Radio Vatikan 1-2004 Web.qxd
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GEISTLICHE BETRACHTUNG AUS ROM<br />
Vera icona?<br />
Der Kolosserbrief bezeichnet<br />
Christus als das<br />
„Bild des unsichtbaren<br />
Gottes“ (1,15). Ein surrealistischer<br />
Maler hätte<br />
sein Bild vielleicht<br />
,unsichtbares Bild’ betitelt;<br />
üblicherweise aber<br />
macht doch ein Wirklichkeits-Bild,<br />
ein ,Bild<br />
von’, Sichtbares dauerhaft,<br />
nimmt ihm<br />
bestenfalls die<br />
Zeit, aber fügt<br />
nichts hinzu,<br />
was es nicht<br />
besitzt.<br />
Die Bildkraft<br />
Christi also geht<br />
eindeutig über<br />
die Vorstellungskraft<br />
hinaus.<br />
Denn wenn<br />
schon das ,Original’<br />
unsichtbar<br />
ist, wie kann<br />
dann erst das<br />
Ab-Bild sichtbar sein?<br />
Nun aber haben wir<br />
auch noch Bilder des<br />
Bildes. Sie signalisieren<br />
ihren besonderen Status<br />
durch ihre Bezeichnung:<br />
Ikone, oder vera icona<br />
(in der Kreuzwegfrömmigkeit<br />
mit ,Veronica’<br />
aus der Schweißtuch-<br />
Jesu-Szene der Passionsgeschichte<br />
verknüpft).<br />
Aber ist diese Spur<br />
tatsächlich keine falsche<br />
Spur? Geht es beim<br />
wahren Bild des Bildes<br />
des Nicht-Ein-Bildbaren<br />
um die Bezeugung,<br />
wirklich Abdruck dieser<br />
raumzeitlichen Tatsache<br />
zu sein?<br />
Die besondere Ehrwürdigkeit<br />
der wahren Ikone<br />
geht nicht auf Wahrheit<br />
zurück, sondern<br />
auf seine ganz einzigartige<br />
Wirkkraft. Ein wah-<br />
res Bild hat nur einen<br />
Verweis – auf sein ,Original’,<br />
und wird dementsprechend<br />
auch überflüssig,<br />
wenn die Sache<br />
selbst präsent ist. Auch<br />
Jünger wollten am Bild<br />
vorbei zum Original:<br />
,Zeig uns den Vater!’<br />
genügte aber nicht; Sie<br />
mussten Christus sehen,<br />
um den Vater zu erkennen.<br />
Vielleicht ist es<br />
gewagt zu sagen, dass es<br />
mit Christusbildern ähnlich<br />
ist wie mit dem Bild,<br />
das Christus ist. Denn<br />
auch da muss das Bild<br />
nicht wahr sein. Es muss<br />
(nur/vielmehr) verweisen<br />
können – auf das<br />
,Eigentliche’, es muss<br />
die einzigartige Kraft<br />
haben, jenseits des Bildes,<br />
im Unsichtbaren,<br />
eine Kraft auf mich wirken<br />
zu lassen.<br />
Rouaults Bild ist<br />
sicher nicht<br />
effektheischend<br />
oder<br />
spektakulär,<br />
jedoch hat er<br />
es vermocht,<br />
aus diesem einer<br />
Ikone nachempfundenen<br />
Bildnis Jesu<br />
jene einzigartige<br />
Kraft hervorbrechen<br />
zu<br />
lassen, die auf<br />
den Vater, aber<br />
nicht auf ein ,Original’<br />
verweist. Wir sehen<br />
zwar Jesus, aber durch<br />
ihn hindurch wirkt<br />
gleichsam die Kraft des<br />
Vaters, den man auch<br />
dadurch nicht sichtbarer<br />
macht, indem man ihm<br />
vertrauliche Bildlichkeit<br />
verpasst. Ja, er hat nur<br />
ein einziges Bild, und<br />
was wir durch dieses<br />
nicht wahrnehmen,<br />
wird uns ewig verborgen<br />
bleiben.<br />
Johannes Ehrat SJ<br />
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