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„Ich kann kaum zählen“, sagte ich, „in wie vielen Nächten ich über<br />
dieser Frage wach gelegen habe. Eine überzeugende Antwort hab ich<br />
trotzdem nicht gefunden.“<br />
Charlotte fischte eine Banane aus dem Obstkorb, schälte sie und gab<br />
Maurice die halbe Frucht.<br />
„Vielleicht war es gar nicht ihr Plan“, meinte Charlotte, „das Kind dort<br />
auszusetzen? Allein wäre er doch erfroren.“<br />
„Genau deshalb“, sagte ich, „gehe ich von einer Tötungsabsicht aus.<br />
Es kann nicht anders sein.“<br />
Maurice kletterte nun auch von Charlottes Schoß herunter. Dabei<br />
schmierte er ein Stück Banane in ihren Pullover. Ohne darauf einzugehen,<br />
entfernte sie es mit einem kleinen Löffel.<br />
„Ist es nicht auch denkbar“, sagte sie langsam, „dass sie … ich meine,<br />
dass sie nicht nur das Kind töten wollte, sondern …?“<br />
„Natürlich ist das denkbar“, antwortete ich. „Aber würde das wirklich<br />
etwas ändern? Nina meinte auch schon mal, dass vielleicht Angst ein<br />
Motiv war …“<br />
„Ich finde schon“, unterbrach sie mich entschieden, „dass es etwas<br />
ändern würde. Und es würde sich ergänzen mit der Vermutung Ihrer<br />
Frau. Wenn ich beide Vermutungen zusammennehme, komme ich<br />
auf neue Worte.“<br />
Ernst sah sie mich an und fuhr dann fort:<br />
„Verzweiflung. Tödliche Verzweiflung. Ausweglosigkeit. Vielleicht erschien<br />
ihr der Tod die bessere Alternative zu dem, was das Leben ihr<br />
und dem Kind in diesem Augenblick anbot.“<br />
„Sie hätte Maurice in einem Krankenhaus abliefern“, sagte ich unerbittlich,<br />
„und sich dann von mir aus selbst töten können. Sie hatte<br />
kein Recht, über sein Leben zu entscheiden.“<br />
Ich stand auf und ging zum Fenster. Eine plötzliche tiefe Unruhe erfüllte<br />
mich wie lange nicht mehr.<br />
„Natürlich hatte sie dieses Recht nicht“, sagte Charlotte.<br />
Ich spürte, dass sie mich nicht aus den Augen ließ.<br />
„Aber es gibt Augenblicke, da können wir Menschen nicht so rational<br />
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