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LGBB_022018_web

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Die Originalfassung von Thomas Mann ist gemäß<br />

den Formeln als kaum lesbar einzustufen. 8<br />

Doch wenn man den Text leicht verändert, d.h.<br />

den einen Originalsatz in drei Sätze aufteilt, dann<br />

steigt die Lesbarkeit erheblich und erreicht einen<br />

durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad. Dies belegt<br />

zunächst, dass der durchschnittlichen Satzlänge<br />

innerhalb der Formeln ein großes Gewicht<br />

zukommt. Daraus folgt aber auch, dass sich mit<br />

relativ geringem Aufwand die Lesbarkeit von Texten<br />

über die Regulierung der Satzlänge positiv<br />

beeinfl ussen lässt.<br />

VERSTÄNDLICHKEIT<br />

Unter Verständlichkeit versteht man das subjektive<br />

Maß, wie gut jemand einen Text lesen und<br />

vor allem verstehen kann. Subjektiv ist das Maß<br />

deswegen, weil man (theoretisch) vom Individuum<br />

ausgeht, wenn man die Verständlichkeit eines<br />

Textes anhand des Inhaltes und der sprachlichen<br />

Kohärenzmerkmale, d.h. der sog. Tiefenstruktur<br />

eines Textes, bestimmt. Das Kernproblem der Verständlichkeitsforschung<br />

liegt in dieser Subjektivität<br />

begründet: Das Verstehen eines Textes<br />

hängt sowohl auf der inhaltlichen wie auch der<br />

sprachlichen Ebene hochgradig vom Vorwissen<br />

des Rezipienten ab und kann nur durch Methodentriangulation<br />

(Lautes Denken, Rating-Skalen,<br />

Lesbarkeitstests) für den Einzelnen bestimmt<br />

werden. Doch dazu müsste der Text, von dem<br />

man wissen möchte, ob er für den Lesenden<br />

überhaupt geeignet (= verständlich) ist, genaugenommen<br />

von diesem Lesenden bereits gelesen<br />

und eingeschätzt worden sein, da nur das Individuum<br />

selbst beurteilen kann, ob der Text verständlich<br />

ist. Dieses Paradoxon führte in der Textverständlichkeitsforschung<br />

schon in den 1970-er<br />

Jahren zu der Erkenntnis, dass kriterienbasierte<br />

Konzepte ausreichen müssen, um zumindest eine<br />

relative, d.h. auf bestimmte Gruppen von Lesern<br />

bezogene Verständlichkeitseinschätzung treffen<br />

zu können. In diesem Zusammenhang entstand<br />

z.B. das sog. Heidelberger Konstrukt (Groeben<br />

1982). In ihm werden vier Dimensionen für die<br />

Verständlichkeit von Texten angenommen (Abb. 3),<br />

Mit dieser aus Berlynes (1960) Neugiertheorie<br />

abgeleiteten Dimension wird die für das Textverständnis<br />

notwendige Motivation des Lesers<br />

bestimmt. Nach Groeben enthält ein Text dann<br />

ein hohes Maß an konzeptuellem Konfl ikt, wenn<br />

er „für Lesende Neues und Überraschendes enthält,<br />

wenn er Inkongruenzen aufweist, die bei<br />

den Lesenden einen kognitiven Konfl ikt auslösen<br />

können, wenn er Fragen enthält, Probleme mit<br />

Lösungen oder wenn er in anderer Form kognitive<br />

Konfl ikte bei den Lesenden auslöst.“ 9 Ein Text<br />

muss demnach (an-)spannend, interessant und<br />

anregend sein, damit der Rezipient eine (emotionale)<br />

Neugier entwickelt und innerlich wach,<br />

d.h. aufmerksam, den Text liest, versteht und vor<br />

allem seinen Inhalt behält.<br />

ANSPRUCHSNIVEAU IN DEN<br />

LATEINISCHEN LEHRBUCHTEXTEN<br />

Um das Anspruchsniveau in den lateinischen Lehrbuchtexten<br />

und damit ihre vorbereitende Funktion<br />

auf die Originallektüre zu untersuchen, müssen<br />

Lehrbuchtexte nicht nur hinsichtlich ihrer<br />

Schwierigkeitsprogression innerhalb eines Lehrbuches,<br />

sondern vor allem hinsichtlich ihrer Schwierigkeit<br />

am Ende des Lehrbuches im Vergleich zu<br />

potentiellen Originaltexten untersucht werden.<br />

Falls sie nämlich am Ende des Lehrbuches nicht<br />

die charakteristischen Merkmale der Originallektüre<br />

erreichen, ist es kaum verwunderlich, dass<br />

es seitens der Lernenden zum sog. Lektüreschock<br />

kommt, wenn sie sich plötzlich ungewohnten<br />

sprachlichen Anforderungen ausgesetzt sehen.<br />

In einem ersten Vergleich (Abb. 4) zwischen<br />

den lateinischen Lehrbuchtexten am Ende des<br />

Spracherwerbs und einem jeweils 1000 Wörter<br />

umfassenden Beispielkorpus einiger für den Lateinunterricht<br />

relevanter Autoren zeigt sich, dass<br />

die durchschnittliche Satzlänge in den Lehrbüchern<br />

bestensfalls den im Verhältnis zu den übrigen<br />

Werken unterdurchschnittlichen Wert der<br />

Atticus-Briefe erreicht. Hinsichtlich der maximalen<br />

Satzlänge liegen die Werte der Übersetzungstexte<br />

in den Lehrbüchern erheblich unter den<br />

Maximalwerten der Originalliteratur. Besonders<br />

4 Für geübte Leser ist der Blocksatz angenehmer, weil so<br />

der unruhige Flattersatz am Ende einer Zeile vermieden<br />

wird. Allerdings fallen dadurch die Wortabstände mitunter<br />

sehr unterschiedlich groß aus, was wegen der<br />

Blickspannen für ungeübtere Leser zu einem Problem<br />

werden kann.<br />

5 Vgl. Bamberger und Vanecek (1984, S. 48).<br />

6 Die Formel lautet: Flesch (engl.) =<br />

206,835 – 0,846 Wl – 1,015 Sl<br />

Wl = durchschnittliche Wortlänge (Silben/Wort),<br />

Sl = durchschnittliche Satzlänge (Wörter/Satz),<br />

Zahlen = sprachspezifi sche Koeffi zienten. Zur Anpassung<br />

an die deutsche Sprache verschiebt sich der Index auf -20<br />

bis 80. Vgl. Groeben (1982, S. 179).<br />

7 Beispielhaft die erste Wiener Sachtextformel: 1.WS =<br />

0,1935 MS + 0,1672 Sl + 0,1297 lW – 0,0327 ES –<br />

0,875 MS = Prozentsatz der Drei- und Mehrsilber, SL = Ø<br />

Satzlänge in Wörtern, lW = Prozentsatz der langen<br />

Wörter (> sechs Buchstaben), ES = Prozentsatz der<br />

Einsilber, Zahlen = sprachspezifi sche Koeffi zienten.<br />

Vgl. Bamberger und Vanecek (1984, 187f.).<br />

8 Im Internet fi ndet man zahlreiche <strong>web</strong>basierte, kostenfreie<br />

Textanalysetools, deren Qualität für den privaten<br />

und/oder schulischen Gebrauch vollkommen ausreicht,<br />

z.B. schreiblabor.com, textalyser.net, usingenglish.com,<br />

wortliga.de/textanalyse, textinspektor.de.<br />

9 Friedrich (2017, S. 80).<br />

Abb. 3 Heidelberger Konstrukt zur Verständlichkeit<br />

von Texten.<br />

wobei sich die beiden oberen Dimensionen inzwischen<br />

als besonders bedeutsam für die Verständlichkeit<br />

erwiesen haben. Während die Dimensionen<br />

„Sprachliche Einfachheit“, „Semantische Kürze“<br />

und „Kognitive Gliederung“ bereits begriffl ich<br />

klar umrissen scheinen, ist die Dimension „Konzeptueller<br />

Konfl ikt“ deutlich schwerer fassbar.<br />

Lehrbuch Ø Sl max. Sl<br />

%-S unter<br />

10 W/S (insg.)<br />

Autor/Werk<br />

(1000 W.)<br />

Ø Sl<br />

max. Sl<br />

CAMPUS (L30) 6,63 20 85% Cic. Tusc. I 13,24 95<br />

VIA MEA (L35) 9,38 26 72% Cic. Att. I 9,82 33<br />

AGITE (L60) 10 20 77% Sall. Cat. 14,94 39<br />

CURSUS (L40) 6,19 20 81% Caes. Gall. I 14,15 41<br />

VIVA (L45) 8,73 19 84% Verg. Aen. I 12,45 33<br />

PONTES (L30) 8,36 19 84% Ov. Met. I 14,83 38<br />

ADEAMUS! (L40) 9,12 18 87% Catull 12,75 64<br />

ROMA (L30) 7,6 22 83%<br />

Abb. 4 Übersicht zu Satzlängenwerten in ausgewählten Lateinlehrbüchern am Ende des Spracherwerbs und in einer Stichprobe<br />

aus Originalwerken. Die Berechnungsgrundlage in der Originalliteratur bilden die ersten 1000 Wörter eines Textkorpus.<br />

Legende: Ø Sl – durchschnittliche Satzlänge, max. Sl – maximale Satzlänge, %-S – prozentualer Anteil der Sätze unter<br />

10 Wörtern pro Satz (Lehrbuchquerschnitt).<br />

76 JAHRGANG LXII · <strong>LGBB</strong> 02 / 2018<br />

<strong>LGBB</strong> 02 / 2018 · JAHRGANG LXII<br />

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