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Die Grenzen des Rechts | NZZ | Artikel von Julien Reitzenstein

«Was gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!» Dieser Satz des einstigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und NS-Schreibtischtäters Hans Filbinger darf nicht Massstab zur Beurteilung der Causa Glaser sein. Ein Artikel von Julien Reitzenstein

«Was gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!» Dieser Satz des einstigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und NS-Schreibtischtäters Hans Filbinger darf nicht Massstab zur Beurteilung der Causa Glaser sein. Ein Artikel von Julien Reitzenstein

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gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein!» <strong>Die</strong>ser Satz<br />

«Was<br />

einstigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und NS-<br />

<strong>des</strong><br />

Hans Filbinger darf nicht Massstab zur Beurteilung<br />

Schreibtischtäters<br />

Causa Glaser sein.<br />

der<br />

<strong>Reitzenstein</strong><br />

<strong>Julien</strong><br />

05:30 Uhr<br />

4.4.2018,<br />

19.4.2018 <strong>Die</strong> <strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Rechts</strong> | <strong>NZZ</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Rechts</strong><br />

<strong>Die</strong> Causa Glaser, bei der es um Kunstwerke geht, <strong>von</strong> denen sich Curt<br />

Glaser 1933 und 1941 getrennt hatte und die in Basel und in Zürich<br />

gelandet sind, öffnet den Blick darauf, in welch glücklichen Zeiten wir<br />

leben. <strong>Die</strong> Menschen in Westeuropa leben in Staaten, die sich – nicht zu<br />

Unrecht – ihrer <strong>Rechts</strong>staatlichkeit rühmen. Manche Betrachter vermögen<br />

es sich – nur Jahrzehnte nach dem Untergang <strong>des</strong> DDR-Regimes und<br />

einige Jahrzehnte zuvor <strong>des</strong> NS-Regimes – gar nicht vorzustellen, wie es<br />

anders sein könnte. Doch die gegenwärtige Debatte zeigt, dass auch<br />

gestandene Historiker und Politiker geneigt sein können, mit zweierlei<br />

Mass zu messen. <strong>Die</strong> Wahrnehmungsmassstäbe einer heute alltäglichen<br />

<strong>Rechts</strong>staatlichkeit auf die Beurteilung <strong>von</strong> historischen Ereignissen in<br />

Unrechtsstaaten anzuwenden, ist zynisch oder gar gedankenlos.<br />

Nachdem der jüdische Arzt, Kunsthistoriker und Herausgeber Curt Glaser<br />

1933 <strong>von</strong> den Nationalsozialisten seiner Stellung als Direktor der Berliner<br />

Kunstbibliothek enthoben worden war und darüber hinaus seine<br />

<strong>Die</strong>nstwohnung an die in das Gebäude einziehende Gestapo verloren<br />

hatte, entschied auch er sich für die Flucht. Damals war es in der Regel<br />

nicht möglich, ohne entsprechende Genehmigung das Land zu verlassen.<br />

Vor der Einreise in ein anderes Land musste zumeist hinreichend<br />

Vermögen nachgewiesen werden, um daraus den Lebensunterhalt zu<br />

bestreiten oder eine Existenz aufbauen zu können.<br />

Anerkennung <strong>von</strong> Unrecht<br />

https://www.nzz.ch/feuilleton/die-grenzen-<strong>des</strong>-rechts-ld.1362223 1/4


19.4.2018 <strong>Die</strong> <strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Rechts</strong> | <strong>NZZ</strong><br />

Doch ab 1931 erschwerten es die Gesetze zur Reichsfluchtsteuer, Vermögen<br />

ins Ausland zu bringen. Und nach der Machtübernahme ersannen die<br />

Nationalsozialisten immer neue Gesetze, um ausreisewillige Juden<br />

auszuplündern. Wenn diese traumatisierten Menschen dann die deutsche<br />

Grenze überschritten hatten, mussten sie Leben oder Weiterreise<br />

finanzieren. Wie anders sollte dies bewerkstelligt werden als mit dem<br />

Verkauf <strong>des</strong> mitgeführten Restvermögens, beispielsweise <strong>von</strong><br />

Kunstwerken?<br />

Wenn binnen kurzer Zeit ein Markt geflutet wird, sinken die Preise. Wenn<br />

nun argumentiert wird, dass die Preise für Immobilien oder Gemälde in<br />

den 1930er Jahren niedrig lagen, weil das Angebot so gross war, ist das<br />

richtig. Daraus zu schliessen, dass ein Verkaufserlös <strong>des</strong>halb marktgerecht<br />

war, ist zynisch. <strong>Die</strong>s führt allerdings zu einer wichtigen – für jeden<br />

Menschen nachfühlbaren – Feststellung: Wenn ein Unrechtsregime einen<br />

Menschen zwingt, sein Eigentum zu verkaufen – zu welchem Preis auch<br />

immer –, ist das nie gerecht.<br />

Jenseits der ökonomischen und juristischen Fragen hat Eigentum auch<br />

einen emotionalen Wert. Das Recht auf Eigentum hat Verfassungsrang. <strong>Die</strong><br />

primäre <strong>Rechts</strong>verletzung liegt in der Verletzung <strong>von</strong> Grundrechten und<br />

die sekundäre bei Fragen der Angemessenheit <strong>von</strong> Kaufpreisen. Auch die<br />

Erfahrung lehrt, dass es den meisten Anspruchstellern bei<br />

Restitutionsverfahren sekundär um wirtschaftliche Fragen geht, primär<br />

aber um Anerkennung <strong>von</strong> Unrecht.<br />

Ein bisschen unrecht ist ebenso problematisch wie ein bisschen tot.<br />

Insofern sind die meisten Einlassungen zur Causa Glaser interessant, aber<br />

irrelevant. <strong>Die</strong> relevante Frage lautet: Liegt eindeutig Recht oder Unrecht<br />

vor? Es besteht kein Zweifel, dass Curt Glaser seine Stelle und seine<br />

Wohnung zu Unrecht verlor. Ebenso wenig, dass er zur Sicherung seiner<br />

Existenz, ja seines Lebens, seine Heimat verlassen musste. Es ist auch<br />

unrecht, dass er diesen vielfältigen Verlust <strong>von</strong> Rechten auch noch aus<br />

eigener Tasche finanzieren musste, auch durch den Verkauf <strong>von</strong><br />

Kunstwerken, die heute in Basel hängen. <strong>Die</strong>ses Unrecht war jedem der<br />

Beteiligten klar: dem Auktionshaus Max Perl, den Käufern und den<br />

Beobachtern. Zeitung dürften sie alle gelesen haben.<br />

https://www.nzz.ch/feuilleton/die-grenzen-<strong>des</strong>-rechts-ld.1362223 2/4


19.4.2018 <strong>Die</strong> <strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Rechts</strong> | <strong>NZZ</strong><br />

Georg Kreis hielt in dieser Zeitung fest (13. 2. 18), dass die<br />

fluchtfinanzierenden Auktionsverkäufe weder Fluchtgut (es wurde ja<br />

innerhalb Deutschlands verkauft) seien, um diesen <strong>von</strong> der Bergier-<br />

Kommission geprägten Begriff zu zitieren, noch handle es sich<br />

automatisch um Raubkunst (es habe ja kein Zwang im juristischen Sinne<br />

bestanden). Ein fehlender <strong>Rechts</strong>begriff für freiwillig verkauftes Eigentum<br />

zur Finanzierung einer lebensrettenden Flucht macht Unrecht nicht zu<br />

Recht. Für den Verfolgten dürfte es kaum einen Unterschied gemacht<br />

haben, ob das Regime eine «Arisierung» anordnete oder er sein Eigentum<br />

«freiwillig» im In- oder Ausland verkaufte, um zu überleben.<br />

Präzise Forschung gefragt<br />

<strong>Die</strong> Hinweise <strong>des</strong> Historikers Kreis sind nicht falsch. Es mag sein, dass die<br />

Schweiz und die Bun<strong>des</strong>republik unterschiedliche <strong>Rechts</strong>definitionen<br />

haben. Es mag sein, dass Curt Glaser nach dem Tod seiner ersten Frau<br />

ohnehin ein neues Leben beginnen wollte. Es mag sein, dass das Kunsthaus<br />

Zürich, viele Jahre nachdem Kunstwerke Glasers per Auktion nach Basel<br />

gegangen waren, für einen Munch einen fairen Preis zahlte. Man könnte<br />

entgegnen: Hätte Curt Glaser nach dem Tod seiner Frau ohnehin sein Amt<br />

und seine <strong>Die</strong>nstwohnung aufgegeben, nahezu alle Stücke seiner<br />

umfangreichen Kunstsammlung verkauft zu den Preisen, die er letztlich<br />

für je<strong>des</strong> einzelne Stück herausholte, um damit seinen Lebensunterhalt zu<br />

finanzieren?<br />

<strong>Die</strong> Erfahrung lehrt, wie aufwendig die Rekonstruktion <strong>von</strong><br />

Lebensumständen, <strong>von</strong> Verfolgungshandlungen und/oder<br />

Enteignungszwängen ist. Das Gleiche gilt für die rechtliche und<br />

steuerliche Einordnung dieser Erkenntnisse durch NS-Experten<br />

verschiedener Fachrichtungen. <strong>Die</strong>se sollten hinreichend Zeit und Mittel<br />

haben, um belastbar die Frage zu beantworten, ob aus rechtlichen,<br />

moralischen, politischen und anderen Gründen eine Rückgabe oder<br />

Entschädigung angemessen ist.<br />

https://www.nzz.ch/feuilleton/die-grenzen-<strong>des</strong>-rechts-ld.1362223 3/4


<strong>Reitzenstein</strong> ist forensischer Historiker und Restitutionsexperte. Er lehrt u. a. an der<br />

<strong>Julien</strong><br />

Düsseldorf. Kürzlich entstand in Deutschland eine Kontroverse, da <strong>Reitzenstein</strong> ab<br />

Universität<br />

die NS-Vergangenheit der <strong>Die</strong>nstvilla <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>präsidenten und das Schicksal ihres<br />

2014<br />

Vorbesitzers ans Licht brachte. Jüngst erschien <strong>von</strong> ihm «Das SS-Ahnenerbe und die<br />

jüdischen<br />

Schädelsammlung› – Fritz Bauers letzter Fall», in dem er eines der bekanntesten<br />

‹Strassburger<br />

aufklärt.<br />

NS-Verbrechen<br />

Kunstmuseum Basel hat im Mai 1933 auf einer Berliner Auktion aus<br />

Das<br />

Glasers Eigentum rund 200 Papierarbeiten ersteigert. Das<br />

Curt<br />

Zürich hat ein Gemälde Munchs auf ein Angebot Glasers hin<br />

Kunsthaus<br />

<strong>Die</strong>se Fälle werden neu beurteilt.<br />

erworben.<br />

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Wiederveröffentlichung<br />

19.4.2018 <strong>Die</strong> <strong>Grenzen</strong> <strong>des</strong> <strong>Rechts</strong> | <strong>NZZ</strong><br />

Georg Kreis hat bereits jetzt befunden: «Nach strikt rechtlicher<br />

Beurteilung dürfte der Basler Fall klar sein und keine Restitutionspflicht<br />

bestehen.» Aber «dürfte» ist kein «ist». Da die Entscheidungsträger, vor<br />

allem jene in Basel, sich an der Begründung ihrer definitiven Entscheidung<br />

messen lassen müssen, bedarf es präziser, ergebnisoffener und vor allem<br />

unaufgeregter Forschung. <strong>Die</strong> anschliessende Lösung sollte nicht nur fair<br />

sein, sie sollte auch demonstrieren, wie die den universellen<br />

Menschenrechten entstammende Eigentumsgarantie der Schweizer<br />

Bun<strong>des</strong>verfassung gelten soll: universell und damit auch für jüdische<br />

Opfer <strong>des</strong> NS-Regimes? <strong>Die</strong> Debatte benötigt ein «ist».<br />

Der Fall Glaser wird neu aufgerollt<br />

Georg Kreis / 13.2.2018, 17:30<br />

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https://www.nzz.ch/feuilleton/die-grenzen-<strong>des</strong>-rechts-ld.1362223 4/4

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