig,<br />
aber innerlich kochte er. Ich<br />
sagte nichts, registrierte aber<br />
jede seiner Bewegungen, jede<br />
noch so kleine Veränderung in<br />
seiner Mimik und Gestik übergenau.<br />
Deutlich sah ich, wie der<br />
Feind in ihm Stück für Stück die<br />
Oberhand gewann.<br />
Er sprach nicht aus, was er vorhatte.<br />
Weder mit Maurice noch<br />
mit mir. Aber es war klar, dass<br />
es nichts Gutes sein konnte.<br />
Mehr noch: Wenn er seine Andeutungen<br />
ernst meinte, und daran zweifelte ich keine Sekunde, gab<br />
es nur eine einzige Möglichkeit für ihn. Er musste mir Maurice wegnehmen.<br />
Und wohin sollte er mit ihm, wo ich ihn nicht wieder finden<br />
würde? Es gibt keinen Ort der Welt, an dem eine Mutter ihr Kind nicht<br />
findet.<br />
Außer jemand tötet das Kind.<br />
Ich hatte nur noch einen einzigen Gedanken: fort aus diesem Haus,<br />
in dem er mich als Gefangene hielt. Einfach mit meinem Kind weg<br />
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von diesem Ort. Egal wohin. Nur weg. Es war die einzige Möglichkeit,<br />
mein Baby zu retten.<br />
Er hatte mich eingesperrt, aber ich lauerte mit all meinen Sinnen auf<br />
den Moment der Schwäche und Unkonzentriertheit bei ihm, von dem<br />
ich wusste, dass er irgendwann kommen musste. Er war kein Übermensch,<br />
beileibe nicht. Und auch wenn ich einen vollen Tag darauf<br />
warten musste: Meine Chance kam.<br />
Bruno holte Holz aus dem Schuppen, um den Kaminofen damit anzufeuern<br />
und vergaß, die Tür zu meinem Zimmer zu verschließen. Ich<br />
streifte mir und Maurice in aller Eile eine Jacke über und wickelte ihn<br />
in eine Decke. Die Tür nach draußen war nur angelehnt. Ich riss sie<br />
auf und rannte hinaus. Es war eiskalt. Um das Haus herum war alles<br />
hell beleuchtet. Bruno war im Schuppen. Ich rannte einfach los. Mein<br />
erstes Ziel war es, den Schein des Lichtes hinter mir zu lassen. Aber<br />
kaum hatte ich das geschafft, hörte ich auch schon Bruno in wilder<br />
Wut meinen Namen rufen.<br />
Es war so dunkel, dass er mich unmöglich sehen konnte. Das Haus<br />
war so abgelegen, dass es in weitem Umkreis weder andere Häuser<br />
gab noch Straßenlaternen. Bruno hatte es sorgfältig ausgewählt.<br />
Er konnte mich zwar nicht sehen, aber wahrscheinlich hörte er mich.<br />
Aus dem Lichtschein heraus kam er genau auf mich zu. Ich rannte,<br />
rannte einfach wild drauflos. Die Wege waren mit einer dicken Eisschicht<br />
überzogen. Ich musste sehr vorsichtig sein mit Maurice auf<br />
dem Arm. Ich rannte zum Deich, dort hinauf und auf der anderen, der<br />
Wasserseite, wieder hinunter.<br />
Zuerst hörte ich Bruno noch hinter mir, mindestens eine oder zwei<br />
Minuten lang. Zwischenzeitlich war ich mir sicher, dass er näher kam,<br />
meine Panik wuchs. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er mich<br />
eingeholt hatte. Fast war es, als spüre ich schon seine Hand auf meiner<br />
Schulter. Aber dann schien er wieder zurückzubleiben. Das Geräusch<br />
seiner Schritte entfernte sich. Und irgendwann hörte ich nur<br />
den Wind, der auf der Wasserseite viel stärker war, und meinen eigenen<br />
Atem. Aus irgendeinem Grund schien Bruno zurückzubleiben.<br />
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Maurice war die ganze Zeit über vollkommen ruhig. Ich glaube, er<br />
spürte die Gefahr.<br />
Mehrere Minuten lief ich am Wasser entlang, ohne mich auch nur ein<br />
einziges Mal umzuschauen. Es war sehr glatt und es fiel mir schwer,<br />
mich auf den Beinen zu halten. Ein paar Mal war ich kurz davor zu<br />
stürzen, konnte es aber immer im letzten Moment verhindern. Inzwischen<br />
hatte ich Bruno schon lange nicht mehr gehört. Ich begann,<br />
mich ein kleines bisschen sicherer zu fühlen. Endlich traute ich mich,<br />
erstmals kurz stehen zu bleiben und mich umzudrehen. Im nächsten<br />
Augenblick erschrak ich so sehr, dass mein Herz fast stehen geblieben<br />
wäre. Keine hundert Meter hinter mir sah ich ihn. Schwach erkannte<br />
ich die Umrisse seines massigen Körpers. Mir wurde klar, dass ich ihn<br />
nur deshalb nicht gehört hatte, weil der Wind alle Geräusche gefressen<br />
hatte.<br />
Auch Bruno hatte offenbar Schwierigkeiten, nicht zu stürzen, kam<br />
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aber trotzdem unaufhaltsam näher. Natürlich rannte ich weiter, aber<br />
ich wusste, dass er mich früher oder später einholen würde. Auf Dauer<br />
hatte ich keine Chance gegen ihn. Er war schneller und er war allein.<br />
Immer häufiger blickte ich nun über die Schulter zurück. Stück<br />
für Stück arbeitete er sich an mich heran.<br />
Als der Abstand keine zwanzig Meter mehr betrug, und ich seine<br />
Schritte schon wieder hörte, stürzte er. Ich witterte Morgenluft und<br />
schaffte es tatsächlich, noch einmal zuzulegen.<br />
Mein Baby! Ich dachte nur noch an Maurice. Ich bestand nur noch<br />
aus Angst um ihn, für etwas anderes war kein Platz mehr in mir. Was<br />
würde Bruno mit ihm machen, wenn er mich eingeholt hatte?<br />
Zunächst aber kam er nicht so schnell wieder hoch, wie ich befürchtet<br />
hatte. Mein Vorsprung vergrößerte sich erneut. Dann urplötzlich<br />
tauchte wie ein großer Felsen der runde Backsteinbau aus dem Dunkel<br />
auf. Scharf zeichneten sich die Konturen gegen den klaren Himmel<br />
ab. Er war keine dreißig Meter mehr entfernt. Ich musste ihn erreichen,<br />
bevor Bruno wieder hoch war und sein altes Tempo aufgenommen<br />
hatte.<br />
Ich kam an, rannte um das Haus herum und drückte die Klinke der<br />
alten Eisentür herunter. Sie war offen. Im Innern war es noch einmal<br />
dunkler als draußen. Ich kauerte mich hinter einen Mauervorsprung<br />
und versuchte, meinen Atem so schnell wie möglich zu beruhigen.<br />
Ganz sicher würde Bruno bald auch hier sein, aber vielleicht hatten<br />
wir eine Chance, wenn er uns nicht hörte. In diesem Augenblick begann<br />
Maurice zu schreien. Verzweifelt versuchte ich, seinen Mund<br />
zuzuhalten, aber das war unmöglich, weil er dann keine Luft mehr<br />
gekriegt hätte. Ich wollte ihn beruhigen, aber das gelang mir nicht.<br />
Natürlich fror er und ohne jeden Zweifel war er voller Angst. Dann<br />
plötzlich öffnete sich die Tür.<br />
Obwohl ich damit gerechnet hatte, erschrak ich furchtbar. Es konnte<br />
nur Bruno sein. Maurice war zwar leiser geworden, aber zwischendurch<br />
krähte er noch immer etwas. Gerade wollte ich mit letzter Kraft<br />
und Verzweiflung aufspringen und an Bruno vorbei wieder hinaus<br />
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rennen. Was sonst sollte ich tun? Sitzen bleiben und warten, bis er<br />
uns fand? Dann hörte ich eine Stimme. Deine Stimme, Paul, die ich<br />
damals noch nicht kannte.<br />
„Hallo?“<br />
Nur dieses eine Wort, doch es reichte, um zu wissen, dass es nicht<br />
Bruno war. Aber ich musste mich täuschen. Wer außer ihm sollte<br />
es sein? Aber du kamst näher und meine Zweifel schwanden: Auch<br />
wenn ich kein Gesicht erkennen konnte, sah ich jetzt doch, dass es<br />
nicht Bruno war. Ich wusste nicht, ob ich an ein Wunder oder eine<br />
Geistererscheinung glauben sollte.<br />
Ganz offensichtlich suchtest du nach etwas. Und ich brauchte nicht<br />
viel Phantasie, um zu begreifen, dass das nur das Baby sein konnte.<br />
Du hattest sein Schreien gehört. Aber Maurice war jetzt wieder ganz<br />
ruhig. Und blitzartig fasste ich meinen Entschluss.<br />
Alles musste schneller gehen, als irgendjemand denken konnte, denn<br />
auch Bruno konnte jeden Moment hier auftauchen. Ich legte Maurice<br />
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so auf die Erde, dass du fast darüber stolpern musstest, und zog mich<br />
selbst ein Stück zurück. Wie geplant hast du ihn sofort gefunden und<br />
hochgehoben.<br />
Für Maurice bedeutete das noch nicht die Rettung, aber doch ein großes<br />
Stück Sicherheit. Eine Sicherheit, die ich ihm nicht geben konnte.<br />
Ich sprang auf und rannte an dir vorbei nach draußen. Ich spürte, dass<br />
du mir ein Stück folgtest und dann stehen bliebst. Du schienst völlig<br />
überrumpelt von der Situation, was natürlich klar war.<br />
Ich rannte am Wasser entlang einfach drauflos. Ohne Maurice auf<br />
dem Arm kam ich schneller voran. Als ich mich erstmals umdrehte,<br />
warst du bereits verschwunden. Aber ich sah auch, dass Bruno meine<br />
Spur wieder aufgenommen hatte. Mir schien, dass er schwer humpelte,<br />
wahrscheinlich vom Sturz her. Der Sturz, der die Rettung war. In jedem<br />
Fall die Rettung für Maurice. Und vielleicht sogar für mich, denn<br />
mein Vorsprung auf Bruno wuchs schnell. Das letzte, was ich von ihm<br />
hörte, war ein Fluch. Für einen Sekundenbruchteil durchströmte mich<br />
ein Gefühl grenzenloser Erleichterung.<br />
Die Erleichterung hielt damals nur kurz, aber sie war sehr schön. Ein<br />
bisschen was davon spüre ich jetzt noch einmal. Und darüber hinaus<br />
habe ich gerade ein fast noch schöneres Gefühl. Das hat mit dir zu<br />
tun, Paul. Es tut mir gut, dass du bald als zweiter Mensch meine Geschichte<br />
kennen wirst.<br />
Ich werde mich später noch einmal bei dir melden.<br />
Mit allen guten Gefühlen, die ich in mir habe, küsse ich Maurice und<br />
dich!<br />
Lara<br />
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Kapitel 24<br />
Seit der Beerdigung war ich nicht mehr an Charlottes Grab gewesen.<br />
Das wollte ich jetzt nachholen. Ich vermisste sie in diesen Tagen sehr.<br />
Sie war nicht nur klug und offen, sie hatte auch eine besondere Beziehung<br />
zu Lara gehabt. Sie hätte gewusst, von wem ich redete. Sie hätte<br />
die Dinge einordnen können, was nicht einfach war. Und sie hätte<br />
meine Gefühle für Lara verstanden, die mit jeder Stunde und jedem<br />
Tag ihrer Abwesenheit immer noch größer wurden.<br />
Es war früher Abend. Nach einem schönen Vormittag bedeckte nun<br />
eine dichte Wolkenschicht den Himmel. Noch regnete es nicht, aber<br />
der Geruch von Regen lag bereits in der Luft. Eine erste leichte Dämmerung<br />
hatte früh eingesetzt.<br />
Es war nicht ganz einfach, Charlottes Grabstelle auf dem großen städtischen<br />
Friedhof zu finden. Zweimal verhedderte ich mich völlig und<br />
musste von vorn beginnen. Schließlich aber stand ich vor ihrem Grab.<br />
Ich hatte einen Strauß gelber Rosen für sie mitgebracht. Es gab keine<br />
Vasen und ich legte ihn auf die Erde.<br />
Charlotte war mit im Grab ihres Mannes beerdigt worden, der Grabstein<br />
war noch nicht zurück. Ich erinnerte mich, dass der Name ihres<br />
Mannes Enno war und ich dachte an die Geschichte seines Todes. An<br />
die Schuld, die Charlotte danach mit sich herumgeschleppt hatte. Ich<br />
fragte mich, ob es eine Möglichkeit gab, solche Missverständnisse<br />
wenigstens nach dem Tod wieder auszubügeln, kam aber zu keiner<br />
Antwort.<br />
Als ich an ihrem Grab stand, fühlte ich mich Charlotte sehr nahe. Und<br />
ich wusste, dass es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Ich sah<br />
ihr Gesicht ganz klar vor mir. Ich sah ihr Lächeln und ich hörte den<br />
warmen Klang ihrer Stimme so deutlich, als sei sie bei mir.<br />
Ich stand vor ihrem Grab und mir wurde klar, dass ich als Ratsuchender<br />
gekommen war. Mein Verstand sagte, das sei lächerlich, aber<br />
mein Instinkt wusste es besser.<br />
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175<br />
Ich setzte mich in der Nähe<br />
des Grabes auf eine Bank und<br />
schloss die Augen. Das Gefühl<br />
von Charlottes Nähe wurde<br />
intensiver. Und plötzlich kam<br />
auch Lara hinzu. Das war das<br />
Seltsamste, was ich je erlebt<br />
hatte. Es war, als säßen wir drei<br />
wie an einem Tisch in meinem<br />
Innern zusammen.<br />
Wir redeten miteinander. Deutlich<br />
hörte ich Laras Stimme, aber<br />
ich verstand ihre Worte nicht.<br />
Sie lächelte mich an. Charlotte<br />
sah uns beide noch einmal an<br />
und verschwand dann, um uns<br />
alleine zu lassen, wofür ich ihr<br />
jetzt dankbar war. Ich wollte<br />
Lara berühren, aber als ich die<br />
Hand nach ihr ausstreckte, war<br />
da plötzlich nichts mehr. Laras<br />
Bild verschwand im Licht. Dafür<br />
war da nun eine andere Frau,<br />
die ich noch nie gesehen hatte.<br />
Sie hatte eigentlich kein Gesicht,<br />
aber ich wusste sofort,<br />
dass es Marlies Schwalm war.<br />
Sie lachte. Ihr Lachen wurde<br />
lauter. Plötzlich war ich sicher,<br />
dass sie mich auslachte und<br />
wurde wütend. Davon wachte<br />
ich auf. Ich fror, es war deutlich<br />
kälter geworden.
Ich war auf der Bank eingenickt und hatte geträumt, aber es war ein<br />
sehr intensiver Traum gewesen. Ich rieb mir die Augen und trat noch<br />
einmal kurz an das Grab.<br />
„Adieu, Charlotte“, sagte ich leise. „Ich danke dir. Für alles. Ich werde<br />
dich nie vergessen.“<br />
Ich drehte mich um und schlenderte los, weiter ein bisschen verfangen<br />
in den Nachwirkungen meines Traums, aber wenigstens verlief<br />
ich mich diesmal nicht. Ich hatte das Ausgangstor schon vor Augen<br />
und sah gerade noch, wie jemand hinausging und sofort verschwand.<br />
Es war eine Frau. Es war Lara.<br />
Ich sprang auf und rannte ihr hinterher. Ich rief ihren Namen, aber sie<br />
schien mich nicht zu hören und blieb verschwunden. Der Friedhof lag<br />
inmitten eines waldähnlichen Parks. Ich lief ein Stück nach links und<br />
nach rechts, konnte Lara aber weit und breit nicht entdecken. Es war,<br />
als hätte sie sich in Luft aufgelöst.<br />
Ich zweifelte an meinem Verstand. Kriegte ich allmählich Wahnvorstellungen?<br />
Es konnte wohl nicht anders sein. Aber die Frau, die ich<br />
gesehen hatte als sie eilig den Friedhof verließ, hatte nicht nur die<br />
gleichen Haare wie Lara und einen verblüffend ähnlichen Gang, sie<br />
trug sogar dieselbe kurze Nappalederjacke, die Lara sich erst vor ein<br />
paar Wochen gekauft und mir voller Stolz präsentiert hatte.<br />
Noch einmal ging ich links hoch zum Parkplatz. Noch einmal schaute<br />
ich rechts den langen, schnurgeraden Weg hinunter. Lara blieb verschwunden.<br />
Auch sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen.<br />
Dann kam ein Jogger aus Richtung Parkplatz und ich fragte ihn, ob er<br />
eine Frau gesehen habe. Er schüttelte den Kopf.<br />
„Sie sind“, sagte er atemlos, „definitiv der erste Mensch, den ich sehe,<br />
seit ich im Park bin.“ Dicke Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.<br />
Mit einem kurzen Gruß lief er weiter.<br />
Ich setzte mich ins Auto und fuhr langsam los. Immer die nach links<br />
und rechts abzweigenden Wege absuchend, ob da nicht doch jemand<br />
war, den man wenigstens mit Lara hätte verwechseln können.<br />
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Kapitel 25<br />
Auf der Hamburger Stadtautobahn geriet ich in den morgendlichen<br />
Berufsverkehr. Obwohl ich eigentlich Zeit hatte, platzte ich fast vor<br />
Ungeduld. Ich wurde nicht müde, die anderen Autofahrer zu beschimpfen,<br />
obwohl sie auch nur Opfer waren. Im Elbtunnel kam der<br />
Verkehr zeitweise zum völligen Erliegen und ich bewegte mich am<br />
Rande eines Nervenzusammenbruchs. Als die Kolonne endlich wieder<br />
losrollte atmete ich auf.<br />
Eine Stunde später stand ich vor dem Haus von Marlies Schwalm. Ihre<br />
Geschäfte schienen nicht schlecht zu laufen, denn es war ein hübsches<br />
Häuschen in teurer Wohngegend. Es lag ein Stück von der Straße<br />
zurück inmitten eines prächtigen Gartens.<br />
Plötzlich zweifelte ich an der Richtigkeit meiner Mission. Wie sollte<br />
ich anfangen? Am Telefon hatte ich der Hebamme nicht nur einen<br />
falschen Namen genannt, sondern auch eine falsche Geschichte aufgetischt.<br />
Daran anzuknüpfen, erschien mir absurd. Aber war Ehrlichkeit<br />
eine Alternative? Ohne eine befriedigende Antwort gefunden zu<br />
haben, stieg ich aus dem Auto, ging zum Haus und klingelte.<br />
Obwohl Marlies Schwalm in meinem Traum gesichtslos gewesen war,<br />
wusste ich doch sofort, dass sie es selbst war, die mir die Tür geöffnet<br />
hatte. Sie war Anfang vierzig und sah auf den ersten Blick extrem gut<br />
aus. Sie war schlank und groß. Schon zu dieser frühen Stunde war<br />
sie perfekt geschminkt, das Styling ihrer blonden Locken ließ nichts<br />
zu wünschen übrig. Sie trug einen eleganten grauen Hosenanzug. Ich<br />
gebe zu, dass ich mir Hebammen immer anders vorgestellt hatte.<br />
„Mein Name ist Paul Thailer“, sagte ich.<br />
„Guten Morgen.“ Sie erwiderte mein Lächeln nicht. „Ich bin Marlies<br />
Schwalm. Was kann ich für Sie tun?“<br />
„Meine Frau ist schwanger“, improvisierte ich. „Wir sind auf der Suche<br />
nach einer geeigneten Hebamme. Ich wollte mich nach Ihren Geschäftsbedingungen<br />
erkundigen.“<br />
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Nach einem skeptischen Blick bat sie mich herein. Sie führte mich in<br />
ihr Büro, das mit vorrangig weißen Möbeln modern und schnörkellos<br />
ausgestattet war. Ich setzte mich auf den Schwingsessel, den sie mir<br />
zuwies. Alles hier schien perfekt. Das einzige, was fehlte, war Wärme.<br />
Auch das hatte ich mir in einer Hebammenpraxis anders vorgestellt.<br />
„Kaffee?“, fragte sie.<br />
Obwohl ich eine Tasse hätte vertragen können, lehnte ich ab. Warum,<br />
hätte ich nicht genau sagen können. Marlies Schwalm schenkte sich<br />
einen Kaffee ein und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.<br />
„Es ist ungewöhnlich“, meinte sie, „dass ein Mann zu einem solchen<br />
Gespräch allein kommt.“<br />
Zum ersten Mal lächelte sie, aber auch ihr Lächeln war kühl. Ihre Blicke<br />
bohrten sich forschend in meine Augen. Ich fühlte mich unbehaglich.<br />
„Das mag schon sein“, antwortete ich. „Aber mein Plan ist auch etwas<br />
ungewöhnlich.“<br />
Sie hielt die Untertasse in der rechten Hand und führte die Tasse mit<br />
der linken zum Mund. Eine dezente Neugier breitete sich in ihrem<br />
Gesicht aus. Ich sagte erstmal nichts. Dampf stieg aus der Tasse auf,<br />
Kaffeeduft verbreitete sich im Raum.<br />
„Und?“, hakte sie nach. „Darf ich mehr erfahren?“<br />
„Nun, die Sache ist etwas ungewöhnlich …“, wiederholte ich.<br />
„Das sagten Sie bereits.“ Sie stellte Tasse samt Untertasse auf dem<br />
Tisch ab. „Was kann ich denn in dieser ungewöhnlichen Angelegenheit<br />
für Sie tun?“ Die Ironie in ihrer Stimme, die ich bereits vom Telefon<br />
kannte, war nicht zu überhören.<br />
„Nun“, druckste ich weiter herum. „Der errechnete Geburtstermin ist<br />
der 24. Dezember, Heiligabend.“<br />
„Wie schön“, sagte sie nüchtern.<br />
„Könnte ich jetzt vielleicht doch einen Kaffee bekommen? Schwarz?“<br />
Sie stand auf, schenkte eine Tasse ein und reichte sie mir wortlos.<br />
„Meine Frau mag die Nordsee“, sagte ich und gewann langsam an Sicherheit.<br />
„Gerade im Winter. Im Sommer ist sie lieber in den Bergen.“<br />
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„Könnten Sie bitte zur Sache kommen“, meinte sie. „Ich habe gleich<br />
einen Termin.“<br />
„Ja, natürlich“, antwortete ich. „Entschuldigung. Es ist nur, weil die<br />
Sache etwas …“<br />
„… ungewöhnlich ist“, ergänzte sie meinen angefangenen Satz fast gelangweilt.<br />
„Ich weiß.“ Sie lächelte nicht mehr.<br />
„Ich habe mir gedacht“, sagte ich, „es wäre doch eine tolle Überraschung<br />
für meine Frau, wenn sie ihr Kind – das wäre dann mein Weihnachtsgeschenk,<br />
weshalb sie heute auch nicht mit hier ist – an der<br />
Nordsee zur Welt bringen könnte.“<br />
Marlies Schwalm war eine extrem beherrschte Frau, daran zweifelte<br />
ich nicht. Trotzdem schaffte sie es in diesem Moment nicht vollständig,<br />
sich unter Kontrolle zu halten. Vielleicht sah ich es aber auch nur,<br />
weil ich auf die Reaktionen in ihrem Gesicht lauerte wie ein Tiger auf<br />
Beute. Bevor sie etwas entgegnen konnte, hatte sie einen dicken Brocken<br />
hinunterzuschlucken.<br />
„Ich verstehe“, sagte sie. „Eine wirklich nette Idee. Was ich nicht verstehe,<br />
ist meine Rolle in dieser Angelegenheit.“<br />
Kaum merklich zitterte ihre Hand, als sie nun erneut ihre Kaffeetasse<br />
zum Mund führte. Ich sah ihr an, dass sie sich maßlos über sich selbst<br />
ärgerte.<br />
„Nun, Sie sind Hebamme.“ Meine Sicherheit wuchs während ihre<br />
schrumpfte. Meine Position in diesem Gespräch hatte sich klar verbessert.<br />
Locker lehnte ich mich zurück, ohne Marlies Schwalm auch<br />
nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. „Und eine Hebamme<br />
werden wir schon brauchen. Es ist zwar nicht das erste Kind, aber…<br />
ich stelle mir das so vor: Wir mieten ein Ferienhaus an der Nordsee,<br />
etwas abgelegen, vielleicht an der Küste bei Wilhelmshaven. Meiner<br />
Frau sage ich, dass wir ins Krankenhaus fahren, wenn es soweit ist. In<br />
Wahrheit aber rufe ich Sie, Frau Schwalm, rechtzeitig an. Sie kommen<br />
und es kann losgehen. Meine Frau wird Augen machen.“<br />
Allein bei der Vorstellung schien ich mir innerlich die Hände zu reiben.<br />
Offenbar konnte ich meine Begeisterung kaum zügeln.<br />
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„Nun, was halten Sie davon, Frau Schwalm? Sind Sie dabei? Machen<br />
Sie mit?“<br />
Mit nun wieder ruhiger Hand trank sie den nächsten Schluck Kaffee.<br />
„Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?“, fragte sie. Die Kontrolle<br />
über sich hatte sie vollständig zurückgewonnen. Ihre Selbstbeherrschung<br />
war wirklich bemerkenswert.<br />
„Sie sind mir empfohlen worden“, gab ich so ruhig wie möglich zurück.<br />
„Vielleicht kommen Sie sogar drauf, von wem.“<br />
Die Pause, die sie sich genehmigte, dauerte höchstens drei Sekunden.<br />
Wir lächelten uns an. An Falschheit stand sich unser beider Lächeln<br />
in nichts nach.<br />
„Warum haben Sie am Telefon nicht Ihren richtigen Namen genannt?“,<br />
fragte sie schließlich selenruhig. „Und mir diese absurde kleine Geschichte<br />
aufgetischt?“<br />
Ich überging ihre Frage.<br />
„Schade“, sagte ich stattdessen, „dass Sie mein Ratespiel nicht mitspielen.<br />
Dann spielen wir es doch einfach zusammen. –¬ Wer käme<br />
denn da in Frage? Bruno Kirchhoff ist, wie Sie mir selbst erzählt haben,<br />
seit über zwei Jahren tot. Er kann es also nicht gewesen sein. –<br />
Aber ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Die Empfehlung<br />
kommt von einer Frau. Na? ¬– Richtig: Lara Braun.“<br />
Fragend schaute Marlies Schwalm mich an. Ihr Erstaunen war echt.<br />
„Oder wie hieß sie damals?“, fragte ich. „Lara Kirchhoff?“<br />
„Wenn sie die Frau von Bruno Kirchhoff meinen“, antwortete sie emotionslos,<br />
„ihr Name war Isabelle Kirchhoff.“<br />
„Isabelle Kirchhoff“, sagte ich, „heißt heute Lara Braun. Und sie hat<br />
mir von Ihnen erzählt. Sie hält sie für eine großartige Hebamme. Und<br />
vor allen Dingen für eine, die auch mal solche … ungewöhnlichen Aktionen<br />
begleitet. ¬– Was meinen Sie dazu?“<br />
Ich trank einen Schluck Kaffee. Da er inzwischen lauwarm geworden<br />
war, schob ich die halbvolle Tasse beiseite.<br />
„Lassen Sie uns mit dem Theaterspielen aufhören“, sagte Marlies.<br />
„Eine Weile war es ja ganz nett, aber jetzt würde ich vorschlagen, Sie<br />
181
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183<br />
Anzeige
sagen mir einfach, warum Sie zu mir gekommen sind. Ich gehe mal<br />
davon aus, dass Sie keine schwangere Frau haben.“<br />
„Womit Sie richtig liegen“, bestätigte ich.<br />
„Also?“<br />
„Warum haben Sie damals nicht angezeigt, dass Sie an genau dem<br />
Küstenstreifen eine Geburt hatten, an dem nur ein paar Tage später<br />
ein Säugling gefunden wurde? Die Meldungen in den Medien können<br />
Sie ja kaum übersehen haben.“<br />
Auch sie schob jetzt ihre Kaffeetasse beiseite und beugte sich auf dem<br />
Schreibtisch ganz leicht nach vorne. Irgendetwas an ihrer Fassade<br />
schien plötzlich zu bröckeln. Im Gegenzug bröckelte ein kleines Stück<br />
meiner Antipathie.<br />
„Ich könnte Ihnen jetzt natürlich erzählen“, sagte sie schließlich, „ich<br />
sei gleich nach dieser Geburt auf eine große Reise gegangen und hätte<br />
von dem ganzen Theater deshalb nichts mit bekommen…“<br />
„Was ich Ihnen“, schob ich ein, „natürlich nicht glauben würde.“<br />
„Sicher nicht“, sagte sie. „Und ich müsste Angst haben, dass Sie sich<br />
mit Ihrem Wissen an die Polizei wenden. Denn natürlich habe ich mich<br />
damals strafbar gemacht. Und deshalb sage ich Ihnen lieber gleich die<br />
Wahrheit.“<br />
„Ich höre…“<br />
Sie lehnte sich wieder zurück. Als einziges erkennbares Zeichen innerer<br />
Unruhe drehte sie minimal, dafür aber permanent ihren Stuhl hin<br />
und her.<br />
„Ich habe damals schon die Geburt nicht gemeldet“, fuhr sie schließlich<br />
fort, „wozu ich natürlich verpflichtet bin. Egal ob ein Kind gefunden<br />
wird oder nicht. Aber ich bin auch nicht zur Polizei gegangen,<br />
nachdem ich von dem Babyfund erfahren hatte. Obwohl mir sofort<br />
klar war, dass es sich um das Kind der Kirchhoffs handelte.“<br />
„Und warum haben Sie es nicht getan?“, fragte ich.<br />
Eine Weile suchte sie nach den richtigen Worten.<br />
„Ich habe Bruno Kirchhoff geliebt“, sagte sie schließlich und sah mich<br />
direkt an.<br />
184
Anzeige<br />
Als sie erkannte, dass ich nicht<br />
so erstaunt war wie sie es erwartet<br />
hatte, entspannte sie<br />
sich etwas.<br />
„Aber der war doch zu diesem<br />
Zeitpunkt schon tot“, sagte<br />
ich. „Oder etwa nicht?“<br />
„Doch“, sagte sie schnell. „Natürlich<br />
war er tot. Aber ich<br />
hatte mich ja schon strafbar<br />
gemacht, indem ich die Geburt<br />
des Kindes, auf sein Verlangen<br />
hin, nicht gemeldet<br />
hatte. Und das war nicht das<br />
Einzige. Natürlich hatte ich<br />
mitbekommen, dass Bruno<br />
seine Frau in dem Ferienhaus<br />
wie eine Gefangene hielt.<br />
Wäre das alles ans Tageslicht<br />
gekommen, hätte ich meine<br />
Praxis sofort schließen können.“<br />
„Also sagten Sie lieber nichts.“<br />
„Nach allem, was ich über die<br />
Presse mitbekam“, entgegnete<br />
sie, „hatte ich auch nicht<br />
den Eindruck, dass dem Kind etwas fehlte.“<br />
„Vielleicht seine Mutter?“<br />
Nervös sah sie zur Uhr. Sie hatte von einem Termin gesprochen.<br />
„Darüber habe ich natürlich auch nachgedacht“, sagte sie und zum<br />
ersten Mal huschte ein leichter Zweifel über ihr Gesicht. „Aber<br />
schließlich hatte sie das Kind ja ausgesetzt. Fehlt eine solche Mutter<br />
dem Kind wirklich?“<br />
185
Ich gab ihr keine Antwort. Neben Maurice war Lara das Opfer in dieser<br />
Geschichte. Ich fand nicht, dass wir ausgerechnet über sie zu Gericht<br />
sitzen sollten.<br />
Lara war davon ausgegangen, dass Marlies Schwalm nicht tiefer in die<br />
Sache involviert war. Mittlerweile erschien es mir immer wahrscheinlicher,<br />
dass sie sich damit irrte.<br />
„Wollte Kirchhoff das Baby töten?“, fragte ich.<br />
Fast verächtlich sah sie mich an.<br />
„Wie kommen Sie denn darauf?“<br />
„Wollte er?“, wiederholte ich die Frage.<br />
„Unsinn!“, sagte sie entschieden.<br />
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Marlies Schwalm stand sofort<br />
auf. Ich wollte das Gleiche tun, aber zu meiner Überraschung bat<br />
sie mich, noch sitzen zu bleiben.<br />
„Ich bin gleich wieder bei Ihnen“, sagte sie. „Dann können wir das Gespräch<br />
gern in Würde beenden.“<br />
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter<br />
sich. Draußen hörte ich gedämpfte, aber aufgeregte Stimmen. Nur<br />
kurze Zeit später war Marlies Schwalm zurück. Plötzlich war nicht<br />
mehr die Rede davon, das Gespräch in Würde zu beenden.<br />
„Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte“, sagte sie stattdessen, ohne sich<br />
selbst wieder zu setzen. Irgendetwas musste in der Zwischenzeit passiert<br />
sein.<br />
Verblüfft sah ich sie an, stand aber auf.<br />
„Sie sind mir noch eine Antwort schuldig“, sagte ich.<br />
„Das glaube ich kaum“, antwortete sie schnippisch und ging zur Tür.<br />
„Ich habe Ihnen schon erklärt, dass Ihre Unterstellung, oder die Ihrer<br />
Freundin, vollkommen absurd ist. Natürlich wollte Bruno das Kind<br />
nicht töten. Er wollte seine Frau für ihre Untreue bestrafen, das war<br />
klar. Und er wollte erreichen, dass sie das Kind zur Adoption freigab.<br />
Das ist alles. Er hätte niemals … dafür war er ein viel zu guter Mensch.“<br />
Wir gingen über den Flur zur Haustür, die sie mir öffnete. Ihren „Termin“<br />
hatte sie offenbar in ein anderes Zimmer gelotst.<br />
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Anzeige<br />
„Und in dieser wohlmeinenden Absicht“, sagte ich ironisch, „hat er<br />
seine Frau so sehr unter Druck gesetzt, dass sie Angst um das Leben<br />
ihres Kindes hatte. Ein richtiger Gutmensch, der liebe Bruno.“<br />
„Auf Wiedersehen“, antwortete sie regungslos.<br />
Ich stand vor dem Haus und sie war im Begriff, die Tür hinter mir zu<br />
schließen.<br />
„Woran ist Kirchhoff eigentlich gestorben?“<br />
Meine überraschende Frage hatte auf sie die Wirkung einer Backpfeife.<br />
Deutlich sichtbar zuckte sie zusammen. Sie fragte sich, ob es klüger<br />
war, mir zu antworten oder nicht.<br />
„Er hatte einen Unfall“, sagte sie schließlich. Irgendwie klang das trotzig.<br />
„Einen Unfall?“ Ich machte noch einmal einen Schritt aufs Haus zu<br />
und wartete gespannt auf eine nähere Erklärung.<br />
„Mit dem Auto?“<br />
„Nein“, sagte sie. „Er ist gestürzt. Es war glatt, er ist ausgerutscht und<br />
187
unglücklich mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen. Wie ermittelt<br />
wurde, war er wohl sofort tot.“<br />
Ich brauchte ein paar Sekunden, bis die Information wirklich bei mir<br />
gelandet war.<br />
„Wann genau ist das passiert?“, fragte ich schließlich. „In der Weihnachtsnacht?“<br />
„Das wissen Sie schon?“ Sie klang unbeteiligter als je zuvor.<br />
„War nur eine Vermutung“, sagte ich. „Ich weiß überhaupt nichts.“<br />
Eine Weile schwiegen wir beide. Sie hielt die Tür weiter in der Hand.<br />
„Und Sie“, fragte ich schließlich. „Was wissen Sie noch?“<br />
„Nichts weiter“, meinte sie. „Alles was ich weiß in dieser Sache, wissen<br />
Sie nun auch. – Ich muss jetzt hineingehen. Ich lasse Menschen<br />
nur ungern warten. – Auf Wiedersehen.“<br />
Die Tür ging zu. Ich hatte keine Ahnung, was ich von alldem halten<br />
sollte. Langsam ging ich zurück zu meinem Auto.<br />
Kapitel 26<br />
Den Zettel an der Windschutzscheibe entdeckte ich erst nach ein paar<br />
Hundert Metern. Ich dachte an Werbung und schaltete den Scheibenwischer<br />
ein, damit er davonflog. Erst im allerletzten Moment sah ich,<br />
dass es eine handschriftliche Nachricht war. Meine Reaktion kam zu<br />
spät, der Zettel flatterte davon.<br />
Ich bremste abrupt, was beinahe zu einem Auffahrunfall führte. Der<br />
Fahrer hinter mir fluchte wie ein Droschkenkutscher. Ich fuhr an die<br />
Seite und stieg aus. Auf der anderen Fahrbahnseite sah ich den Zettel<br />
im Wind immer weiter davon flattern und rannte ihm hinterher. Es<br />
dauerte eine Weile, bis ich ihn eingeholt hatte. Ich hob ihn auf und<br />
sah, dass die Zeilen von Lara unterschrieben waren. Als ich las, pochte<br />
mein Herz im Hals.<br />
188
Paul,<br />
hab dein Auto zufällig entdeckt. Habe einen Termin bei Marlies<br />
Schwalm. Es gibt noch Wichtiges zu klären. Wahrscheinlich bist du<br />
auch bei ihr. Ich möchte dich bei ihr nicht treffen. Aber später. Sagen<br />
wir um 15 Uhr?<br />
Sie schlug ein Café an der Außenalster vor. Mein Herz machte einen<br />
Luftsprung. Ich widerstand der Versuchung, sofort zum Haus von<br />
Marlies Schwalm zurückzufahren. Wenn ich Lara um 15 Uhr treffen<br />
würde, war alles gut.<br />
Als ich schließlich um halb drei an einem kleinen Tischchen vor diesem<br />
Café unter einem Sonnenschirm saß, war ich mir praktisch sicher,<br />
dass Lara nicht kommen würde. Ich wusste nicht, warum das so war,<br />
aber mittlerweile hätte ich auf ihr Erscheinen keinen Pfifferling mehr<br />
gegeben.<br />
In der Zwischenzeit hatte ich bei Nina angerufen. Maurice ging es gut,<br />
er kam ans Telefon. Ihn zu hören war wie Balsam für meine strapazierten<br />
Nerven. Ich erzählte Nina, dass ich in Hamburg war, sagte aber<br />
nichts über meine Motive.<br />
Ich versuchte, Zeitung zu lesen. Als ich mich dabei ertappte, dieselbe<br />
Zeile zum x-ten Male zu lesen, ohne ein Wort verstanden zu haben,<br />
faltete ich die Zeitung zusammen. Die Minuten krochen wie Schnecken<br />
auf Klebstoff. Es wehte ein leichter, warmer Wind. Die Menschen<br />
waren in Massen unterwegs.<br />
Das Café war bis auf den letzten Tisch besetzt. Es war nicht einfach,<br />
den zweiten Stuhl an meinem Tisch zu verteidigen, aber es vertrieb<br />
mir ein wenig die Zeit. Um viertel nach drei war Lara noch immer<br />
nicht da. Meine Enttäuschung schmeckte bitter. Mir war schlecht von<br />
zu viel Kaffee, mein Kreislauf flatterte wie Wäsche im Wind. Ich bestellte<br />
die nächste Tasse.<br />
Um vier Uhr zahlte ich und ging. Ein älteres Ehepaar, das lange gewartet<br />
hatte, stürmte den Tisch.<br />
Am Jungfernstieg ergatterte ich ein freies Plätzchen auf einer Bank.<br />
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Anzeige<br />
190
Ich betrachtete Möwen, Tauben, Skateboardfahrer und Touristen mit<br />
Videokameras. Junge Frauen präsentierten in neuster Sommermode<br />
ihre körperlichen Vorzüge.<br />
Ohne Entschluss trieb ich weiter. Meine Gedanken flatterten durcheinander<br />
wie Blätter im Herbststurm. Ich entschloss mich, in Hamburg<br />
zu bleiben. Abends würde ich mich in der Hotelbar volllaufen lassen.<br />
Zunächst aber holte ich mir bei Nina das Okay für die Verlängerung.<br />
Die Sache war kein Problem. Ich fand, wir konnten ein bisschen stolz<br />
darauf sein, wie gut wir die Dinge miteinander regelten.<br />
Ich fuhr zu dem Hotel in Bahnhofsnähe, in dem ich auch letztes Mal<br />
abgestiegen war. Ich buchte ein Zimmer für die Nacht. Dann ging ich<br />
noch einmal los, um mir frische Unterwäsche und ein paar andere<br />
Utensilien zu kaufen.<br />
Ich spazierte an der Außenalster entlang. Ununterbrochen dachte ich<br />
an Lara. Die Gedanken an sie taten weh und waren schön zugleich. Ich<br />
sehnte mich nach ihr. Warum hatte sie mich versetzt?<br />
Als ich erneut am Jungfernstieg vorbeikam, war es viertel nach fünf.<br />
Das Wetter hatte sich gehalten. Gedankenversunken überquerte ich<br />
die Straße Richtung Innenstadt. Plötzlich, mitten auf dem Zebrastreifen,<br />
stand Lara vor mir.<br />
In beide Richtungen zogen Menschen scharenweise an uns vorbei.<br />
Wir blieben stehen und schauten uns an. Alles um uns her versank in<br />
Bedeutungslosigkeit. Dann hörte ich lautes Hupen von allen Seiten.<br />
Wir fassten uns an der Hand und rannten hinüber auf die Seite, aus<br />
der Lara gekommen war.<br />
„Ich wollte verschwinden“, sagte sie, „ohne dich getroffen zu haben.<br />
Aber das habe ich nicht geschafft.“<br />
„Wie geht es Maurice?“, fragte Lara.<br />
Ich erzählte lange von ihm. Wir aßen in einem spanischen Restaurant.<br />
Unsere Hände lagen ineinander auf dem Tisch. Ich redete von den<br />
Dingen, die er in ihrer Abwesenheit dazugelernt hatte. Ich nannte ihr<br />
die Worte, die er neu sprechen konnte oder die er ausprobierte. Ich<br />
erzählte ihr tausend Sachen von ihm, die sie längst wusste, ohne dass<br />
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Anzeige<br />
ihre Aufmerksamkeit auch nur eine Sekunde nachgelassen hätte. Jedes<br />
Wort saugte sie in sich auf, jede Silbe, jeden Buchstaben.<br />
„Ich hab so Sehnsucht nach ihm“, sagte sie und sah mich immer weiter<br />
an. „Und ich hab Sehnsucht nach dir.“<br />
„Aber ich bin doch hier.“ Ich lächelte und streichelte sanft ihr Gesicht.<br />
„Ich sehne mich trotzdem nach dir“, sagte sie ernst. „Verstehst du das<br />
nicht?“<br />
Sie küsste meine Hand. Ihre Lippen auf meiner Haut knisterten.<br />
„Doch“, sagte ich. „Doch.“<br />
192<br />
Wir nahmen uns eine Flasche<br />
Champagner mit aufs Zimmer.<br />
Die Tür war noch nicht zu, ich<br />
hatte die Flasche noch in der<br />
Hand, als wir uns lange küssten.<br />
Wochenlang hatte ich nur von<br />
Laras Geruch geträumt, jetzt<br />
hatte ich ihn wieder. Am liebsten<br />
hätte ich mich sofort in sie<br />
hinein verkrochen.<br />
Ich stellte die Flasche und die<br />
beiden mitgebrachten Gläser<br />
auf einem kleinen Tischchen<br />
direkt unterm Fenster ab. Ich<br />
warf einen Blick nach draußen<br />
und sah den Hamburger Hauptbahnhof,<br />
in den ununterbrochen<br />
Züge ein- und ausfuhren.<br />
Um unser Gefühl von Zweisamkeit<br />
zu vervollkommnen, zog ich<br />
die Vorhänge vor.<br />
„Gehen wir duschen?“, fragte<br />
Lara und begann, sich auszuzie-
hen.<br />
„Nein“, sagte ich und zog mich ebenfalls aus. „Dann verschwindet dein<br />
Duft. Ich dusche schnell und komme dann zurück. Ich stinke sicher.“<br />
Aber sie ließ sich nicht abwimmeln. Kaum stand ich unter der Dusche,<br />
kam auch sie.<br />
„Ich stinke auch“, lächelte sie und küsste mich.<br />
„Tust du nicht“, sagte ich und erwiderte ihren Kuss. „Aber wo du schon<br />
mal hier bist …“<br />
Laras Haut zu spüren war wie die Wiedereroberung des Paradieses.<br />
Sanfte Magnete in unseren Anzeige<br />
Händen und Körpern zogen<br />
sich gegenseitig an. Meine Finger<br />
und Hände vollzogen jede<br />
Form, jeden kleinen Winkel ihres<br />
Körpers nach.<br />
Wir seiften uns gegenseitig ein<br />
und wuschen uns. Es war, als<br />
spüle Lara die Enttäuschungen<br />
und den Frust der letzten Wochen<br />
mit einem Mal von mir ab.<br />
Sie sagte, dass sie mich liebe. In<br />
mir ging eine Sonne auf, die ich<br />
noch nicht kannte.<br />
„Ich möchte so gerne bei dir<br />
bleiben“, hauchte sie in mein<br />
Ohr. Eine große Welle schlug<br />
über mir zusammen, in der ich<br />
vollständig versank.<br />
„Was glaubst du, was ich möchte?“,<br />
fragte ich leise, als ich wieder<br />
atmen konnte.<br />
Nachdem wir uns abgetrocknet<br />
hatten, gingen wir ins Zimmer<br />
193
und ließen uns dort auf das große Bett fallen. Eine kurze (oder lange?)<br />
Zeit lagen wir nur da, nebeneinander, unsere Schultern, unsere<br />
Arme, unsere Beine berührten sich. Unsere Blicke waren zur Decke<br />
gerichtet. Ich hatte ein Gefühl von sprachlosem Glück. Ich hatte nach<br />
Lara gesucht, jetzt hatte ich sie gefunden.<br />
„Ich habe gefunden“, hörte ich mich plötzlich sagen. Dann wiederholte<br />
ich den Satz noch einmal: „Ich habe gefunden.“<br />
Ich lauschte den Worten nach.<br />
„Ich auch“, sagte Lara leise. „Ich habe auch gefunden.“<br />
Ich schaute sie an. Sie lächelte so leise, dass man es kaum sehen<br />
konnte. Ich hatte das Gefühl, noch nie in ein so schönes Gesicht geschaut<br />
zu haben. Plötzlich fiel mir die Szene vom Friedhof wieder ein,<br />
ich hatte sie verdrängt wie einen Traum.<br />
„Warum bist du eigentlich vor mir davongelaufen?“, fragte ich.<br />
„Nein“, antwortete sie. „Das stimmt nicht. Ich bin vor mir selbst davongelaufen.<br />
Ich habe die ganzen letzten Jahre nichts anderes gemacht.<br />
Das heißt, ich habe es versucht. Aber es geht nicht.“<br />
„Das meine ich nicht“, sagte ich. Ich lächelte über unser Missverständnis<br />
und erzählte ihr, wovon ich sprach. Wie ich sie auf dem Friedhof<br />
gesehen hatte und ihr gefolgt war. Und wie sie regelrecht vor mir geflohen<br />
war und sich danach in Luft aufgelöst hatte.<br />
„Ich war dort nicht“, sagte sie, aber es klang nicht überrascht. „Vielleicht<br />
habe ich zu dieser Zeit ganz fest an dich gedacht. Wenn ich das<br />
getan habe, hatte ich manchmal das Gefühl, körperlich bei dir zu sein.<br />
– Denkst du noch oft an Charlotte?“<br />
„Sehr oft.“<br />
„Ich auch“, sagte Lara. „In gewisser Weise gehört sie zu den wichtigsten<br />
Menschen in meinem Leben. Sie hat so viel mit uns beiden zu<br />
tun.“<br />
Ich drehte mich zu ihr. Mein Zeigefinger fuhr vorsichtig die Linien ihres<br />
Gesichtes entlang.<br />
„Versprichst du mir“, fragte ich, „dass du bei mir bleibst? Ich weiß<br />
nicht, ob ich so was wie die letzten Wochen noch mal durchstehen<br />
194
kann.“<br />
„Holst du uns ein Glas Champagner?“, sagte Lara.<br />
Ich richtete mich halb auf, um zu gehen und ihren Wunsch zu erfüllen.<br />
„Versprich es“, wiederholte ich. „Bitte.“<br />
Lara nickte wortlos. Ich wusste nicht, ob mir das reichte. In der festen<br />
Absicht, die Champagnerflasche zu öffnen, stand ich vom Bett auf.<br />
Aber irgendwie kam es anders.<br />
Über eine Stunde später stand die Flasche weiter ungeöffnet am gleichen<br />
Platz. Sie wirkte seltsam unbeteiligt, wie ein diskreter Diener.<br />
Die Gläser links daneben waren die Handlanger des Butlers. Ich lag<br />
neben Lara im Bett.<br />
„Hey!“, sagte Lara plötzlich gespielt empört. „Was ist eigentlich los?<br />
Ich habe Durst. Traust du dich vielleicht nicht, den Korken fliegen zu<br />
lassen? – Na schön, dann mache ich das eben. Auch kein Problem.“<br />
Mit diesen Worten stieg sie über mich hinweg und ging zum Fenster.<br />
Ich konnte meine Augen nicht von ihr lassen und wurde schon eifersüchtig<br />
bei dem Gedanken, dass jemand von draußen gegen das sanfte<br />
Licht im Zimmer ihre Silhouette hinter dem Vorhang sehen könnte.<br />
Lara war so schön, dass ich sie mit niemand teilen wollte, nie wieder.<br />
Der Gedanke, sie könne mich am Ende doch wieder verlassen, machte<br />
mich schon jetzt halb wahnsinnig. Ich stand auf und ging zu ihr.<br />
Es reichte mir nicht, sie weiter nur anzusehen. Ich musste sie berühren<br />
und spüren. Die ganze Zeit, in der ich sie gesucht hatte, war mir<br />
klar gewesen, dass ich sie vermisste. Aber wie sehr das war, das spürte<br />
ich erst jetzt. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass man sich so<br />
intensiv nach einem Menschen sehnen kann.<br />
Meine Hände glitten über Laras Haut, erkundeten immer wieder ihren<br />
Körper. Ihre Haut war sanft und weich. Ich kannte nichts, was sich<br />
auch nur halb so gut anfühlte.<br />
Ich begehrte Lara. Mit jeder Faser, jeder Sehne, jedem Muskel meines<br />
Körpers, mit jedem Gedanken, jedem Gefühl in mir wollte ich nur<br />
noch einen Menschen: Lara. Und ich war vollkommen sicher, nie wie-<br />
195
der in meinem Leben irgendetwas anderes zu wollen. Auf ewig würde<br />
sie allem genügen was ich brauchte. Sanft massierte ich ihre Brüste,<br />
ihren Rücken, die sanft geschwungenen Rundungen ihres Hinterns,<br />
ihrer Beine. Ich wusste nicht, was ich bevorzugen sollte. Meine Hände<br />
krallten sich fest in ihr, ließen sie wieder los. Ich hob sie hoch, sie glitt<br />
auf meinen Arm. Ich trug sie zurück zum Bett.<br />
Anzeige<br />
Die Flasche blieb weiter ungeöffnet.<br />
Als ich morgens erwachte, war das Bett neben mir leer. Lara war<br />
196
schon im Bad. Ich hörte die Dusche. Bilder der letzten Nacht, des vergangenen<br />
Abends zogen noch einmal durch meinen Kopf. Über Laras<br />
Vergangenheit war kein einziges Wort gefallen. Bis zu unserem<br />
Zusammentreffen hatte ich auf Antworten geradezu gebrannt. Aber<br />
dann hatte die Gegenwart uns im Eilzugtempo überrollt. Da war kein<br />
Platz mehr gewesen für irgendetwas anderes. Aber darüber machte<br />
ich mir keine Sorgen, wir hatten noch so viel Zeit.<br />
Die Dusche wurde ausgestellt. Ich konnte es kaum erwarten, dass<br />
Lara ins Zimmer zurückkam. Ich betrachtete die halbleere Champagnerflasche<br />
auf meinem Nachtschränkchen, die beiden Gläser auf dem<br />
Teppich, von denen eins umgefallen war. Die beiden Handlanger sahen<br />
nun aus, als wären sie betrunken. Die Dusche wurde wieder angestellt.<br />
Ich überlegte mir, dass ich ebenso gut zu Lara gehen konnte.<br />
Wir könnten unser gemeinsames Duschbad wiederholen.<br />
Ich stand auf und zog die Gardinen beiseite. Noch war der Himmel<br />
grau, aber irgendwas an diesem Tag wirkte vielversprechend. Der<br />
Bahnhof bot das gleiche Bild wie gestern: Züge kamen und gingen<br />
ohne Unterbrechung. Ich öffnete das Fenster und hörte neben den<br />
Bahnhofsgeräuschen nun auch den Motorenlärm der nahen Straße.<br />
Aber ich hörte auch die Dusche und wollte zu Lara.<br />
Auf dem Weg zum Bad sah ich, dass Laras kleiner Koffer nicht mehr<br />
am gleichen Platz stand wie gestern Abend, aber das erschien mir<br />
nicht wichtig. Dann wurde mir, noch vom Vorflur aus, klar, dass die<br />
Duschgeräusche nicht aus unserem Bad kamen. Sie drangen aus dem<br />
Nachbarzimmer herüber. Unser Bad war leer. Lara war nicht da.<br />
„Lara?“, fragte ich in die Stille hinein. Das war unsinnig, denn es gab<br />
keinen Ort, an dem sie sich hier hätte verstecken können.<br />
Nach dem ersten Schrecken dachte ich, dass sie sicher nicht mehr<br />
hatte schlafen können. Vielleicht war sie schon beim Frühstück. Ich<br />
suchte nach ihrem Koffer, er war nirgends zu finden. Panisch streifte<br />
ich mir das Notwendigste über. Unser Zimmer befand sich im vierten<br />
Stock. Der Fahrstuhl war mir zu langsam und ich rannte durchs Treppenhaus<br />
hinunter.<br />
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198
199<br />
Anzeige
„Die Dame ist bereits abgereist“, bestätigte der Portier meine Befürchtungen.<br />
„Schon sehr früh. Aber sie hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen,<br />
Herr Thailer.“<br />
Mit diesen Worten zog er einen Briefumschlag unter dem Tresen hervor<br />
und hielt ihn mir hin. Ich zögerte, ihn anzunehmen. Es konnte<br />
nichts Gutes bedeuten, dass Lara erneut verschwunden war, ohne irgendetwas<br />
mit mir besprochen zu haben. Meine Angst, sie, nachdem<br />
ich sie gerade erst gefunden hatte, schon wieder verloren zu haben,<br />
drohte mich zu überwältigen. Natürlich nahm ich den Brief am Ende<br />
doch. Ich ging damit zur Sitzgruppe der Lounge und öffnete ihn. Es<br />
waren nur ein paar Zeilen, hastig notiert auf dem Briefpapier des Hotels.<br />
Paul,<br />
es gibt da noch etwas, das ich klären muss. Ich hoffe mit meinem ganzen<br />
Herzen, dass es mir danach möglich ist, zu dir zurückzukommen.<br />
Bitte glaube mir, dass es nichts gibt, was ich mir mehr wünsche… Du<br />
hörst von mir!<br />
In Liebe … Lara<br />
Kapitel 27<br />
Ich duschte, verstaute die Wäsche des Vortags in einer Plastiktüte und<br />
rasierte mich mit einem Einmalrasierer. Ich frühstückte eher spärlich.<br />
Körperlich fühlte ich mich, trotz der wenigen Stunden Schlaf, frisch<br />
und ausgeruht. Geistig war ich ein Hohlraum. Ich fühlte mich weder<br />
gut noch schlecht, ich fühlte mich gar nicht. Ich war vollkommen leer.<br />
Das war ein seltsamer, mir völlig neuer Zustand. Ich sah nicht schwarz,<br />
aber ich sah auch keine Farben: ich sah weiß und grau. Menschen und<br />
Gegenstände um mich her waren semitransparent. Anders lässt es<br />
sich nicht beschreiben.<br />
200
Anzeige<br />
Ich dachte auch nichts. Jeder Gedanke wäre abgeglitten von der sterilen,<br />
plastikähnlichen Schicht, die ich im Innern meines Schädels spürte.<br />
Seltsamerweise handelte ich. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr<br />
los. Schnurstracks lenkte ich den Wagen erneut zum Haus von Marlies<br />
Schwalm. Ich stellte das Auto auf dem gleichen Parkplatz ab wie am<br />
Vortag, stieg aus und ging die paar Schritte die Auffahrt hoch. Ich klingelte<br />
an der Tür. Aber auch nach dem vierten oder fünften Versuch<br />
wurde mir nicht geöffnet.<br />
Ich ging einmal um das Haus herum. Ich schaute in jedes Fenster, sah<br />
aber niemand. Ganz offensichtlich war Marlies Schwalm nicht zu Hause.<br />
Ich ging zurück zum Parkplatz, stieg in mein Auto und fuhr wieder<br />
los. Ich handelte wie ein Roboter, der seine Anweisungen aus einer<br />
Schaltzentrale von außerhalb bekommt. Auch wenn ich keine Ahnung<br />
hatte, was für eine Schaltzentrale das sein sollte.<br />
Ich fuhr. Ich glaube nicht, dass ich wusste, wohin ich eigentlich fuhr.<br />
Meiner Zielstrebigkeit tat das keinen Abbruch. Ich durchquerte die<br />
gesamte Innenstadt. Ich beachtete sämtliche Verkehrsregeln peinlich<br />
genau. Vor roten Ampeln stoppte ich und startete bei Grün. Ich fuhr<br />
nach Sankt Pauli, gelangte an der Reeperbahn vorbei zur Hafenstraße.<br />
Ich parkte mein Auto auf dem Seitenstreifen und stieg aus. Ich ging zu<br />
dem Haus, in dem Katja Baumeister wohnte. Ich drückte auf den Klingelknopf,<br />
der neben ihrem Namensschildchen stand. Und in genau<br />
201
diesem Moment meldeten sich die Farben in meinem Kopf zurück.<br />
Ich nahm wieder wahr, was ich tat und wo ich mich befand. Ich dachte<br />
wieder. Ich war froh, mich in mir selbst wieder zu finden. Der Türsummer<br />
ertönte. Ich drückte die Tür auf und ging nach oben.<br />
Katja Baumeister stand bereits im Treppenhaus. Sie lächelte nicht.<br />
„Paul“, sagte sie gelassen. „Ich habe Sie erwartet. Kommen Sie herein.“<br />
Wie bei unserer ersten Begegnung saßen wir am Tisch direkt unter<br />
dem Fenster mit Elbblick. Draußen war es warm und windig, ein paar<br />
auseinander gerissene Wolken trieben vereinzelt am Himmel. Um<br />
diese frühe Vormittagsstunde war an den Landungsbrücken noch<br />
nicht ganz so viel los. Katja Baumeister trank Tee und bot mir an.<br />
„Nein danke“, sagte ich. „Aber wenn Sie vielleicht noch ein Wasser<br />
hätten?“<br />
„Kein Problem“, lächelte sie. Anders als bei unserem ersten Treffen<br />
wirkte sie dieses Mal ziemlich entspannt. Als sie hinausging, stellte<br />
ich fest, dass auch das Kleid, das sie heute trug, nichts verbergen wollte<br />
von der prallen Rundung ihres Hinterteils.<br />
Sie kam zurück und schenkte mir sofort ein. Ich hatte großen Durst<br />
und trank das Glas in einem Zug halbleer.<br />
„Wieso haben Sie mich erwartet?“, fragte ich.<br />
„Ich könnte jetzt sagen“, meinte sie wieder lächelnd, „dass ich die<br />
ganze Zeit darauf gewartet habe, weil Sie mir gefallen haben. Damit<br />
würde ich nicht mal lügen.“ Sie legte den Kopf schräg und sah mich<br />
an, als wolle sie abschätzen, wie es wohl wäre mit uns beiden.<br />
„Aber es wäre nicht die richtige Antwort auf Ihre Frage.“<br />
„Sondern?“<br />
Sie legte ein Stück Kandis in ihre Tasse. Als sie den heißen Tee darüber<br />
kippte, knisterte es leise. Sie rührte um und schaute aus dem Fenster.<br />
„Lara hat mich auf Ihren Besuch vorbereitet“, sagte sie endlich.<br />
Mein Puls schlug sofort schneller. Es reichte schon, ihren Namen zu<br />
hören.<br />
„Hat sie angerufen?“, fragte ich.<br />
202
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Katja schüttelte den Kopf, trank<br />
schlürfend einen Schluck heißen<br />
Tee und setzte sich bequemer<br />
hin.<br />
„Sie war hier“, sagte sie. „Vor<br />
einer guten Stunde ist sie wieder<br />
los.“<br />
„Was wollte sie?“, fragte ich<br />
verblüfft. „Warum war sie bei<br />
Ihnen?“<br />
„Sie wollte reden“, sagte Katja<br />
unbestimmt.<br />
„Reden über was?!“, rief ich.<br />
Plötzlich war ich unglaublich<br />
gereizt. Warum musste ich dieser<br />
Frau jedes Wort einzeln aus<br />
der Nase ziehen? Mich überfiel<br />
die Lust, sie durchzuschütteln,<br />
damit sie endlich erzählte.<br />
„Zum Beispiel über Sie“, sagte<br />
sie lasziv. „Darüber, dass sie Sie<br />
liebt.“<br />
Es verschlug mir die Sprache.<br />
Ich wusste nicht, was ich sagen<br />
sollte.<br />
„Sie musste über Sie reden, Paul. Sonst wäre sie geplatzt. Sie war voll<br />
von Ihnen, wie besoffen. Ihre sämtlichen Gedanken und Gefühle waren<br />
bei Ihnen. Das musste sie loswerden, ehe sie über irgendetwas<br />
anderes reden konnte.“<br />
Ich lauschte gespannt, was nun kommen würde. Aber Katja Baumeister<br />
ließ sich Zeit, ehe sie weitersprach. Äußerlich in aller Ruhe schlürfte<br />
sie zweimal von ihrem Tee. Dabei war ihr deutlich anzumerken,<br />
dass sie sich konzentrierte. Auf keinen Fall wollte sie etwas Falsches<br />
203
204<br />
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sagen. Lara hatte ihr, vielleicht unausgesprochen, eine Aufgabe übertragen,<br />
die sie sehr ernst nahm.<br />
„Nun“, sagte sie endlich. „Eigentlich weiß ich nicht genau, wie weit ich<br />
gehen darf. Würde Lara wollen, dass Sie über alles Bescheid wissen,<br />
hätte sie es Ihnen auch gleich selbst sagen können. Das hat sie aber<br />
ganz offensichtlich nicht getan.“<br />
Sie machte eine kleine Pause.<br />
„Andererseits“, fuhr sie dann in ihrem Monolog fort, „war ihr ziemlich<br />
klar, dass Sie bei mir aufkreuzen würden. Sie war sehr offen mir<br />
gegenüber. Und sie hat mich nicht verpflichtet, Ihnen gegenüber Stillschweigen<br />
zu wahren.“<br />
Nachdenklich sah sie mich an.<br />
„Lara glaubt“, sagte sie schließlich, „dass sie einen Menschen getötet<br />
hat.“<br />
Nachdem Katja Baumeister mit Laras Geschichte am Ende war, konnte<br />
ich keine Sekunde länger sitzen bleiben. Auch wenn ich nicht wirklich<br />
wusste, was zu tun einen Sinn ergab. Ich schüttete Adrenalin in<br />
Mengen aus, aber es lief ins Leere.<br />
Lara ging davon aus, dass sie Bruno Kirchhoff getötet hatte, ohne sich<br />
jedoch sicher zu sein. Marlies Schwalm hatte von einem Unfall gesprochen.<br />
Nach ihrer Aussage war Kirchhoff ausgerutscht, mit dem<br />
Kopf unglücklich aufgeschlagen und noch am Unfallort gestorben.<br />
„Lara kann sich an die Vorfälle nicht erinnern“, sagte Katja Baumeister.<br />
„Sie ist in dieser Nacht nach einem heftigen Streit aus dem Ferienhaus<br />
an den Strand geflohen und ihr Mann ist ihr gefolgt. Sie weiß<br />
noch, dass sie später beide wieder in dem Ferienhaus waren.“<br />
Mir wurde klar, dass Lara alles ausgelassen hatte, was direkt mit Maurice<br />
zusammenhing. Ohne darauf einzugehen, hörte ich einfach weiter<br />
zu.<br />
„Irgendwo hier aber reißt ihr Erinnerungsfaden“, sagte Katja. „Die<br />
ganzen Jahre hat sie gehofft, dass die Bilder in ihrem Kopf sich von<br />
allein wieder einstellen würden. Manchmal geschieht das wohl in sol-<br />
205
Anzeige<br />
chen Amnesiefällen.“<br />
„Bei ihr passierte das aber nicht?“, mutmaßte ich.<br />
„Nein“, sagte Katja. „Dafür verdichtete sich in ihrem Kopf immer mehr<br />
der Verdacht gegen sich selbst. Die Staatsanwaltschaft hat zwar einen<br />
–¬ aus ihrer Sicht eindeutigen –¬ Unfalltod festgestellt, aber Laras<br />
Zweifel konnte das nicht ausräumen.“<br />
„Direkt erinnern“, fragte ich, „konnte sie sich aber weiterhin nicht?“<br />
Katja schüttelte den Kopf.<br />
„An gar nichts. Ihre Erinnerung setzt erst wieder ein, als sie Stunden<br />
später, auf dem Fußboden<br />
liegend, aufwachte. In totaler<br />
Erschöpfung muss sie dort eingeschlafen<br />
sein. Als sie, noch<br />
völlig benommen, im und beim<br />
Haus nach Kirchhoff suchte, hat<br />
sie ihn schließlich gefunden. Er<br />
lag tot auf den vereisten Treppenstufen<br />
des Hauses.“<br />
„Wenn das alles ist?“, fragte ich<br />
etwas ratlos, „wieso schließt sie<br />
daraus, dass sie irgendetwas<br />
mit seinem Tod zu tun hat?“<br />
„Sie glaubt“, meinte Katja,<br />
„dass sie selbst mehr miterlebt<br />
hat als das, an was sie sich direkt<br />
erinnern kann.“<br />
„Dass sie also nicht geschlafen<br />
hat während des Unfalls?“<br />
„Genau. Sie glaubt, dass in der<br />
Zwischenzeit etwas Entscheidendes<br />
passiert ist.“<br />
„Über das sie aber nur Mutmaßungen<br />
anstellen kann …“<br />
206
„… bei denen sie selbst nicht besonders gut abschneidet“, ergänzte<br />
Katja meinen begonnenen Satz. „Richtig. Gestern war sie bei dieser<br />
Hebamme, aber die konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Sie war keine<br />
Augenzeugin und kannte nur die offizielle Version des Todes.“<br />
Eine Weile saßen wir uns schweigend gegenüber, jeder seinen eigenen<br />
Gedanken nachhängend. Unkonzentriert schaute ich aus dem<br />
Fenster, ohne wirklich etwas von dem wahrzunehmen, was ich sah.<br />
„Der Polizei hat sie von ihrer Amnesie nichts erzählt“, meinte Katja<br />
schließlich nachdenklich. „Womit sie natürlich die Ermittlungsergebnisse<br />
ganz schön verfälscht hat. Ein Grund mehr für sie, nicht an diese<br />
Ergebnisse zu glauben. Ihre eigenen Zweifel sind es, die ihr keinen<br />
Frieden lassen. … Damals hat sie beschlossen, nachdem sie ihren<br />
Mann ordnungsgemäß beerdigt hatte, ein neues Leben zu beginnen.<br />
Um alle Spuren zu verwischen und unter ihre Vergangenheit einen<br />
endgültigen Schlussstrich zu ziehen, hat sie sogar ihren Namen geändert.<br />
Sie wollte sich hier in Hamburg eine völlig neue Existenz aufbauen.<br />
Aber das ist ihr nie wirklich gelungen, in ihrem alten Leben gab es<br />
wohl noch zu viele offene Rechnungen. Übrigens meinte sie, eine der<br />
größten dieser Rechnungen würden außer ihr selbst nur Sie kennen.“<br />
Neugierig sah sie mich an. Ich entschied mich, ebenfalls zu schweigen.<br />
Genau wie Lara glaubte auch ich nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt<br />
war, die Sache mit Maurice offen zu machen.<br />
„Jetzt würde sie gern einen neuen Versuch starten“, sagte sie schließlich.<br />
„In Sachen anderes Leben. Und zwar mit Ihnen, Sie Glücklicher.“<br />
„Ich bin hier“, entgegnete ich. „Aber wo ist sie?“<br />
Lange sah Katja mich an ohne weiterzureden.<br />
„Verstehen Sie das wirklich nicht?“, stellte sie dann die Gegenfrage.<br />
„Nein“, gab ich zu. „Das verstehe ich nicht.“<br />
„Sie kann nicht“, meinte Katja entschieden. „An ihrer Vergangenheit<br />
hat sich ja nichts geändert.“<br />
„Aber an der Gegenwart“, beharrte ich. „Und an den Möglichkeiten<br />
der Zukunft. Wo ist sie jetzt?“<br />
„Ihre Vergangenheit würde sie weiter mit sich tragen. Diese Erfah-<br />
207
ung hat sie ja schon einmal gemacht.“ Nicht nur ich konnte stur sein,<br />
Katja Baumeister ebenfalls. „Und damit ihre Gegenwart vergiftet.“<br />
„Aber seine Vergangenheit kann doch keiner einfach so ausknipsen“,<br />
sagte ich. „Wie einen Lichtschalter. Jeder trägt immer alles mit sich<br />
herum. Ob er sich an Details erinnert oder nicht.“<br />
„Genau das ist es“, meinte sie. „Es ist wichtig für Lara, sich zu erinnern.<br />
Lebenswichtig. Sie will und sie muss die dunklen Ecken ausleuchten.<br />
Erst dann kann es weitergehen.“<br />
Katja stand auf. Offenbar wollte sie das Gespräch beenden.<br />
„Aber warum lässt sie sich dabei nicht von mir helfen?“, fragte ich.<br />
„Sie liebt Sie“, wiederholte Katja schließlich mit fester Stimme. „Und<br />
deshalb will sie Sie da nicht mit reinziehen. Mehr kann ich Ihnen dazu<br />
nicht sagen. – Jetzt muss ich Sie leider rauswerfen. In einer halben<br />
Stunde habe ich eine Verabredung und muss los.“<br />
Wir gingen zusammen die Treppe hinunter. Vor der Tür blieben wir<br />
stehen.<br />
„Wie soll es denn jetzt weitergehen?“, fragte ich hilflos. „Hat Sie Ihnen<br />
noch irgendetwas gesagt?“<br />
„Nein“, behauptete Katja. „Aber ich gehe davon aus, dass sie sich bei<br />
Ihnen melden wird, sobald es ihr gelungen ist, Licht in ihr Dunkel zu<br />
bringen.“ Das klang wie ein Orakel.<br />
Sie ging zu ihrem Auto, das direkt vorm Haus geparkt war. Es war klein<br />
und leuchtete gelb. Katja öffnete die Tür, stieg ein, ließ das Fenster<br />
sinken.<br />
„Hat Lara gesagt“, ich beugte mich ein Stück zu ihr herunter, „dass sie<br />
sich melden wird?“<br />
„Nein“, meinte sie. „Aber ich bin sicher, dass sie es tun wird.“<br />
Unschlüssig blieb ich stehen.<br />
„Mehr weiß ich selbst nicht“, meinte sie schließlich. „Noch nicht. –<br />
Machen Sie es gut, Paul. Es war sehr schön, Sie kennen gelernt zu<br />
haben.“ Dann legte sie ihre Nachdenklichkeit ab und zwinkerte mir zu.<br />
„Unter anderen Umständen hätte aus uns glatt was werden können.<br />
Meinen Sie nicht?“<br />
208
Ich lächelte verkrampft. Mit heruntergelassener Scheibe fuhr sie los.<br />
Einer spontanen Eingebung folgend rannte ich auf die andere Straßenseite,<br />
wo mein Auto stand. Mein Entschluss stand sofort fest.<br />
Kapitel 28<br />
Anzeige<br />
Ich würde Katja Baumeister verfolgen, wo auch immer sie hinfuhr. Das<br />
heißt, ich würde es versuchen. Dummerweise war ihr Vorsprung aber<br />
schon jetzt beträchtlich. Zu allem Übel musste ich wenden und auf<br />
die andere Straßenseite wechseln, bei der hohen Verkehrsdichte ein<br />
echter Zeitfresser. Ich konnte mir Rücksicht nicht leisten und drängte<br />
mich entsprechend zwischen die fahrenden Autos, deren Fahrer seltsamerweise<br />
nicht mal hupten.<br />
Trotzdem war ich mir zunächst sicher, Katja bereits verloren zu ha-<br />
209
en. Dann jedoch sah ich weit vorne ihr Auto. Aber ihr Vorsprung war<br />
groß, und in Hamburg gab es zu viele Ampeln. Außerdem blendete<br />
die Sonne.<br />
Zwei oder drei Mal verlor ich Katja, hatte aber jedes Mal das Glück,<br />
sie wieder zu finden. Die Straße wurde breiter, dann wieder schmaler,<br />
der Verkehr nahm ab, alles sah nach einem Stadtrandgebiet aus. Die<br />
Verfolgung wurde einfacher. Das Problem bestand jetzt eher darin,<br />
dass Katja nicht auf mich aufmerksam wurde. Immerhin kannte sie<br />
mein Auto.<br />
Sie bog von der Hauptstraße ab und fuhr mehrere Minuten durch ein<br />
Wohngebiet der nobleren Sorte mit jeder Menge Jugendstilvillen. Ich<br />
folgte weiter in gemessenem Abstand. Die Straßen wurden enger, die<br />
Häuser weniger und schließlich wieder kleiner. Wir fuhren durch ein<br />
kleines Waldgebiet.<br />
Es war schön hier, auch die Häuser blieben nett, verloren aber den<br />
Anstrich von Noblesse. Zu unserem Ziel, was auch immer das sein<br />
mochte, schien es nicht mehr weit sein. Katja fuhr langsamer, suchte<br />
offenbar nach einem bestimmten Haus oder nach einer Straße.<br />
Meine Vorsicht wurde größer, ich ließ den Abstand wieder wachsen.<br />
Da es um mehrere Ecken ging, war das nicht ganz ohne Risiko. Und<br />
plötzlich stand Katjas Auto direkt vor mir am Straßenrand. Sie selbst<br />
wartete auf der anderen Seite, sie starrte mich an. Wie ein ertappter<br />
Schuljunge fuhr ich zu ihr und ließ die Scheibe herunter.<br />
„Falls es mit dem Schreiben mal nicht mehr klappen sollte“, sagte sie<br />
und grinste schief, „versuchen Sie es nicht als Detektiv. Sie haben kein<br />
Talent.“<br />
Ich parkte mein Auto und stieg aus. Unschlüssig standen wir nebeneinander<br />
auf dem Gehweg, ohne uns anzusehen. Die Sonne knallte<br />
gnadenlos vom Himmel, es war der mit Abstand heißeste Tag des bisherigen<br />
Sommers. Glücklicherweise standen wir schattig unterm Blätterdach<br />
einer großen Kastanie. Die Vögel trällerten hoch oben, von<br />
irgendwoher roch es süßlich nach Blüten.<br />
„Warum um alles in der Welt sind Sie mir gefolgt?“ Der Vorwurf in<br />
210
211<br />
Anzeige
Katjas Stimme war unüberhörbar. „Was wollen Sie von mir?“<br />
„Führen Sie mich zu Lara“, sagte ich.<br />
„Und wie kommen Sie denn darauf?“, fragte sie verblüfft.<br />
„Ich hab eins und eins zusammengezählt“, meinte ich. „Oder hab ich<br />
mich verrechnet?“<br />
Noch bevor sie antwortete, sah ich, dass ihr Widerstand bröckelte.<br />
„Wenn Lara gewollt hätte“, sagte sie ratlos, „dass Sie dabei sind, dann<br />
hätte sie Ihnen doch davon erzählt.“<br />
Sie zog ihr Zigarettenetui aus der Handtasche und steckte sich mit<br />
einem schlanken, silbernen Feuerzeug eine an.<br />
„Wenn Lara gewollt hätte“, bohrte ich weiter, „dass ich wo dabei bin?“<br />
Katja fühlte sich unbehaglich.<br />
„Hören Sie“, startete sie den nächsten Versuch, mich mit Halbheiten<br />
abzuspeisen, „Lara wollte nicht, dass Sie es wissen. Also kann ich es<br />
Ihnen auch nicht sagen. Das wäre so was wie Hochverrat.“ Nervös<br />
zog sie an ihrer Zigarette und warf sie dann aufs Pflaster. Ich trat sie<br />
an ihrer Stelle aus. „Verstehen Sie das denn nicht? Außerdem bin ich<br />
sicher, dass sie Ihnen alles erzählen wird, wenn sie selbst schlauer geworden<br />
ist. Das muss reichen. Und nun fahren Sie. Bitte!“<br />
Dann hatte ich die rettende Idee.<br />
„Ich mache Ihnen einen ganz anderen Vorschlag“, sagte ich. „Sie gehen,<br />
wohin Sie gehen wollen. Dabei tun Sie einfach so, als würden Sie<br />
mich nicht bemerken. Sie führen mich also quasi ohne Ihr Wissen zu<br />
Lara, die Ihnen nichts vorwerfen kann. Schließlich konnten Sie nicht<br />
damit rechnen, dass ich Ihnen durch halb Hamburg folge.“<br />
Hinter Katjas Stirn arbeitete es mit Hochdruck. Dann sah sie mich mindestens<br />
zehn Sekunden lang durchdringend aus ihren blauen Augen<br />
an. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie die volle Verantwortung<br />
für die Situation und alle Folgen trug. Ohne ein weiteres Wort ging<br />
sie los.<br />
Wir hatten noch glatte fünf Minuten Fußweg vor uns, trotz hohem<br />
Tempo. Ich schwitzte, es war unglaublich heiß. Immer im Abstand von<br />
circa fünfzig Metern dackelte ich Katja hinterher. Sie drehte sich nicht<br />
212
ein einziges Mal zu mir um.<br />
Das Haus, auf das wir schließlich zusteuerten, lag etwas abseits in<br />
einem kleinen Waldstückchen. Es hatte etwas Oasenhaftes, war in<br />
einem hellen Terrakottaton gestrichen und besaß dadurch ein gewisses<br />
südländisches Flair. Neben der Haustür war ein nicht allzu großes<br />
weißes Schild angebracht:<br />
Dr. Ulrich Schuberth<br />
Diplom-Psychologe<br />
Verschiedene Therapieformen<br />
Sprechzeiten Mo. bis Fr. 8¬ – 13 Uhr<br />
Katja hatte die Haustür erreicht und klingelte. Ich blieb in gebührendem<br />
Abstand auf der Straße zurück und sah von dort aus, wie ihr die<br />
Tür von einem auffallend großen, graumelierten Mann in mittleren<br />
Jahren geöffnet wurde. Seine ungewöhnliche Körpergröße fiel neben<br />
der kleinen Katja besonders stark ins Auge. Während er mir einen<br />
verhalten misstrauischen Blick zuwarf, bevor er die Tür hinter sich<br />
und Katja schloss, benahm sie sich noch immer, als bemerke sie mich<br />
nicht. Sie nahm ihre Rolle ernst und spielte sie nicht schlecht.<br />
Von Lara gab es keine Spur. Auch ihr Auto war nicht vor dem Haus geparkt,<br />
nur ein etwas älteres, beigefarbenes Mercedesmodell, das sich<br />
problemlos Dr. Schuberth zuschreiben ließ, der hier vermutlich nicht<br />
nur praktizierte, sondern auch lebte.<br />
Vorsichtig trat ich näher an das Haus heran. Auf jeden Fall wollte ich<br />
es vermeiden, durch eines der vielen Fenster gesehen zu werden. In<br />
halb gebückter Haltung umrundete ich das Haus und sah, dass der<br />
große Garten am Ende komplett in das Waldgrundstück überging.<br />
Zäune, Hecken oder Ähnliches gab es nicht. Zwei Kaninchen, die auf<br />
der Wiese saßen und vor sich hinmümmelten, ließen sich durch mein<br />
unerwartetes Auftauchen nicht aus der Ruhe bringen. Dann entdeckte<br />
ich, in einem hinteren Winkel des Gartens, Laras Auto. Unverkennbar<br />
leuchtete das Rot ihres Fiats zwischen einigen Gebüschen. Inzwi-<br />
213
schen hatte ich kaum noch damit gerechnet: Lara war tatsächlich hier.<br />
Ich machte auf dem Absatz kehrt und klingelte an der Tür.<br />
Eine Frau öffnete mir. Sofort war ich mir sicher, dass es sich um die<br />
Gattin von Dr. Schuberth handelte. Sie war fast ebenso groß wie er<br />
und sehr hager. Ihr halblanges Haar war schwarz gefärbt und sehr<br />
dünn. Über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg lächelte sie mich<br />
freudlos und fragend an:<br />
Anzeige<br />
„Ja?“<br />
„Guten Tag“, sagte ich. „Ich suche meine Frau. Ihr Auto steht hint dem<br />
Haus. Ich …“<br />
„Dann sind Sie Herr Braun?“, fragte sie. „Ich bin übrigens Frau Schuberth.“<br />
„Ja“, stammelte ich. „Ich meine nein. Mein Name ist Thailer, Paul<br />
Thailer.“<br />
Verwirrt sah sie mich an und machte keine Anstalten, mich hereinzu-<br />
214
lassen.<br />
„Wir haben nicht denselben Nachnamen“, erklärte ich endlich. „Aber<br />
Sie haben Recht. Ich suche Frau Braun. Lara Braun. Ich muss sie sofort<br />
sprechen. Die Sache duldet keinen Aufschub.“<br />
Frau Schuberth sah mich an, als müsse sie die Informationen in ihrem<br />
Kopf erst einmal sortieren, bevor sie zu einer Handlung in der Lage<br />
war.<br />
„Ich weiß genau“, betonte ich vorsichtshalber, „dass sie in diesem<br />
Haus ist.“<br />
„Jaja, natürlich ist sie das“, gab sie zerstreut zurück. „Das streitet ja<br />
auch gar niemand ab.“ Endlich hielt sie die Tür soweit auf, dass ich<br />
eintreten konnte. „Kommen Sie doch erst einmal herein.“<br />
Im großen Eingangsbereich roch es nach frischem Bohnerwachs. Frau<br />
Schuberth führte mich in ein kleines Zimmer, auf dessen Tür Wartezimmer<br />
stand. Mittendrin stand ein großer, altmodischer Holztisch,<br />
auf dem stapelweise Zeitungen lagen. Um den Tisch herum war ein<br />
ungeordnetes Sammelsurium verschiedener Stühle drapiert. Die<br />
Wände zierten Kunstdrucke von Picasso und Monet in rahmenlosen<br />
Bilderhaltern.<br />
Frau Schuberth schob zwei der Stühle – beides Schwingstühle mit<br />
schwarzem Kunstleder und Chromgestellen ¬ direkt an den Tisch und<br />
forderte mich zum Platznehmen auf. Ich nahm das Angebot nicht an.<br />
„Ich möchte meine Frau sprechen“, sagte ich. „Es ist dringend.“<br />
„Das geht jetzt leider nicht, Herr Braun …“<br />
„Thailer“, wiederholte ich. „Paul Thailer.“<br />
„Herr Thailer, natürlich“, fuhr sie in ihrer Mischung aus geschäftsmäßiger<br />
Freundlichkeit und Zerfahrenheit fort. Sicher war auch sie<br />
Psychologin. „Aber das geht jetzt leider wirklich nicht. Ihre Frau, also<br />
Frau Braun, befindet sich bereits in Behandlung. Wir können da jetzt<br />
nicht stören.“<br />
„Was für eine Behandlung ist das eigentlich genau?“, fragte ich vorsichtig.<br />
„Das wissen Sie nicht?“<br />
215
Verwirrt sah sie mich an. Ich überging ihre Frage.<br />
„Und wo ist die Freundin meiner Frau, Katja Baumeister?“, wollte ich<br />
stattdessen wissen. „Sie ist ebenfalls in dieses Haus gegangen.“<br />
„Natürlich ist sie das“, meinte sie. „Frau Baumeister ist mit im Behandlungsraum.<br />
Beiden geht es selbstverständlich gut. Mein Mann<br />
ist schon bei ihnen.“<br />
„Ich muss unbedingt zu ihr“, sagte ich. Langsam wurde ich nervös. Ich<br />
wusste nicht genau warum, aber ich ahnte nichts Gutes. „Ich muss<br />
mit meiner Frau reden. Wo ist dieser Behandlungsraum?“<br />
„Die Sitzung hat mit großer Wahrscheinlichkeit bereits begonnen“,<br />
sagte Frau Schuberth aufgeschreckt. „Wir können da jetzt auf keinen<br />
Fall stören.“<br />
„Und wieso“ fragte ich eifersüchtig, „ist Katja Baumeister dabei? Oder<br />
wird die gleich mit behandelt?“<br />
„Natürlich nicht. Es war der ausdrückliche Wunsch Ihrer Frau, dass<br />
Frau Baumeister bei der Sitzung dabei sein sollte. Sie hatte …, oder<br />
sagen wir, sie war ein wenig skeptisch. Und Frau Baumeister kennt<br />
meinen Mann. Sie hat sich schon öfter von ihm helfen lassen. Und da<br />
war es Ihrer Frau, also, da war es Frau Braun einfach lieber, dass sie<br />
ihr gewissermaßen, sagen wir, die Hand hält.“<br />
Ich verstand kein Wort.<br />
„Um was für eine Behandlung geht es hier eigentlich genau?“, fragte<br />
ich noch einmal. „Warum ist Lara skeptisch? Und wenn sie es ist, warum<br />
lässt sie dann diese Behandlung trotzdem über sich ergehen? Ich<br />
verstehe das nicht. Was für ein Spiel wird hier eigentlich gespielt?“<br />
Seltsame Gedanken und Phantasien spukten in meinem Kopf herum.<br />
Ich hatte Angst um Lara, die sich von Sekunde zu Sekunde steigerte.<br />
„Aber Herr Thailer“, entgegnete Frau Schuberth entsetzt, „hier wird<br />
doch kein Spiel gespielt. Mein Mann ist Diplom-Psychologe …“<br />
„Ich weiß!“<br />
„So“, sagte sie, urplötzlich offenbar beleidigt, „und wenn Sie das wissen,<br />
dann wissen Sie sicher auch, dass mein Mann einer der anerkanntesten<br />
und seriösesten Hypnotiseure Europas, ich betone Euro-<br />
216
Anzeige<br />
pas, ist. Und da reden Sie von irgendwelchen Spielen, die er spielt.<br />
Das hören wir hier nun überhaupt nicht gerne!“<br />
Mir blieb die Spucke weg. Ein paar Sekunden lang wusste ich nicht,<br />
was ich sagen sollte. ¬– Hypnotiseur? Das war etwas, was ich bisher<br />
nur aus dem Fernsehen kannte. Und einen besonders seriösen Eindruck<br />
hatte diese Methode, Menschen in willenlose Trance zu versetzen,<br />
noch nie auf mich gemacht. Die Hypnotiseure hatte ich stets<br />
als halbseidene, zaubererähnliche Typen gesehen, die sich und dem<br />
Publikum einen Heidenspaß daraus machten, ihre Opfer zum Narren<br />
zu halten.<br />
Ich hatte keine Erklärung dafür, was ausgerechnet Lara bei einem solchen<br />
Menschen zu suchen hatte. Allerdings erinnerte ich mich jetzt,<br />
bei Katja Baumeister Bücher über Hypnose gesehen zu haben. Sie war<br />
fasziniert gewesen von dem Thema.<br />
„Was ist mit Ihnen?“, hörte ich plötzlich die erschrockene Stimme von<br />
217
Frau Schuberth, die ich fast vergessen hatte. „Geht es Ihnen nicht<br />
gut?“<br />
Inzwischen hatte ich mich doch auf den alten Schwingstuhl fallen lassen.<br />
Frau Schuberth stand vor mir und sah mich besorgt über den<br />
Rand ihrer Brille hinweg an.<br />
„Wollen Sie vielleicht ein Glas Wasser?“, fragte sie hilflos.<br />
Ich ignorierte ihre Frage, begriff noch nicht mal, dass sie sie überhaupt<br />
gestellt hatte. Mir ging das kurze Gespräch durch den Kopf, das<br />
ich damals mit Katja über Hypnose geführt hatte. Ich versuchte, mich<br />
genauer zu erinnern.<br />
„Durch Hypnose“, zitierte ich schließlich sinngemäß ihre Worte, „kann<br />
man sich selbst neu kennen lernen und vielleicht Dinge erklären, bei<br />
denen man früher völlig im Dunkeln tappte. Obwohl man sie eigentlich<br />
immer in irgendeiner Ecke seines Ichs mit herumgetragen hat.“<br />
Erstaunt sah Frau Schuberth mich an. Sie hatte keine Ahnung, was sie<br />
von mir zu halten hatte.<br />
„Ungefähr richtig so?“, fragte ich.<br />
„Ungefähr“, rang Frau Schuberth sich nach kurzem Zögern ab. „Ja, ungefähr<br />
kann man es so sagen. Aber wieso …?“<br />
Ich stand wieder auf.<br />
„Und Lara ist jetzt bei Ihrem Mann?“, fragte ich. „Und der hypnotisiert<br />
sie?“<br />
„Was denn sonst?“<br />
Frau Schuberth stand der Mund offen. Es war versäumt worden, ihr<br />
als Kind eine Zahnspange zu verpassen. Die Zähne in ihrem Mund<br />
standen vereinzelt und zusammenhanglos herum.<br />
Fest entschlossen, Lara zu finden, verließ ich das Wartezimmer. Aber<br />
ich konnte nicht ausmachen, hinter welcher der vielen Türen, die vom<br />
Flur abgingen, sich das Behandlungszimmer befand. Zusätzlich führte<br />
eine breite Marmortreppe mit offenem Geländer ins Obergeschoss.<br />
Genauso gut war möglich, dass Lara sich dort oben befand.<br />
„Wo wollen Sie denn hin?“, rief die Frau des Psychologen mir hysterisch<br />
hinterher. „Nun bleiben Sie doch hier, um Gottes Willen!“<br />
218
Sie holte mich ein und hielt mich an der Schulter zurück. Ich drehte<br />
mich um.<br />
„Nun?“, wiederholte ich. „Wo ist sie? Ich will jetzt zu ihr.“<br />
„Paul? Paul, bist du das?“<br />
Es war Laras Stimme, die von oben kam. Ich rannte zur Treppe, schaute<br />
hoch und sah sie sofort. Sie stand am Geländer, den Oberkörper<br />
vorgebeugt. Unsere Blicke trafen sich, wir hielten inne. Für ein paar<br />
Sekunden gab es nur noch uns beide.<br />
„Lara.“<br />
Mehr konnte ich in diesem Moment nicht sagen. Dann plötzlich geriet<br />
alles in erneute Bewegung.<br />
Der hochgeschossene Oberkörper von Schuberth tauchte neben Lara<br />
auf. Mit intensivem Raubvogelblick sah er auf mich herab.<br />
„Was machen Sie hier für einen Lärm?“, fragte er äußerst gereizt,<br />
während ich die Treppe weiter nach oben ging, gefolgt von der immer<br />
hektischer werdenden Frau des Hypnotiseurs.<br />
„Entschuldige, Ulrich!“, rief sie noch während des Rennens. „Er ließ<br />
sich nicht aufhalten.“ Ganz offensichtlich war sie den Tränen nahe.<br />
Schuberth hörte nicht auf sie. Er war zur obersten Treppenstufe gekommen<br />
und wartete weiter auf meine Antwort. Seine Blicke waren<br />
bohrend und nicht besonders freundlich. Ein paar Stufen unter ihm<br />
stoppte ich.<br />
Kapitel 29<br />
Dr. Schuberth hatte Lara in Trance versetzt. Völlig entspannt lag sie<br />
mit geschlossenen Augen auf dem großen, bequemen Sofa, das unter<br />
dem Fenster stand. Das helle Licht von draußen war durch dünne, auberginefarbene<br />
Vorhänge leicht gedämpft. Die Atmosphäre im Raum<br />
war geprägt von äußerster Ruhe. Schuberth saß auf einem Sessel in<br />
der Nähe des Sofas, ich selbst in einer zurückgezogenen Ecke. Katja<br />
219
220
221<br />
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Baumeister hatte nach dem Vorgespräch den Raum verlassen.<br />
Mehr als einen Gast hatte Schuberth nicht zugelassen.<br />
„Schon das ist ungewöhnlich genug“, hatte er gesagt. „Aber darauf<br />
hatte ich mich ja bereits vorher eingelassen. Wenn das nun statt Frau<br />
Baumeister Herr Thailer ist, soll es mir Recht sein.“<br />
„Ich bin wie ein zerrissenes Tuch“, sagt Lara und fängt sofort an zu<br />
weinen. „Jonathan ist weg, ich habe ihn einfach hergegeben.“ (An dieser<br />
Stelle höre ich erstmals den ursprünglichen Namen von Maurice).<br />
„Ich habe ihn einfach einem fremden Mann überlassen. –¬ Wie konnte<br />
ich das nur tun? ¬– Wie kann eine Mutter ihr Kind weggeben?“<br />
Immer wieder waren diese ersten Sätze von Weinen unterbrochen.<br />
Ich wollte aufstehen, um sie zu trösten, aber Schuberth wies mich<br />
per Handzeichen an, dies nicht zu tun. Tatsächlich beruhigte sie sich<br />
langsam.<br />
„Aber ich habe ihn auch gerettet“, fährt sie fort. „Sein Leben war bedroht.<br />
Der fremde Mann wird ihm nichts tun. So wie Bruno es getan<br />
hätte. Ich hatte solche Angst, dass er ihm etwas antun würde. Meinem<br />
Baby. Dass er mein Baby totmachen würde. Ich bin über den<br />
Strand vor ihm geflohen. Es ist so kalt, eiskalt, es tut überall weh, am<br />
ganzen Körper. Jonathan ist viel zu dünn angezogen. Er wird das nicht<br />
lange aushalten. Aber Bruno wird mich kriegen. Und wenn er mich<br />
kriegt, dann hat er auch mein Baby. Er wird ihm etwas antun, etwas<br />
Schreckliches antun. Ich weiß es.“<br />
Wieder wird Laras Reden von heftigem Weinen unterbrochen, wieder<br />
beruhigt sie sich.<br />
„Der fremde Mann wird Jonathan ins Warme bringen. Er wird ihn retten.<br />
Ihm zu essen geben, zu trinken. Er wird machen, dass er weiterleben<br />
kann.“<br />
Die Erleichterung ist ihr anzuhören. Ganz kurz scheint sie fast fröhlich.<br />
„Ich renne weiter über den Strand. Ich renne am Wasser entlang, zurück<br />
Richtung Haus. Es ist nicht mehr kalt. Ich renne fort von dem Ort,<br />
an dem ich mein Baby gelassen hab, um es zu retten. Ich spüre die<br />
222
Kälte nicht mehr. Ich hab keine Angst mehr zu stürzen. Mit Jonathan<br />
auf dem Arm hatte ich diese Angst. Es ist dunkel, der Sand, die Steine,<br />
über die ich laufe, alles ist glatt, alles ist gefroren und hart. Bruno ist<br />
hinter mir her, aber er ist gestürzt. Ich weiß nicht, ob er mich einholen<br />
wird, wann er mich einholen wird. Es ist mir auch fast egal. Aber jeder<br />
Meter, den ich ihn weiter hinter mir herziehe, vergrößert seinen Abstand<br />
zu Jonathan.“<br />
Nach einer kurzen Pause fährt sie fort:<br />
„Ich laufe endlos. Es geht immer weiter. Bin ich tatsächlich so weit gerannt<br />
mit Jonathan auf dem Arm? Es muss so sein. Die Stelle, an der<br />
das Haus hinterm Deich liegt, habe ich noch nicht erreicht.“<br />
Laras Atem wird schneller und kürzer. Sie rennt tatsächlich diesen<br />
Strand entlang.<br />
„Aber dann, da vorne ist es. Ich laufe zum Deich, laufe den Deich<br />
hoch. Auf halber Höhe rutsche ich weg. Mist!“<br />
Sie stürzt. In ihrem Kopf stürzt sie tatsächlich, daran gibt es keinen<br />
Zweifel.<br />
„Das erste Mal auf dieser Flucht rutsche ich so, dass ich mich nicht<br />
mehr halten kann. Aber es ist nichts passiert. Ich stehe auf, kann weiterlaufen,<br />
nichts tut weh.“<br />
Wieder ist sie erleichtert.<br />
„Ich bin beim Haus. Warum bin ich hierher zurückgekommen? Was<br />
Anzeige<br />
223
will ich hier? Warum bin ich nicht ganz woanders? Bei der Polizei?<br />
Aber was soll ich da? Soll ich denen vielleicht erzählen, dass ich mein<br />
Baby ausgesetzt habe, um es vor meinem Mann zu schützen? Kann<br />
sein, dass ich das tun muss. Dass es das Beste ist. Kann sein. Aber ich<br />
weiß nicht, weiß nicht. ¬<br />
Die Tür steht offen, weit offen. Ich gehe hinein. Drinnen scheint es<br />
noch kälter zu sein als draußen. Ich schließe die Tür. Wie lange wird<br />
es dauern, bis Bruno hier ist? Wird er kommen? Oder bleibt er am<br />
Strand? Er ist gestürzt. Vielleicht schafft er es nicht. Vielleicht bleibt er<br />
da draußen. Vielleicht erfriert er. Ich muss die Polizei rufen. Ich habe<br />
mein Baby ausgesetzt.“<br />
Wieder fängt sie an zu weinen, beruhigt sich diesmal nur sehr schwer.<br />
Zum ersten Mal redet Schuberth tröstend auf sie ein, berührt einfühlsam<br />
ihre Schulter. Langsam hilft es. Sie weint nicht mehr, auch wenn<br />
ihre Unruhe bleibt. Eine starke Nervosität, die sie am ganzen Körper<br />
zittern lässt, vor allem an den Händen. Aber sie kann weiterreden.<br />
„Ich muss die Polizei anrufen. Ich muss melden, was ich getan habe.<br />
Sie müssen das Baby vor Bruno schützen.“<br />
Hektisch schlägt sie nach Schuberths Hand, der sie sofort zurückzieht.<br />
Halb richtet sie sich auf, öffnet sogar ein wenig die Augen. Dann antwortet<br />
sie sich selbst, aber sie macht es so, als gäbe sie einem imaginären<br />
Gegenüber die Antwort:<br />
„Weil es nicht ging“, sagt sie. „Es war unmöglich. Er hätte es sofort<br />
gemerkt. Er hätte mich nie allein ans Telefon gelassen. Nein, das war<br />
vollkommen unmöglich. Ich konnte nur fliehen, das war der einzige<br />
Ausweg. Jetzt aber ging es, jetzt war es möglich. Ich war allein im<br />
Haus. Und ich war allein im Wohnzimmer, in dem das Telefon auf dem<br />
Tisch lag.“<br />
Das Zittern ihrer Hände wird stärker. Sie greift nach einem unsichtbaren<br />
Telefon. Es sieht aus, als ob sie eine Nummer eintippt. Dann ist<br />
es, als ob ihr das Telefon aus den fahrigen Händen rutscht. Es fällt auf<br />
die Erde. Sie bückt sich danach, hebt es wieder auf, sitzt jetzt aufrecht<br />
auf dem Sofa.<br />
224
Anzeige<br />
„Hallo?!“, ruft sie verzweifelt.<br />
„Ist da niemand? Hört mich<br />
denn keiner?“<br />
Mit noch steigender Unruhe<br />
scheint sie erneut die Nummer<br />
einzutippen. Sie wartet. Dann<br />
zuckt sie erschrocken zusammen.<br />
Jemand, der hinter ihr<br />
steht, nimmt ihr das Telefon<br />
aus der Hand. Wahrscheinlich<br />
ist Kirchhoff in diesem Moment<br />
ins Zimmer gekommen. Langsam<br />
dreht sie sich über die<br />
Schulter zu ihm um, starrt ihn<br />
aus erschrockenen Augen an.<br />
„Sie? Aber was …?“ Sie ist völlig<br />
fassungslos. Es kann nicht<br />
Kirchhoff sein, der da hinter ihr<br />
steht.<br />
„Wer ist es?“, fragt Dr. Schuberth<br />
mit ruhiger, aber eindringlicher<br />
Stimme. „Wer ist da<br />
gekommen? Über wen erschrecken<br />
Sie so, Lara?“<br />
Ich spüre sofort, dass es gut<br />
ist, dass er sie in diesem Augenblick<br />
anspricht. Ein wenig<br />
taucht Lara aus ihrer Panik auf,<br />
richtet einen winzigen Teil ihrer<br />
Aufmerksamkeit auf Schuberth,<br />
wahrscheinlich ohne ihn als<br />
Person wahrzunehmen. Zum<br />
ersten Mal denke ich direkt,<br />
225
dass er seine Sache gut macht. Meine Angst um Lara nimmt mir das<br />
nicht. Noch immer weiß ich nicht, was für ein Ende das alles hier haben<br />
soll. Macht es irgendeinen Sinn für sie, alle Qualen dieser furchtbaren<br />
Nacht noch einmal zu durchleben? Ich glaube es nicht wirklich.<br />
Aber ich habe ihr vorher versprochen, die Dinge auf keinen Fall zu<br />
früh zu unterbrechen.<br />
„Es ist Marlies Schwalm“, sagt Lara, jetzt relativ ruhig. „Übrigens heiße<br />
ich nicht Lara, sondern Isabelle.“<br />
„Entschuldigung, natürlich Isabelle“, entgegnet Schuberth sanft.<br />
„Aber wer ist Marlies Schwalm, Isabelle? Welche Rolle spielt sie in<br />
dieser Geschichte?“ Und wie nebenbei sagt er: „Legen Sie sich wieder<br />
hin, Isabelle. Bleiben Sie ganz ruhig. Es geschieht Ihnen nichts,<br />
das verspreche ich Ihnen. Sie sind ganz sicher. Schließen Sie ruhig die<br />
Augen. Entspannen Sie sich ein wenig.“<br />
Ich denke, dass jetzt etwas durcheinander geraten sein muss in Laras<br />
Erinnerungen. Marlies Schwalm ist zu diesem Zeitpunkt längst abgereist,<br />
hat ihre Aufgabe erfüllt. Aber Lara ist sich ganz sicher.<br />
„Die Hebamme“, erklärt sie, während sie Schuberths Anweisungen<br />
befolgt. „Marlies Schwalm ist die Hebamme. Sie hat mir geholfen, Jonathan<br />
zur Welt zu bringen. Ich mag sie nicht besonders, aber sie hat<br />
mir geholfen. Auch die Tage nach der Geburt war sie sehr wichtig für<br />
mich. Ohne sie hätte ich Vieles nicht geschafft.“<br />
Dann macht sie eine Pause, als müsse sie sich erst neu besinnen. Plötzlich<br />
befürchte ich, dass sie den Faden verloren hat, was kein guter<br />
Zeitpunkt wäre. Wenn Marlies Schwalm damals tatsächlich noch oder<br />
wieder in dem Ferienhaus war, dann wirft das ein ganz neues Licht<br />
auf den gesamten weiteren Verlauf dieser Nacht. Aber ich befürchte,<br />
dass Schuberth sie nun doch zu lange angesprochen und damit unterbrochen<br />
hat. Dann wäre alles, was bisher geschehen ist, sinnlos.<br />
„Aber sie ist längst abgereist“, fährt Lara schließlich erstaunt fort.<br />
Langsam taucht sie wieder in ihre Erinnerungen ein, das ist ihr anzusehen.<br />
Sie schließt die Augen, geht fort in jene Nacht, die über zwei<br />
Jahre zurückliegt.<br />
226
„Was machen Sie hier? Ich denke, Sie sind wieder in Hamburg. Ich …“.<br />
Es scheint, als nehme die Hebamme ihr das Telefon aus der Hand.<br />
Laras Hände greifen ihm vergeblich hinterher.<br />
„Aber ich muss die Polizei anrufen“, sagt sie. „Ich habe Jonathan ausgesetzt.<br />
Er … mein Mann, er will, er wollte …. Ich muss die Polizei anrufen.<br />
Geben Sie mir das Telefon zurück. Bitte.“<br />
Ihre Unruhe hat sich sofort wieder gesteigert. Mit dem Oberkörper<br />
ist sie bereits wieder halb hochgekommen. Sie schaut über die Rückenlehne<br />
des Sofas. Dort steht Marlies Schwalm und denkt gar nicht<br />
daran, ihr das Telefon zurückzugeben.<br />
„Bitte!“, wiederholt sie. „Ich muss telefonieren. Bruno kann jeden<br />
Augenblick wieder hier sein. Geben Sie mir schnell das Telefon. Nun<br />
machen Sie schon!“<br />
Langsam wird sie wütend. Aber dann fällt sie unvermittelt wieder in<br />
sich zusammen. Irgendetwas muss passiert sein. Nach außen ist aber<br />
nicht erkennbar, was das ist.<br />
„Was ist los?“, fragt Schuberth leise. „Ist Bruno gekommen?“<br />
Lara nickt resigniert.<br />
„Er steht schon eine Weile da“, sagt sie, plötzlich weinerlich wie ein<br />
Kind. „Ich hab ihn nur nicht gesehen.“<br />
Alles Leben scheint plötzlich aus ihr gewichen zu sein. Sie hat nicht<br />
mal mehr die Kraft, von sich aus weiterzureden. Ich sehe Schuberth<br />
an, dass er kurz davor ist, die Sitzung abzubrechen. Wahrscheinlich<br />
hat er Angst, dass die Dinge außer Kontrolle geraten. Wir stehen an<br />
einer Gabelung und es fehlt das Hinweisschild, welcher Weg der richtige<br />
ist. Die Entscheidung liegt allein bei Schuberth. Er ist unser Scout.<br />
Ein plötzlich zögerlicher Scout, was mich beunruhigt. Auch Lara wartet.<br />
Sie ist voller Angst. Mir wird klar, dass ich sie nicht lange in diesem<br />
Zustand belassen werde. Ich überlege ernsthaft, die Sitzung von mir<br />
aus zu unterbrechen.<br />
„Was passiert weiter?“, fragt Schuberth schließlich. Seine Entscheidung<br />
ist gefallen, aber ich bin nicht sicher, ob seine Zweifel sich aufgelöst<br />
haben.<br />
227
228<br />
Anzeige
„Bruno ist genauso überrascht“, antwortet Lara bereitwillig, „Marlies<br />
hier zu sehen, wie ich es bin. Er will wissen, was sie hier macht. Blitze<br />
funkeln ihn aus ihren Augen an.<br />
‚So’, zischt sie. ‚Was ich hier mache, willst du also wissen? Ich frage<br />
mich eher, was du hier immer noch machst. Wolltest du nicht schon<br />
längst bei mir sein?’“<br />
Wie sich während der nächsten Minuten herausstellt, war Marlies<br />
Schwalm doch die Geliebte von Bruno Kirchhoff. Er hatte ihr versprochen,<br />
sich unmittelbar nach der Geburt von Lara zu trennen. Die<br />
Weihnachtstage hatte er bereits mit ihr verbringen wollen. Sie hatte<br />
bis zum Nachmittag auf ihn gewartet, ihn über sein Handy, das er ausgeschaltet<br />
hatte, nicht erreicht, sich dann sofort voller Misstrauen ins<br />
Auto gesetzt und war hergekommen.<br />
Zunächst glaubte sie, dass Kirchhoff sich wieder mit Lara zusammengetan<br />
hat. Inzwischen hatte sie aber begriffen, dass das ein Irrtum<br />
war. Trotzdem beschimpfte sie Kirchhoff so heftig, dass es schnell zum<br />
Streit zwischen den beiden kam. Im Laufe dieses Streits schleuderte<br />
der aufgebrachte Kirchhoff ihr auch die für sie ernüchternde Wahrheit<br />
um die Ohren. Er hatte nicht mal daran gedacht, nach der Trennung<br />
von Lara tatsächlich zu ihr zu kommen. Letztlich hatte er sie nur<br />
für die Entbindung gebraucht. Ihre Bereitwilligkeit war ihm sehr entgegengekommen.<br />
Ob er tatsächlich den Plan gehabt hatte, Maurice oder Lara nach dem<br />
Leben zu trachten, stellte sich nicht wirklich heraus.<br />
Klar war, dass all diese Dinge erst durch die Hypnose wieder in Laras<br />
Bewusstsein vordrangen. Bisher hatte sie sie sorgfältig in den Tiefen<br />
ihres Unterbewusstseins verborgen gehalten. Was aber letztlich mit<br />
Kirchhoff passiert und was der Auslöser für Laras Amnesie gewesen<br />
war, wurde noch immer nicht deutlich.<br />
Plötzlich schien es, dass es nicht mehr weiterging. Lara war vollkommen<br />
erschöpft und leer. Ihre Erzählung wurde immer fahriger und unkonzentrierter,<br />
bevor sie ganz versiegte.<br />
229
Schuberth schien mit seiner Weisheit am Ende. Es bewegte sich nichts<br />
mehr vor oder zurück und er holte Lara in die Gegenwart. Noch auf<br />
dem Sofa liegend schlief sie sofort ein.<br />
Gemeinsam mit Schuberth verließ ich den Raum.<br />
„Und jetzt?“, wollte ich wissen. „Wie geht es jetzt weiter?“<br />
Wir saßen in Schuberths Büro. Er, der riesige Mensch, hatte hinter<br />
seinem überdimensional großen Schreibtisch Platz genommen.<br />
„Es war eine sehr lange Sitzung“, meinte er ungenau. „Lara ist erschöpft.“<br />
„War die Sitzung zu lang?“, fragte ich. „Oder ist eine solche Erschöpfung<br />
normal?“<br />
„Nun, Sitzungen von solcher Qualität, also von dieser enormen Tragweite,<br />
sind natürlich anstrengend. Sie zehren an den Energiereserven<br />
von Körper, Geist und Psyche. – Aber zu Ihrer Frage, wie es weitergeht.<br />
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir beenden an diesem<br />
Punkt oder wir vereinbaren einen neuen Termin. Aber das muss Lara<br />
natürlich ganz allein entscheiden. Vielleicht reicht ihr das, was sie neu<br />
erfahren hat. Oder sie will mehr wissen. Wie auch immer Laras Entscheidung<br />
ausfällt, Herr Thailer, ich werde mich ihr anschließen und<br />
ihr zur Verfügung stehen, wenn sie dies wünscht.“<br />
Kapitel 30<br />
Nachdem Lara aufgewacht war, blieb sie noch eine Weile ziemlich<br />
verstört, was mich nicht wunderte. Obwohl sie sich keineswegs sicher<br />
war, seine Dienste noch ein zweites Mal in Anspruch zu nehmen,<br />
ließ sie sich einen weiteren Termin von Schuberth geben, der dann in<br />
einer Woche wäre.<br />
„Nur für alle Fälle“, sagte sie zu mir, als wir im Auto saßen. „Absagen<br />
kann ich immer noch.“<br />
230
Anzeige<br />
Wir hatten beschlossen, diese<br />
Nacht noch einmal gemeinsam<br />
in dem Hamburger Hotel<br />
zu verbringen. Mit meinem<br />
Wagen fuhren wir dorthin.<br />
Laras Auto würden wir irgendwann<br />
später aus Schuberths<br />
Garten abholen, wo es<br />
zunächst sicher stand.<br />
Nachdem wir uns von Schuberth<br />
verabschiedet hatten,<br />
standen wir mit Katja vorm<br />
Haus.<br />
„Ich hoffe“, sagte sie zu Lara,<br />
„das Ganze hier hat dir wenigstens<br />
ein bisschen weitergeholfen.“<br />
„Ich glaube schon“, antwortete<br />
sie. „Viel Verlorenes ist wieder<br />
aufgetaucht. Das Puzzle in<br />
meinem Kopf hat ein paar zusätzliche<br />
Teile. Ich hoffe, manches<br />
ordnet sich nun neu.“<br />
Katja war damit nicht zufrieden.<br />
„Mehr kann ich dir jetzt nicht<br />
sagen“, erklärte Lara. „Es ist alles noch zu frisch. Ich bin viel zu verwirrt,<br />
um davon zu erzählen. Ich rufe dich sofort an, wenn es mir wieder<br />
besser geht. Dann treffen wir uns und reden.“<br />
Vorsichtig legte Katja den Arm um sie.<br />
„Ich danke dir“, sagte Lara leise. „Für alles.“<br />
„Ich danke dir auch“, antwortete Katja. „Ich mag dich sehr.“<br />
„Ich dich auch.“<br />
231
Lara meinte, die frische Luft würde ihr gut tun und wir gingen zu Fuß<br />
zu meinem Auto. Als Katja Lara noch einmal in den Arm nahm, sah<br />
ich, dass sie Tränen in den Augen hatte.<br />
„Bleib mir treu“, sagte sie. „Meine Schöne …“<br />
Dann umarmte sie auch mich.<br />
„Tut ihr mir einen Gefallen?“, fragte sie, bevor sie zu ihrem Auto ging.<br />
„Einen Abschiedsgefallen?“<br />
„Jeden“, sagte ich überschwänglich. Ich fand, sie hatte wirklich viel für<br />
uns getan.<br />
„Versprecht ihr mir etwas?“<br />
Vollkommen ernst sah sie zuerst mich und dann Lara an.<br />
Wir warteten, sie ließ sich Zeit.<br />
„Bleibt zusammen“, sagte sie dann. „Es ist das Richtige für euch. Lasst<br />
euch das nicht durch irgendwelche alten Geschichten kaputt machen.<br />
Was auch immer noch bei euren Nachforschungen herauskommen<br />
mag.“<br />
Wir nickten ein bisschen verlegen und stiegen ins Auto. Ich startete<br />
den Motor. Wir fuhren los.<br />
„Ist es nicht völlig verrückt“, sagte Lara, „dass man ganze Passagen<br />
seiner Erinnerung vollkommen auslöschen kann?“<br />
Wir lagen, gekleidet in Hotelbademäntel, auf dem großen Bett, Lara<br />
in meinem Arm. Nach einem ausführlichen Duschbad fühlten wir beide<br />
uns etwas wohler. Laras Kräfte bauten sich langsam wieder auf. Im<br />
Hotelrestaurant hatten wir ein verspätetes Mittagessen eingenommen.<br />
„Die Küche ist bereits geschlossen“, hatte der afrikanische Kellner zunächst<br />
entschieden gesagt. „Tut mir leid.“<br />
Gerade überlegte ich mir, ob ein gutes Trinkgeld in diesem Fall etwas<br />
nützen würde, als ich sah, wie seine Züge sich veränderten. Sie wurden<br />
deutlich weicher, als er Lara ansah, die blass war und tiefe Ringe<br />
unter den Augen hatte. Ihre vollkommene Erschöpfung war nicht zu<br />
übersehen.<br />
232
„Wären Ihnen Rindsrouladen recht?“, fragte er nun mit freundlichem<br />
Grinsen. „Mit Salzkartoffeln?“<br />
Ich nickte ihm zu und wir setzten uns. Ich hatte einen Bärenhunger<br />
und die Rouladen waren erstklassig. Lara bekam kaum etwas hinunter.<br />
Ich musste sie drängen, damit sie überhaupt aß.<br />
„Die Erinnerungen waren nicht ausgelöscht“, sagte ich nun, auf dem<br />
Hotelbett liegend. „Wenn ich diese Dinge richtig begreife, hast du sie<br />
nur in eine Ecke gestellt und so was wie ein großes Tuch drüber gedeckt.<br />
Damit du sie dir nicht jeden Tag anschauen musstest. Dazu waren<br />
sie einfach zu hässlich.“<br />
„Ja“, meinte sie leise. „So ist es wohl. Und weißt du, was mir Angst<br />
macht, Paul?“<br />
„Dass da noch mehr in der Ecke steht?“, mutmaßte ich.<br />
Sie nickte. „Vielleicht etwas noch viel Hässlicheres. Unter einem noch<br />
größeren und dickeren Tuch verborgen.“<br />
Diese Angst teilte ich mit ihr, aber ich sagte es nicht. Dann schliefen<br />
wir ein. Ein paar Stunden später erwachte ich und stand auf. Ich ging<br />
zur Toilette und wusch mir die Hände. Als ich ins Zimmer zurückkam,<br />
schlief Lara unverändert. Ich spürte, wie jeder Atemzug Schlaf ihr gut<br />
tat. Ich ging zum Fenster und zog leise die Gardinen vor. Dann deckte<br />
ich Lara zu und legte mich wieder neben sie unter die Decke. Im Hotel<br />
war es seltsam ruhig. Nur manchmal hörte man in einiger Entfernung<br />
das leise Surren und Bremsen des Aufzugs. Ich schloss die Augen. Es<br />
war so gut, neben Lara zu liegen. Die Schwere des Vormittags flog wie<br />
ein Traum davon. Dann schlief ich erneut ein.<br />
Als ich in der Nacht erwachte, war die Schwere zurück. Lara neben<br />
mir schlief noch immer wie betäubt. Ihr Atem war ruhig und gleichmäßig,<br />
ihre Körperhaltung kaum verändert.<br />
Ich konnte nicht länger liegen bleiben. Meine Gedanken trieben mich<br />
hoch. Die gleiche Angst, die Lara zuletzt geäußert hatte, war auch in<br />
mir wieder da und ließ mich nicht mehr los. Was war da weiter passiert<br />
in jener Weihnachtsnacht? Was hatte Laras Amnesie ausgelöst?<br />
233
Ich schaltete die kleine Tischlampe an, streifte mir die notwenigsten<br />
Kleidungsstücke über und schrieb Lara, für den Fall, dass sie aufwachte,<br />
eine kurze Nachricht.<br />
Bin sofort zurück. Mache nur einen Spaziergang.<br />
In Liebe,<br />
Paul!<br />
Ich knipste die Lampe aus und schlich so leise wie möglich aus dem<br />
Zimmer. Von der Tür aus lauschte ich noch einmal ins Zimmer: Lara<br />
schlief unverändert.<br />
Ich schlenderte am Wasser entlang. Im Gegensatz zum Tag war es<br />
gehörig abgekühlt, die Nacht war sternklar. In meinen Gedanken ließ<br />
ich den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren. Immer wieder<br />
dachte ich dabei an Schuberth und die Dinge, die er gemacht und gesagt<br />
hatte. Mein Bild von ihm war unklar. Manches von dem, was er<br />
gesagt hatte, beschäftigte mich nachhaltig.<br />
In der kurzen Nachbesprechung der Sitzung hatte er von einem traumatischen<br />
Erlebnis geredet, das vorliegen musste, damit es zu einer<br />
Erinnerungsblockade wie bei Lara kommen konnte. Auf dieses traumatische<br />
Erlebnis aber war sie meines Erachtens noch nicht gestoßen.<br />
Um die ganze Wahrheit freizulegen, musste jedoch genau das<br />
passieren.<br />
„Wahrscheinlich“, hatte Schuberth nachdenklich hinzugefügt, „ist sie<br />
exakt an diesem Punkt heute angelangt. Aber dann hat sie, ähnlich<br />
einem Pferd vor einer zu hohen Hürde, gescheut und ist zurückgeschreckt.<br />
Ob eine weitere Sitzung zu einem anderen Ergebnis führt,<br />
kann ich nicht sagen. Aber ich halte es für eher unwahrscheinlich. Ihr<br />
Hemmnis ist meiner Einschätzung nach doch ungewöhnlich groß.“<br />
Auf meine Frage, was man tun könne, um ihr weiter zu helfen, war<br />
ihm zunächst nichts eingefallen. Erst beim Abschied hatte er mich<br />
noch einmal kurz zur Seite genommen.<br />
„Möglicherweise kann ein reales gegenwärtiges Erlebnis die Blockade<br />
234
Anzeige<br />
lösen“, meinte er unbestimmt.<br />
„Was könnte das sein?“, fragte ich. „Geben Sie mir ein Beispiel.“<br />
„Schwer zu sagen. Manchmal kann es die Begegnung mit Menschen<br />
sein, die an den ursprünglichen Erlebnissen beteiligt waren. Aber<br />
wenn ich alles richtig verstanden habe, ist das hier mit der einzigen<br />
noch lebenden Person schon geschehen ohne die erhoffte Wirkung.“<br />
Das stimmte. Bei Marlies Schwalm war Lara bereits gewesen. Im Gegensatz<br />
zur Hypnose hatte das keine Erinnerungen bei ihr ausgelöst.<br />
Hier war also nichts zu erwarten. Und Bruno Kirchhoff, der dritte Beteiligte,<br />
war tot.<br />
An diesem Punkt des Gesprächs waren Schuberth und ich durch einen<br />
leichten Schwächeanfall Laras unterbrochen worden.<br />
„Rufen Sie mich einfach an“, hatte er schließlich gesagt, „falls Sie noch<br />
irgendwelche Fragen haben. Ich bin jederzeit für Sie da. Im Moment<br />
halte ich es für das Beste, wenn Sie Lara erstmal fortbringen von hier.<br />
An einen Ort, wo sie wirklich zur Ruhe kommt.“<br />
235
Das hatte ich gemacht. Und nun, spät in der Nacht, spazierte ich am<br />
Wasser der Außenalster entlang und nahm innerlich das Gespräch<br />
mit Schuberth noch einmal auf. An genau der Stelle, an der wir es<br />
vorhin unterbrochen hatten.<br />
„Was wäre“, fragte ich in die Stille hinein, „wenn wir …“<br />
Ich sprach den Satz nicht zu Ende, aber ich dachte weiter. Und plötzlich<br />
war ich so aufgeregt, dass ich nicht länger allein hier draußen<br />
bleiben konnte. Als wäre ein Schwarm Bienen hinter mir her, eilte ich<br />
zurück ins Hotel, grüßte nachlässig den Nachtportier und rannte die<br />
Treppen hinauf. Ich musste unbedingt sofort mit Lara reden. Ich fand,<br />
meine Idee war eine Sache, die wir nicht auf die lange Bank schieben<br />
sollten.<br />
Letztlich wartete ich dann doch bis zum nächsten Morgen. Laras<br />
Schlaf war ungebrochen tief und ich brachte es nicht über mich, sie<br />
zu wecken. Ich selbst machte kein Auge mehr zu, bis Lara von allein<br />
aufwachte. Dabei saß ich die ganze Zeit auf einem Sessel vor ihrem<br />
Bett und schaute sie an.<br />
Zunächst sah ich nicht viel außer den groben Umrissen ihres Körpers<br />
unter der Decke. Aber schon bald fiel etwas Dämmerlicht durch die<br />
Vorhänge ins Zimmer und Laras Bild wurde immer deutlicher. Ich war<br />
so froh, dass sie hier war, dass ich sie jederzeit berühren konnte, wenn<br />
ich es nur wollte. Aber sie hatte sich mir schon so oft entzogen, dass<br />
ich noch immer nicht sicher war, dass sie dieses Mal bei mir bleiben<br />
würde, auch wenn ich mir nichts so sehr wünschte wie das.<br />
Ich brannte darauf, endlich mit ihr zu reden und danach zu handeln.<br />
Gleichzeitig wünschte ich mir mit der gleichen Intensität, diese Augenblicke<br />
im Hotelzimmer würden nie vergehen. Es war, als würde ich<br />
ihre Schönheit noch einmal ganz neu für mich entdecken. Mit der Regelmäßigkeit<br />
von Meereswellen, die an den Strand gespült werden,<br />
durchliefen warme Ströme meinen Körper und meine Seele. Ich fühlte<br />
Liebe. In der letzten Nacht hatte ich Lara begehrt und ich würde sie<br />
wieder begehren, aber was ich im Augenblick spürte, war etwas ganz<br />
236
anderes. Bis an mein Lebensende hätte ich einfach nur so sitzen können<br />
und ihr zuschauen, wie sie schlief und Kräfte in sich sammelte.<br />
Ich wollte nichts.<br />
Dann schlug sie die Augen auf. Ich hatte ewig nicht zur Uhr geschaut,<br />
es war bereits nach sieben. Die Zeit der Ruhe und des Wartens war<br />
vorbei. Jetzt war es wichtig, zu handeln. Die Dinge mussten sich entwickeln.<br />
Stillstand gefährdete nicht nur unsere Liebe, sondern vor allem<br />
Lara selbst.<br />
Unbedingt und möglichst schnell musste sie wissen, was in der Weihnachtsnacht<br />
vor zweieinhalb Jahren weiter passiert war. Sonst würde<br />
sie auch in Zukunft keine ruhige Minute haben. Genau wie während<br />
der letzten Jahre.<br />
Inzwischen hatte das Rad längst begonnen, sich schneller zu drehen.<br />
Die Frage war, wie lange ein Mensch das alles aushalten konnte, ohne<br />
den Verstand zu verlieren.<br />
Ich legte mich zu Lara, streichelte ihr Gesicht.<br />
„Guten Morgen“, sagte ich leise und küsste sie.<br />
Lara bettete sich in meinen Arm. Sie brauchte eine Weile, um sich darüber<br />
klar zu werden, wo wir uns befanden und was passiert war. Ihr<br />
Körper fühlte sich warm und gut an. Ich unterdrückte mein Verlangen<br />
nach mehr. Es war nicht die Zeit.<br />
„Lass uns gleich nach dem Frühstück losfahren“, sagte ich.<br />
„Und wohin?“, fragte Lara überrascht.<br />
„Nach Hause“, sagte ich.<br />
„Zu Maurice?“<br />
Der Gedanke schien sie kurz zu beflügeln, aber schon im nächsten Moment<br />
zusätzlich zu hemmen. Genau das war es! Das war der Grund,<br />
aus dem wir handeln mussten. Die Dinge waren in Fluss geraten, wir<br />
durften sie nicht aus Angst wieder versickern lassen. Wir durften nicht<br />
vor dem, was möglicherweise ans Tageslicht kommen konnte, erstarren<br />
wie das Kaninchen vor der Schlange. Wir mussten alle Energie<br />
und Willenskraft sammeln und mit unserem ganzen Mut noch einmal<br />
durchstarten, um die Wahrheit zu erfahren, wie auch immer die aus-<br />
237
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sehen mochte. Ein weiteres Verdrängen durfte es nicht mehr geben.<br />
Sonst gefährdeten wir alles, nicht zuletzt unser Zusammenleben mit<br />
Maurice. Ihre Unklarheit über sich selbst blockierte auch Laras Liebe<br />
zu ihrem Sohn. Nicht weil sie sie nicht empfand, sondern weil sie ihn<br />
schützen wollte vor einer Mutter, die vielleicht etwas Furchtbares getan<br />
hatte. Das waren die Dinge, die Lara ebenso erkannt hatte wie ich.<br />
„Ja“, sagte ich jetzt, „auch zu Maurice. Natürlich und vor allem zu<br />
Maurice.“<br />
„Aber …?“<br />
Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Ich setzte mich neben<br />
sie. Wir schauten uns nicht an.<br />
„Aber ich glaube, vorher müssen wir noch woanders hin“, sagte ich<br />
tonlos. „Meinst du nicht?“<br />
„Denkst du das Gleiche wie ich?“, fragte sie.<br />
Ich nickte und sagte ja.<br />
238
Kapitel 31<br />
Fast im Vorübergehen hatten wir am Frühstücksbuffet des Hotels hastig<br />
ein paar Kleinigkeiten zu uns genommen. Ein Croissant, etwas Kaffee,<br />
Lara zwei Gläser Orangensaft.<br />
Ich hatte bezahlt und nun saßen wir im Auto. Wir ließen die Stadt<br />
mit ihren Elbebrücken hinter uns und rasten nun über die Autobahn<br />
Richtung Bremen dahin. Laras Auto sollte zunächst bei Dr. Schuberth<br />
stehen bleiben, den wir später über unsere spontane Abreise informieren<br />
würden.<br />
Ein paar Hochnebelfelder ließen die Sonne noch nicht durch, aber die<br />
Ahnung eines weiteren schönen Sommertages lag bereits in der Luft.<br />
Auf der Autobahn war wenig los, sodass wir schnell vorankamen. Wir<br />
redeten kaum. Lara fischte ihr Handy aus der Tasche und drückte eine<br />
eingespeicherte Nummer. Es dauerte nicht lange, bis am anderen<br />
Ende abgehoben wurde.<br />
„Hallo Katja“, sagte sie. „Ich bin’s. Wir sind unterwegs an die Küste.<br />
Wir fahren zu dem Haus, in dem sich damals alles abgespielt hat.“<br />
Am anderen Ende sagte Katja etwas und Lara wartete.<br />
„Doch“, antwortete sie schließlich. „Ich glaube, dass das auch allein<br />
klappen kann. – Sagt mir mein Gefühl. – Auf seine Hilfe kann ich immer<br />
noch zurückgreifen, wenn es nötig wird. – Nein, ich glaube nicht,<br />
dass das gefährlich für mich werden kann. Paul ist bei mir.“<br />
Sie fasste nach meiner Hand und lächelte mir kurz zu.<br />
„Ja, ich weiß, dass man vorsichtig sein muss mit so was. Aber glaub<br />
mir, das werde ich auch sein. – Ich hab nicht vor, jetzt einen Absturz<br />
zu erleben, nein. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hab ich etwas zu verlieren.<br />
Und ich bin sicher, ganz nah vor dem zu stehen, was ich will.<br />
– Nein, mach dir keine Sorgen, bitte.“<br />
Immer wieder waren ihre Worte durch kurze Entgegnungen Katjas<br />
unterbrochen worden, die jetzt offenbar zu einem längeren Monolog<br />
ansetzte. Lara machte ein leicht genervtes Gesicht. Meine Hand hielt<br />
239
sie weiter fest. Ich fühlte die Energie durch unsere Hände fließen. Ermunternd<br />
lächelte ich ihr zu.<br />
„Ja, Mama“, sagte sie ironisch. „Ist gut, Mama. Werde ganz doll auf<br />
mich aufpassen.“ Dann wieder ernst: „Ja, natürlich weiß ich, wie du es<br />
meinst, Katja. – Ja, ich mag dich auch sehr. – Ach, Katja? Tust du mir<br />
den Gefallen und sagst den Schuberths wegen dem Auto Bescheid.<br />
Wenn es sie stört, sollen sie es von mir aus abschleppen lassen. –<br />
Nein, das glaube ich auch nicht.“<br />
Katja wollte wissen, wo das Ferienhaus sich befand und Lara beschrieb<br />
es ihr so genau, wie sie es selbst noch wusste. Mir wurde klar,<br />
dass das nicht sehr genau war. Nachdem sie das Gespräch beendet<br />
hatte, behielt Lara das Telefon noch lange in der Hand. Nachdenklich<br />
schaute sie auf die vorüber fliegende Landschaft.<br />
„Ist es richtig“, fragte sie schließlich, „was wir tun?“<br />
„Ganz sicher“, sagte ich. „Ich habe keine Zweifel. – Du?“<br />
Sie schüttelte den Kopf und steckte das Telefon zurück.<br />
„Nein“, sagte sie. „Es ist richtig.“<br />
Sie legte nun auch die rechte Hand auf meine, sodass diese von ihren<br />
beiden Händen fest umschlossen war. Sanft drückte sie zu. Die Energie<br />
zwischen uns floss wie nie zuvor.<br />
Wie Touristen parkten wir auf dem großen Strandparkplatz und lösten<br />
ein Ticket im Parkautomaten. An dem kleinen Kassenhäuschen<br />
auf dem Deich zahlten wir Eintritt und schlenderten, äußerlich entspannt,<br />
den Strand entlang. Schon vom Deich aus sahen wir das<br />
Duschhäuschen.<br />
Lara hatte gewollt, dass wir diesen Weg gingen: Zuerst zum runden<br />
Backsteinbau, der mittlerweile verputzt worden war und einen hellgelben<br />
Anstrich erhalten hatte, dann am Wasser entlang weiter den<br />
Weg, den sie damals zurück gerannt war bis zum Ferienhaus.<br />
Die Sonne hatte sich noch kaum durchgesetzt und der Strand war<br />
weniger voll, als ich befürchtet hatte. Viele Urlauber nutzten solche<br />
Tage, um die umliegenden Städte zu erkunden. Trotzdem erkannte<br />
240
241<br />
Anzeige
Lara den Strand gegenüber damals kaum wieder.<br />
„Ich bin nie wieder hier gewesen“, sagte sie, während wir uns Hand<br />
in Hand dem runden Häuschen näherten. „Ich hatte immer Angst davor.“<br />
Vor dem gelben Duschhaus blieben wir stehen und betrachteten es<br />
wie eine touristische Sehenswürdigkeit. Ich hielt Lara die Tür auf, nach<br />
kurzem Zögern trat sie vor mir ein. Inzwischen war renoviert worden<br />
und nichts erinnerte mehr an damals. Sogar neue Wände waren gezogen<br />
worden. Dieser Raum hatte uns nichts mehr zu sagen. Nach zwei<br />
oder drei Schritten kehrten wir um und gingen wieder hinaus.<br />
Unschlüssig blieben wir eine Weile davor stehen. Aus beiden Richtungen<br />
drängten Badegäste an uns vorbei. Lara versuchte vergeblich, sich<br />
zu orientieren. Ich zeigte in die Richtung, die sie damals am Wasser<br />
entlang eingeschlagen hatte.<br />
„Dort bist du gelaufen“, sagte ich.<br />
„Alles ist so vollkommen anders jetzt“, meinte sie kläglich. „Ich kann<br />
mich nicht zurückversetzen.“<br />
„Kein Wunder“, sagte ich. „Stell dir vor, wie kalt es damals war. Von<br />
der Dunkelheit mal ganz zu schweigen. Kein Mensch weit und breit.<br />
Außer uns beiden, Maurice und irgendwo dein Mann. Jetzt ist das<br />
hier ein Ferienparadies. Es ist warm. Die vielen Menschen.“<br />
Wir schlenderten zum Wasser und setzten uns auf die Steinbank. Es<br />
war Flut, das Wasser plätscherte dicht an unsere Füße. Wir zogen unsere<br />
Schuhe aus. Lara trug ein mattgelbes Sommerkleid.<br />
„Damals war es stürmisch“, fuhr ich fort. „Heute weht kaum ein Lüftchen.<br />
Die Welt kann sich kaum mehr unterscheiden als damals und<br />
heute.“<br />
Vor der Küste zogen zwei Frachtschiffe und ein riesiger Öltanker vorbei.<br />
Ein paar Hände voll kleiner Boote mit weißen Segeln schipperte<br />
dazwischen herum. Die Welt war friedlich.<br />
Auch das war damals anders, auch wenn man es auf den ersten Blick<br />
nicht gesehen hatte. Wie sollte Lara es schaffen, sich trotzdem in diese<br />
Weihnachtsnacht zurückzuversetzen? Ich glaubte jetzt nicht mehr,<br />
242
Anzeige<br />
dass wir auf diesem Weg eine Chance hatten. All diese äußeren Umstände<br />
hatten wir einfach nicht bedacht.<br />
Ich drehte mich zu Lara, um ihr meine Gedanken mitzuteilen. Aber ich<br />
sah, dass sie die Augen geschlossen hatte und ganz entspannt schien.<br />
Die Arme hingen locker über ihre Knie, den Kopf hatte sie leicht nach<br />
vorn geneigt. Ich ließ ein paar Minuten verstreichen, ohne einen<br />
Mucks von mir zu geben.<br />
„Es funktioniert ein bisschen“, sagte sie schließlich leise und hielt die<br />
Augen zu. „Das Gebrabbel der Menschen wird langsam zum Geräusch<br />
des Sturms. Es ist dunkel. Mir<br />
wird kalt.“<br />
Tatsächlich bildete sich auf<br />
ihren sonnengebräunten Oberarmen<br />
eine Gänsehaut. Ich versuchte<br />
es selbst und scheiterte<br />
kläglich. Keine Sekunde vergaß<br />
ich, dass wir an einem warmen<br />
Tag am Meer saßen und dass<br />
es keinen eisigen Wintersturm<br />
gab. Ich konnte ihn nicht fühlen.<br />
Ein kleiner Möwenschwarm,<br />
der nah bei uns auf den Steinen<br />
hockte, machte sich gegenseitig<br />
fertig. Es ging um einen<br />
halb verwesten Fisch. Im gleichen<br />
Moment flogen sie auf<br />
und streiften dabei fast unsere<br />
Köpfe. Lara merkte es nicht, so<br />
versunken war sie. Auch oben<br />
in der Luft zankten die Möwen<br />
weiter. Sie entfernten sich, aber<br />
ihr Geschrei war noch lange zu<br />
hören.<br />
243
Ich hatte mich entschlossen, auf eigenes Handeln zu verzichten und<br />
nur darauf zu warten, was als Nächstes von Lara kommen würde. Ich<br />
sah mich als ihren Begleiter, nichts sonst. Ich wollte nur bei ihr sein,<br />
sie im Auge behalten, ihre Schritte begleiten und notfalls da sein,<br />
wenn sie meine Hilfe brauchte. Und ihr nächster Schritt musste immer<br />
genau der sein, den sie selbst für richtig hielt. Sie und kein anderer<br />
Mensch auf der Welt wusste, wo ihr Weg entlangführte.<br />
Sie öffnete die Augen und stand auf. Sie suchte meine Hand und wir<br />
gingen weiter am Wasser entlang. Ungefähr in dieser Höhe hatte ich<br />
sie damals aus den Augen verloren. Davon, wo das Ferienhaus sich<br />
befand, hatte ich nur eine sehr ungenaue Vorstellung. Leider schien<br />
das bei Lara kaum anders.<br />
Zwar richtete sie ihre Blicke immer häufiger landeinwärts, schien sich<br />
aber nicht schlüssig zu sein, an welcher Stelle wir den Deich überqueren<br />
mussten. Sie wirkte ratlos. Da sie aber nichts sagte, blieb ich auch<br />
still. Je weiter wir uns vom Hauptstrand entfernten, umso menschenleerer<br />
wurde es.<br />
Dann plötzlich steuerte Lara unvermittelt nach rechts vom Wasser<br />
fort. Der Weg führte uns querfeldein durch ein paar halbhohe Dünen.<br />
Der Sand hier war weicher und tiefer als der am Wasser. Unsere<br />
Schritte wurden schwerer, aber nach ein paar Minuten hatten wir den<br />
Deich erreicht. Wortlos streifte Lara ihre Schuhe über, ich tat es ihr<br />
gleich.<br />
Auf dem Deich graste eine große Schafherde, die uns genervt anblökte.<br />
Sie war von einem Elektrozaun umgeben und die Tiere glotzten<br />
uns an, als hätten sie noch nie Menschen gesehen.<br />
Wir gingen so weit nach links, bis wir am Zaun vorbeikamen. Die<br />
Schafe fraßen ununterbrochen. Das hundertfache Abreißen und Kauen<br />
des Grases war ein lautes, gleichmäßiges Mahlen wie von einer<br />
Maschine. Der Deich war mit riesigen Maulwurfshaufen übersät, wir<br />
gingen ihn hoch.<br />
Oben angekommen, schaute Lara suchend nach links und rechts.<br />
Häuser, die aus meiner Sicht in Frage gekommen wären, gab es meh-<br />
244
ere, aber Lara schien unschlüssig.<br />
Weiterhin sprachen wir beide nicht, ich ließ mich von ihr führen. Bevor<br />
wir den Deich hinuntergingen, zog Lara ihre Schuhe erneut aus<br />
und unten auf der schmalen Teerstraße wieder an. Dann ging sie,<br />
nun auf der Landseite, zurück in die Richtung, aus der wir zuvor gekommen<br />
waren. Kurz machte es den Eindruck, als wüsste sie nun<br />
Bescheid, aber schon nach zweihundert Metern, während der ihre<br />
Zweifel erneut zunahmen, machte sie in Höhe eines Hauses, dem sie<br />
ein paar argwöhnische Blicke zuwarf, abrupt kehrt. Wortlos führte sie<br />
mich zurück.<br />
Mit jedem weiteren Schritt wurde ich skeptischer. Selbst wenn wir<br />
das Haus finden sollten, schien mir der Ausgang unserer Aktion inzwischen<br />
mehr als ungewiss.<br />
Aber Lara ging weiter. Einen halben Kilometer, einen, dann sichere<br />
zwei. Manchmal wurde sie zielstrebiger und schneller. Dann wieder<br />
zögerte sie so sehr, dass ich dachte, sie würde gleich aufgeben. Aber<br />
das tat sie nicht.<br />
Unsere wortlose Kommunikation intensivierte und verdichtete sich.<br />
Mittlerweile spürte ich jeden Zweifel, jede aufkeimende Hoffnung<br />
und jede ihrer Ängste so deutlich, als wären es meine eigenen. Ab<br />
und zu schaute ich zu ihr hinüber. Sie erwiderte meine Blicke nicht.<br />
Die Gegend wurde einsamer. Schon seit geraumer Zeit waren wir an<br />
keinem Haus mehr vorbeigekommen. Ich kannte die Strecke zu wenig,<br />
um zu wissen, ob hier überhaupt noch ein Haus kommen würde,<br />
aber inzwischen glaubte ich es kaum noch. Dass plötzlich Laras Entschlossenheit<br />
noch einmal zunahm, wertete ich eher als Mut der Verzweiflung.<br />
Dann aber tauchte, direkt hinter einer Kurve und versteckt<br />
in einer kleinen Baumgruppe, tatsächlich ein weiteres Haus auf.<br />
Lara hielt an und betrachtete es näher. Es war klar, dass wir am Ziel<br />
waren. Zögernd betrat sie die Auffahrt. Erstmals gab sie meine Hand<br />
frei. Ich blieb stehen, behielt sie aber im Auge.<br />
Vor der Tür stand ein Auto mit Berliner Kennzeichen.<br />
„Touristen“, sagte ich zu mir selbst. „Daran hab ich überhaupt nicht<br />
245
Anzeige<br />
gedacht. Das war’s dann wohl.“<br />
Lara drehte sich zu mir um und grinste plötzlich.<br />
„Du vielleicht nicht“, sagte sie sicher. „Ich schon. Lass mich nur machen.“<br />
Sie klingelte.<br />
Kapitel 32<br />
Eine knappe Stunde später saßen wir allein im dunklen Wohnzimmer<br />
des Ferienhauses, das von einer vierköpfigen Berliner Familie gemietet<br />
worden war. Ein Ehepaar in mittlerem Alter mit einem blonden,<br />
übergewichtigen Jungen und einem blonden, übergewichtigen Mädchen.<br />
Ich hatte keine Ahnung, wie Lara es fertiggebracht hatte. Wäh-<br />
246
end sie mit den Berliner Eltern im Haus verschwunden war, hatte ich<br />
draußen gewartet.<br />
Es war wirklich ruhig hier. Ruhig und sehr abgelegen. Das jeweils<br />
nächste Haus in beide Richtungen war mindestens zwei Kilometer<br />
entfernt. Autos fuhren hier draußen kaum. Selbst das Meeresrauschen<br />
hörte man nur, wenn der Wind von dort kam.<br />
Das Haus war perfekt ausgesucht. Hier draußen bekam niemand mit,<br />
ob ein Kind geboren oder eine Frau gefangen gehalten wurde. Es gab<br />
niemanden weit und breit, der einen Schrei hätte hören können.<br />
Hätte ich bisher daran gezweifelt, wäre mir spätestens jetzt klar geworden,<br />
dass Lara damals keine andere Chance gehabt hatte als zu<br />
fliehen. Aber auch, welches Wagnis die Flucht dargestellt hatte, begriff<br />
ich erst jetzt in vollem Umfang.<br />
Wäre sie links oder rechts die Straße hoch gelaufen, hätte Kirchhoff<br />
sie innerhalb kürzester Zeit mit dem Auto eingeholt. In jedem Fall, bevor<br />
sie eins der nächsten Häuser erreicht hätte.<br />
Ihre einzige Chance war der Deich gewesen. Sie hatte ihn überqueren<br />
müssen. Nur am Strand hatte sie halbwegs gleiche Bedingungen mit<br />
ihrem Verfolger. Auch der Schutz durch die Dunkelheit war dort vollkommener.<br />
Zweifelsfrei hatte sie trotz ihrer Panik instinktiv richtig gehandelt,<br />
als sie mit Maurice an den Strand gelaufen war.<br />
Während ihre Eltern eine Weile mit Lara im Haus verschwunden blieben,<br />
vertrieben sich die blonden, übergewichtigen Kinder die Zeit im<br />
Garten mit Zanken. Ich schätzte sie auf acht und zehn Jahre. Saß der<br />
eine auf der Schaukel, wollte die andere das Gleiche und immer so<br />
weiter. Die beiden machten einen unglaublich unzufriedenen Eindruck.<br />
Ich dachte an Maurice und ich wusste, dass er niemals ein<br />
solches Kind werden würde. Meine Gedanken gingen zurück zu Lara,<br />
die noch immer mit den Berliner Eltern in Verhandlungen stand. Die<br />
Sache schien sich nicht ganz so einfach zu gestalten, wie sie es sich<br />
vorgestellt hatte.<br />
Schließlich aber traten sie alle drei vor die Tür wie ein Trupp Politiker,<br />
die nach einem Verhandlungsmarathon abgespannt, aber doch halb-<br />
247
wegs zufrieden vor die Presse traten.<br />
Wortlos – wirklich absolut wortlos – klaubten die Berliner ihre quengelnden<br />
Kinder ein, setzten sich ins Auto und rauschten grußlos ab.<br />
Im krassen Gegensatz zu den Kindern waren die Eltern eher dürr.<br />
Lara stand neben mir und winkte ihnen hinterher. Dann waren wir<br />
alleine. Die Stille, die die Berliner Kleinfamilie hinterlassen hatte, war<br />
perfekt.<br />
„Wir müssen ein paar Sachen umstellen“, sagte Lara. „Soweit ich mich<br />
erinnere, sind das alles noch die Möbel von damals, aber manche<br />
standen anders.“<br />
Noch während des Redens nahm sie einen der Stühle im nachgeahmten<br />
Jugendstil, von denen es hier drei gab und stellte ihn von einer<br />
Ecke des Raumes in eine andere. Zusammen verrückten wir danach<br />
ein paar der größeren Möbelstücke nach Laras Anweisungen. Es dauerte<br />
eine Weile, bis sie zufrieden war.<br />
„So“, sagte sie endlich. „Perfekt.“<br />
Das Zimmer selbst hatte nur kleine Fenster. Die dadurch entstehende<br />
Dunkelheit wurde negativ unterstrichen durch die dunkelbraunen<br />
und schwerfälligen Möbel. Ich fand, es war ein Zimmer zum Davonlaufen.<br />
Sicher konnte man hier besser Depressionen aufbauen als beschwingte<br />
Urlaubsgefühle. Die übergewichtigen Berliner Gören taten<br />
mir leid.<br />
Lara nahm mich wortlos bei der Hand und führte mich über den<br />
Flur, in dem es gar kein Tageslicht gab. Ich spürte Laras steigende<br />
Anspannung und ich wusste, wohin sie mich führte. Mit der freien<br />
Hand drückte sie eine Tür auf ¬– so vorsichtig, als befürchte sie, böse<br />
Geister könnten ihr entgegen springen ¬–, die knarrend nachgab. Das<br />
viel kleinere Zimmer dahinter war von Lichteinfall und Gestaltung her<br />
kaum freundlicher oder heller als das Wohnzimmer. Ein breites Bett<br />
stand darin mit zwei Nachtschränkchen, in einer Ecke ein nichtssagender<br />
Tisch mit zwei alten Holzstühlen, in einer anderen eine große,<br />
altmodische Stehlampe mit vergilbtem Schirm. Ein viel zu großer<br />
248
Anzeige<br />
Kleiderschrank klagte von der<br />
Wand her den miserablen Geschmack<br />
der Menschen an, die<br />
dieses Haus eingerichtet hatten.<br />
Ich ging davon aus, dass Lara<br />
Maurice in diesem Zimmer<br />
zur Welt gebracht hatte. Auch<br />
wenn meine Vorstellungen davon,<br />
wie die vom gesamten<br />
Haus, vollständig andere gewesen<br />
waren. Der Gedanke<br />
drängte sich auf, dass Kirchhoff<br />
dieses Haus auch ausgesucht<br />
hatte, um gezielt aufs Gemüt<br />
seiner jungen Frau zu drücken.<br />
Man konnte es nur als Teil der<br />
Strafe ansehen, die er sich für<br />
sie ausgedacht hatte.<br />
„In diesem Zimmer hat sich<br />
überhaupt nichts verändert“,<br />
sagte Lara leise. „Alles sieht<br />
noch genauso aus wie damals.“<br />
Mir fiel auf, dass sie die Schwelle<br />
des Zimmers nicht überquerte.<br />
Aber sie schaute lange hinein.<br />
Minutenlang. Es war, als leuchte<br />
sie jede verborgene Ecke, jeden<br />
noch so versteckten Winkel<br />
des Raumes mit ihren Augen<br />
aus. Jedes noch so winzige Detail<br />
schien sie zu registrieren,<br />
um es für den Rest ihres Lebens<br />
249
Anzeige<br />
250<br />
in ihr Hirn einzubrennen. Dabei<br />
benahm sie sich, als bedeute es<br />
eine große Gefahr, das Zimmer<br />
zu betreten. Als sei der Boden<br />
hier gespickt mit Tretminen.<br />
Schließlich ging sie zurück ins<br />
Wohnzimmer. Ich folgte ihr. Sie<br />
zog die schweren, langen Gardinen<br />
vor die kleinen Sprossenfenster<br />
und sperrte so das letzte<br />
Tageslicht aus.<br />
„Damals war es dunkel“, sagte<br />
sie. Es klang mehr, als erkläre<br />
sie es sich selbst.<br />
Dann setzte sie sich auf das<br />
klobige, mit dunkelgrünem<br />
Stoff bezogene Sofa. Ich nahm<br />
auf einem ebensolchen Sessel<br />
Platz, der dem Sofa direkt<br />
gegenüberstand. Ich wunderte<br />
mich, dass hier nicht die geringste<br />
Kleinigkeit an die Berliner<br />
Touristenfamilie erinnerte.<br />
Kein Spielzeug der übergewichtigen<br />
Kinder, keine angelesene<br />
Zeitung des Mannes, kein<br />
benutzter Aschenbecher, kein<br />
dreckiges Glas, gar nichts. Später<br />
erzählte Lara mir, dass dies<br />
zu der Vereinbarung gehörte,<br />
die sie mit der Familie getroffen<br />
hatte.<br />
Lara legte den Kopf zurück auf
die Lehne des Sofas, zog ihre Schuhe aus und streckte die Beine auf<br />
die Kante meines Sessels. Ich betrachtete ihre Füße, die schmal waren<br />
und sanft in sich geschwungen. Lara schloss die Augen.<br />
„Hier habe ich damals auch gesessen“, sagte sie, „als ich telefonieren<br />
wollte. Es war der gleiche muffige Geruch nach alten Möbeln wie<br />
heute.“<br />
Einen Moment lang schien es, dass sie nicht mehr weiterreden würde,<br />
aber dieser Augenblick verging.<br />
„Sie geben mir das Telefon nicht“, fuhr sie schließlich fort. „Obwohl<br />
ich telefonieren will, geben Sie mir das Telefon nicht. Ich muss die<br />
Polizei anrufen. Sofort. Mein Kind ist weg. Ich selbst habe es einem<br />
mir fremden Mann am Strand überlassen. Ich muss es wiederhaben.<br />
Ich muss Jonathan wiederhaben.“<br />
Lara weinte überraschend und vollkommen lautlos.<br />
„Aber sie lassen mich nicht“, sagte sie und man hörte ihrer Stimme<br />
an, dass sie weinte, man sah es auch in ihrem Gesicht.<br />
„Obwohl sie miteinander streiten, hindern sie mich doch gleichzeitig<br />
beide daran, zu telefonieren. Da sind sie sich einig. Auch wenn<br />
ich nicht genau verstehe, warum das so ist. Aber dann bringt Marlies<br />
Schwalm es auf den Punkt:<br />
‚Keine Polizei!’, kreischt sie hysterisch. ‚Auf keinen Fall rufst du die<br />
Polizei an. Es gibt immer irgendeine andere Lösung als die Polizei. Die<br />
schnüffeln in zu vielen Sachen herum. Das kann keiner von uns hier<br />
gebrauchen.’<br />
Dann streiten sie weiter. Bruno sitzt nun halb neben, halb hinter mir,<br />
hält mich umklammert. Ich wehre mich aus Leibeskräften, aber seine<br />
Hände und Arme sind wie Schraubstöcke, die jemand an mir festgeschraubt<br />
hat. Ich habe keine Chance gegen ihn. Sein Mund ist so nah<br />
an mir dran in diesem Gerangel, dass mir sein Speichel ins Gesicht<br />
fliegt, als er mich anschreit:<br />
‚Jetzt halt still, verdammte Hure! Sonst bring ich dich um!’<br />
Mir wird schlecht. Ich werde mich gleich übergeben. Der Speichel, der<br />
Geruch aus seinem Mund, seine Worte. Mein aussichtsloser Kampf<br />
251
gegen ihn. Mein Baby, das weg ist, einfach weg.<br />
Trotz allem denke ich gar nicht dran, stillzuhalten. Ich winde mich wie<br />
ein Aal und versuche immer wieder, mich seinem Klammergriff zu<br />
entziehen. Vergeblich, ich schaffe es einfach nicht.<br />
Marlies Schwalm steht irgendwo vor dem Sofa. Ihr Streit mit Bruno ist<br />
unterbrochen, weil er sich mir widmen muss. Darüber ist sie unglaublich<br />
wütend, lässt es aber trotzdem zu, weil auch sie nicht will, dass<br />
ich telefoniere. Das geht im Augenblick vor. Um sich einigermaßen<br />
unter Kontrolle zu halten, hat sie die Arme vor der Brust verschränkt.<br />
Ihre Blicke sind wie tödliche Strahlen. Sie bohren sich abwechselnd<br />
in mich und in Bruno. Sie hasst uns beide mit einer Intensität, die ich<br />
körperlich spüre, heute noch.“<br />
Lara öffnet die Augen, schaut mich an. Sie ist nicht, wie gestern bei<br />
Schuberth, in Trance. Sie steckt nur tief in ihrer Erinnerung.<br />
„Komm zu mir, Paul“, sagt sie. „Nimm mich in den Arm. Mir ist so kalt.“<br />
Ich wechsle rüber aufs Sofa, Lara schmiegt sich eng an mich, ich lege<br />
den Arm um sie. Tatsächlich ist ihr Körper ganz kalt. Nebenbei reibe<br />
ich ihre Arme sanft, dann ihre Schultern. Sie entspannt sich etwas,<br />
schließt erneut die Augen.<br />
„Und dann plötzlich schaffe ich es doch“, sagt sie. „Ich kann ihm entkommen.<br />
Ich …“. Es ist unüberhörbar, wie überrascht sie selbst darüber<br />
ist. Mitten im Satz hält sie inne. Ich warte, aber sie redet nicht<br />
weiter. Ich spüre, wie Gedanken und Bilder durch ihren Kopf schießen.<br />
Aber es ist wichtig, dass sie redet. Dass die Dinge sich entfalten<br />
und entwickeln können. Dass die Worte und Erinnerungen endlich<br />
herauskommen aus ihr. Nur so kann Klarheit entstehen.<br />
„Und dann?“, frage ich deshalb. „Was passiert dann?“<br />
Wieder öffnet sie die Augen, entzieht sich meiner Umarmung, beugt<br />
sich etwas vor, denkt offenbar angestrengt nach, starrt vor sich hin. Es<br />
ist ein Blick, der mehr nach innen geht als nach außen.<br />
„Was passiert dann?“, wiederholt sie meine Frage und antwortet sich<br />
schließlich selbst: „Ich weiß es nicht. – Oder doch?“<br />
Sie macht eine kurze Pause, dann: „Ich springe hoch, versuche zur Tür<br />
252
zu kommen. Bruno kommt ebenfalls hoch, folgt mir. Aber noch ehe er<br />
mich einholen kann, hat Marlies Schwalm mir den Weg versperrt. Ich<br />
versuche, an ihr vorbei zukommen, aber sie stürzt sich auf mich. So<br />
heftig und mit solcher Wucht stürzt sie sich auf mich, dass wir zusammen<br />
umfallen. Wir liegen auf dem Boden und kämpfen miteinander.<br />
Sie ist stark, vielleicht stärker als ich. Aber meine Wut, meine Angst<br />
und Verzweiflung sind so groß, dass ich ungeahnte Kräfte entwickle.<br />
Langsam gewinne ich in dieser entwürdigenden Rangelei die Oberhand.<br />
Und plötzlich spüre ich einen brennenden Schmerz im Gesicht.<br />
Marlies Schwalm hat mir die Fingernägel ihrer linken Hand über die<br />
Wange gezogen. Sie hinterlassen tiefe Kratzer. Aber ich kämpfe weiter,<br />
die Verletzung hindert mich nicht. Dann aber kommt etwas anderes.<br />
Irgendwas, ich weiß nicht … und plötzlich ist alles vorbei.“<br />
Sie erschrickt, ihre Hand fährt an den Hinterkopf, als habe sie dort<br />
plötzlich Schmerzen.<br />
„Was ist?“, frage ich. „Ist etwas mit deinem Kopf?“<br />
Völlig entgeistert sieht Lara mich an.<br />
„Ja“, sagt sie und plötzlich klingt es wie das Selbstverständlichste der<br />
Welt. „Er tut weh, furchtbar weh.“<br />
Endlich legt sie sich wieder zurück in meinen Arm, die Hand noch immer<br />
am Kopf. Sie scheint nicht zu wissen, was sie mit diesem plötzlichen<br />
Phantomschmerz anfangen soll und wirkt völlig ratlos.<br />
„Hat dir jemand auf den Kopf geschlagen?“, frage ich.<br />
„Ja“, sagt sie, fast sachlich. „Ich glaube schon. Jemand hat mich niedergeschlagen.“<br />
Sie scheint jetzt wieder ganz in der Gegenwart zu sein. Wie jemand,<br />
der über etwas Vergangenes erzählt, an das er sich gerade zum ersten<br />
Mal nach langer Zeit wieder erinnert. Unvermittelt steht sie auf und<br />
legt sich vor dem Sofa auf den Teppich.<br />
„Als Nächstes wache ich auf“, sagt sie ganz ruhig. „Ungefähr hier.“<br />
Sie schaut sich von dort unten im Zimmer um.<br />
„Ich weiß nicht“, fährt sie fort, „ob es Marlies war, die mich niedergeschlagen<br />
hat oder Bruno.“<br />
253
Sie kommt hoch, bleibt aber auf dem Boden sitzen, die Arme auf die<br />
hoch stehenden Knie gelegt.<br />
„Lässt sich wahrscheinlich auch kaum noch nachvollziehen“, sage ich.<br />
„Wie ging es denn weiter? Waren die beiden noch im Zimmer, als du<br />
aufgewacht bist?“<br />
Lara schließt die Augen, sucht angestrengt nach weiteren Erinnerungen.<br />
„Nein“, sagte sie schließlich. „Ich bin jetzt allein im Raum.“<br />
Sie steht auf, schaut sich noch einmal flüchtig im Zimmer um, als wolle<br />
sie sich überzeugen, dass die beiden wirklich nicht da sind.<br />
„Aber ich erinnere mich sofort an alles“, sagt sie, „und ich suche nach<br />
ihnen. Ich finde sie nicht. Mein Gesicht brennt von den Kratzern und<br />
mein Schädel brummt furchtbar. – Ich gehe zur Tür, öffne sie, trete<br />
vorsichtig in den Flur. Ich will es vermeiden, meinen Feinden in die<br />
Arme zu laufen.“<br />
Während des Redens befolgt sie ihre Erinnerungsschritte wie Regieanweisungen.<br />
Ich gehe ihr langsam und mit Abstand hinterher.<br />
„Im Flur das gleiche Halbdunkel wie im Zimmer“, sagt Lara. „Irgendeine<br />
trübe Funzel scheint aus einem hinteren Winkel. Ich sehe kaum<br />
etwas. Aber jetzt höre ich Stimmen. Bruno und Marlies, die laut miteinander<br />
streiten.“<br />
Sie schleicht über den Flur Richtung Ausgang, als befürchte sie, dass<br />
jemand auftaucht, der ihr nach dem Leben trachtet.<br />
„Ihr Streit eskaliert immer mehr“, sagt Lara. „Marlies schreit so laut<br />
und schrill, dass es wie ein Pfeil durch meinen Kopf zieht.“<br />
Sie streckt ihre Hand zu mir nach hinten, ohne sich umzudrehen.<br />
„Bitte komm“, sagt sie. „Ich hab Angst. Ich sterbe gleich.“<br />
Ich nehme ihre Hand, zusammen gehen wir weiter. Plötzlich denke<br />
ich, dass es sicher nicht gut ist, wenn sie die Haustür jetzt öffnet. In<br />
krassem Gegensatz zu damals ist es draußen taghell, was den Erinnerungsfluss<br />
abrupt unterbrechen könnte. Ich will sie gerade zurückhalten,<br />
aber dann zögert sie von sich aus. Schließlich lehnt sie sich mit<br />
dem Rücken an die Wand und lässt sich hinunterrutschen auf den Bo-<br />
254
den. Ich setze mich neben sie, nehme wieder ihre Hand. Sie schließt<br />
die Augen.<br />
„Sie streiten sich so sehr“, sagt sie, „wie ich noch nie zwei Menschen<br />
miteinander habe streiten hören. Beide geben nicht nach. Sie schreien<br />
alles aus sich heraus: Hass, Wut, Enttäuschung, Verachtung. Ich<br />
zögere hinauszugehen. Ich hab Angst davor. Ich hab große Angst.<br />
Ich setze mich so hin wie ich jetzt auch hier sitze. Ich höre nur noch<br />
die furchtbare Schreierei. Ab und zu wird es lauter, dann wieder ein<br />
bisschen leiser. Aber das liegt nur daran, dass sie sich manchmal ein<br />
paar Schritte vom Haus entfernen. Immer wieder kommen sie zurück.<br />
Manchmal verstehe ich Wortfetzen, halbe Sätze.<br />
‚… genauso drin wie ich!’, schrie Bruno.<br />
‚Ich hab nicht gewusst …’, höre ich die Stimme von Marlies.<br />
‚Natürlich … das Kind töten!’, rief er. ‚Einen anderen Sinn … Deshalb<br />
warst du überhaupt …!’<br />
‚…nichts mit zu tun! Du bist ja wahnsinnig!’ Marlies‘ Stimme überschlägt<br />
sich fast.<br />
Und dann höre ich zum ersten Mal vollständige Sätze. Bruno muss<br />
direkt vor der Tür stehen. Seine Worte sind plötzlich fast ruhig.<br />
‚Das Kind ist weg. Und wenn ich sie jetzt töte, wird es auch auf ewig<br />
verschwunden bleiben. Es wird sein, als wäre das Kind tot. Also werde<br />
ich es tun.’<br />
Mich befällt eine furchtbare Panik. Er wird gleich bei mir sein. Ich höre<br />
schon seine Hand an der Tür. Aber dann streiten die beiden weiter, er<br />
geht noch einmal, schließlich wird es seltsam ruhig. Ich rapple mich<br />
hoch, will fliehen, weiß nicht wohin. Mein Kopf tut so weh. Ich schaue<br />
durch den Spion nach draußen. Ich sehe Marlies und Bruno in einem<br />
wortlosen Gerangel. Plötzlich stürzt Bruno, steht nicht wieder auf. In<br />
diesem Moment versagen meine Beine, ich sacke zurück auf die Erde.<br />
Ich versuche, wieder hochzukommen, aber es geht nicht. Mein Körper<br />
ist wie mit Blei angefüllt. Ich bin so schwer. So müde.“<br />
Laras Stimme wird immer leiser, die Abstände zwischen den einzelnen<br />
Sätzen, dann Worten, werden immer größer.<br />
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„Ich bin unglaublich müde. Ich bestehe nur noch aus Müdigkeit und<br />
Schmerz. Dann …“<br />
Ich brauche nicht zu ihr hinüberzuschauen, um zu wissen, dass sie<br />
eingeschlafen ist.<br />
Epilog<br />
Es war der Morgen des fünfundzwanzigsten Dezembers. Schon den<br />
ganzen Monat war es ungewöhnlich warm. Paul Thailer und Lara<br />
Braun kamen mit ihrem dreijährigen Sohn Maurice aus einem Weihnachtsgottesdienst<br />
nach Hause. Alle drei waren in bester Stimmung.<br />
Sie erwarteten keinen Besuch, aber vor ihrer Tür stand ein kleines<br />
Auto mit Hamburger Nummernschild, das sie nicht kannten. Fast im<br />
gleichen Moment dachten Lara und Paul dasselbe: ‚Wieder ein Tourist,<br />
der nicht weiß, wo er hin will.’<br />
Aber dann hörten sie eine Stimme und wussten beide sofort, wer es<br />
war.<br />
„Ist nicht gerade ein Luxusgefährt, aber immerhin hat es mich gut<br />
hergebracht.“ Katja Baumeister trat von hinten an sie heran. „Hab ich<br />
mir selbst zu Weihnachten geschenkt, nachdem mein altes Auto seinen<br />
Geist aufgegeben hatte.“<br />
Sie begrüßten sich gegenseitig mit herzlichen Umarmungen. Katja<br />
schlug einen Strandspaziergang vor.<br />
Für Maurice nahmen sie den Buggy mit.<br />
Über die meisten Dinge, die sich während der letzten Monate ereignet<br />
hatten, war Katja bereits telefonisch informiert.<br />
„Du hast mir so sehr geholfen“, hatte Lara am Telefon gesagt „Das<br />
werde ich dir nie vergessen. Und ohne Paul …“. Zwischenzeitlich hatten<br />
ihr die Worte gefehlt, aber dann hatte sie weitergeredet:<br />
„Endlich kann ich mich freuen, einen Sohn zu haben. Einen so tollen<br />
dazu. Ich hatte immer gedacht, ich könnte ihm nie sagen, dass ich sei-<br />
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ne Mutter bin. Aber dieser Alptraum ist nun vorbei. Manchmal kann<br />
ich es selbst noch gar nicht glauben.“<br />
Am Ende hatten sie beschlossen, die Details bei einem Besuch auszutauschen.<br />
Dieses Telefonat lag nun über drei Monate zurück. Als sie nebeneinander<br />
am Strand entlanggingen, war es warm und so windstill wie<br />
sonst fast nie an dieser Küste. Am Himmel standen dichte Wolken.<br />
Eine einsame Möwe döste verloren auf der Steinbank vor sich hin.<br />
Der Wassersaum war weit draußen sichtbar.<br />
„Auch mich hat es erwischt“, sagte Katja und strahlte übers ganze Gesicht.<br />
„Endlich wieder.“ Im nächsten Monat wollte sie zum ersten Mal<br />
in ihrem Leben mit einer Frau zusammenziehen.<br />
„Am Anfang hat sie mich sehr an dich erinnert, Lara“, sagte sie.<br />
„Jetzt nicht mehr?“, fragte Lara und lächelte.<br />
„Nur noch selten“, meinte Katja. „Dafür ist sie viel zu sehr ein eigener<br />
Mensch. Genau wie du.“ Sie grinste. „Nur ihre Augen haben noch immer<br />
Ähnlichkeit mit deinen. Sie sind auch grau und grün gleichzeitig.“<br />
Paul hielt sich aus dem Gespräch der beiden Frauen zumeist heraus.<br />
Maurice kletterte aus seinem Wagen. Paul und er suchten im Sand<br />
nach Muscheln. Während Lara erzählte, ließ sie die beiden nicht aus<br />
den Augen.<br />
„Die Ärzte nehmen an“, sagte sie, „dass meine Kopfverletzung damals<br />
zu der Amnesie geführt hat. Möglich ist aber auch, dass es der Schock<br />
der Ereignisse war, vielleicht beides zusammen. Genau lässt sich das<br />
nicht mehr klären.“<br />
„Ist aber wohl auch nicht so wichtig, oder?“, wandte Katja ein.<br />
„Du hast Recht“, bestätigte Lara, „Wichtig ist, dass nicht ich Bruno getötet<br />
habe.“<br />
„Sondern Marlies Schwalm?“, fragte Katja.<br />
„Jedenfalls gibt sie inzwischen zu“, sagte Lara, „dass er bei ihrem Gerangel<br />
gestürzt ist und dann tot war. Wie es aussieht, hat sie mir damit<br />
das Leben gerettet. Aber die Staatsanwaltschaft ermittelt noch<br />
immer.“<br />
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„Aber wieso hast du damals geglaubt, du hättest ihn getötet?“<br />
Lara schwieg eine Weile. Als müsse sie sich noch einmal ganz neu entschließen,<br />
diese Dinge erneut auszusprechen.<br />
„Als ich aufwachte“, sagte sie schließlich, „bin ich aus dem Haus gegangen.<br />
Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mich an nichts erinnern, was<br />
sich bis dahin in dieser Nacht abgespielt hatte, seit ich vom Strand zurück<br />
war. Und als ich Bruno fand, vor dem Haus tot in einer Blutlache<br />
liegend, da hab ich gedacht …“<br />
„… du wärst es gewesen“, ergänzte Katja.<br />
Lara nickte.<br />
„Überall im Haus fand ich Spuren eines heftigen Streits“, sagte sie.<br />
„Und da ich mich nicht daran erinnern konnte, dass Marlies Schwalm<br />
wieder aufgetaucht war, dachte ich, Bruno und ich hätten gestritten.“<br />
Wieder gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, bevor<br />
Lara fortfuhr:<br />
„Also beseitigte ich alle Spuren des Streits, bevor ich die Polizei anrief.<br />
Auch meine eigene Verletzung und meine Gedächtnislücke verschwieg<br />
ich, denn ich dachte, jeder auch nur halbwegs findige Polizist<br />
könnte sich dann den Rest zusammenreimen. So haben sie die Geschichte<br />
geglaubt, die ich ihnen auftischte: Bruno war nach draußen<br />
gegangen, um frische Luft zu schnappen. Dann war er nicht wiedergekommen.<br />
Der Rest war klar.“<br />
„Aber du selbst hast deine eigene Geschichte nicht geglaubt?“<br />
„Nein. Ich war sicher, ihn getötet zu haben. Und genauso sicher war<br />
ich, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommen würde. Deshalb<br />
fing ich gleich nach Brunos Beerdigung ein neues Leben an. Du weißt<br />
ja, dass ich mir eine neue Existenz aufbauen wollte. Zum Glück hat<br />
das nicht funktioniert. Dann hätte ich Maurice nicht wiedergefunden.<br />
Und Paul nie kennen gelernt.“<br />
Paul und Maurice hatten inzwischen ihre Jackentaschen so prall mit<br />
Muscheln gefüllt, dass sie zu platzen drohten. Sie entleerten sie in<br />
den Buggy und suchten danach weiter.<br />
„Es gibt nur eine Sache, die ich nicht verstehe“, sagte Katja nachdenk-<br />
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lich.<br />
„Warum ich nicht früher versucht habe“, mutmaßte Lara, „Maurice<br />
zurückzubekommen?“<br />
Katja wartete auf die Antwort.<br />
„Ich wusste“, sagte Lara, „dass er bei einer guten Familie aufwuchs.<br />
Was hatte ich ihm dagegen zu bieten? Eine Mutter, die ihren eigenen<br />
Mann getötet hatte. Und die mit sich selbst nicht klarkam. Ich fand,<br />
das war keine gute Alternative. ¬– Aber ich musste mit eigenen Augen<br />
sehen, wie er war, wie er aussah, wie es ihm ging. Und wie es dann<br />
weiterlief, weißt du ja. Mehrere Menschen haben dabei wichtige Rollen<br />
gespielt.“ Genau wie Paul dachte sie in diesem Moment an die<br />
verstorbene Charlotte. „Aber nichts war mehr aufzuhalten.“<br />
„Nein“, sagte Katja. „Das war es wohl nicht.“<br />
Sie lächelte.<br />
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Nachtrag von Paul Thailer:<br />
Später habe ich Lara einmal gefragt, wie sie es geschafft hat, dass die<br />
Berliner Familie mit den beiden übergewichtigen Kindern uns das<br />
Haus für diesen Nachmittag überlassen hat. Lara hat verschmitzt gelächelt,<br />
als sie mir die Antwort gab:<br />
„Ich habe ihnen erzählt, dass in diesem Haus der Ursprung unserer<br />
Liebe liegt.“<br />
Wir saßen am Rande des Strandspielplatzes auf einer Bank und sahen<br />
Maurice beim Spielen zu. Gerade flitzte er voller Vorfreude von der<br />
Schaukel zur Rutsche. Wir lächelten uns an.<br />
„Und?“, fragte ich schließlich. „Das hat ihnen gereicht? Auf mich wirkten<br />
sie nicht wie große Romantiker.“<br />
Lara grinste.<br />
„Nein“, gab sie zu, „natürlich hat Ihnen das nicht gereicht.“<br />
„Sondern?“<br />
Lara machte es spannend.<br />
„Ich hab ihnen die Miete für zwei Tage gezahlt“, sagte sie schließlich.<br />
„Und da sie sowieso einen Ausflug geplant hatten …“. Sie zwinkerte<br />
mir zu. „Manchmal ist der richtige Weg eher prosaisch. Aber wenn<br />
man ihn nicht nimmt, kommt man nie voran. Oder siehst du das anders?“<br />
„Nein“, sagte ich und lächelte. „Das sehe ich absolut genauso.“<br />
Dann wurde unsere Aufmerksamkeit abgelenkt. Zum ersten Mal in<br />
seinem Leben nahm Maurice die Rutsche rückwärts. Dabei machte er<br />
ein Gesicht, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Meine<br />
Hand suchte die von Lara.<br />
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