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1 - Dr. Sven Papcke

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13. Jg. 2002<br />

Ruben<br />

Condee<br />

Berliner Debatte<br />

Initial<br />

1<br />

Die Gemeinschaft und ihre Grenzen<br />

Schwierigkeiten<br />

mit dem Wir-Sagen<br />

Grenzen der Gemeinschaft ?<br />

Systemtheorie<br />

und soziale Exklusion<br />

Der Zusammenbruch des<br />

Kommunismus im Tattoo<br />

Unternehmen und Gemeinden<br />

im ländlichen Raum<br />

Schmid<br />

Malowitz<br />

Land, Willisch


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Berliner Debatte<br />

INITIAL<br />

PF 58 02 54<br />

10412 Berlin


Berliner Debatte Initial 13 (2002) 1<br />

Die Gemeinschaft und ihre Grenzen<br />

Editorial 2<br />

Reinhard Mehring<br />

Formaler politischer Existentialismus:<br />

Carl Schmitt als Gemeinschaftstheoretiker? 3<br />

Hans Bernhard Schmid<br />

Schwierigkeiten mit dem Wir-Sagen 13<br />

<strong>Sven</strong> <strong>Papcke</strong><br />

Was treibt die Nachwachsenden umher? 67<br />

Nancy Condee<br />

Körperzeichnungen.<br />

Der Zusammenbruch des<br />

Kommunismus im Tattoo 71<br />

Arne Heise<br />

Währungsunion und Koordinierung 88<br />

Nachlese: Wege übers Land<br />

Rainer Land, Andreas Willisch<br />

Unternehmen und Gemeinden<br />

im ländlichen Raum 97<br />

– Zusammengestellt von Udo Tietz –<br />

Rüdiger Zill<br />

„Dem Denken eine Grenze ziehen“<br />

Zur Karriere einer zentralen<br />

Metapher der Philosophie 30<br />

Peter Ruben<br />

Grenzen der Gemeinschaft? 37<br />

Karsten Malowitz<br />

Die neuere Systemtheorie und<br />

das Konzept der sozialen Exklusion 55<br />

Ilkka Alanen<br />

Privatisierung und Sowjetgeist.<br />

Die Zukunft der ländlichen Räume<br />

in den baltischen Republiken 110<br />

Rezension<br />

John McDowell:<br />

Geist und Welt<br />

Rezensiert von Jürn Hecht 120<br />

Inhaltsverzeichnis 2001<br />

Systematisches 123<br />

Alphabetisches 125<br />

3


4 Berliner Debatte Initial 13 (2002) 1<br />

Betrachten wir den philosophischen Diskurs der<br />

Moderne, dann können wir feststellen, daß dieser<br />

seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts unter<br />

immer wieder neuen Titeln um ein einziges<br />

Thema kreist: “das Erlahmen der sozialen Bindekräfte,<br />

Privatisierung und Entzweiung, kurz:<br />

jene Deformation einer einseitig rationalisierten<br />

Alltagspraxis, die das Bedürfnis nach einem<br />

Äquivalent für die vereinigende Macht der<br />

Religion hervorrufen.” (Habermas)<br />

Eines dieser Äquivalente ist die Gemeinschaft,<br />

der “wir” uns zugehörig wissen, eine<br />

Gemeinschaft, mit der Orientierungen zum<br />

Zuge kommen sollen, die als Gegeninstanzen<br />

gegenüber einer transzendental obdachlosen<br />

Moderne aufgeboten werden können. Mit der<br />

Absicht sie zu “verjüngen”, beschwor Hölderlin<br />

sie im Hyperion als Antithese zur beginnenden<br />

Moderne in Form eines idealen Griechenlands,<br />

Novalis verklärte sie im Mythos der sinnerfüllten<br />

Zeiten, “wo Europa ein christliches<br />

Land” und durch “ein großes gemeinschaftliches<br />

Interesse” vereint war, Tönnies setzte sie<br />

der starr-mechanischen bürgerlichen Gesellschaft<br />

entgegen und in unseren Tagen argumentieren<br />

Hermeneutiker und Kommunitaristen für<br />

die These, daß eine bloß auf die Garantie individueller<br />

– liberaler, sozialer und demokratischer<br />

– Grundrechte fixierte Gesellschaft kein<br />

Äquivalent für die vereinigende Macht der<br />

Religion hervorbringen kann, weil hierfür eine<br />

ebenso verpflichtende wie identitätsstiftende<br />

gemeinsame Konzeption des Guten vonnöten<br />

sei – also eine Konzeption des “Wir”, die sich<br />

positiv auf einen kollektiv verbindlichen und<br />

kollektiv verbindenden Wert- und Verständnishorizont<br />

einer partikularen Wir-Gemeinschaft<br />

bezieht, der allen individuellen Rechten normativ<br />

vorgeordnet ist und damit auch deren<br />

Grenzen und deren legitimen Anspruch bestimmen<br />

könnte – eine Position, die einem differenzblinden<br />

Universalismus entgegengesetzt ist und<br />

von ihren Vertretern selbst als ethnozentristisch,<br />

Editorial<br />

kontextualistisch, partikularistisch oder sogar<br />

offen als relativistisch bezeichnet wird.<br />

Gegen derartige Rekurse auf die Wir-Gemeinschaft<br />

sind von Seiten der universalistischen<br />

Gegenpartei immer wieder Einwände<br />

erhoben worden. Zweifel regen sich nicht nur<br />

daran, ob sich unter den Bedingungen der Moderne<br />

solche Gemeinschaften überhaupt noch<br />

ausfindig machen lassen oder ob nicht die Gemeinschaft<br />

bloß zu jenen Ideologemen gehört,<br />

auf welche die Moderne immer wieder zurückgreift,<br />

um den Krisen zu begegnen, die ihre<br />

Geschichte skandieren und aus denen sich erst<br />

das ergibt, was wir Moderne nennen. Zweifel<br />

regen sich auch daran, ob der Rekurs auf den<br />

kollektiv verbindlichen und kollektiv verbindenden<br />

Wert- und Verständnishorizont einer<br />

partikularen Wir-Gruppe möglich und ob er<br />

nötig ist, um in modernen Gesellschaften das<br />

“Erlahmen der sozialen Bindekräfte, Privatisierung<br />

und Entzweiung”, die auf das Konto<br />

einer einseitigen rationalisierten Alltagspraxis<br />

gehen, kompensieren zu können.<br />

Kritische Einwände gegen eine solche Orientierung<br />

an einem kollektiv verbindlichen und<br />

kollektiv verbindenden Wert- und Verständnishorizont<br />

von partikularen Wir-Gemeinschaften<br />

können in diesem Zusammenhang auf eine<br />

zweifache Weise vorgetragen werden: Als praktische<br />

Kritik kann sie bestreiten, daß eine solche<br />

Orientierung wünschenswert ist, und als<br />

theoretische Kritik kann sie bestreiten, daß sie<br />

sinnvoll ist.<br />

Die vorliegenden Beiträge wollen zeigen,<br />

wie eine solche Orientierung möglich und wie<br />

sie nicht möglich ist. Denn eines scheint klar:<br />

Daß es überhaupt Wir-Gruppen gibt, die kleiner<br />

sind als die gesamte Menschheit. Wie jedoch<br />

die Grenzen zu ziehen sind, ist ein offenes<br />

Problem – wobei auch die Frage, was aus diesen<br />

Grenzziehungen folgt, als offen betrachtet<br />

werden kann.<br />

Udo Tietz


Berliner Debatte Initial 13 (2002) 1<br />

<strong>Sven</strong> <strong>Papcke</strong><br />

Was treibt die Nachwachsenden umher?<br />

Einzelheiten aus der postmodernen Jugendszene<br />

„Jugend ist Trunkenheit ohne Wein“, notierte<br />

Goethe im ‚Westöstlichen Diwan‘. Und noch<br />

Jean-Paul Sartre verriet der Mitwelt, die Jugend<br />

habe „Heimweh nach der Zukunft“. Das sahen<br />

nicht nur die Erwachsenen, das sah auch die<br />

Jugend bald nüchterner, selbst wenn die Studentenbewegung<br />

der späten 60er Jahre international<br />

für Aufsehen sorgen sollte. Mit Charles<br />

Reich wurde hoffnungsvoll von einer generativen<br />

Grün-Erneuerung der Moderne gesprochen.<br />

1 Aber beteiligt waren vor allem studentische<br />

Kreise. Für die meisten jungen Menschen<br />

vollzogen sich Pubertät und Erwachsenwerden<br />

banaler als Eintritt in die beruflichen Notwendigkeiten,<br />

auf diese oder jene Weise.<br />

Dem wochentäglichen Einerlei des Älterwerdens<br />

ganz ohne Spielfaktor hatte Jerome<br />

David Salinger in seinem Adoleszenzroman<br />

„Der Fänger im Roggen“ eine offenbar epochen-gültige<br />

Beschreibung gewidmet. Das war<br />

1951, doch von dieser literarischen Verpuppungsstory<br />

werden bis heute allein in den USA<br />

noch 250.000 Exemplare pro Jahr verkauft. Es<br />

geht bei Salinger nicht um Aufbruch, Pathos<br />

oder große Selbstentwürfe, wie sie Ernst Orloff 2<br />

den Youngstern hierzulande vorformulieren<br />

wollte: „Jugend ist kampf ist sturzbachtosendes<br />

leben/ untergrundquellendes inwärtsstreben/<br />

mächtigfurchtbares recken und ringen/ schwer<br />

und unendlich sichselbstbezwingen“. Bei Salinger<br />

liest sich der Kindheitsverlust anders. Es<br />

ist die Rede vom jugendlichen Abscheu vor den<br />

Sachzwängen der Marktwelt, von Berufsrollen,<br />

von Einsamkeit und drohender Verantwortungslast<br />

mit Blick auf die Älteren, die nicht<br />

eben wenige beunruhigen, die sich in diesem<br />

Umsteigebahnhof der Biografie wiederfinden.<br />

Man denke an Edgar Wibeau, den Helden<br />

aus Ulrich Plenzdorfs Roman „Die neuen Leiden<br />

des jungen W.“ (Rostock: Hinstorff 1973).<br />

Zum Unverständnis seiner Umgebung gerät bei<br />

Wibeau die anstehende Rollenübernahme zur<br />

67<br />

„The times they are-a-changin“<br />

Bob Dylan<br />

Existenzkrise. Anders als Holden Caulfield, den<br />

Salinger mehr schlecht als recht ins Etablierte<br />

befördert, sieht sich hier eine Alternative durchgespielt,<br />

die möglich, aber zumeist eher metaphorisch<br />

ist. Wibeau verweigert nicht nur den<br />

Übergang in die Normalität, sondern überhaupt<br />

das Erwachsenwerden. 3 Verständlich vielleicht,<br />

daß solcher Ausstieg zur Quelle steter Angst<br />

und Verärgerung all derer gerät, die jenseits<br />

des Generationsgrabens mit dieser Form des<br />

Protestes gegen das Altern zu tun haben, das<br />

von Wibeau schlicht als Zumutung empfunden<br />

wird: „Man dürfte nicht älter werden als siebzehn–achtzehn“<br />

(S. 27). Eltern, Ausbilder, Bekannte,<br />

sie alle repräsentieren gesellschaftliche<br />

Ansprüche, die sich nicht zuletzt aus Eigeninteresse<br />

– etwa frei nach: wer bezahlt unsere<br />

Renten? – Gedanken um die Haltung oder Einstellung<br />

der Heranwachsenden machen. Jugend<br />

entpuppt sich als schöner Traum, im Lebenslauf<br />

ist er gleichsam ein Trainingscamp mit<br />

Nischencharakter, sonst nichts.<br />

Und dieser Schonraum wird nicht nur knapper,<br />

sondern von immer weniger Nachwachsenden<br />

genutzt, jedenfalls in der westlichen<br />

Hochentwicklung. Demographen und Trendforscher<br />

sagen voraus, daß die Zahl der Jugendlichen<br />

weiter schrumpfen wird. In fünfundzwanzig<br />

Jahren dürfte die Mehrheit der Bundesbürger<br />

älter als 50 Jahre sein, schon jetzt haben<br />

mehr als zehn Prozent aller Neugeborenen Väter,<br />

die sich jenseits der midlife crisis und damit<br />

im sechsten Lebensjahrzehnt befinden. 4 Die<br />

Werbung beginnt, sich auf den „Zipperlein-<br />

Markt“ für Grauhaarige umzustellen, obzwar<br />

der Jugendlichkeitsfimmel der Medien ungebrochen<br />

wirkt. Mit dem dramatischen Wechsel<br />

des Altersaufbaus in Westeuropa ist eine Umschichtung<br />

bei den werbungsrelevanten Zielgruppen<br />

unvermeidlich. 5<br />

Und wie steht es mit den eigentlichen Jugendlichen,<br />

die doch angeblich die Zukunft ei-


68 <strong>Sven</strong> <strong>Papcke</strong><br />

ner Gesellschaft ausmachen? Für die Pokémonphase<br />

und die Kids an der Schwelle zum<br />

Teenager-Alter bleiben offenbar die Kompetenzträume<br />

eines Harry Potter: Nämlich massenhaft<br />

aus dieser Welt der Unaufmerksamkeit<br />

und Eile auszusteigen in Scheinzonen der<br />

Eigenwertigkeit durch Magie, die mich – mich<br />

als Jugendlichen – wieder zu etwas Besonderem<br />

machen unter den Menschen. Dabei kommen<br />

im Gegensatz zur Technikbegeisterung von<br />

Wirtschaft und Politik nicht Elektronik oder<br />

Informatik ins Spiel, mithin marktwerte Nutzenkenntnisse.<br />

Vielmehr scheint der Run auf die<br />

Buchläden, den J.K. Rowling 6 nicht nur im<br />

Westen ausgelöst hat, von altmodischer Phantasie<br />

zu zeugen. Das spricht eigentlich für die<br />

Postmoderne, falls es sich nicht um eine Massenflucht<br />

der Aufwachsenden vor Überforderungen<br />

handelt. Man halte sich vor Augen, daß<br />

Elektronik und Informatik als die harten Fächer<br />

der Wissenschaftsgesellschaft bei den Studenten<br />

zu den Mauerblümchen unter den gewählten<br />

Studienrichtungen zählen. 7 Sehr zum<br />

Ärgernis der – älteren – Zukunftsplaner, denn<br />

woher sollen all die Inder kommen, die als Lükkenbüßer<br />

für die schwindenden Intelligenzbeziehungsweise<br />

Ausbildungsreserven demnächst<br />

benötigt werden?<br />

Nicht nur an dieser Techniklücke, auch am<br />

Kindermangel selbst läßt sich wenig deuteln,<br />

selbst wenn die Geburtenzahlen demnächst<br />

explodieren sollten, was mit Blick auf die verbreitete<br />

Wohnungsenge, den Arbeitsmarkt und<br />

überhaupt die allgemeinen Lebensumstände<br />

kaum zu erwarten sein dürfte. Nur eine massive<br />

Zuwanderung könnte die Situation ändern,<br />

die indes gleichermaßen von jung und alt im<br />

Lande skeptisch betrachtet wird. Folglich sind<br />

Jugendliche als eine Art ‚gefährdeter Spezies‘<br />

anzusehen. Das führt zu der Frage, wieso Jugendstudien<br />

weiter wie Pilze aus dem Boden<br />

schießen. Etwa weil man es mit einer schrumpfenden<br />

Ressource an Humankapital zu tun hat,<br />

mit der wir viel pfleglicher umgehen sollten als<br />

bisher?<br />

Wohl kaum, denn dann müßte man sich in<br />

Öffentlichkeit und Politik jenen Problemen<br />

widmen, die Pädagogen mittlerweile als ‚Erziehungskrise‘<br />

kennzeichnen. So jedenfalls war<br />

es einem ‚Göttinger Aufruf‘ zu entnehmen, der<br />

sich mit Blick auf verbreitete Sozialisationsund<br />

Versorgungsdefizite für bessere familiale<br />

und allgemeine Lebens- wie emotionale Behütungsbedingungen<br />

der Kinder und Jugendlichen<br />

ausspricht. Hierzulande zeigt inzwischen<br />

jedes dritte Schulkind erhebliche Verhaltensauffälligkeiten,<br />

neben körperlichen Mängeln<br />

und Lernschwierigkeiten, die schon in frühen<br />

Jahren zunehmen. 8 Muß die Gesellschaft demnächst<br />

ohne die Hoffnungsklischees auskommen,<br />

die sich bisher mit Kindheit und Jugend<br />

verbunden haben? Sie lassen sich mit Friedrich<br />

Schiller, 27, in Erinnerung rufen, der seinen<br />

Don Carlos (II/ 2) klagen läßt: „Heftig braust’s<br />

in meinen Adern – <strong>Dr</strong>ei und zwanzig Jahre,<br />

und nichts für die Unsterblichkeit getan!“ Man<br />

wird darauf verzichten müssen, nicht nur, weil<br />

Nachwachsende mehr und mehr fehlen, sondern<br />

weil die wenigen offensichtlich zu verwahrlosen<br />

drohen.<br />

Was erklärt angesichts dieser Lage also die<br />

Flut an Jugendstudien? Um gesellschaftliche<br />

beziehungsweise allgemein soziale Randbedingungen<br />

kümmern diese Erhebungen sich kaum.<br />

Warum nicht? Weil forschungspolitisch Elternversagen,<br />

Politikmängel oder gar die Marktarroganz<br />

tabu zu sein scheinen? Den unterschiedlichen<br />

Kohorten junger Menschen wird<br />

vielmehr immer wieder wie einem Problemfall<br />

der Puls gefühlt: Wie haltet ihr es mit der Familie?<br />

Welche Vorstellungen bestehen über Arbeit<br />

und Beruf? Was haltet ihr von der Politik?<br />

Welche Sorgen und Wünsche herrschen vor?<br />

Und so weiter und so fort. Es sind nach wie vor<br />

eingespielte Beurteilungs- und Vermessungskriterien,<br />

die das Jugendaufkommen panoptisch<br />

durchleuchten, als ob es sich um einen unbekannten<br />

und daher riskanten Einflußfaktor handelte,<br />

nicht aber um eine Minderheit am Tropf<br />

der Medienwelt.<br />

Dieser Informationshunger zaubert vor unser<br />

aller Augen immer kurzlebigere Stilgruppen,<br />

auch Theorien sind Kinder ihrer Zeit: Man denke<br />

an die Dinks, Dobies, Hanks oder Limers:<br />

Less income, more excitement. Oder er führt<br />

zu kurzatmigen Generations-Erfindungen der<br />

professionellen Beobachter: So die Generation<br />

Golf, Generation Net, Generation X – wie hätten<br />

es die Profilierungsbedürfnisse der Forscher<br />

gerne? Falls hier nicht ohnehin Marketing-Interessen<br />

im Vordergrund der Untersuchungen<br />

stehen, um nachwachsenden Käuferschichten<br />

die Waren möglichst auf den Leib beziehungsweise<br />

aufs Portemonnaie zu schneidern, dann


Einzelheiten aus der postmodernen Jugendszene<br />

sind es vor allem Fragen nach der allgemeinen<br />

Anpassungsleistung der Jugend, die für Aufmerksamkeit<br />

sorgen: Jeder Gesellschaft muß<br />

daran gelegen sein, ihre Fortdauer zu sichern,<br />

und das beginnt bei den Nachahmungsleistungen<br />

der Jugend. Insofern werden Anzeichen<br />

dafür gesucht, ob es Abweichungen oder Widerspruchspotentiale<br />

gibt 9 , die sich womöglich der<br />

Kontrolle entziehen 10 . Denn eigentlich sah sich<br />

seit der Industrialisierung mit Jugend immer<br />

ein Zustand assoziiert, der irgendwie außer Rand<br />

und Band war, schon die ‚blaue Blüte‘ der Romantik<br />

wurde unerlaubterweise gesucht. Derartige<br />

Grenzübertretungen mögen durch die<br />

Schrumpfung des Jugendaufkommens nicht<br />

mehr so beunruhigend wirken, zudem huldigen<br />

die Kids inzwischen hingebungsvoll den<br />

Angeboten der Erlebnisgesellschaft 11 , aber immerhin.<br />

Wunsch- beziehungsweise Schreckensbilder<br />

waren oder sind bei der Beurteilung des jugendlichen<br />

Verhaltens an der Tagesordnung und<br />

fördern leicht die Legendenbildung. Im Feld<br />

der Jugendforschung etwa begünstigen sie den<br />

Mythos vom Hoffnungsträger für die Zukunft.<br />

Oder sie beschwören eine Kraft möglicher Devianz.<br />

Weiter nähren sie Befürchtungen, unter<br />

den Nachwachsenden sei endgültig die Ohnemichelei<br />

ausgebrochen. Um ganz von Konstrukten<br />

abzusehen, die etwa mit Margaret<br />

Mead 12 von einer „präfigurativen Kultur“ ausgehen:<br />

Dann nämlich, wenn der technologische<br />

Wandel so groß werde, daß die Älteren von der<br />

Jugend lernen müßten. Als ob sich jemals etwas<br />

ändern würde am geschichtsnotorischen<br />

Oben-Unten-Gefälle zwischen Alt und Jung!<br />

In Wahrheit bilden Jugendbilder einen Facettenspiegel<br />

der Gesellschaft. Er zeigt den Betrachtern<br />

immer nur, was man in ihm erkennen<br />

möchte. 13 Danach kommt den Heranwachsenden<br />

ihr Umfeld reichlich altbacken vor. Wirkt<br />

es doch der spätindustriellen Spaßkultur eher<br />

abgeneigt, selbst wenn die Bundesrepublikaner<br />

ansonsten verbissen dem Jungseinwollen ebenso<br />

frönen wie dem Schlankheitsideal. Zugleich<br />

dehnt sich der Statusübergang bis zum jungen<br />

Erwachsensein wegen des Qualifizierungsdrucks<br />

beim Übergang in die Berufsphase immer<br />

weiter aus. Dabei scheint sich die Haltung<br />

der Jugendlichen vom aktiven Teilnehmer an<br />

gesellschaftlichen Prozessen zu deren Zuschauer<br />

gewandelt zu haben, wobei Gleichaltrigen-<br />

69<br />

gruppen mehr und mehr an Gewicht gewinnen,<br />

wozu auch immer.<br />

An- oder aufregend wirken Institutionen wie<br />

Parteien oder Verbände nicht, so erweisen die<br />

Befunde. 14 Doch auch Kultur, Soziales oder<br />

Bildung pur schmecken irgendwie abgestanden.<br />

Wo bleibt zudem der Protest bislang jeder Halbstarken-Generation?<br />

Oder verweigert er sich der<br />

allgemeinen Wahrnehmung als stiller Ausstieg<br />

in die Erlebnisgesellschaft? Wie immer, selbst<br />

Studenten streiten heute höchstens um höhere<br />

Bafögsätze, von einer kulturellen Intifada keine<br />

Spur! Ein zweiter Blick auf die Jugend entdeckt<br />

mithin ein anderes Bild als das einer Quelle<br />

der Unruhe. Zwar gilt den Nachkömmlingen<br />

Traditionelles in Staat und Gesellschaft als eher<br />

langweilig. Gleichwohl teilen die Jugendlichen<br />

– etwas weniger als zehn Millionen drücken<br />

die Schulbank – in vieler Hinsicht die Wünsche<br />

und Sorgen ihrer Eltern. Man beachte die<br />

eher rührenden Vorstellungen von Familie und<br />

Beruf, wie sie noch die 13. Shell-Jugendstudie<br />

(2 Bde., Opladen: Leske + Budrich 2000) verrät,<br />

die im wirklichen Leben nur enttäuscht<br />

werden können.<br />

Junge Leute benötigen eine Identität, kommentierte<br />

mit Mike Brake 15 einst die Jugendforschung,<br />

„die sie von den Erwartungshaltungen<br />

und Rollen befreit“, welche ihnen „durch<br />

das Elternhaus, die Schule und den Arbeitsprozeß<br />

aufoktroyiert werden sollen. Haben sie diesen<br />

Ablösungsprozeß erst einmal eingeleitet,<br />

dann sind sie frei, ihre Bedürfnisse und Wünsche<br />

... auszuleben“. Man sah im Sinne von<br />

‚Trau keinem über dreißig!‘ die Kinder des<br />

Wohlstands solchermaßen zwischen Sinnkrise<br />

und Anpassung hin und her schwanken. 16 Was<br />

ist davon geblieben?<br />

Ein Aufbruch aus der Normalität läßt sich<br />

nirgendwo beobachten, trotz vieler gesellschaftlicher<br />

Umpolungen. Auch Widerspruch findet<br />

nicht statt, wiewohl ein verbreitetes Unbehagen<br />

über die Umweltzerstörungen besteht und<br />

obschon Gerhard Schmidtchen 17 behauptet, daß<br />

„der Aufstand der Menschen gegen die depersonalisierenden<br />

Verhältnisse eben erst begonnen“<br />

hat. Neuere Erhebungen sprechen stattdessen<br />

davon, daß die Mehrzahl der Jugendlichen<br />

dem Angebot der Gesellschaft, sich in ihr<br />

einzurichten, ebenso bereitwillig wie unbedacht<br />

nachkommt. Allerdings nur, wenn die neoliberalen<br />

Zeitläufte es zulassen: Immerhin wa-


70 <strong>Sven</strong> <strong>Papcke</strong><br />

ren 1998 fast 12 Prozent der unter 25-Jährigen<br />

arbeitslos 18 , gegenwärtig gibt es 400.000 Volljährige<br />

ohne Beschäftigung, von denen eine<br />

größere Zahl auf Sozialhilfe angewiesen ist.<br />

Zugleich steigt die Jugendkriminalität infolge<br />

einer eher unkritischen Übernahme von Konsumvorstellungen<br />

unserer Gesellschaft, die viele<br />

Wertbegriffe ausgehöhlt oder umgedreht hat.<br />

Allerdings erweisen sich solche Verhaltensstörungen<br />

mehrheitlich als episodenhaft. In Wahrheit<br />

favorisieren 75% der jungen Menschen<br />

Familie und Ehe als Lebensform, wählen eher<br />

konservativ und betrachten ihre Eltern als Vorbild.<br />

Wohl auch aus Sorge vor Überforderungen,<br />

denn es ist zu Recht betont worden, daß die<br />

vielbeschworene Individualisierung „keineswegs<br />

nur in eine neue Chance hinein führt, sondern<br />

gleichzeitig auch in Verhängnisse, für die Jugendlichen<br />

einzeln, mit ihrer ganzen Persönlichkeit<br />

haften zu müssen“. 19 Nur 7% wollen<br />

als Single leben, mehr als 50% hingegen wünschen<br />

sich zwei oder mehr Kinder, wiewohl die<br />

Geburtenrate eine andere Sprache spricht.<br />

„Was der Jugend heute vor allem mangelt,<br />

ist Wissen; was sie im Überfluß hat, ist Selbstbewußtsein“,<br />

rügte Erik Reger 20 die skeptische<br />

Generation von einst. Will man den vielen<br />

Jugendstudien einigen Glauben schenken,<br />

scheint es heute eher umgekehrt zu sein. Was<br />

immer das genau heißen mag.<br />

Anmerkungen<br />

1 Vgl. J. K. Footlick: Kenniston’s Kids, Newsweek vom<br />

1.11.1978, p. 38.<br />

2 Zit. bei Rupprecht Podzun: Die verkalkte Republik oder das<br />

Märchen vom Jugendkult, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000,<br />

S. 20.<br />

3 Er ist damit Vorbote jener infantilen Reaktion, die Robert Bly<br />

(Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung, erwachsen<br />

zu werden, München: Knaur 1998) für einen Grundzug der<br />

nachpaternalistischen Gesellschaft hält.<br />

4 Vergleichsweise haben in England erst 10% der Babies Väter,<br />

die über vierzig Jahre alt sind; vgl. Schizophrenia linked to<br />

fathers aged over 45, Times vom 13.4.2001, p. 9.<br />

5 Fünf Adressatenschichten zeichnen sich laut Marketing-Forschern<br />

derzeit durch besondere Kaufkraft oder Konsumfreudigkeit<br />

aus. Sicherlich, die Yuppies als verbrauchs- und<br />

qualitätsbewußte 20- bis 39jährige zählen auch dazu. Ansonsten<br />

aber geht es um die sogenannten Perspektivensucher, mithin<br />

45- bis 60jährige, die sich nach der Berufsphase verstärkt privaten<br />

Interessen zuwenden; dann um die Nachkarrieristen,<br />

also erfolgreiche 55- bis 64jährige, die sich auf der Basis eines<br />

sicheren Ruhestandseinkommens neue Betätigungsfelder suchen;<br />

weiter ist von jugendlichen Sechzigern die Rede, die<br />

materiell gut versorgt und dynamisch sind; zuletzt um aktive<br />

Siebziger, die bis ins hohe Alter mobil bleiben.<br />

6 Mit ihrer auf sieben Bände angelegten Harry-Potter-Zauber-<br />

abenteuer-Serie, von denen im Hamburger Carlsen-Verlag seit<br />

1998 vier Teile vorliegen.<br />

7 Zahlen von IMU, vgl. Das Parlament vom 19.12.2000, S. 7.<br />

Bei männlichen Schülern ab 14 Jahren scheint sich das laut<br />

Allensbach (vgl. Welt am Sonntag vom 21. 1. 2001, S. 49) zu<br />

ändern. Traumberufe sind in abnehmender Reihenfolge: Software-Entwickler,<br />

Informatiker, EDV-Fachmann, KFZ-Mechaniker,<br />

Ingenieur, Maschinenbaumechaniker, Elektroinstallateur,<br />

Polizist, Journalist, Architekt.<br />

8 Vgl. Tagungsbericht: Experten schlagen Lärm, Westfälische<br />

Nachrichten vom 27.11.2000.<br />

9 Bereits im Oktober 1972 fand in Mannheim eine Arbeitstagung<br />

der ‚Deutschen Gesellschaft für Soziologie‘ statt. Man<br />

wollte die ‚Grenzen soziologischer Erklärung am Beispiel der<br />

Jugendforschung‘ abstecken. Mit Blick auf die „die Ursachen<br />

für den minimalen Realitätsgehalt und die mangelhafte Prognosefähigkeit<br />

der Jugendforschung“ gab es aus dem Publikum<br />

reumütige Vorschläge „zur Auflösung einer speziellen Jugendsoziologie“<br />

(vgl. Hartmut Griese: Entwicklung und Stand sozialwissenschaftlicher<br />

Jugendforschung, Deutsche Jugend 28<br />

(1980), S. 391ff.). Die Forscher waren immer wieder überrascht<br />

worden von der Dynamik ihres Gegenstandes. Daß Helmut<br />

Schelsky (Die skeptische Generation. Eine Soziologie der<br />

deutschen Jugend, Düsseldorf 1957, S. 389) erklärt hatte,<br />

„nichts wäre falscher, als Proteste der Halbstarken gegen die<br />

soziale Anpassung als Vorboten radikaler, politischer oder<br />

sozialer ‚Bewegungen‘ der Jugend deuten zu wollen“, das war<br />

vielleicht mit dem Zeitabstand zu erklären. Wenn indes im<br />

direkten Vorfeld der studentischen Jugendrevolte – man denke<br />

an einen durch Ludwig von Friedeburg besorgten Sammelband<br />

‚Jugend in der modernen Gesellschaft‘ (1965) – empirische<br />

Erhebungen davon ausgingen, daß die Nachwachsenden<br />

alles andere als unruhig wären, ließen sich Fragen nach deren<br />

Triftigkeit („minimaler Realitätsgehalt und mangelhafte Prognosefähigkeit“,<br />

Friedrichs) schwerlich vermeiden, übrigens<br />

nicht nur in diesem Forschungsfeld.<br />

10 Man denke an die eher hysterische Aufregung über einige<br />

Skinheads und ihre Untaten, die als ‚Gefahr im Verzug‘ das<br />

ganze Land in Atem hält, so als ob ihre Abwehr die neue –<br />

einzige? – Staatsräson der Bundesrepublik bildet.<br />

11 Sollte das die Mitwelt nicht eher beunruhigen als Sorgen über<br />

jugendliche Himmelsstürmereien, die den 68ern bis heute in<br />

den Ohren klingen? Vgl. Klaus Janke/Stefan Niehues: Echt<br />

abgedreht. Die Jugend der 90er Jahre, München: Beck 1995.<br />

12 Der Konflikt der Generationen, Freiburg: Walter 1971.<br />

13 Vgl. Benno Hafeneger: Jugendbilder. Zwischen Hoffnung,<br />

Kontrolle, Erziehung und Dialog, Opladen: Leske +<br />

Budrich 1995.<br />

14 Vgl. Georg W. Oesterdiekhoff/<strong>Sven</strong> <strong>Papcke</strong>: Jugend zwischen<br />

Kommerz und Verband. Eine empirische Untersuchung der<br />

Jugendfreizeit, Vorwort von Wolf-Michael Catenhusen, Münster<br />

etc.: LIT 1999.<br />

15 Soziologie der jugendlichen Subkulturen, Frankfurt am Main/<br />

New York: Campus 1981, S. 168.<br />

16 Vgl. Peter Roos (Hg.): Trau keinem über dreißig. Eine Generation<br />

zwischen besetzten Stühlen, Köln: Kiepenheuer &<br />

Witsch 1980. Auch Walter Hornstein u.a.: Jugend ohne Orientierung?<br />

Zur Sinnkrise der gegenwärtigen Gesellschaft,<br />

München etc.: Urban & Schwarzenberg 1982.<br />

17 Wie weit ist der Weg nach Deutschland? Sozialpsychologie<br />

der Jugend in der postsozialistischen Welt, Opladen: Leske +<br />

Budrich ²1997, S. 33.<br />

18 Vgl. Andreas Klocke: Soziale Disparitäten in der jungen Generation,<br />

Gewerkschaftliche Monatshefte 11 (1998), S. 705ff.<br />

19 Wilhelm Heitmeyer: Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung<br />

bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, Weinheim/München:<br />

Juventa 1995, S. 13.<br />

20 Vom künftigen Deutschland, Berlin: Blanvalet 1947, S. 44.

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