Titel / Inhalt - Gedenkstätte Breitenau
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VEREIN<br />
ZUR FÖRDERUNG DER GEDENKSTÄTTE<br />
UND DES ARCHIVS BREITENAU E.V.<br />
RUNDBRIEF NR. 30<br />
Kassel, im März 2011
2<br />
<strong>Inhalt</strong><br />
Seite<br />
An die Mitglieder 3<br />
von Gunnar Richter<br />
Bericht aus der Arbeit der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> im Jahre 2010 5<br />
von Gunnar Richter<br />
Neue Dokumente zur politischen Verfolgung von Adam Selbert 32<br />
von Dietfrid Krause-Vilmar<br />
Exkursion in die <strong>Gedenkstätte</strong> Mittelbau-Dora bei Nordhausen 38<br />
von Karl Fischer<br />
Jean-Pierre des Coudres: Ein Kasseler, der zum bedeutendsten 43<br />
SS-Bibliothekar im NS-Staat aufsteigen sollte<br />
von Thomas Schattner<br />
Novemberpogrom 1938 in Guxhagen 47<br />
von Gunnar Richter<br />
Klaus Barbie, „Der Schlächter von Lyon“ und Nordhessen 56<br />
von Thomas Schattner<br />
Julia Drinnenberg: „Stätten der Erinnerung – Gedächtnis einer 60<br />
Stadt. Die Opfer des Nationalsozialismus in Hofgeismar“<br />
Buchbesprechung von Gunnar Richter<br />
Veranstaltungen und Veranstaltungsplanung 2011 62<br />
Redaktion: Dr. Gunnar Richter<br />
E-mail: gedenkstaette-breitenau@t-online.de<br />
Homepage: www.gedenkstaette-breitenau.de
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
liebe FreundInnen und KollegInnen,<br />
An die Mitglieder<br />
Kassel, im März 2011<br />
hiermit möchte ich Ihnen den neuen Rundbrief unseres Fördervereins überreichen, der Ihnen<br />
einen Überblick über die verschiedenen Bereiche und Aspekte der <strong>Gedenkstätte</strong>narbeit in<br />
<strong>Breitenau</strong> im Jahre 2010 geben soll. Daneben finden Sie in diesem Rundbrief auch wieder<br />
Beiträge, die sich mit der Verfolgung während der NS-Zeit in unserer Region und mit Fragen des<br />
Umgangs mit der Geschichte beschäftigen.<br />
Am Beginn des Rundbriefes steht unser Jahresbericht, in dem wir Sie u.a. über die Besucher und<br />
Besuchergruppen der <strong>Gedenkstätte</strong> im vergangenen Jahr, über besondere Aktivitäten von<br />
SchülerInnen und Jugendlichen sowie über Seminare, Fortbildungsveranstaltungen und Vorträge<br />
informieren möchten. Einen besonderen Schwerpunkt nimmt auch in diesem Jahresbericht der<br />
Überblick über die verschiedenen Veranstaltungen ein, die im vergangenen Jahr von der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong>, vielfach in Zusammenarbeit mit anderen Kooperationspartnern, durchgeführt<br />
wurden.<br />
Vertiefend bzw. ergänzend zum Jahresbericht ist in diesem Rundbrief ein Beitrag von Herrn Karl<br />
Fischer, der seit vielen Jahren Mitglied unseres Vorstandes ist, über die Exkursion in die<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> Mittelbau-Dora bei Nordhausen enthalten, die am Samstag, dem 12. Juni 2010 in<br />
Zusammenarbeit mit Thomas Ewald von der vhs-Kassel stattfand.<br />
Außerdem sind in diesem Rundbrief vier historische Beiträge enthalten. In dem ersten dieser vier<br />
Beiträge mit dem <strong>Titel</strong> „Neue Dokumente zur politischen Verfolgung von Adam Selbert“ geht<br />
Dietfrid Krause-Vilmar dem Verfolgungsweg von Selbert nach. Adam Selbert war der Ehemann<br />
von Dr. Elisabeth Selbert und aufgrund seiner politischen Überzeugung und Aktivitäten 1933<br />
vier Wochen im KZ <strong>Breitenau</strong> inhaftiert. Auf der Grundlage von Briefen und Zeugnissen aus<br />
dem Nachlass von Elisabeth Selbert, der dem Kasseler Archiv der deutschen Frauenbewegung<br />
übergeben wurde, zeichnet Dietfrid Krause-Vilmar die Vorgänge um die Amtsenthebung Adam<br />
Selberts nach, von denen bislang nur wenig bekannt war.<br />
In dem zweiten historischen Beitrag schildert Thomas Schattner den beruflichen Werdegang von<br />
Jean-Pierre des Coudres, der in Kassel die Schule besuchte und zum bedeutendsten SS-<br />
Bibliothekar im NS-Staat aufsteigen sollte.<br />
In einem weiteren historischen Beitrag geht Thomas Schattner (auf der Grundlage eines Buches<br />
von Tom Bower aus dem Jahre 1984) den Spuren Klaus Barbies, des „Schlächters von Lyon“ in<br />
der unmittelbaren Nachkriegszeit in Kassel und Nordhessen nach. Bereits 1984 hatte Tom Bower<br />
herausgefunden, dass Barbie von 1947 bis 1951 als Agent für den amerikanischen Geheimdienst<br />
Counter Intelligence Corps (CIC) in Deutschland tätig war. In den letzten Wochen wurde durch<br />
die Examensarbeit eines Studenten aufgedeckt, dass Barbie zeitweise sogar für den<br />
Bundesnachrichtendienst (BND) als Informant tätig war, und Wolfgang Riek von der HNA-<br />
Kassel hat in einem Artikel zusätzliche Informationen zusammengetragen.<br />
In dem letzten historischen Beitrag versuche ich, auf der Grundlage von verschiedenen Aussagen<br />
und Aufzeichnungen aus der Nachkriegszeit, die Geschehnisse während des Novemberpogroms<br />
1938 in Guxhagen nachzuzeichnen. Die Ereignisse zeigen auf eine erschreckende Weise –<br />
ähnlich wie in anderen Städten und Gemeinden – dass sie den Übergang markierten von der<br />
3
schrittweisen Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung hin zur gewalttätigen Verfolgung, die<br />
schließlich drei Jahre später in den Deportationen und Massenmorden endete.<br />
Im Anschluss an den Beitrag finden Sie die Besprechung einer eindrucksvollen<br />
regionalgeschichtlichen Schrift von Julia Drinnenberg über die Opfer des Nationalsozialismus in<br />
Hofgeismar, in die viele Einzelschicksale und Erinnerungsorte einbezogen sind, so dass sich die<br />
Veröffentlichung auch sehr gut für einen Stadtrundgang eignet.<br />
Im abschließenden Teil des Rundbriefes finden Sie die Veranstaltungsplanung der <strong>Gedenkstätte</strong><br />
<strong>Breitenau</strong> für das Jahr 2011 mit verschiedenen Kooperationspartnern. Besonders hinweisen<br />
möchte ich Sie auf den 3. Teil der Veranstaltungsreihe „Wir mussten ja alle mitmachen…“, die<br />
in der vhs-Kassel bereits begonnen hat, sowie auf die Reihe „Widerstand und Verfolgung von<br />
Jugendlichen im NS-Staat“ und auf die Veranstaltungsreihe „Biographien zum<br />
Nationalsozialismus“, die wir nach den Sommerferien durchführen werden.<br />
Im vergangenen Jahr konnten wir Rainer Sander, der bereits seit längerer Zeit ehrenamtlich für<br />
die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> aktiv ist, und Herrn Hans Schweinsberg aus Guxhagen als neue<br />
Mitglieder für unseren Förderverein gewinnen, und ich möchte sie im Namen unseres<br />
Vorstandes noch einmal ganz herzlich in unserem Verein begrüßen.<br />
Außerdem wurde es uns im vergangenen Jahr durch eine finanzielle Zuwendung des Hessischen<br />
Ministeriums für Wissenschaft und Kunst ermöglicht, dass der Künstler Stephan von Borstel den<br />
Ausstellungsbereich im Flur der <strong>Gedenkstätte</strong> neu gestalten konnte. Dieser Ausstellungsteil wirkt<br />
nun sehr hell und freundlich und sehr einladend für die sich daran anschließenden<br />
Ausstellungräume. Durch eine großflächige Bildtafel und zusätzliche Bilder hat er auch<br />
didaktisch sehr gewonnen. Wir möchten dem Hessischen Wissenschaftsministerium und Stephan<br />
von Borstel dafür nochmals unseren besonderen Dank aussprechen. Darüber hinaus wurde es uns<br />
durch die Unterstützung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung ermöglicht,<br />
wichtige Anschaffungen für die Büroausstattungen und für die pädagogische Arbeit zu tätigen.<br />
So konnten wir u.a. einen neuen, sehr guten Beamer anschaffen und möchten auch der<br />
Hessischen Landeszentrale unseren besonderen Dank aussprechen. Und schließlich möchten wir<br />
allen Mitgliedern, Institutionen, Landkreisen, Kommunen, Verbänden und Förderern danken, die<br />
durch ihre Unterstützung die Arbeit der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> auch im vergangenen Jahr<br />
ermöglicht haben.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Ihr<br />
4<br />
Dr. Gunnar Richter<br />
(Vorsitzender des Fördervereins)
Bericht aus der Arbeit der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> im Jahr 2010<br />
von Gunnar Richter<br />
Das Bildungsangebot der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> wurde im Jahr 2010 von 6.207 Personen<br />
wahrgenommen. Darunter befanden sich 3428 Personen, die als Gruppenbesucher in 222<br />
Gruppen in die <strong>Gedenkstätte</strong> kamen (Schulklassen, Jugendgruppen und Erwachsenengruppen)<br />
und hier eine Führung zur Geschichte <strong>Breitenau</strong>s erhielten oder einen Studienbesuch<br />
durchführten. Darunter war auch eine größere Anzahl ganztägiger Studienbesuche.<br />
An den 29 Veranstaltungen (Vorträge, Lesungen, Sonderausstellungen, Diskussionsrunden und<br />
Seminaren), die von der <strong>Gedenkstätte</strong> zum großen Teil in Zusammenarbeit mit anderen Trägern<br />
durchgeführt wurden, nahmen 2.191 Personen teil. Außerdem wurden 31 Personen bei der<br />
Erstellung von Examens-, Haus- und Präsentationsarbeiten in (meist 2-3stündigen<br />
Kleinstgruppen von 1-2 Personen) betreut.<br />
Die <strong>Gedenkstätte</strong> wurde darüber hinaus von 557 Einzelbesuchern aufgesucht, von denen 238<br />
Personen an Sonntagen kamen.<br />
Unter den Besuchern befanden sich 222 Besuchergruppen, und diese setzten sich aus 90<br />
Schulklassen bzw. Schülergruppen, 19 Jugendgruppen, 10 Studenten- und Referendarsgruppen,<br />
57 Erwachsenengruppen und 46 Kleingruppen zusammen.<br />
Die Schulklassen kamen wiederum aus verschiedenen Schulformen (Haupt- und Realschulen,<br />
Schulen für Lernbehinderte, Blindenstudienanstalt, Gesamtschulen, Gymnasien, berufliche<br />
Schulen) und verschiedenen Schulstufen. Das Einzugsgebiet umfasste überwiegend nord- und<br />
osthessische Städte und Landkreise. Die Klassen kamen u.a. aus:<br />
Bad Hersfeld, Bad Laasphe, Baunatal, Bruchköbel, Dennhausen, Eschwege, Felsberg, Fulda,<br />
Gladenbach, Guxhagen, Hanau, Herford, Hessisch Lichtenau, Hofgeismar, Homberg/Efze,<br />
Höxter, Hünfeld, Kassel, Korbach, Lohfelden, Melsungen, Merseburg, Nidda, Niestetal,<br />
Oberurff, Rohde/Alsfeld, Röhrenfurth, Schwalmstadt, Treysa, Wabern, Weilburg, Wetzlar,<br />
Witzenhausen, Wolfhagen und Ziegenhain.<br />
Außerdem besuchten verschiedene Gruppen ausländischer Schüler, Jugendlicher und<br />
Erwachsener die <strong>Gedenkstätte</strong>, so z.B. im März eine französische Gruppe von<br />
Austauschschülern der Wilhelm-Leuschner-Schule aus Niestetal und im Juli eine Gruppe<br />
ausländischer Studenten der Internationalen Sommeruniversität Kassel sowie eine weitere<br />
Gruppe französischer Austauschschüler. Im August besuchte uns eine Familie, die sich aus<br />
amerikanischen und russischen Angehörigen zusammensetzte. Außerdem wurde die<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> kurz vor Jahresende von einer Gruppe südamerikanischer Studenten besucht. Im<br />
Laufe des Jahres hatten wir darüber hinaus mehrere Besuche von Kleingruppen aus den USA,<br />
Kanada, Schweden, Spanien, Belgien und den Niederlanden.<br />
Unter den Jugendgruppen befanden sich u.a.:<br />
� Mehrere Gruppen von Jugendlichen, die in Nordhessen und z.T. in verschiedenen<br />
europäischen Ländern über den Sozialen Friedensdienst, den Internationalen Bund (IB)<br />
und das Volunta-Institut ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren,<br />
� Konfirmandengruppen aus Ahnatal, Lippoldsberg, Dagobertshausen und Spangenberg,<br />
� eine Gruppe des Vereins Mädchenbus/Nordhessen bei Korbach,<br />
� Jugendliche aus Wohngruppen in Hephata,<br />
� eine Lernhilfegruppe der Agathofschule in Kassel,<br />
5
6<br />
� eine Gruppe von Polizeifachhochschülern,<br />
� Jugendwohnheimgruppen aus Korbach,<br />
� Zivildienstleistende und<br />
� eine Gruppe von VW-Auszubildenden.<br />
Die <strong>Gedenkstätte</strong> wurde außerdem im Jahre 2010 von 57 Erwachsenengruppen besucht, die<br />
ebenfalls aus zahlreichen unterschiedlichen Bereichen kamen. Unter ihnen befanden sich z.B.:<br />
� Bewohner der Vitos Rehabilitation für psychisch kranke Menschen Guxhagen,<br />
� Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Baunatal,<br />
� eine Fortbildungsseminar-Gruppe für LehrerInnen,<br />
� eine Seniorengruppe des Amtes für Straßenverkehrswesen,<br />
� eine Gruppe des Sozialen Friedensdienstes,<br />
� Amtsleiter der Stadt Kassel,<br />
� eine Seniorengruppe ehemaliger Beamter der Bereitschaftspolizei Kassel,<br />
� Seniorengruppen aus Dörnhagen, Wabern und Röhrenfurth<br />
� Erzieherinnen der Waldorfschule Kassel,<br />
� eine deutsch-spanische Gruppe aus Hephata,<br />
� Frauengruppen der ev. Kirche aus Dennhausen und Oberkaufungen,<br />
� Gruppen des LWV,<br />
� eine Gruppe des DRK Kassel,<br />
� eine Seniorengruppe ehemaliger Bergleute,<br />
� eine Frauengruppe ehemaliger C&A-Mitarbeiterinnen,<br />
� MitarbeiterInnen aus Hephata,<br />
� eine Referendarsgruppe des Studienseminars Kassel,<br />
� eine Gruppe des Kegelclubs Kassel,<br />
� Mitglieder der Geschichtswerkstatt Göttingen,<br />
� Angehörige der Kirchengemeinde Marbach, zum 100. Weihetag von Pfarrer Trageser,<br />
� Mitarbeiter der Altenpflegeschule aus Bad Arolsen,<br />
� eine Gruppe Professoren der Universität Kassel,<br />
� Mitglieder eines Männergesangsvereins aus Fulda,<br />
� eine Gruppe angehender Sozialarbeiterinnen und<br />
� Mitarbeiter der JVA Kassel.<br />
Eine ganze Reihe der Besuche von Erwachsenengruppen fanden im Rahmen ihrer Ausbildung<br />
oder ihrer Weiterbildung statt. Bei diesen Studienbesuchen wurden von uns oftmals gezielt<br />
Bezüge zu diesen Berufsgruppen in der Zeit des Nationalsozialismus aufgegriffen, um darüber<br />
eine persönliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Fragen anzuregen, so z.B. bei den<br />
Besuchen von Fachhochschülern der Polizei die Rolle und Funktion der Polizei und Gestapo im<br />
NS-Staat. Bei den Besuchen der kirchlichen Gruppen nahm häufig das Schicksal der verfolgten<br />
evangelischen und katholischen Geistlichen einen besonderen Raum ein.<br />
Besondere Beiträge und Projekte von Schülern und Jugendlichen sowie Besuche von<br />
Referendars- und Studentengruppen<br />
Auch im vergangenen Jahr nutzten Lehrerinnen und Lehrer mit verschiedenen Schülergruppen<br />
das pädagogische Angebot der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> zur Vorbereitung von Studienfahrten<br />
nach Auschwitz. Es handelte sich um Schülergruppen der Gesamtschule Melsungen in<br />
Begleitung von Hans-Peter Klein und um eine Schülergruppe der Integrierten Gesamtschule
(HNA-Melsungen vom 10.06.2010)<br />
7
Guxhagen in Begleitung von Anja Schroth. Neben einer Auseinandersetzung mit der Geschichte<br />
<strong>Breitenau</strong>s wurde in diesen Vorbereitungen vor allem den Schicksalen von jüdischen<br />
Gefangenen aus der nordhessischen Region und den Heimatorten der Schüler nachgegangen, die<br />
von <strong>Breitenau</strong> nach Auschwitz deportiert worden waren.<br />
Wie auch schon in den Jahren zuvor, besuchten auch im vergangenen Jahr Schülerinnen und<br />
Schüler die <strong>Gedenkstätte</strong>, um im Rahmen der Abschlussprüfungen für Haupt- und Realschulen<br />
und für die Abiturprüfung oder auch für Referate und Abschlussarbeiten Präsentationen zu<br />
verschiedenen Bereichen der Geschichte des Nationalsozialismus vorzubereiten.<br />
Im Rahmen der Projekttage an der Integrierten Gesamtschule Guxhagen im September 2010<br />
führten die Schüler der Klasse 10f mit ihrem Klassenlehrer Stefan Roepell in Kooperation mit<br />
der Referendarin Gabriele Berle und in Zusammenarbeit mit der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> ein<br />
eindrucksvolles Projekt zu Gedenkorten in Guxhagen durch. Im Mittelpunkt standen dabei die<br />
Geschichte der ehemaligen Jüdischen Gemeinde Guxhagens und die Verfolgung ihrer Mitglieder<br />
sowie die Geschichte <strong>Breitenau</strong>s während der Zeit des Nationalsozialismus. Für das Projekt<br />
waren drei Tage vorgesehen. Am ersten Tag fand eine gemeinsame Erkundung mit Gunnar<br />
Richter zu verschiedenen Gedenkorten statt, an der auch der neue Schulleiter, Herr Thomas<br />
Wiegand teilnahm. Aufgesucht wurden dabei der jüdische Friedhof von Guxhagen, die<br />
ehemalige Synagoge mit der Gedenktafel von 1985, die „Stolpersteine“ für Benni und Frieda<br />
Katz, das „Ehrenmal“ am Fuldaberg, das die Gefangenen des frühen KZ 1933 bauen mussten,<br />
und der Gedenkstein oberhalb des ehemaligen Massengrabes am Fuldaberg. Am zweiten Tag<br />
begaben sich die Schüler in Kleingruppen zu den einzelnen Gedenkorten, um dort Texte,<br />
Zeichnungen und Collagen als individuelle Formen der Auseinandersetzung zu erarbeiten. Auf<br />
der Grundlage dieser Ergebnisse erstellten die Schülerinnen und Schüler dann im Ev.<br />
Gemeindehaus Plakate. Am dritten Tag beschäftigten sie sich vormittags in der <strong>Gedenkstätte</strong> mit<br />
der Geschichte <strong>Breitenau</strong>s, und anschließend präsentierten und erläuterten sie in einer<br />
gemeinsamen Runde ihre Plakate. Die so entstandene kleine, aber eindrucksvolle Ausstellung<br />
wurde dann am Samstag, zum „Tag der offenen Tür“, in der Schule gezeigt.<br />
Ein weiteres eindrucksvolles Projekt wurde im Mai vergangenen Jahres von Herrn Christoph<br />
Wandel, Lehrer an der Radko-Stöckl-Schule in Melsungen, gemeinsam mit elf Schülern, fünf<br />
Referendarinnen und deren Ausbilder in Zusammenarbeit mit der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong><br />
durchgeführt. Christoph Wandel hatte verschiedene Gedichte und Texte zum Thema<br />
Nationalsozialismus zusammengestellt, die die Schüler und z.T. auch die anderen<br />
Teilnehmenden in einem Ausstellungsraum der <strong>Gedenkstätte</strong> und im Mittelschiff der Kirche<br />
vortrugen. Das Besondere an diesem Projekt bestand u.a. darin, dass die Schüler erst in der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> mit den Gedichten konfrontiert wurden und sie sich dadurch in einem allmählichen<br />
Prozess den Texten näherten. Nach einer gemeinsamen Einführung in die Geschichte <strong>Breitenau</strong>s<br />
während der NS-Zeit wurden die eindrucksvollen Texte in Form von szenischen Lesungen in den<br />
ehemaligen Hafträumen vorgetragen. Unter den Texten befanden sich auch Gedichte von<br />
ehemaligen Verfolgten, wie z.B. von Kurt Finkenstein, der von <strong>Breitenau</strong> nach Auschwitz<br />
deportiert und dort ermordet wurde. Das Lesen der Texte an dem ehemaligen Verfolgungsort hat<br />
(ähnlich wie konkrete Erläuterungen zu den Haftbedingungen in diesen Räumen) sicherlich zu<br />
einer intensiveren Erfahrung beigetragen. Zum Abschluss der szenischen Lesung wurde von den<br />
Schülern die „Todesfuge“ von Paul Celan vorgetragen, und es wurde sehr deutlich, wie die<br />
Schüler sich im Laufe des Vormittags mehr und mehr den Gedichten und Texten angenähert<br />
hatten und sie diese in einer immer ausdrucksvolleren Weise wiedergaben. (Siehe auch den<br />
Artikel aus der HNA-Melsungen vom 21. Mai 2010: „Schüler lasen am Ort des Schreckens“.)<br />
8
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 f der Integrierten Gesamtschule Guxhagen<br />
mit ihrem Klassenlehrer Stefan Roepell sowie der Referendarin Gabriele Berle und<br />
dem Schulleiter, Herrn Thomas Wiegand auf dem Jüdischen Friedhof von Guxhagen.<br />
Die Schülerinnen und Schüler während der Präsentation ihrer Ergebnisse in einem<br />
Ausstellungsraum der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>. (Fotos: G. Richter)<br />
9
Im Januar 2010 beging die Geschwister-Scholl-Schule in Melsungen ihr 50jähriges Bestehen. Elf<br />
Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Schule nahmen dies zum Anlass, mit ihrer<br />
Deutschlehrerin Angelika Kleim und ihrem Kunstlehrer Ansgar Lammert einen Kurzfilm über<br />
die Geschwister Scholl zu drehen. Der 12-minütige Film umfasst vier Spielfilmszenen, in denen<br />
u.a. die Planung für deren Flugblattaktion gezeigt wird. Für den Film nahmen die Schüler auch<br />
Kontakt zu Gunnar Richter auf und filmten ein Interview mit ihm in der <strong>Gedenkstätte</strong>. Der kurze,<br />
aber sehr eindrucksvolle Film erhielt zur großen Freude des Filmteams eine Auszeichnung der<br />
Nürnberger Medienakademie. (Siehe auch den Bericht in der HNA-Melsungen vom 6. Mai<br />
2010: „Lob für Scholl-Schüler. Nürnberger Medienakademie zeichnet Oberstufengymnasium für<br />
Kurzfilm aus“.)<br />
Im November wurden im Rahmen eines Projektes mit Auszubildenden des VW-Werkes auf dem<br />
Dachboden der <strong>Gedenkstätte</strong> (dem historischen Dachboden der ehemaligen Zehntscheune des<br />
Klosters <strong>Breitenau</strong>) die Elektroinstallationen der Lampen erneuert, um den Dachboden wieder<br />
für Sonderausstellungen nutzen zu können. Vor etwa 1 ½ Jahren war von einem<br />
Feuerschutzbeauftragten bemängelt worden, dass die Strahler mit den Kabelverbindungen direkt<br />
auf den Holzbalken befestigt waren und dass aus Feuerschutzgründen zwischen die Strahler und<br />
die Balken jeweils eine nicht leitende Platte geschraubt werden müsse. Bei den zahlreichen<br />
Strahlern zeichnete sich eine aufwändige und kostspielige Angelegenheit ab. Mit Unterstützung<br />
von Dr. Michael Lacher (ehem. Leiter der VW-Coaching und seit März letzten Jahres<br />
Vorstandsmitglied in unserem Förderverein) war es jedoch möglich, eine Gruppe von<br />
Auszubildenden mit derem Ausbilder, Herrn Klaus Göbel, zu finden, die diese Arbeiten<br />
durchführten und sich gleichzeitig in der <strong>Gedenkstätte</strong>, über drei Tage hinweg, mit der<br />
Geschichte <strong>Breitenau</strong>s während der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzten. Ende Mai<br />
dieses Jahres werden wir auf dem Dachboden eine Ausstellung über „Jugendliche im Widerstand<br />
gegen den Nationalsozialismus“ zeigen, und wir möchten an dieser Stelle noch einmal allen<br />
Beteiligten ganz herzlich für ihre Unterstützung danken, durch die die Präsentation der<br />
Ausstellung nun ermöglicht wird. (Siehe hierzu auch den Beitrag in der HNA-Baunatal vom 19.<br />
November 2010: „Arbeit mit Beklemmung. Auszubildende von VW machten einen Raum in<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> brandsicher“.)<br />
Auch im vergangenen Jahr besuchten mehrere Referendargruppen des Studienseminars Kassel<br />
mit ihren Ausbildern die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, um sich über die Möglichkeiten der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> als außerschulischem Lernort zu informieren und dadurch Besuche mit ihren<br />
Schulklassen möglichst gezielt in ihren Unterricht einbeziehen zu können. Insgesamt kamen vier<br />
Referendargruppen vom Studienseminar Kassel und eine Referendargruppe vom Studienseminar<br />
Fritzlar, und sie kamen aus verschiedenen Schulformen und Schulstufen. Von den<br />
Fachrichtungen gesehen, kamen die meisten aus den Fächern Geschichte sowie Politik und<br />
Wirtschaft (PoWi). Und wie im vergangenen Jahr besuchte auch diesmal eine Referendargruppe<br />
in Begleitung von Hans-Peter Klein die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, um sich hier auf eine<br />
Studienfahrt in die <strong>Gedenkstätte</strong> Auschwitz vorzubereiten.<br />
Darüber hinaus besuchten im vergangenen Jahr auch wieder Studentinnen und Studenten im<br />
Rahmen ihres Studiums die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, um sich mit unterschiedlichen Aspekten der<br />
Geschichte <strong>Breitenau</strong>s und mit Fragen der <strong>Gedenkstätte</strong>npädagogik auseinander zu setzen. Unter<br />
ihnen befanden sich im Mai und Juni zwei Studentengruppen, die sich schwerpunktmäßig mit<br />
der Geschichte des Arbeitshauses beschäftigten. Die erste Gruppe kam von der Universität<br />
Kassel in Begleitung von Prof. Dr. Wolfgang Ayaß, und die zweite kam von der Universität<br />
Göttingen in Begleitung von Sascha Schießl, der dort Geschichte studiert und in der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> vor etwa zwei Jahren ein Praktikum absolviert hat.<br />
10
Die Schülerinnen und Schüler der Radko-Stöckl-Schule Melsungen und ihrem<br />
Lehrer Christoph Wandel sowie den Referendarinnen und deren Ausbilder in<br />
einem Ausstellungsraum der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>. (Foto: G. Richter)<br />
(HNA-Melsungen vom 21. Mai 2010)<br />
11
Eine weitere Gruppe von etwa 30 Studenten der Universität Kassel, die die <strong>Gedenkstätte</strong> im Juni<br />
besuchte, beschäftigte sich in einem Seminar von Prof. Dr. Edith Glaser mit „Pädagogik im<br />
Nationalsozialismus“. Ganz gezielt mit Fragen nach <strong>Gedenkstätte</strong>n als außerschulischen<br />
Lernorten setzten sich die Studenten im Seminar von Dr. Oliver Plessow auseinander, die<br />
ebenfalls im Juni die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> besuchten. Und im Juli erhielten wir Besuch von<br />
einer Gruppe von etwa 30 ausländischen Studenten der Internationalen Sommeruniversität<br />
Kassel, die sich am Beispiel der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> ganz besonders für Fragen des<br />
bundesdeutschen Umgangs mit der NS-Zeit interessierten.<br />
Veranstaltungen, Vorträge und Seminare<br />
Am 26. Januar wurde an der Geschwister-Scholl-Schule in Melsungen das 50jährige Jubiläum<br />
begangen. Anlässlich des Jubiläums wurde in der Schule eine Ausstellung über „Die weiße<br />
Rose“ gezeigt, zu deren Eröffnung Gunnar Richter den Einführungsvortrag hielt. In dem Vortrag<br />
ging er zunächst auf die Widerstandsaktionen der Geschwister Scholl ein und ging dann der<br />
Frage nach, ob es auch in Melsungen und Umgebung Formen des Widerstandes gab, und wie<br />
sich der Nationalsozialismus in dieser Region auswirkte. An der Feierstunde nahmen etwa 120<br />
Gäste teil. (Zu der Jubiläumsfeier siehe auch die Beiträge aus der HNA-Melsungen vom 28.<br />
Januar 2010 „Lernen mit zwei Helden. Jubiläum: Vor 50 Jahren war die Geschwister-Scholl-<br />
Schule zu ihrem Namen gekommen“.)<br />
Am 2. Februar fand in der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> in Zusammenarbeit mit dem Volksbund<br />
deutsche Kriegsgräberfürsorge (VdK) ein Fortbildungsseminar für Lehrkräfte statt, an dem 8<br />
Lehrerinnen und Lehrer aus Nord- und Mittelhessen teilnahmen. Das Seminar wurde von Gunnar<br />
Richter und Judith Zimmermann (VdK) geleitet, und im Zentrum standen die pädagogischen<br />
Möglichkeiten und Angebote der <strong>Gedenkstätte</strong> als außerschulischem Lernort. Dabei wurde auch<br />
den vielfältigen regionalen Bezügen und Einzelschicksalen von Verfolgten nachgegangen. In<br />
einem gesonderten Teil erläuterte Judith Zimmermann den TeilnehmerInnen die pädagogischen<br />
Angebote des Volksbundes für Jugendliche und Schüler in Form von Workcamps,<br />
Jugendbegegnungen und Schulprojekten.<br />
Im vergangenen Jahr begann an der Volkshochschule Kassel die Veranstaltungsreihe „Wir<br />
mussten ja alle mitmachen …“, bei der die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, neben verschiedenen anderen<br />
Kooperationspartnern, Mitveranstalter war. In dem Flyer zu der Reihe schrieb Thomas Ewald<br />
von der vhs-Kassel, dass viele Jahre die Meinung vorherrschte, die Menschen im Dritten Reich<br />
seien einem dauerhaften Zwang ausgesetzt gewesen. Man habe in die Partei eintreten „müssen“,<br />
man habe überall mitmachen „müssen“, und schließlich hätten auch die Beteiligten am<br />
Völkermord ihre Taten unter Zwang begehen „müssen“. Ansonsten hätten sie mit strengsten<br />
Strafen zu rechnen gehabt. Hieran sind in den letzten Jahren in der Wissenschaft begründete<br />
Zweifel aufgekommen. Die Mörder waren häufig Freiwillige, und auch der Eintritt in die<br />
NSDAP geschah keineswegs immer unter Zwang. Ziel der Veranstaltungsreihe ist, sich mit<br />
diesen Fragen zu beschäftigen und die neuesten Forschungsergebnisse zu präsentieren.<br />
Im ersten Halbjahr 2010 fanden fünf Veranstaltungen in dieser Reihe statt. In der ersten<br />
Veranstaltung, die den <strong>Titel</strong> „Zwang und Freiwilligkeit im Nationalsozialismus“ trug und am 25.<br />
Februar stattfand, ging Prof. Dr. Jens Flemming der Frage nach, wie hoch der Grad der<br />
Freiwilligkeit im Nationalsozialismus war und wozu tatsächlich Zwang benötigt wurde. Er ging<br />
dabei auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ein und betrachtete auch den Werdegang von<br />
Einzelpersonen. (An der Veranstaltung nahmen etwa 80 Personen teil.)<br />
12
(HNA-Baunatal vom 19. November 2010)<br />
13
In der zweiten Veranstaltung mit dem <strong>Titel</strong> „Hitlers Künstler“ ging Prof. Dr. Wolfgang Benz der<br />
oft gestellten Behauptung nach, dass mit dem Machtantritt Hitlers Kunst und Kultur in<br />
Deutschland bedeutungslos geworden seien. Begründet wurde diese Behauptung oft damit, dass<br />
viele Schriftsteller, Schauspieler und Künstler nach der Machtübernahme verfolgt und vertrieben<br />
worden seien. Aber sind denn tatsächlich alle verfolgt worden, und wie viele sind in Deutschland<br />
geblieben, um mitzumachen? Prof. Benz ging auch der Frage nach, ob man damals wirklich<br />
einen bedeutenden Unterhaltungskünstler dazu zwingen musste, vor der SS-Wachmannschaft im<br />
KZ Dachau aufzutreten. (An der Veranstaltung nahmen etwa 70 Personen teil.)<br />
Bei der dritten Veranstaltung in der Reihe wurde der Film „Mephisto“ mit Klaus Maria<br />
Brandauer von Istvan Szabo aus dem Jahre 1981 gezeigt und von Prof. Dr. Lothar Döhn<br />
eingeleitet und kommentiert. Der Film basiert auf dem von Klaus Mann im Jahre 1936<br />
veröffentlichten Buch „Mephisto – Roman einer Karriere“ und handelt von dem Schauspieler<br />
Gustaf Gründgens, der kurzzeitig mit Klaus Manns Schwester Erika verheiratet war und später<br />
unter den Nazis eine beispiellose Karriere machte. (An der Veranstaltung nahmen etwa 70<br />
Personen teil.)<br />
In der vierten Veranstaltung mit dem <strong>Titel</strong> „Gustaf Gründgens – eine Karriere unter Hitler“<br />
erläuterte Prof. Dr. Lothar Döhn in seinem Vortrag den Werdegang von Gustaf Gründgens<br />
(1899-1963), der zu den bedeutendsten Schauspielern und Regisseuren seiner Zeit zählte.<br />
Insbesondere ging er der Frage nach, weshalb Gründgens – der wahrscheinlich nicht zu den<br />
überzeugten Nationalsozialisten zu zählen ist – nach 1933 in Deutschland blieb, und wie es ihm<br />
gelang, eine beispiellose Karriere zu machen. (An der Veranstaltung nahmen etwa 60 Personen<br />
teil.)<br />
In dem letzten Vortrag der Reihe im ersten Halbjahr mit dem <strong>Titel</strong> „Die Chefs der Kasseler<br />
Gestapo“ ging Gunnar Richter den Biographien der Leiter der Gestapostelle Kassel nach. Er<br />
befasste sich mit der Frage, ob es sich bei ihnen um Angehörige der damaligen Bildungselite<br />
oder um, wie lange behauptet wurde, „verkrachte Existenzen und primitive Gestapo-Schläger“<br />
handelte. Gunnar Richter zeigte dabei auf, dass es sich, ähnlich wie bei den Organisatoren und<br />
Vollstreckern des Holocaust im Reichssicherheitshauptamt, um junge Männer mit<br />
überdurchschnittlicher hoher Bildung (Abiturienten, Akademiker und Doktoren) handelte, die<br />
die Ziele der nationalsozialistischen Herrschaft aus innerer Überzeugung verwirklichen wollten.<br />
(An der Veranstaltung nahmen etwa 100 Personen teil.)<br />
Am 9. Juni wiederholte Gunnar Richter den Vortrag auf Einladung der Deutsch-Israelischen<br />
Gesellschaft bei deren Shalom-Treff im Kasseler Kolpinghaus vor etwa 35 Besuchern.<br />
Im zweiten Halbjahr wurden in der Reihe „Wir mussten ja alle mitmachen …“ die<br />
Wissenschaftler, die Architekten und das Staatstheater Kassel im Nationalsozialismus in den<br />
Blick genommen.<br />
Die Reihe begann am 7. Oktober mit einem Vortrag von Prof. Dr. Jens Flemming über „Das<br />
kommunikative Beschweigen – Wissenschaft und Nationalsozialismus“. Der Philosoph Hermann<br />
Lübbe prägte den Begriff des „kommunikativen Beschweigens“ für den Umgang der Deutschen<br />
mit der NS-Vergangenheit in den fünfziger Jahren. Nach Lübbe sei man sich durchaus bewusste<br />
gewesen, dass der Nationalsozialismus ein verbrecherisches System war, über das man aber<br />
nicht sprechen sollte, denn dies sei die einzige Möglichkeit gewesen, ehemalige<br />
Nationalsozialisten in die Demokratie zu integrieren. Prof. Dr. Flemming ging in seinem Vortrag<br />
dieser These nach und machte am Bespiel der Wissenschaften und etlicher ihrer Vertreter<br />
deutlich, dass auch dort die Bereitschaft mitzumachen wesentlich größer ausgeprägt war, als<br />
nach 1945 zugegeben wurde. (An der Veranstaltung nahmen etwa 100 Personen teil.)<br />
14
(Heimat-Nachrichten, Melsungen vom 3. Februar 2010)<br />
15
In dem anschließenden Vortrag am 28. Oktober über „Hitlers Architekten“ beschäftigte sich der<br />
Kunsthistoriker und Politologe Konrad Andreas Nachtwey mit der Frage, warum eine ganze<br />
Reihe namhafter Architekten – neben Albert Speer als dem führenden Vertreter seines<br />
Berufsstandes und engem vertrauten Hitlers – dem Nationalsozialismus dienten. Die<br />
Nationalsozialisten hatten im „Reichsbaumeister“ Hitler die treibende Kraft für die bereits 1933<br />
einsetzende Bautätigkeit, und die „Bewegung“ wollte auch in den Stadtbildern architektonisch<br />
präsent sein. Nachtwey ging in seinem Vortrag der Frage nach, aus welchen vielfältigen Gründen<br />
die Architekten mitmachten und das System in dieser Form unterstützen. (An der Veranstaltung<br />
nahmen etwa 90 Personen teil.)<br />
In dem dritten Vortrag des zweiten Teils der Reihe, der am 4. November stattfand, sprach Prof.<br />
Dr. Lothar Döhn über das Staatstheater Kassel im Nationalsozialismus und ging dabei vor allem<br />
der Frage nach, was sich am Kasseler Staatstheater mit der Machtergreifung Hitlers veränderte.<br />
Dabei fragte er nach dem Einfluss Roland Freislers, nach den Verantwortlichen am Theater und<br />
ihrem Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus, nach den Spielplänen und dem Schicksal<br />
der Regimegegner und Juden, die bis dahin beim Theater beschäftigt waren. Allgemein wird<br />
behauptet, dass sich das Kulturleben nach der Machtergreifung überall im Lande grundlegend<br />
verändert habe, und Prof. Dr. Döhn gab am Bespiel des Kasseler Staatstheaters zum Teil sehr<br />
überraschende Antworten. (An der Veranstaltung nahmen etwa 70 Personen teil.)<br />
Am Karfreitag, dem 2. April, wurde in der ehem. Klosterkirche in Guxhagen in einer<br />
gemeinsamen Gedenkveranstaltung von ev. Kirchengemeinde, politischer Gemeinde und der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> der 65. Jahrestag des Kriegsendes begangen und – neben den Millionen von Opfern<br />
– der 28 Gefangenen gedacht, die im Morgengrauen des Karfreitages 1945 am Fuldaberg<br />
erschossen worden waren. Von den etwa 140 Besuchern des Gottesdienstes nahmen<br />
anschließend etwa 50 an einem Gedenkgang zum Fuldaberg teil, wo Bürgermeister Edgar<br />
Slawik, Staatssekretär Mark Weinmeister, Gemeindevertretungsmitglied Rolf-Peter Ligniez und<br />
Gunnar Richter am Gedenkstein für die Ermordeten Ansprachen hielten. Gunnar Richter ging<br />
dabei ausführlicher auf den damaligen Massenmord und das Kriegsende sowie auf Fragen des<br />
Umgangs mit dieser Vergangenheit ein. (Siehe hierzu auch den Artikel in der HNA-Melsungen<br />
vom 6. April 2010: „Lernen aus der Geschichte. 28 Gefangene wurden vor 65 Jahren am<br />
Fuldaberg von der Gestapo umgebracht“.)<br />
Am 15. April war erneut Blanka Pudler aus Budapest in der <strong>Gedenkstätte</strong> zu Gast, die in der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> (wie in den Jahren zuvor) bei zwei sehr beeindruckenden Veranstaltungen von<br />
ihrem Verfolgungsweg während der Zeit des Nationalsozialismus berichtete. Gemeinsam mit<br />
ihrer Schwester war sie als junge ungarische Jüdin über das Konzentrations- und<br />
Vernichtungslager Auschwitz zur Zwangsarbeit in die Munitionsfabrik bei Hessisch Lichtenau<br />
gekommen und wurde während der Evakuierung der Gefangenen im April 1945 im Raum<br />
Leipzig befreit. Vormittags sprach sie in der <strong>Gedenkstätte</strong> vor Schülerinnen und Schülern der<br />
Gesamtschule Melsungen und abends vor 90 weiteren interessierten Besuchern aus der Region.<br />
(Zu ihrem Verfolgungsweg siehe auch den ausführlichen Bericht von Herrn Fischer in unserem<br />
vorletzten Rundbrief: Karl Fischer: Persönlicher Bericht über den Abend mit der Auschwitz-<br />
Zeitzeugin Blanka Pudler in der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> am 26. Januar 2009, in: Rundbrief des<br />
Fördervereins der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, Nr. 28, Kassel im März 2009, S. 41-46.)<br />
In der Zeit vom 25. April bis zum 16. Mai 2010 wurde im Evangelischen Forum bei der<br />
Lutherkirche in Kassel die eindrucksvolle Wanderausstellung „Lichter in der Finsternis: Raoul<br />
Wallenberg und die Rettung der Budapester Juden 1944/45“ gezeigt, bei deren Präsentation die<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> Mitveranstalter war. Zur Eröffnung der Ausstellung, an der etwa 70<br />
Personen teilnahmen, hielt Christoph Gann einen Vortrag über Raoul Wallenberg und seine<br />
16
(HNA-Melsungen, 6. April 2010)<br />
17
Rettungsaktionen. Christoph Gann ist Richter am Landgericht Meiningen und hat die<br />
Ausstellung 1994 erarbeitet. 1999 erschien von ihm außerdem im C.H. Beck Verlag München<br />
eine Raoul-Wallenberg-Biographie unter dem <strong>Titel</strong>: „Raoul Wallenberg: So viele Menschen<br />
retten wie möglich“, die 2002 auch als Taschenbuchausgabe bei dtv veröffentlich wurde.<br />
Am 4. Mai bot Gunnar Richter in Kassel in Zusammenarbeit mit der Katholischen<br />
Hochschulgemeinde einen Rundgang zu Denkmälern für die NS-Opfer an, an dem 15 Personen<br />
teilnahmen. Der Rundgang gibt am Beispiel von sieben Mahnmalen einen chronologischen<br />
Überblick über Denkmäler für NS-Opfer in Kassel vom Beginn der 50er Jahre bis in die<br />
Gegenwart. Dabei wird deutlich, dass Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus in<br />
vielfältiger Weise Aspekte der Erinnerungskultur und Fragen des Umgangs mit der NS-<br />
Vergangenheit widerspiegeln. Sie sind nicht nur künstlerische Zeugnisse zur Erinnerung an die<br />
Verfolgten, sondern auch in hohem Maße Ausdruck der Zeit, in der sie gesetzt wurden. Auf dem<br />
Rundgang, der vor der Murhardschen und Landesbibliothek beginnt und am „Aschrottbrunnen“<br />
vor dem Kasseler Rathaus endet, werden die genannten Aspekte sehr anschaulich erfahrbar.<br />
Am Samstag, dem 8. Mai, fand vor der ehemaligen Synagoge in Guxhagen eine weitere, kleinere<br />
Gedenkveranstaltung zum 65. Jahrestages des Kriegsendes statt, zu der die Gemeinde Guxhagen,<br />
die Evangelische Kirchengemeinde und die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> eingeladen hatten.<br />
Außerdem sollte bei dieser Veranstaltung daran erinnert werden, dass 25 Jahre zuvor, am 8. Mai<br />
1985, im Rahmen einer großen Gedenkveranstaltung an der Synagoge eine Gedenktafel zur<br />
Erinnerung an die verfolgten und ermordeten jüdischen Einwohner Guxhagens eingeweiht<br />
worden war. In den Ansprachen von Bürgermeister Edgar Slawik, dem Vorsitzenden der<br />
Gemeindevertretung Gerhard Kakalick, Pfarrerin Ulrike Grimmel-Kühl und Gunnar Richter<br />
wurden neben historischen Aspekten auch nachdenkliche Bezüge zur Gegenwart hergestellt. Im<br />
Anschluss daran gingen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, wo<br />
die Veranstaltung an der Gedenktafel für die Opfer und Verfolgten des frühen<br />
Konzentrationslagers 1933/34 und des späteren Arbeitserziehungslagers 1940/45 beendet wurde.<br />
Am 12. Juni fand eine Exkursion in die <strong>Gedenkstätte</strong> Mittelbau-Dora bei Nordhausen statt, die<br />
von der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> in Zusammenarbeit mit der vhs-Kassel durchgeführt wurde und<br />
an der 44 Personen teilnahmen. Auf dem Weg zur <strong>Gedenkstätte</strong> erläuterten Thomas Ewald und<br />
Gunnar Richter verschiedene Aspekte der Entstehung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora<br />
und der regionalen Bezüge zu Kassel und Nordhessen. So wurde z.B. die V1 („Vergeltungswaffe<br />
1“) bei der Firma Fieseler in Kassel entwickelt und trug auch die Bezeichnung „Fieseler F 103“.<br />
In der vor ein paar Jahren neu gestalteten <strong>Gedenkstätte</strong> erhielten die TeilnehmerInnen in zwei<br />
Gruppen eindrucksvolle Führungen zur Geschichte des Lagers und zum Umgang mit dem<br />
damaligen Geschehen in der ehemaligen DDR und in den zurückliegenden Jahren nach der<br />
Wiedervereinigung. (Zu der Exkursion siehe auch den ausführlichen Beitrag von Herrn Karl<br />
Fischer in diesem Rundbrief.)<br />
Am 17. Juni hielt Gunnar Richter auf Einladung einer Arbeitsgruppe zur Zwangsarbeit während<br />
des Zweiten Weltkrieges in der Domäne Frankenhausen bei Grebenstein und von Studenten der<br />
Agrarwissenschaften an der Universität in Witzenhausen einen Vortrag über ausländische<br />
Gefangene im Arbeitserziehungslager <strong>Breitenau</strong>, die vor ihrer Verhaftung in der Landwirtschaft<br />
arbeiten mussten. Dabei zeigte er auch regionale Bezüge zu Witzenhausen und der dortigen<br />
Umgebung auf. Außerdem ging er in dem Vortrag, an dem etwa 20 Personen teilnahmen, auf<br />
Fragen des Umgangs mit diesem Geschehen bis in die Gegenwart ein, zu denen auch die späten<br />
Entschädigungszahlungen gehörten.<br />
18
Die Ausstellungseröffnung „Lichter in der Finsternis: Raoul Wallenberg und die<br />
Rettung der Budapester Juden 1944/45“ am 25. April 2010 im Ev. Forum<br />
in Kassel (Foto. G. Richter)<br />
Während des Rundganges mit Gunnar Richter zu „Denkmälern für die NS-Opfer<br />
in Kassel von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart“ im „Ehrenmal in der Aue“<br />
vor der Skulptur des toten Soldaten. (Foto: Rose Ostermann)<br />
19
Am 19. Juni fand im Verlag Winfried Jenior in Kassel die Buchvorstellung der Dissertation von<br />
Gunnar Richter mit dem <strong>Titel</strong> „Das Arbeitserziehungslager <strong>Breitenau</strong> (1940-1945). Ein Beitrag<br />
zum nationalsozialistischen Lagersystem. Straflager, Haftstätte und KZ-Durchgangslager der<br />
Gestapostelle Kassel für Gefangene aus Hessen und Thüringen“ statt. Nach der Begrüßung von<br />
Winfried Jenior und einer Einführung von Prof. Dr. Dietfrid Krause-Vilmar gab Gunnar Richter<br />
einen Überblick über das Ende 2009 erschienene Buch, bei dem es sich um eine überarbeitete<br />
Version seiner im Jahre 2004 auf der Internetseite der Universitätsbibliothek Kassel<br />
veröffentlichten Dissertation handelt. Außerdem dankte er noch einmal all denjenigen, die ihn<br />
bei der Verwirklichung des Buches unterstützten. An der Buchpräsentation nahmen etwa 40<br />
Besucher teil.<br />
Am 12. September beteiligte sich die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> wieder am Denkmalstag. An den<br />
Führungen, die am Vormittag und am Nachmittag angeboten wurden und einen Gesamtüberblick<br />
über die Geschichte <strong>Breitenau</strong>s boten – vom Kloster über die NS-Zeit bis zur Gegenwart –<br />
nahmen insgesamt etwa 50 Besucher teil.<br />
Am 7. November fand zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938 in der Turnhalle der<br />
Valentin-Traudt-Schule in Kassel ein moderiertes Klezmer-Konzert statt, bei dem die<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> neben der Christlich-Jüdischen Gesellschaft, den beiden christlichen<br />
Kirchen sowie zahlreichen anderen Veranstaltern und Kooperationspartnern Mitveranstalter war.<br />
Das Konzert sollte ein Geschenk der Veranstalter an die Jüdische Gemeinde Kassel zum<br />
Gedenken an den 7. November 1938 sein. Die Schirmherrschaft für die Konzertveranstaltung<br />
hatte der Kasseler Oberbürgermeister Bertram Hilgen übernommen, und auch der Kasseler<br />
Regierungspräsident, Dr. Walter Lübcke, hielt eine Begrüßungsansprache. Das eindrucksvolle<br />
Konzert wurde von dem Klezmer-Projekt-Orchester Göttingen und dessen Gründer und<br />
musikalischem Leiter, Wieland Ulrich, sowie dem Gastdirigenten, Francois Lilienfeld,<br />
vorgetragen. Zu der Veranstaltung wurde vom pan-Verlag Kassel ein Programmheft<br />
herausgegeben und in einer größeren Auflage verteilt, das u.a. eine Einführung in die Geschichte<br />
der Klezmer-Musik enthielt und einen längeren Beitrag von Gunnar Richter über die Ereignisse<br />
während der Novemberpogrome 1938 in Kassel und Nordhessen. Das Konzert hatte eine<br />
überwältigend große Resonanz, und es nahmen etwa 600 Besucher daran teil. (Der Beitrag von<br />
Gunnar Richter „Zu den Pogromen vom 7. bis zum 9.11.1938 in Kassel und Nordhessen ist auch<br />
auf unserer Homepage www.gedenkstaette-breitenau.de veröffentlicht.)<br />
Am 9. November fand in der ehemaligen Synagoge in Guxhagen eine Gedenkfeier statt, in der<br />
an die Ereignisse der Reichspogromnacht vor 72 Jahren erinnert wurde. Zu der Feierstunde, an<br />
der etwa 60 Personen teilnahmen, hatten die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, die Gemeinde Guxhagen<br />
und die Ev. Kirchengemeinde eingeladen. Nach einer Begrüßung durch Herrn Bürgermeister<br />
Edgar Slawik und den Vorsitzenden der Gemeindevertretung, Herrn Gerhard Kakalick, gab<br />
Gunnar Richter anhand von zahlreichen Fotos einen Rückblick auf die Einweihung der<br />
Gedenktafel an der ehemaligen Synagoge vor 25 Jahren, am 8. Mai 1985. Außerdem zeigte<br />
Gunnar Richter in seinem Vortrag auf, wie sich die Erinnerung und das Gedenken an die<br />
Verfolgung und Ermordung der ehemaligen jüdischen Bevölkerung Guxhagens seit dieser<br />
entwickelt und verändert hat. Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung trug Pfarrerin Ulrike<br />
Grimmel-Kühl einen besinnlichen Text vor. Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkstunde mit<br />
jiddischen Liedern von Renate und Roland Häusler, die auch anlässlich der Einweihung der<br />
Gedenktafel im Jahre 1985 musiziert hatten.<br />
Am 11. November fand im Saal der vhs-Kassel eine weitere Gedenkveranstaltung zu den<br />
Novemberpogromen 1938 statt, bei der wir ebenfalls Mitveranstalter waren und an der etwa 65<br />
Personen teilnahmen. Die Veranstaltung trug den <strong>Titel</strong> „Lebenswege jüdischer Kinder aus der<br />
20
(Guxhagener Heimatnachrichten vom 28. Oktober 2010)<br />
(HNA-Melsungen vom 6. Mai 2010)<br />
21
Region“. Nach einer Einführung von Ernst Klein und Thomas Ewald lasen Gudrun Sander und<br />
Peter Anger Texte über das Schicksal von jüdischen Kindern aus der nordhessischen Region, um<br />
an die Verfolgten und Ermordeten zu erinnern.<br />
Am 11. November zeigte Gunnar Richter in Göttingen auf Einladung der dortigen<br />
Geschichtswerkstatt den Einführungsfilm der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> und erläuterte in der<br />
anschließenden Diskussion sowohl verschiedene Aspekte der Geschichte während der NS-Zeit<br />
als auch Fragen zur Entstehung und zur Entwicklung der heutigen <strong>Gedenkstätte</strong>. An der<br />
Veranstaltung nahmen etwa 20 Personen teil.<br />
Am 14. November wurde im Rahmen des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes im<br />
Kasseler Filmladen ein Dokumentarfilm von Ilona Ziok über das Leben und Wirken des<br />
ehemaligen hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer gezeigt, bei dessen Präsentation wir als<br />
Kooperationspartner mitwirkten. In dem Film mit dem <strong>Titel</strong> „Fritz Bauer – Tod auf Raten“<br />
montiert die Regisseurin Archivmaterial, Aussagen von Bauers Freunden, Verwandten und<br />
Mitstreitern mosaikartig zu einem eindrucksvollen Portrait eines der bedeutendsten Juristen des<br />
20. Jahrhunderts, der u.a. den Frankfurter Auschwitz-Prozess maßgeblich initiierte und eine<br />
zentrale Rolle bei der Ergreifung Adolf Eichmanns spielte. An der eindrucksvollen<br />
Filmvorführung nahmen etwa 90 Besucher teil.<br />
Vom 15. bis zum 17. November fand in Berlin ein Fachseminar zu Arbeitserziehungslagern statt,<br />
das gemeinsam von der Stiftung Topographie des Terrors, der <strong>Gedenkstätte</strong> Augustaschacht e.V.<br />
und der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> veranstaltet und von Thomas Lutz, Michael Gander und Gunnar<br />
Richter geleitet wurde. Das Seminar, an dem 32 <strong>Gedenkstätte</strong>nmitarbeiter und Personen aus der<br />
historischen Bildung und Wissenschaft teilnahmen, trug den <strong>Titel</strong> „Die polizeiliche<br />
Überwachung und Verfolgung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern – das Beispiel des<br />
AEL Ohrbeck“. Im Verlauf des Seminars wurde vielfältigen Aspekten des Systems der<br />
Arbeitserziehungslager und seiner Auswirkung auf die Zwangsarbeit nachgegangen. Dabei ging<br />
es u.a. um die Stellung der Lager im NS-Haftsystem, die Häftlingsgruppen, die Haftgründe, den<br />
Lageralltag und das Strafsystem. Außerdem wurden im Rahmen des Seminars die neue<br />
Ausstellung der Stiftung Topographie des Terrors, die Wanderausstellung im Jüdischen Museum<br />
über „Die Deutschen, die Zwangsarbeit und der Krieg“ und das Dokumentationszentrum NS-<br />
Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide besucht. Zusätzlich gab es eine öffentliche<br />
Vortragsveranstaltung über „Zwangsarbeit von Niederländern im Dritten Reich und das<br />
Arbeitserziehungslager Ohrbeck“, an der etwa 60 Personen teilnahmen.<br />
Am 23. November war Gunnar Richter von der Christlich-Jüdischen Gesellschaft zu deren „Jour<br />
fixe“ in das Alfred-Delp-Haus der Katholischen Kirchengemeinde St. Familia in Kassel<br />
eingeladen, bei dem er den Einführungsfilm der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> präsentierte und in der<br />
anschließenden Diskussion, die von Frau Dr. Eva Schulz-Jander geleitet wurde, vor allem auf<br />
Fragen der <strong>Gedenkstätte</strong>narbeit und des heutigen Umgangs mit der NS-Vergangenheit einging.<br />
Austausch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anderer <strong>Gedenkstätte</strong>n und<br />
Einrichtungen<br />
Im Jahr 2008 wurde auf Initiative des Kreisausschusses des Schwalm-Eder-Kreises das Projekt<br />
„Gewalt geht nicht!“ ins Leben gerufen, in dessen Projektausschuss neben zahlreichen<br />
Institutionen und Verbänden, Schulen und Jugendeinrichtungen, Kirchen und<br />
Religionsgemeinschaften sowie Justiz und Polizei auch die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> vertreten ist.<br />
Auslöser für das Projekt, mit dem der Kreisausschuss ein deutliches Zeichen für Toleranz und<br />
22
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachseminars zu<br />
Arbeitserziehungslagern in der „Topographie des Terrors“.<br />
Beim Rundgang auf dem Gelände des „Dokumentationszentrums<br />
NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide“ mit Dr. Christine Glauning.<br />
(Fotos: G. Richter)<br />
23
ein friedliches Miteinander setzen will, war ein rechtsextrem motivierter Überall auf ein<br />
Jugendcamp am 20. Juli 2008 (!), bei dem ein 13-jähriges Mädchen lebensgefährlich verletzt<br />
wurde. Das Projekt soll über mehrere Jahre arbeiten und sich mit seinen <strong>Inhalt</strong>en nicht nur auf<br />
aktuelle Kriseninterventionen beschränken, sondern auch präventive Konzepte entwickeln. Das<br />
Projekt ist direkt beim Landrat Frank-Martin Neupärtl angebunden, der gemeinsam mit der<br />
Fachbereichsleiterin für Jugend und Familie, Karin Wagner, und dem Projektleiter, Stephan<br />
Bürger, die Lenkungsgruppe bildet. Im vergangenen Jahr nahm Gunnar Richter an drei<br />
Projektsitzungen bzw. -Konferenzen (am 6.3., 30.9. und 6.11.) teil, in denen es u.a. darum ging,<br />
Angebote und Konzepte kennen zu lernen und zu entwickeln und diese auch für einen Antrag auf<br />
Förderung im Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ zu bündeln.<br />
Erfreulicherweise wurde dieser Antrag vom Bundesministerium für Familie, Frauen und Jugend<br />
genehmigt und das Projekt „Gewalt geht nicht!“ in die Förderung bis Ende 2013 aufgenommen.<br />
(Näheres zu dem Projekt siehe auch in der Homepage www.gewalt-geht-nicht.de)<br />
Am 22. April fand in Volkmarsen auf Einladung der Hessischen Landeszentrale für politische<br />
Bildung das fünfundzwanzigste Treffen hessischer <strong>Gedenkstätte</strong>n und Erinnerungsinitiativen zur<br />
NS-Zeit statt, an dem Annika Hanke und Gunnar Richter als Vertreter der <strong>Gedenkstätte</strong><br />
<strong>Breitenau</strong> teilnahmen. Nach einem gemeinsamen Austausch über Veranstaltungen und Projekte<br />
in den einzelnen Initiativen und Einrichtungen erläuterte und präsentierte Ernst Klein, der<br />
Vorsitzende des „Arbeitskreises Rückblende – Gegen das Vergessen e.V.“, den Teilnehmenden<br />
die eindrucksvolle neue Ausstellung „Deutsch-Jüdisches Leben in unserer Region im Laufe der<br />
Jahrhunderte“, die kurz vorher in der „Villa Dr. Bock“ eingeweiht worden war. Nach dem<br />
gemeinsamen Mittagessen machte Ernst Klein mit der Gruppe einen sehr interessanten<br />
Stadtrundgang auf den Spuren der jüdischen Geschichte. Im Anschluss an das Treffen fand eine<br />
Sitzung der Landesarbeitsgemeinschaft hessischer <strong>Gedenkstätte</strong>n und <strong>Gedenkstätte</strong>ninitiativen<br />
(LAG) statt, auf der weitere Fragen der <strong>Gedenkstätte</strong>narbeit besprochen wurden.<br />
Vom 23. bis zum 25. April fand in der Evangelischen Akademie Hofgeismar eine Tagung statt,<br />
die sich mit dem „Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer<br />
Herkunft während der NS-Zeit und nach 1945“ befasste und an der Gunnar Richter als Vertreter<br />
der <strong>Gedenkstätte</strong> teilnahm. Die Nationalsozialisten bezeichneten diese Menschen, entsprechend<br />
der NS-Rassenideologie als „nichtarische Christen“, und obwohl sie den christlichen Kirchen<br />
angehörten, wurden viele von ihnen als Juden verfolgt und ermordet. Sowohl in den<br />
evangelischen Kirchen als auch in der katholischen Kirche hat man sich mit deren Schicksal<br />
bislang praktisch nicht beschäftigt, und entsprechend lautete die erste Zeile des Seminartitels<br />
„Getauft, ausgestoßen und vergessen?“ Auch in <strong>Breitenau</strong> waren mehrere Menschen als<br />
„nichtarische Christen“ inhaftiert und wurden von dort in Konzentrationslager deportiert. Einer<br />
von ihnen war der Diakon Richard Altschul, der der Brüderschaft in Hephata angehörte und dem<br />
der Brüderrat und der Vorsteher des Hessischen Brüderhauses D. Friedrich Happich 1939 „den<br />
unabweisbaren Rat ... zum sofortigen Austritt“ gaben. Enttäuscht und verbittert sandte Richard<br />
Altschul seine Diakonennadel zurück. Einige Zeit später wurde er verhaftet, von <strong>Breitenau</strong> nach<br />
Auschwitz deportiert und dort ermordet. Vor etwa drei Jahren begannen die Evangelische Kirche<br />
in Hessen-Nassau und in Kurhessen-Waldeck das Schicksal dieser Menschen zu erforschen, und<br />
auf der Tagung wurden die bedrückenden Zwischenergebnisse vorgestellt.<br />
Am 12. Mai fand im Bürgerhaus Volkmarsen eine Feierstunde anlässlich des 15jährigen<br />
Bestehens des Vereins „Rückblende – Gegen das Vergessen“ und der 10jährigen<br />
Zusammenarbeit mit „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ statt. An der Feierstunde, zu der<br />
der nordhessische Regionalsprecher Ernst Klein eingeladen hatte und zu der Bundesvorsitzende<br />
Joachim Gauck eine eindrucksvolle Festansprache hielt, nahm Gunnar Richter als Vertreter der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> teil und übermittelte Herrn Klein die Glückwünsche unseres Vorstandes<br />
und der MitarbeiterInnen der <strong>Gedenkstätte</strong>.<br />
24
In der neuen Ausstellung des „Arbeitskreises Rückblende – Gegen<br />
das Vergessen e.V.“ in Volkmarsen zum „Deutsch-Jüdischen Leben<br />
in unserer Region im Laufe der Jahrhunderte“.<br />
Beim Stadtrundgang mit Ernst Klein am 22. April 2010 auf den Spuren<br />
der jüdischen Geschichte in Volkmarsen. (Fotos: G. Richter)<br />
25
Am 17. Mai und am 2. November nahm Gunnar Richter in Berlin am Treffen der<br />
Arbeitsgemeinschaft <strong>Gedenkstätte</strong>npädagogik teil, dem er seit mehreren Jahren als Vertreter der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> angehört. Auf dem Treffen wurde noch einmal rückblickend über das<br />
<strong>Gedenkstätte</strong>nseminar in Bergen-Belsen vom September 2009 gesprochen, und es wurden erste<br />
gemeinsame Überlegungen über das nächste bundesweite <strong>Gedenkstätte</strong>nseminar zu<br />
pädagogischen Fragen getroffen, das voraussichtlich im Juni 2012 in Berlin stattfinden wird.<br />
In der Zeit vom 27. bis zum 29. Mai fand in Trier und in der <strong>Gedenkstätte</strong> Hinzert ein<br />
bundesweites <strong>Gedenkstätte</strong>nseminar statt, an dem Gunnar Richter als Vertreter der <strong>Gedenkstätte</strong><br />
<strong>Breitenau</strong> teilnahm. Die Geschichte des SS-Sonderlagers Hinzert hat nicht nur Ähnlichkeiten mit<br />
der Geschichte des Arbeitserziehungslagers <strong>Breitenau</strong>, sondern es wurden dorthin auch einige<br />
polnische Gefangene aus <strong>Breitenau</strong> deportiert, die aufgrund von Liebesbeziehungen mit<br />
deutschen Frauen verhaftet worden waren und auf ihre „Eindeutschungsfähigkeit“ überprüft<br />
werden sollten. Nachdem es am ersten Seminartag mehrere Einführungsvorträge über die<br />
Geschichte von Polizei- und Gestapo-Haftlagern gab, fand am nächsten Tag eine Exkursion in<br />
die <strong>Gedenkstätte</strong> Hinzert im Hunsrück statt. Vor etwa fünf Jahren wurde am Rande des<br />
ehemaligen Lagers neben dem Gedenkfriedhof und einer Gedenkkapelle ein modernes<br />
Ausstellungsgebäude mit Dauerausstellung, Arbeitsraum und Büroräumen errichtet. Nach einem<br />
Überblick über die Geschichte anhand der Dauerausstellung fand ein Rundgang auf dem<br />
Gedenkfriedhof statt, und am Nachmittag wurden im Rahmen einer Busrundfahrt verschiedene<br />
Gedenkorte aufgesucht, an denen Morde an Gefangenen verübt worden waren. Am letzten<br />
Seminartag fand eine Exkursion zu Gedenkorten in Luxemburg statt.<br />
Am 16. Juli besuchte eine Gruppe der Geschichtswerkstatt Göttingen die <strong>Gedenkstätte</strong><br />
<strong>Breitenau</strong>. Der Kontakt war schon vor mehreren Jahren über Günther Siedbürger (aus der<br />
Geschichtswerkstatt) entstanden, der über das Schicksal von ausländischen Zwangsarbeiterinnen<br />
und Zwangsarbeitern im Kreis Göttingen geforscht und darüber 2005 ein umfangreiches Buch<br />
mit dem <strong>Titel</strong> „Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen 1939-1945“ veröffentlicht hat<br />
(herausgegeben vom Landkreis Göttingen, Duderstadt 2005). Ende 2009 präsentierte die<br />
Geschichtswerkstatt in Göttingen in Zusammenarbeit mit zahleichen anderen<br />
Forschungseinrichtungen eine große Wanderausstellung mit dem <strong>Titel</strong> „Auf der Spur<br />
europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“, in der auch einzelne Bezüge zum<br />
ehemaligen Arbeitserziehungslager <strong>Breitenau</strong> enthalten sind. Dies gab den Anstoß für den<br />
Besuch in der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>.<br />
Am 16. September fand im Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Stadtallendorf auf<br />
Einladung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung das sechsundzwanzigste Treffen<br />
hessischer <strong>Gedenkstätte</strong>n und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit statt, an dem Annika Hanke,<br />
Anne Roßius und Gunnar Richter als Vertreter der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> teilnahmen. Nach<br />
einem gemeinsamen Austausch über Veranstaltungen und Projekte in den einzelnen Initiativen<br />
und Einrichtungen gab der Leiter des DIZ, Fritz Brinkmann-Frisch, einen Überblick über die<br />
Geschichte Allendorfs in der NS-Zeit mit der Entwicklung der Sprengstoffwerke und führte die<br />
TeilnehmerInnen anschließend durch die Ausstellung der <strong>Gedenkstätte</strong>. Nach dem gemeinsamen<br />
Mittagessen fand eine Busrundfahrt zu den historischen Orten in Stadtallendorf statt, wo wir u.a.<br />
die Denkmalsanlage besichtigten, die am Ort des ehemaligen Lagers Münchmühle errichtet<br />
worden ist, wo – ähnlich wie im Lager „Vereinshaus“ in Hessisch Lichtenau - ab dem Sommer<br />
1944 etwa 1000 ungarische Jüdinnen aus Auschwitz inhaftiert waren, die zur Zwangsarbeit in<br />
der Sprengstofffabrik eingesetzt wurden.<br />
Am 2. Oktober fand in Dillenburg der Hessische Museumstag statt, an dem auch<br />
Vorstandswahlen durchgeführt wurden und Gunnar Richter in den erweiterten Vorstand des<br />
26
Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft <strong>Gedenkstätte</strong>npädagogik<br />
bei einer Führung auf dem neugestalteten Gelände der „Topographie<br />
des Terrors“ in Berlin.<br />
Während des bundesweiten <strong>Gedenkstätte</strong>nseminars im Mai 2010 in<br />
dem neuen Ausstellungsgebäude der <strong>Gedenkstätte</strong> Hinzert im Hunsrück.<br />
(Fotos: G. Richter)<br />
27
Hessischen Museumsverbandes gewählt wurde. Er übernimmt damit die Funktion, die zuvor die<br />
ehemalige Leiterin der <strong>Gedenkstätte</strong> und des Museums Trutzhain, Waltraud Burger, innehatte,<br />
die Anfang letzten Jahres die pädagogische Leitung in der <strong>Gedenkstätte</strong> Dachau übertragen<br />
bekam. Die <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> ist schon seit vielen Jahren Mitglied im Hessischen<br />
Museumsverband, und die Vorstandstätigkeit von Gunnar Richter wird sicherlich einen noch<br />
intensiveren Austausch in vielfältigen Fragen der Organisation, Präsentation und Vermittlung<br />
ermöglichen.<br />
Am 1. Dezember fand schließlich eines der regelmäßigen Treffen mit den MitarbeiterInnen der<br />
drei <strong>Gedenkstätte</strong>n Hadamar und Trutzhain sowie des Dokumentations- und<br />
Informationszentrums (DIZ) Stadtallendorf statt, um sich über Projekte und<br />
Veranstaltungsplanungen auszutauschen. An dem Treffen nahmen Annika Hanke, Anne Roßius<br />
und Gunnar Richter als Vertreter der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> teil. Treffpunkt war diesmal die<br />
„<strong>Gedenkstätte</strong> und Museum Trutzhain“, wo uns Karin Brandes als neue Leiterin empfing und<br />
uns die neuesten Entwicklungen in der <strong>Gedenkstätte</strong> erläuterte. Außerdem zeigte sie uns eine<br />
interessante Wanderausstellung über DP-Lager, die vorübergehend im Rathaus von Ziegenhain<br />
präsentiert wurde.<br />
Archivbenutzer und Archivanfragen<br />
Im vergangenen Jahr erreichten uns über 30 Archivanfragen, bei denen z.T. aufwendige<br />
Recherchen und Antworten von unserer Seite nötig waren. Hier soll ein kurzer Überblick<br />
gegeben werden. Die Anfragen kamen aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Israel<br />
und Polen und betrafen Unterlagen und nähere Informationen zu:<br />
28<br />
- Gefangenen, die von <strong>Breitenau</strong> in das SS-Sonderlager Hinzert deportiert wurden,<br />
- Gefangenen aus dem Raum Hessisch Lichtenau,<br />
- Martin Greiling, der sowohl im frühen KZ als auch im AEL <strong>Breitenau</strong> inhaftiert war,<br />
- inhaftierten Frauen aus dem Raum Hanau und Umgebung<br />
- ZwangsarbeiterInnen aus dem Raum Hofgeismar und Umgebung,<br />
- Gefangenen aus dem Raum Hersfeld und Umgebung,<br />
- Robert Weinstein aus Felsberg, der während der Novemberpogrome starb,<br />
- Gestapo-Angehörigen und Aufsehern,<br />
- Haftgründen von Gefangenen,<br />
- muslimischen Häftlingen,<br />
- Trümmerfrauen beim Wiederaufbau Deutschlands am Beispiel Kassels,<br />
- Gefangenen, die vor ihrer Verhaftung bei der Firma Henschel Kassel arbeiteten,<br />
- Paula Baer aus Schwetzingen und ihre Deportation mit dem Deportationszug „Kassel-<br />
Halle“ am 1.6.1942 in das Vernichtungslager Sobibor,<br />
- mehreren Niederländischen Zwangsarbeitern in Kassel und Deutschland,<br />
- dem Namen und weiteren Schicksal einer denunzierten Frau,<br />
- dem Schicksal eines jüdischen Verstorbenen in einem DP-Lager in Kassel,<br />
- dem Großvater einer Frau, der während der NS-Zeit eine Zeit lang in Guxhagen gemeldet<br />
war,<br />
- dem Schicksal einer Frau, die in <strong>Breitenau</strong> inhaftiert gewesen sei, weil sie sich abfällig<br />
über Stalingrad geäußert habe,<br />
- dem Schicksal einer jüdischen Arbeitshausgefangenen aus <strong>Breitenau</strong>, die im KZ<br />
Ravensbrück inhaftiert und in der „Euthanasie-Anstalt“ Bernburg ermordet wurde,<br />
- Juden und Jüdinnen aus Obermöllrich,
Fritz Brinkmann-Frisch erläutert den Teilnehmerinnen und Teilnehmern<br />
des Treffens hessischer <strong>Gedenkstätte</strong>n und <strong>Gedenkstätte</strong>ninitiativen<br />
die <strong>Gedenkstätte</strong> „Münchmühle“ am Rande von Stadtallendorf.<br />
Karin Brandes erläutert auf dem Treffen am 1. Dezember 2010 in der<br />
„<strong>Gedenkstätte</strong> und Museum Trutzhain“ das Modell des ehemaligen<br />
Kriegsgefangenenlagers. (Fotos: G. Richter)<br />
29
30<br />
- Angehörigen der Familie von Jenny Katz aus Guxhagen,<br />
- bedeutenden NS-Persönlichkeiten aus Kassel und deren Werdegang in der<br />
Nachkriegszeit,<br />
- George Munier, der als französischer Geistlicher im AEL <strong>Breitenau</strong> inhaftiert war und<br />
- Mieczyslaw Kolczynski, der 1942 in der Nähe von Herzhausen bei Vöhl gemeinsam mit<br />
5 anderen polnischen Häftlingen von der Gestapo ermordet wurde.<br />
Außerdem wurden wir von drei unterschiedlichen Einrichtungen angefragt, die Luftaufnahme<br />
der Landesarbeitsanstalt <strong>Breitenau</strong> von 1936 zur Verfügung zu stellen, die wir ihnen dann als<br />
gescannte Fotos zuschickten. Der Stiftung der <strong>Gedenkstätte</strong>n Buchenwald und Mittelbau Dora<br />
überließen wir auf Anfrage kurzfristig einige Werksausweise, von denen Nachahmungen<br />
hergestellt wurden, die jetzt in einer großen Wanderausstellung über Zwangsarbeit im Jüdischen<br />
Museum Berlin zu sehen sind und mit dieser Ausstellung auch in anderen Ländern gezeigt<br />
werden. Auf Anfrage der Hochschule der Polizei in Berlin wählten wir einige Dokumente aus,<br />
die im April dieses Jahres (mit Genehmigung des LWV-Archivs) im Rahmen einer großen<br />
Ausstellung über die „Polizei im NS-Staat“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin<br />
präsentiert werden.<br />
Veröffentlichungshinweise 2010:<br />
Jochen Ebert, Jetta Haak, Frank Kessel: Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf der<br />
Domäne Frankenhausen (1939-1945), in: Kreisausschuss des Landkreises Kassel (Hrsg.):<br />
Jahrbuch 2011, Kassel 2010, S. 48-58.<br />
Dietfrid Krause-Vilmar: Adam Selbert – neue Dokumente zu seiner politischen Verfolgung, in:<br />
Heimatverein Kassel-Niederzwehren e.V. (Hrsg.): Heimatbrief, Nr. 3, Kassel-Niederzwehren,<br />
54. Jahrgang 2010, S. 45-51.<br />
Dietfrid Krause-Vilmar: Über die politische Tätigkeit des Eschweger Bürgermeisters Dr.<br />
Alexander Beuermann in den Jahren 1934-1945, in: Sonderdruck aus den Eschweger<br />
Geschichtsblättern, 21. Jahrgang 2010, S. 3-32.<br />
Gunnar Richter: Zu den Pogromen vom 7. bis zum 9.11.1938 in Kassel und Nordhessen, in:<br />
Programmheft „Spiel Klezmer, spiel …“ zur Gedenkveranstaltung zum 7. November 1938 am<br />
Sonntag, dem 7. November 2010 in der Valentin-Traudt-Schule/Kassel, herausgegeben von der<br />
Christlich-Jüdischen Gesellschaft u.a., pan-Verlag GmbH Basel/Kassel, Kassel 2010, S. 14-23.<br />
Günter Sagan: Pfarrer Konrad Trageser. Sein Leben und Leiden, herausgegeben von der<br />
Katholischen Kirchengemeinde St. Aegidius, Petersberg-Marbach, Petersberg b. Fulda 2010.
(HNA-Kassel und Nordhessen vom 27. Januar 2010)<br />
31
32<br />
Neue Dokumente zur politischen Verfolgung von Adam Selbert 1<br />
von Dietfrid Krause-Vilmar<br />
In Niederzwehren gibt es nahe beim Grunnelbach im Winkel zwischen Frankfurter und<br />
Dennhäuser Straße eine Adam Selbert gewidmete kleine Straße. Von ihm ist allgemein weniger<br />
bekannt als von seiner berühmten Frau Dr. Elisabeth Selbert (nach der in Kassel eine Promenade<br />
an der Fulda benannt ist), einer der ersten in Deutschland zugelassenen Rechtsanwältinnen und<br />
Notarinnen. Sie war Abgeordnete des Hessischen Landtags, Mitglied des Parlamentarischen<br />
Rates, bei deren Beratungen des Grundgesetzes sie im Artikel 3 den Satz „Männer und Frauen<br />
sind gleichberechtigt“ durchsetzen konnte.<br />
Wer aber war ihr Mann? Adam Selbert wurde am 16. Mai 1893 in Gemünden (Wohra) geboren<br />
und zog mit den Eltern nach Hechtsheim bei Mainz, wo er auch seine Schulzeit verbrachte. Mit<br />
14 Jahren kam er zu einer Schwester seiner Mutter nach Niederzwehren, um in Kassel eine<br />
Buchdruckerlehre erfolgreich zu absolvieren. Als Schriftsetzer fand er eine Anstellung beim<br />
Mainzer Anzeiger; später arbeitete er als politischer Redakteur für eine Wormser Zeitung. 1913<br />
wurde er Mitglied der SPD und jüngster Abgeordneter im Kommunal- und Provinziallandtag für<br />
Hessen-Nassau. Im Weltkrieg war er Soldat, in der Novemberrevolution Mitglied, später<br />
Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats in Niederzwehren. Im Oktober 1920 heirateten<br />
Elisabeth Rohde und Adam Selbert in Niederzwehren. Während der Weimarer Republik war er<br />
kontinuierlich kommunalpolitisch in Niederzwehren aktiv: Ab 1922 als Sekretär, später als<br />
Obersekretär für soziale Fragen in der Gemeinde. Er wurde Beigeordneter, stellvertretender<br />
Bürgermeister und Mitglied des Kreisausschusses des Landkreises Kassel.<br />
Das Jahr 1933 bedeutete für die Selberts politisch und persönlich einen tiefen Einschnitt. Die<br />
Sozialdemokratische Partei wurde verboten. Es folgte die Entfernung Adam Selberts aus dem<br />
Amt, erzwungene Arbeitslosigkeit und vier Wochen im KZ <strong>Breitenau</strong>. Nach 1945 stellte er sich<br />
für den Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung zur Verfügung und wurde zu einem<br />
allgemein anerkannten und mit dem Bundesverdienstkreuz 1.Klasse ausgezeichneten hessischen<br />
Kommunalpolitiker. Beim Landeswohlfahrtsverband Hessen wurde er zum Landesrat berufen; er<br />
war Personaldezernent und zeitweise Stellvertreter des Landeshauptmanns. Einen Tag nach<br />
Vollendung des 72. Lebensjahrs verschied er nach längerer Krankheit.<br />
Über die Entfernung Adam Selberts aus dem Amt wusste man bislang nur wenig. In der<br />
Öffentlichkeit war (sofern überhaupt erwähnt) nur in allgemeiner Weise von „Pensionierung,<br />
politischer Verfolgung und Inhaftierung“ die Rede.<br />
Im Nachlass von Elisabeth Selbert, der dem Kasseler Archiv der deutschen Frauenbewegung<br />
übergeben wurde, finden sich nun Briefe und Zeugnisse, die die Vorgänge seiner Amtsenthebung<br />
im einzelnen beleuchten, vor allem jedoch dokumentieren, wie klar und entschlossen er<br />
selbst sich gegen dieses Unrecht zu Wehr setzte. Darüber möchten wir im Folgenden berichten.<br />
Adam Selbert hat das Schicksal zahlreicher sozialdemokratischer Bürgermeister und<br />
kommunaler Verwaltungsbeamter nach dem Machtantritt Hitlers erfahren müssen. In konzertierten<br />
Aktionen des neu ernannten Landrats Fritz Lengemann, einem alten Nationalsozialisten<br />
und Weggefährten des Gauleiters Karl Weinrich und des Regierungspräsidenten Konrad von<br />
Monbart (NSDAP) mit örtlichen SA- und NSDAP-Aktivisten, die sozialdemokratische<br />
Kommunalpolitiker als „rote Funktionäre“ oder als „Bonzen“ diffamierten, wurden sie in<br />
rücksichtsloser Weise aus ihren Amtsstuben vertrieben. Im Landkreis Kassel traf es unter<br />
anderen die Bürgermeister Wilhelm Lukan aus Harleshausen, Wilhelm Pfannkuch aus Heiligen<br />
1 Durchgesehene Fassung eines zuerst im Heimatbrief des Heimatvereins Dorothea Viehmann. Kassel-<br />
Niederzwehren e. V. [54 (2010), Nr. 3 (September 2010), S. 45-53] veröffentlichten Beitrags.
Straßenschild der Adam-Selbert-Straße in Kassel-Niederzwehren.<br />
(Foto: D. Krause-Vilmar)<br />
Das Ehepaar Adam und Elisabeth Selbert zu ihrer Hochzeit 1920.<br />
(Archiv der deutschen Frauenbewegung)<br />
33
ode, Carl Kraft aus Nieste und Georg Brandt aus Helsa-Wickenrode. Auch diese kamen für<br />
einige Wochen bzw. Monate in das Konzentrationslager <strong>Breitenau</strong>, wo sie dem Terror der SA-<br />
Wachmannschaften schutzlos ausgeliefert waren.<br />
Allem Anschein nach im April 1933 (möglicherweise bereits im März; das Datum ließ sich nicht<br />
genau ermitteln) erschienen der Ortsgruppenleiter der NSDAP, sein späterer Nachfolger und ein<br />
SA-Sturmführer - alle drei aus Niederzwehren - beim Bürgermeister von Niederzwehren, Georg<br />
Fladung, und verlangten den „Abbau“, mit anderen Worten die sofortige Entlassung einiger<br />
Gemeindebeamter, darunter auch diejenige Adam Selberts. Ein Polizist durchsuchte zur selben<br />
Zeit sein Büro. Bürgermeister Fladung scheint diesem rechtswidrigen politischen Druck von<br />
Privatleuten nationalsozialistischer Couleur nachgegeben zu haben. Denn die Entfernung aus<br />
dem Dienst erfolgte „zur selben Stunde unter Anwendung von Polizeigewalt“. 2<br />
Selbert selbst hat den Vorgang später als „glatten Hinauswurf“ und als „brutale<br />
Rücksichtslosigkeit“ bezeichnet, „um so mehr, als gesetzliche Bestimmungen dafür noch nicht<br />
vorhanden waren.“ 3<br />
Am 24. April 1933 legte er gegen seine Entfernung aus dem Dienst beim Kasseler<br />
Regierungspräsidenten Einspruch ein. Am 25. April 1933 teilte der Bürgermeister ihm „gegen<br />
Zustellung!“ mit, dass der Gemeinderat beschlossen hat, „Ihre Entlassung aus dem hiesigen<br />
Gemeindedienst gemäß § 2 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zu<br />
beantragen.“ 4<br />
Das Berufsbeamtengesetz war von der neuen nationalsozialistischen Regierung am 7.4.1933<br />
erlassen, um Beamte jüdischer Herkunft oder solche, die den die Weimarer Republik tragenden<br />
Parteien wie z. B. der SPD angehörten, entlassen zu können. Der § 2 dieses Machwerks<br />
bestimmte, dass Beamte, „die seit dem 9. November 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten<br />
sind, ohne die für ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Vorbildung oder sonstige Eignung<br />
zu besitzen, aus dem Dienste zu entlassen [sind].“ Der § 4 traf die Beamten, für die die Republik<br />
von Weimar politisch Maßstab blieb; er bestimmte: „Beamte, die nach ihrer bisherigen<br />
politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den<br />
nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden.“<br />
Am 10. Mai wandte Selbert sich erneut an den Regierungspräsidenten und nannte seine<br />
Entlassung „völlig unberechtigt und ungesetzlich“. Es sei klar erkennbar, „dass dem<br />
Abbauantrag der Gemeinde Niederzwehren jegliche gesetzliche Grundlage fehlt und dass weder<br />
der § 2, noch der § 4 des betr. Gesetzes auf mich Anwendung finden kann.“ Er wies darauf hin,<br />
dass er die für seine Laufbahn übliche Vorbildung und Eignung entsprechend der rechtlichen<br />
Lage besaß. Auch der § 4 könne auf seine Person nicht angewandt werden, bemerkte er<br />
vorsorglich. „Nach meiner im Jahre 1930 erfolgten Anstellung als Beamter habe ich, um mein<br />
Amt unparteiisch verwalten zu können, alle parteipolitischen Ämter niedergelegt und mich<br />
lediglich noch in durchaus sachlicher Weise kommunalpolitisch betätigt. […] Entsprechend der<br />
Durchführungsverordnung habe ich als Frontkämpfer meine nationale Pflicht (Inhaber des<br />
Eisernen Kreuzes und Verwundetenabzeichens) erfüllt. Hiernach kann also auch der § 4 des<br />
Gesetzes auf mich nicht angewandt werden.“ 5<br />
In den folgenden Monaten hatte sich Selbert mehrfach mit Behauptungen und Vorwürfen<br />
auseinanderzusetzen, die allem Anschein nach von Seiten des Gemeindevorstands dem<br />
Regierungspräsidenten zugetragen wurden, ohne dass ihm als dem Beschuldigten davon<br />
Kenntnis gegeben wurde. Am 20.Juni 1933 wandte er sich daher erneut an den<br />
2<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 15 M06. Hess. Staatsministerium,<br />
Spruchkammer Fritzlar-Homberg an Landesrat Selbert vom 22.11.1947.<br />
3<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 15 M06. Landesrat Selbert an die<br />
Spruchkammer Fritzlar vom 1.12.1947.<br />
4<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 13 M 01.<br />
5<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 13 M 01.<br />
34
Regierungspräsidenten und schrieb: „Ich bitte in diesem Zusammenhang, die Gemeinde<br />
dahingehend anzuhalten, dass sie nur solches Tatsachenmaterial bringt, das auch tatsächlich den<br />
Richtlinien des Herrn Ministers […] entspricht, und nicht solches Material verwendet, wie es im<br />
letzten Wahlkampf gegen mich gerichtet wurde, das zum Teil völlig unwahr und zum andern<br />
Teil sich mit übertriebenen, rein persönlichen Dingen befasste. Zum Schluss bitte ich noch<br />
darum, mir das Anklagematerial zugänglich zu machen und mir [nicht klar; vermutlich:] (eine)<br />
Stellungnahme dazu zu gestatten…“ 6<br />
Am 29. Juni 1933 wurde Selbert im Konzentrationslager <strong>Breitenau</strong> eingesperrt, wo er vier<br />
Wochen als Schutzhaftgefangener unter SA-Wachmannschaften arbeiten musste. Elisabeth<br />
Selbert hat über diese Haftzeit später berichtet: „Mein Mann musste Steine klopfen, unten an der<br />
Fulda, mit einem Handwagen und einem anderen Häftling wurde er heruntergeführt und hatte<br />
blutige Hände, als ich ihn besuchte. Sie wurden im Innenhof gejagt, so dass Herzkranke<br />
zusammenbrachen, sie wurden menschenunwürdig behandelt, wenn auch nicht so schlimm, wie<br />
es dann später in Auschwitz gewesen ist. Aber es war schon eine Entwürdigung für meinen<br />
Mann, die dann auch zu seiner Erkrankung geführt hat. Als Folge eines Traumas litt er zeitlebens<br />
an einer schweren Diabetes.“ 7<br />
Das Rechtsverständnis von Adam Selbert hatte immerhin erreicht, dass seine Gegenwehr das<br />
preußische Innenministerium erreichte. Allem Anschein nach sah sich der Regierungspräsident<br />
veranlasst, der Bitte Selberts zu folgen, die Sache in Berlin dem Minister vorzulegen.<br />
Beeindruckend ist die Tatsache, dass sich Selbert in seinen Darlegungen nicht im Entferntesten<br />
zu einer Verbeugung gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern hergab. Weder gab er<br />
zu verstehen, dass er ein folgsamer Diener der neuen Herren sein wolle, noch deutete er in<br />
anderer Hinsicht ein opportunes Einlenken an. Dem unterschwelligen Vorwurf eines<br />
Parteibuchbeamten entgegnete er mit dem Hinweis auf seine im Jahre 1926 abgelegte<br />
Verwaltungsprüfung, dem Niederlegen aller Parteiämter nach seiner Ernennung zum Beamten<br />
im Jahre 1930 und der Bitte, „den langjährigen, hervorragenden Leiter des Landkreises Kassel,<br />
den jetzigen Landeshauptmann von Pappenheim in Kassel, der in der Lage ist, ein wirklich<br />
objektives Urteil über meine persönlichen und dienstlichen Verhältnisse abzugeben, obwohl er<br />
mir als Deutschnationaler stets ferne stand, über mich zu hören.“ 8<br />
Ohne jede nähere Begründung erhielt Selbert am 11. Dezember 1933 ein Schreiben des<br />
Preußischen Innenministers, das vom Staatssekretär Dr. Ludwig Grauert, dem Stellvertreter<br />
Hermann Görings, persönlich unterschrieben war: „Auf Grund des § 4 des Gesetzes zur<br />
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.April 1933 entlasse ich Sie aus dem Dienst der<br />
Gemeinde Niederzwehren.“ 9 Neun Tage später verbot ihm der Kasseler Regierungspräsident<br />
„das Betreten der Dienstgebäude Ihrer Anstellungskörperschaft und der Aufsichtsbehörden<br />
zwecks mündlicher Vorstellung aus Anlass Ihrer Entlassung.“ 10<br />
Nach seiner Entlassung wurde sein Jahresgehalt in eine Pension umgewandelt und zugleich um<br />
71,4% gekürzt, von 4.200 RM auf ca. 1.200 RM.<br />
Die Ehrung Adam Selberts mit einem Straßennamen ging auf die Initiative Zwehrener Bürger im<br />
Jahre 1975 zurück und wurde vom 1. Vorsitzenden des Verwaltungsausschusses Niederzwehren<br />
begründet. Am 18. Juni 1978 wurde das neue Straßenschild in einer Feierstunde von Elisabeth<br />
Selbert persönlich enthüllt. Stadtrat Ludolf Wurbs „lobte Selbert als einen Mann, der sich immer<br />
für die Belange der Kasseler Bevölkerung eingesetzt habe“. 11 Dem wäre noch hinzuzufügen: Die<br />
6<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 13 M 01.<br />
7<br />
Barbara Böttger, Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3.2<br />
Grundgesetz. Münster 1990, S. 141 (Aus Gesprächen mit Elisabeth Selbert Anfang der 80er Jahre).<br />
8<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 13 M 01. – A. Selbert an den Preußischen<br />
Minister des Innern. Kassel, den 24.5.1933.<br />
9<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 13 M 01.<br />
10<br />
Archiv der deutschen Frauenbewegung: NL – P-11.Elisabeth Selbert, 13 M 01.<br />
11<br />
Hessische Allgemeine Nr. 138 vom 19.6.1978. „Einsatz für die Kasseler Bürger“.<br />
35
Stadt Kassel ehrt mit dem Straßennamen zugleich eine Persönlichkeit, die in einer Zeit, in der<br />
viele umfielen, dem demokratischen Rechtsstaat treu geblieben ist. Gerhard Leibholz hat hierzu<br />
folgenden Satz geprägt: „Der Nationalsozialismus war in gewissem Sinne eine Offenbarung; er<br />
zeigte, was an den einzelnen Menschen im Grunde genommen dran war - er offenbarte die<br />
Substanz der Menschen.“<br />
Weiterführende Literaturhinweise<br />
Barbara Böttger, Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der<br />
Frauen um Art. 3.2 Grundgesetz. Münster 1990.<br />
„Ein Glücksfall für die Demokratie“. Elisabeth Selbert (1896-1986). Die große Anwältin der<br />
Gleichberechtigung. Herausgegeben von der Hessischen Landesregierung. Frankfurt a. M. 1999.<br />
Dietfrid Krause-Vilmar, Das Konzentrationslager <strong>Breitenau</strong>. Ein staatliches Schutzhaftlager<br />
1933/34. Marburg 1998.<br />
36
(Söhrewaldbote Nr. 25/2010 vom 25. Juni 2010)<br />
37
38<br />
Exkursion in die <strong>Gedenkstätte</strong> Mittelbau-Dora bei Nordhausen<br />
am Samstag, 12. Juni 2010<br />
von Karl Fischer<br />
Kurz nach 9 Uhr fuhr die Gruppe der überwiegend älteren Teilnehmer, Damen und Herren, mit<br />
einem Bus von der Fa. Peter von der Volkshochschule aus ab. Gesteuert wurde das Fahrzeug von<br />
dem erfahrenen und kompetenten Herrn Weinrich.<br />
Initiiert hatten diese Fahrt Thomas Ewald von der vhs Kassel und Dr. Gunnar Richter von der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>. Unsere Route verlief so: Kassel, A7 über Hann. Münden (Werrabrücke)<br />
nach Friedland und von da auf der neuen Autobahn Göttingen-Leipzig durch das Untere<br />
Eichsfeld nach Nordhausen in den Südharz. Trotz des nicht gerade idealen Reisewetters (es<br />
nieselte ab und zu aus grauem Himmel) war es schön, durch das fruchtbare Eichsfeld mit seinen<br />
sanften Hügeln und Höhen und manchen idyllischen Flussläufen zu gleiten. Im Süden grüßte von<br />
der Werra her der altehrwürdige Hanstein, die Höhenzüge des Ohmgebirges linkerhand und des<br />
Dün und der Hainleite tauchten auf, und da waren wir auch schon am Rande der Goldenen Aue<br />
und im geschäftigen, weit ausgebreiteten Nordhausen, der alten Reichsstadt, angelangt. Sie war<br />
ja noch kurz vor dem Ende des 2. Weltkrieges zu über 80% zerstört worden, diese bedeutende<br />
Industrie- und Handelsstadt und Nachbarin einer der fürchterlichsten Waffenproduktionsstätte in<br />
der Spätphase des 2. Weltkrieges. Während der gut eineinhalbstündigen Fahrt wurden wir von<br />
den beiden Initiatoren der Exkursion, Herrn Ewald und Herrn Dr. Richter, herzlich begrüßt. Es<br />
gab vorab schon wichtige Erläuterungen zum Thema MITTELBAU-DORA: Nach der<br />
vollständigen Zerstörung des Entwicklungs- und Fertigungsstandortes Peenemünde für die „V2“,<br />
genauer, die Rakete A4, die Wernher v. Braun und sein Team entwickelt hatten, durch die<br />
englische Luftwaffe im August 1943 war es geboten, ganz rasch eine bombensichere Fabrik für<br />
die „Vergeltungswaffen“ V2 und V1 aus dem Boden zu stampfen.<br />
(Die V1 war eigentlich die Fi-103, eine unbemannte Flügelbombe.) Das geschah, aber die Fabrik<br />
wurde nicht aus dem Boden, sondern in den Boden quasi gestampft, und zwar in ein weitgehend<br />
schon vorhandenes und dann zwischen 1936 und 1943 mächtig ausgebautes Tunnel- bzw.<br />
Stollensystem, bergmännisch perfekt geplant, im Innern des Kohnsteins im Tal der Wieda<br />
nördlich von Nordhausen, in der Gemarkung des (jetzt eingemeindeten) Dorfes Krimderode.<br />
Was das Stollensystem anlangt, so stelle man sich eine lange, engsprossige Leiter vor, die in<br />
etwas eckiger S-Form, also doppelt gebogen ist. Die beiden Holme (Leiterbäume) sind die<br />
Haupttunnel, die zahlreichen Sprossen Verbindungstunnel oder -stollen mit den<br />
Fertigungsanlagen und Unterkünften der Zahllosen hier schuftenden gefangenen Menschen.<br />
Ursprünglich war das ganze System als Materiallagerstätte konzipiert. Schon 1917 hatte (ich<br />
ergänze jetzt, wie zuvor schon ein wenig) die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF) in einem<br />
von ihr geplanten und gebauten Stollensystem Anhydrit abgebaut, zu Kriegszwecken. Anhydrit<br />
(wasserfreier Gips, CaSO4, Calciumsulfat) wurde für die Kriegsproduktion benötigt. Das<br />
Stollensystem wurde nun nochmals beträchtlich erweitert und bot fragwürdigen Platz für<br />
Tausende von KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die aus Deutschland und<br />
ganz Europa hierher gebracht wurden, um die Kriegswende zugunsten der nach Weltherrschaft<br />
dürstenden verbrecherischen deutschen Regierung, die aber den Großteil der deutschen<br />
Bevölkerung hinter sich hatte, doch noch zu schaffen. Nun waren wir schon eingestimmt auf das<br />
Düstere und Schreckliche, das uns erwartete.<br />
Die Unterharzlandschaft nördlich von Nordhausen ist von bewaldeten Hügeln, Weiden und<br />
Ackerflächen geprägt, eine rechte Erholungslandschaft am Flusslauf der Wieda, die nahe der<br />
Stadt in die Zorge mündet. Wir gelangten zu einem Parkplatz am Abhang des bewaldeten<br />
Kohnsteins, einer Anhöhe. Von da wanderten wir eine Strecke südwestlich auf eine sanfte<br />
Wiesenhöhe zu, wo der schmucklose, geräumige Museumsneubau (2005 eingeweiht) steht. Es ist
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Exkursion in die <strong>Gedenkstätte</strong><br />
Mittelbau-Dora bei den Erläuterungen an einer Informationstafel vor dem<br />
ehemaligen Lagergelände.<br />
Vor dem ehemaligen Krematorium des Lagers und einem<br />
Denkmal mit einer Skulpturengruppe. (Fotos: G. Richter)<br />
39
ein quaderförmiges, nicht sehr hohes Gebilde, das mit großen hellgrauen rechteckigen Platten<br />
verkleidet ist, etwa 30x10x8m messend. Es wirkt in der Wiesenlandschaft nicht hässlich, sondern<br />
seltsam bemerkenswert durch seine mäßige Höhe, eingebunden und doch auffallend: HIER IST<br />
ETWAS WESENTLICHES. Der gerade Weg hinauf, leicht ansteigend etwa 80 m lang, gerade,<br />
führt direkt zur großzügig bemessenen Eingangstür. Direkt davor ist eine geräumige Terrasse,<br />
mit Tisch und einigen Bänken, von wo man in aller Ruhe in die weite, schöne Landschaft des<br />
Südharzes und hinüber zum Kohnstein blicken kann, aber in die andere Richtung zur in der<br />
Ferne gelegenen Stadt. Mir ist diese Beschreibung wichtig, weil ich den Museumsbau für<br />
gelungen halte und dem menschlich-gesellschaftlichen Begehren nach Aufklärung und<br />
Durchschauen des Entsetzlichen, was auch hier vor Ort geschehen ist, adäquat.<br />
Der Bau hat in der Mitte der Frontseite ein großes, rechteckig geformtes Fenster, das stimmig in<br />
die Fläche gefügt ist. Weitere Fenster befinden sich an den Seiten und der Rückwand. Auch die<br />
schon erwähnte großzügig bemessene Eingangspforte ist zugleich ein großer, fensterartiger<br />
Lichteinlass. Das weitläufige Gelände um das Gebäude herum ist eine blumenbestandene<br />
schlichte Wiese. Der Bau dominiert nicht die Landschaft, macht aber unübersehbar und nicht<br />
ohne einladende Geste auf sich aufmerksam.<br />
Nach der Begrüßung im Foyer, wo auch die Informationen und der Broschüren-, Bücher-, Ton-<br />
und Bildträgerverkauf angesiedelt sind, bildete unsere Bus-Crew zwei Gruppen, die sich einer<br />
Dame und einem Herren, beide Anfang dreißig, anvertrauten. Meine Gruppe hatte Herrn Steiner<br />
zum Führer, von dem ich lobend im Vorhinein sagen möchte, dass er ein in der Sache sehr<br />
kompetenter und rhetorisch begabter Leiter im Labyrinth war. Zuerst referierte er vor dem kurz<br />
vor Kriegsende aufgenommen Luftbild der Außenanlage der Fabrik, das im Museumsbau, stark<br />
vergrößert (schwarz-weiß), an einer Wand angebracht ist: Eine gewaltige Anlage mit zahlreichen<br />
Gebäuden, Plätzen, technischen Einrichtungen etc., auch einer unübersehbaren Kläranlage. Hier<br />
erläuterte Herr Steiner ausführlich Entstehung und Funktion der V-Waffenfabrik im Berg. Wir<br />
begaben uns dann auf den unterhalb und nördlich des Museums gelegenen Appellplatz, eine sehr<br />
große Fläche, die z. T. mit recht grobem, kreisförmig geharktem grauem Schotter bedeckt ist.<br />
Dieser sehr große Platz war zu DDR-Zeiten zu einer unter freiem Himmel gelegenen<br />
Gedächtnisstätte gestaltet worden - mit einer Tribüne, einem mächtigen Turmkandelaber mit<br />
(ehemals) ewiger Flamme, drei großen Fahnenmasten und einer großzügig bemessenen<br />
künstlerischen Darstellung (auf einem flachen, langgezogenen Bronzerelief) der Leiden, des<br />
Sterbens, aber auch der Befreiung der geknechteten Menschen in dieser Höllenfabrik, alles<br />
symbolisch verkürzt und überhöht. Eindrucksvoll. Wir erfahren, dass das Schlimmste für die<br />
gefangenen Menschen die Morgen- und Abendappelle waren, bei denen immer eine peinlich<br />
genaue Anwesenheitskontrolle stattfand, wobei die Menschen oft bis zu drei Stunden stehen<br />
mussten, wenn z. B. ein Häftling geflohen war. Erst wenn er wieder eingefangen war, wurden<br />
dann die Appelle beendet. Auch die während der Arbeit verstorbenen oder ermordeten<br />
Gefangenen mussten mit auf den Appellplatz getragen werden. Die schon durch den<br />
Morgenappell geschwächten Menschen wurden dann in die Stollen mit ihren unbeschreiblich<br />
schlimmen Arbeitsbedingungen getrieben. Oberhalb des Appellplatzes besichtigten wir die<br />
Grundmauern des Gefängnisses, eines Baues von ca. 15 m Länge und 8 m Breite. Man konnte<br />
am erhaltenen Ziegelsteinmauerwerk noch die einzeln abgeteilten kleinen Zellen erahnen, in<br />
denen nach Erläuterung von Herrn Steiner oft mehr als zwölf Gefangene vegetieren mussten.<br />
Nun wanderten wir zu dem (neu erbauten) Stollen bzw. Tunnel, der den Zugang in das<br />
eigentliche Stollensystem im Inneren des Kohnsteins ermöglicht und uns mit merklicher Kühle<br />
und sparsamer Beleuchtung empfing. Nach etwa einhundertfünzig Metern waren wir dann in den<br />
eigentlichen Fertigungsbereichen angelangt und erlebten beim Durchschreiten nun ein Labyrinth<br />
Dantescher oder besser kretisch- minoischer Art. Ich musste spontan an Dantes Höllenschlund<br />
denken, der hier allerdings in der Horizontale seine infernalischen <strong>Inhalt</strong>e teilweise preisgab.<br />
Von Labyrinth spreche ich deshalb, weil der uneingeweihte und nicht genügend in formierte<br />
Besucher nicht ohne weiteres gleich die höllische Logik der Gesamtform dieser durch<br />
Aufopferung Tausender von Menschen hocheffizienten Fabrik durchschauen kann. Es fröstelte<br />
40
einen nicht nur äußerlich, man war zutiefst schockiert beim Nacherleben des Funktionierens<br />
dieser gigantischen Untertagefabrik für Todeswaffen: Die Endmontage der A4 (=V2) fand hier<br />
statt, aber auch die Flügelbombe KV1 (in dem Werk von Gerhard Fieseler durch Ing. Robert<br />
Lusser entwickelt) wurde hier endmontiert. Man hoffte, wie schon erwähnt, in den Chefetagen<br />
der staatlichen Verbrecherbande, mit diesen Waffen doch noch die Wende des Krieges<br />
erzwingen zu können. (Es gibt Vermutungen und Hinweise, die noch nicht widerlegt werden<br />
konnten, dass die von Wernher von Braun entwickelte A4 im Prinzip zu einer<br />
Interkontinentalrakete weiterentwicklungsfähig war, die die USA erreichen konnte.)<br />
Wir kehrten nun, etwas angeschlagen, in den Museumsbau zurück. Immerhin konnten wir in<br />
einem der Stollen wild herumliegende Teile der V1 und das Antriebsstück (Treibstoffpumpen)<br />
der V2 besichtigen. Im Haus ist eine m. E. sehr gute ständige Ausstellung zu sehen, die z. B.<br />
Täter und Opfer (exemplarisch ausgewählte Personen beider Gruppen) einander gegenüberstellt.<br />
Man bekommt eine Ahnung von der berserkerhaften Seelenhaltung, die die „Generation des<br />
Unbedingten“ (M. Wildt), woher auch immer sie sich speiste, angetrieben hat zu<br />
unaussprechlichen Greueltaten zum Wohle des eigenen Volkes, das die Welt zu beherrschen<br />
ausersehen sei.<br />
Am Ende unseres Besuchs in der <strong>Gedenkstätte</strong> sahen wir im Seminar- und Filmvorführungsraum<br />
einen amerikanischen Dokumentarfilm vom April 1945 (besser: dokumentarisch gedrehte<br />
Filmszenen), als die US-Amerikaner Thüringen besetzten. (Nach Abmachung der Siegermächte<br />
wurde Thüringen im Juli 1945 den Sowjetrussen als Besatzungsgebiet übergeben). Das<br />
Filmdokument besteht aus zwei Teilen: Einmal werden Szenen gezeigt, wenn amerikanische<br />
Soldaten hier, bei Nordhausen, in Mittelbau-Dora, überlebende Häftlinge retten und versorgen,<br />
mit ihnen sprechen, sie zu trösten versuchen. Man ist unmittelbar, gespenstisch fast, in die<br />
damalige Zeit zurückversetzt. Man erlebt fast körperlich den schneidenden Gegensatz zwischen<br />
den gut aussehenden, tüchtig und kameradschaftlich wirkenden, wohlgenährten und fast fesch<br />
mit den modernen Uniformen bekleideten und quasi salopp behelmten GIs und den<br />
ausgemergelten, oft nur noch schier aus Gerippe bestehenden weinenden oder stumm vor sich<br />
hinstarrenden Häftlingen, die jetzt gerettet werden. Der örtliche Hintergrund: Zerstörte Gebäude,<br />
ausgebrannte, zerfetzte Fahrzeuge, daliegende tote Menschen, amerikanische Panzer, auf denen<br />
oft mehrere Soldaten sitzen oder stehen, die schnellen „Jeeps“, diese Wunderautos der<br />
amerikanischen Truppen, die wir als Kinder schon bestaunt haben, mit denen die GIs sehr<br />
geschickt umgehen und die ein Gerät für verschiedenste Aufgaben sind, äußerst robust,<br />
pflegeleicht, reparaturfreundlich, mit starken, aber relativ leisen Motoren. Oft sind sie mit<br />
Funkantennen versehen. Man sieht viele tote Menschen, Opfer der infernalischen Diktatur.<br />
Dazwischen amerikanische Wochenschauberichte, die über die Einnahme Nordhausens und des<br />
Fabrik-KZ informieren und der Weltöffentlichkeit einen beträchtlichen Teil des Grauens, mit<br />
dem die Befreier konfrontiert waren, beschreiben. Für mich persönlich waren diese<br />
Filmdokumente (auch) ein Blick in die eigene Jugend, als wir den Einmarsch der US-Truppen in<br />
unser Odenwalddorf erlebten und staunend unsere bisher uns eingehämmerten Vorurteile<br />
gegenüber den „dekadenten, verweichlichten Amis“ abzulegen genötigt waren. Wahrhaftig, es<br />
war eine Befreiung von einem von den Deutschen, den Gründlichen, geschaffenen System, das<br />
alle, aber auch alle Wertmaßstäbe der Menschlichkeit, der Solidarität, der Gerechtigkeit, auf<br />
denen doch das Gemeinwesen aufgebaut sein muss, beseitigt hatte zugunsten einer irrsinnigen<br />
Staats- und Nationalideologie, der die deutsche Elite zu weit über 90% und damit der Großteil<br />
der Bevölkerung erlegen waren.<br />
Die Rückkehr durch die Auen, Täler und über die Höhen des Unteren Eichsfeldes und dann an<br />
der Emme vorbei über Werra und Kaufunger Wald war wieder eine Überraschung für den<br />
Landschaftsbetrachter. Es gab aber auch viele Gespräche und neue menschliche Kontakte, die<br />
hoffentlich bei einer der nächsten Exkursionen vertieft werden können.<br />
41
Mir persönlich stellte sich die Frage, wie unsere Gesellschaft jetzt und in Zukunft mit immer<br />
wieder (und verstärkt) aufkommenden „braunen“ Tendenzen umgeht. Man liest z. B. in einer<br />
seriösen Tageszeitung, dass der Kreisverband der Jungen Union in Göppingen (Baden-<br />
Württemberg) vor Wochen ein „Strategiepapier“ vorgelegt hat, in dem u. a. in einer „Erklärung“<br />
gewarnt wird vor Überfremdung, in dem die gleichgeschlechtliche Ehe als „unsinnig“ bezeichnet<br />
wird und der Ausbau von Krippenplätzen sich das Attribut „marxistisch“ gefallen lassen muss.<br />
Außerdem liest man, dass die Autoren sich eine „Abkehr von der Selbstgeißelung mit den<br />
Verbrechen des Dritten Reiches“ wünschen. Der baden-württembergische Ministerpräsident<br />
Mappus sah keinen Grund, sich von diesen Aussagen zu distanzieren. (Wir erinnern uns daran,<br />
dass sein CDU-Kollege und Vorgänger im Amt, Oettinger, Hans Filbinger (auch der war<br />
Ministerpräsident von Baden-Württemberg)), den „furchtbaren Juristen“ (Rolf Hochhuth), als<br />
Widerstandskämpfer im „Dritten Reich“ bezeichnet hat. Es muss aber nicht unbedingt nach<br />
Süden geschaut werden, um solche gefährlichen Tendenzen in unserer bundesrepublikanischen<br />
Gesellschaft aufzuzeigen und öffentlich zu machen. Auch hier in Nordhessen erfährt man von<br />
großen Problemen in Feuerwehrkreisen, wo Kameradschaft, Uniformierung und straffe<br />
Hierarchie potentielle oder schon „ausgewachsene“ Nazis anziehen.<br />
Der stellvertretende Landesjugendfeuerwehrwart Michael Kittel hat, das sei lobend vermerkt,<br />
recht schnell reagiert und eine Art internes Alarmsystem eingerichtet, das mit Hilfe des Internet<br />
organisiert ist. Eine geistige Brandbekämpfung, da sind sich alle Einsichtigen einig, ist<br />
notwendig.<br />
Ich will am Ende dieses Berichtes über eine den genaueren Betrachter und Besucher<br />
aufwühlende Fahrt zu einer deutschen KZ-<strong>Gedenkstätte</strong> aus einer persönlichen Betrachtung über<br />
das Lernen aus der Geschichte zitieren. Ich habe diese persönliche Betrachtung in einem der<br />
Rundbriefe der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> vor Jahren veröffentlichen dürfen, natürlich nur im<br />
Rahmen der Menschengruppe, die den Rundbrief erhält.<br />
„Die kathartische Geschichtsbesinnung, wie ich die erstaunliche und fruchtbare Aufarbeitung<br />
unserer jüngeren Zeitgeschichte seit vor allem dem Ende der siebziger Jahre des vergangenen<br />
Jahrhunderts nennen will, deutet vielleicht auf eine andere Wesensart, die uns nach der Aussage<br />
von Friedrich Hölderlin, dem Dichter, auch eigen ist, hin. Und ich hoffe, als nunmehr „Senior-<br />
Deutscher und Europäer“, dass da noch ganz andere, wundersame Schätze von der jetzigen<br />
aktiven Generation und den kommenden gehoben werden mögen - neben der wichtigen<br />
gesundenden Geschichts- und Erinnerungsarbeit, die zu mehr Gegenwartsbewußtheit verhilft.“<br />
Zu fragen ist: Wird unsere Gesellschaft, werden die Jüngeren und ganz Jungen die Kenntnisse<br />
und Erkenntnisse, die die Zeitgeschichtsforschung gewonnen hat, vor allem in Bezug auf<br />
Entstehung und Taten bzw. Untaten des „Dritten Reiches“ annehmen, beherzigen und die<br />
notwendigen gesellschaftspolitischen Folgerungen daraus ziehen können?<br />
42
Jean-Pierre des Coudres: Ein Kasseler, der zum bedeutendsten<br />
SS-Bibliothekar im NS-Staat aufsteigen sollte<br />
von Thomas Schattner<br />
„Dem Anspruch auf Errichtung eines ideologischen Zentrums wurde in Wewelsburg am ehesten<br />
der Aufbau einer Bibliothek unter der Leitung des Bibliothekars Hans Peter Courdes, […]<br />
gerecht. Bei Courdes handelte es sich wohl um den einzigen SS-Schulungsleiter, der als<br />
weltanschaulich geschult angesehen werden konnte. Courdes, der gerne mit dem Namen Jean-<br />
Pierre des Coudres kokettierte, war seit April 1934 beim Beauftragten Hitlers für die<br />
Überwachung der gesamten weltanschaulichen Erziehung der NSDAP tätig“, so Michael Greve.<br />
Dieser hochkarätige SS-Repräsentant war auf mehrfache Weise mit der Region Nordhessen<br />
verbunden. Werfen wir einen Blick zurück auf die Karriere von vielleicht Hitlers<br />
„Weltanschauungskrieger schlechthin“.<br />
Schule und Studium<br />
Jean-Pierre, der Hans Peter gerufen wurde (sein vollständiger Name lautete Hans Peter Julius<br />
Arthur Theodor Richard), wurde am 27. September 1905 als Sohn des Generalmajors Richard<br />
des Coudres und seiner Ehefrau Irmgard von Spalding in Berlin-Spandau geboren. Warum des<br />
Coudres hier geboren wurde, ist unbekannt. Sicher ist aber, dass seine Familie in Kassel lebte,<br />
wo des Coudres am Realgymnasium 2 Ostern 1925 das Zeugnis der allgemeinen Reife überreicht<br />
bekam. Zuvor hatte des Coudres auch ein Realgymnasium in Mainz besucht.<br />
Nach Abschluss seiner schulischen Laufbahn studierte er ab 1925 in Göttingen, Leipzig und Den<br />
Haag Rechts- und Staatswissenschaften, Literarturgeschichte und Bibliothekswesen. Im Jahr<br />
1931 absolvierte er das juristische Staatsexamen. Anschließend begann er als preußischer<br />
Gerichtsreferendar zu arbeiten. Während dieser Zeit war er zum einem am Amtsgericht in<br />
Felsberg (Kreis Melsungen) tätig, zum anderen war er auch am Schöffengericht sowie am<br />
Landgericht in Kassel aktiv.<br />
Politisch aktiv<br />
Parallel dazu erfuhr des Coudres in seinen Kasseler Jahren seine politische Sozialisation. Schon<br />
mit 17 Jahren trat des Coudres 1922 der „Knappschaft“ Kassel, einer Organisation der<br />
völkischen Jugendbewegung, bei. Diese wurde nach der Ermordung des jüdischen<br />
Außenministers Walther Rathenau 1922 verboten. Des Coudres engagierte sich nun in einer<br />
Organisation, „Balmung“, die sich nach Siegfried Schwert benannt hat. Dort leitete er bereits in<br />
jungen Jahren die Abteilung Politik und Presse. Am 1. November 1930 erfolgte der Eintritt in die<br />
NSDAP (Mitgliedsnummer 365078), zwei Jahre später, im Januar 1932, wurde er SA-Mitglied.<br />
Da es preußischen Beamten zu diesem Zeitpunkt verboten war, NSDAP- bzw. SA-Mitglied zu<br />
sein, führte er den Decknamen „A. v. Poncet“.<br />
Ab 1932 arbeitete des Coudres als Jugendschriftreferent in der „Reichsstelle zur Förderung des<br />
deutschen Schrifttums“, die vom NS-Ideologen Alfred Rosenberg dominiert wurde. Parallel dazu<br />
arbeitete er bei der Leipziger „Oberprüfstelle zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und<br />
Schmutzschriften“. „Diese von der ´Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums´ und<br />
der ´Reichsjugendförderung´ eingerichtete Stelle hatte u.a. die Aufgabe, ein<br />
´Auswahlverzeichnis´ mit NS-konformer Literatur zu erstellen: ´Die hundert ersten Bücher für<br />
nationalsozialistische Büchereien´“, so Gerd Simon. Diese stellte des Coudres dann 1935 auf der<br />
43
31. Versammlung der deutschen Bibliothekare in Tübingen vor, „mit der nun ´das unsittliche<br />
Schrifttum vom politischen Standpunkt aus´ geregelt werde“. Das erste Staatsexamen im<br />
höheren wissenschaftlichen Bibliotheksdienst bestand er am 1. April 1935.<br />
Zwei Wochen später, am 15. April 1935, übernahm er die Leitung der „Bibliothek der<br />
Gesellschaft zur Förderung und Pflege deutscher Kulturdenkmäler“ auf der SS-Führerschule<br />
Wewelsburg, Kreis Büren, nahe Paderborn. Bereits im Januar war des Coudres für die SS<br />
freigestellt worden. Schließlich war er nun der Leiter der Bibliothek der Schutzstaffeln der<br />
NSDAP. Mit diesem Posten verbunden war ein Schulungsauftrag. Diesen erfüllte er bis zum<br />
Frühjahr 1939.<br />
Am 5. August 1937 heiratete des Coudres mitten in seiner Wewelsburger Zeit Helga Schulz von<br />
der Lüth, geboren am 7. August 1918 in Hamburg. Aus dieser Ehe gingen dann drei Kinder<br />
hervor, eine Tochter wurde am 28. Juni 1938 geboren. Eventuell verstarb ein Kind schon in<br />
jungen Jahren.<br />
Des Coudres zurück in Kassel<br />
Des Coudres wechselte erst im Frühjahr 1939, obwohl er bereits 1938 dafür vorgesehen war, zur<br />
Landesbibliothek nach Kassel, die sich seinerzeit im Fridericianum befand. Dorthin war er als<br />
Direktor berufen worden, um für eine umfassende Neuorganisation (Umbau, Beschaffung<br />
moderner technischer Ausrüstung, Abbruch und Neubeginn von Katalogen) zu sorgen.<br />
Gleichzeitig arbeitete er in verschiedenen historischen und kulturellen Kommissionen. Ende des<br />
Jahres wurde er dienstlich beurteilt. In dieser Beurteilung vom Dezember 1939 wird sein<br />
Auftreten und Benehmen mit „sehr gut, strammer Soldat“ beschrieben, seine persönliche<br />
Haltung sei „straff“ und „aufrecht“, seine geistige Frische sei „regsam“ und „sehr lebendig“.<br />
Dazu kennzeichne ihn gutes und schnelles Auffassungsvermögen und seine Willenskraft, die als<br />
„stark“ und „ausdauernd“ beschrieben wird. In einer weiteren Beurteilung vom Mai 1941 heißt<br />
es über des Coudres, er „zeichnet sich durch offenes, gerades Wesen und gute Kameradschaft<br />
aus“. Er „besitzt Willenskraft und persönliche Härte und hat ein eigenes, gefestigtes<br />
Urteilsvermögen. […] Er versteht es vor allem, sein Wissen in verständlicher Form<br />
vorzutragen“.<br />
Erste Maßnahmen von des Coudres an der Kasseler Bibliothek wurden aber schon bei<br />
Kriegsbeginn weitgehend eingestellt, da des Coudres als neues Mitglied der Waffen-SS sofort<br />
aktiv am Kriegsgeschehen beteiligt war. Obwohl die Bibliothek bereits am 9. September 1941als<br />
erste deutsche Bibliothek von Bedeutung durch einen alliierten Luftangriff zerstört wurde, blieb<br />
des Coudres bis zum 1. August 1945 offiziell ihr Direktor. Zwar erhielt des Coudres nach der<br />
Zerstörung Fronturlaub, um den Wiederaufbau zu organisieren, faktisch leitete aber seit 1942 des<br />
Coudres´ Stellvertreter Walter Grothe die Bibliothek.<br />
Des Coudres im Krieg<br />
Bis 1944 stieg des Coudres rasch zum SS-Obersturmbannführer auf. Besonderes tat er sich<br />
während des Krieges gegen die Sowjetunion, aber auch im Westen hervor. Sowohl in der<br />
Artillerie- als auch in der Werfer-Abteilung zeichnete er sich besonders aus, so dass er<br />
schließlich im Oktober 1944 das „Deutsche Kreuz in Gold“, eine der höchsten Auszeichnungen<br />
des NS-Staates, erhielt. Schließlich „bewies d.C. wiederholt besondere Tapferkeit, Schneid und<br />
hohes taktisches Können“. Hinzu kam, dass des Coudres als „überzeugter Nationalsozialist“ und<br />
„vorbildlicher SS-Führer“ galt, der sich überdurchschnittlich engagierte. Zuvor hatte des<br />
44
(aus: Karl Hüser: Wewelsburg 1933-1945. Kult- und Terrorstätte der SS.<br />
Eine Dokumentation (Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg, Bd. 1)<br />
2. überarbeitete Auflage, Paderborn 1982, S. 209.)<br />
45
Coudres schon das Eiserne Kreuz Erster und Zweiter Klasse, das Sturmabzeichen für schwere<br />
Waffen und die Ostmedaille verliehen bekommen. Des Weiteren war des Coudres Träger des<br />
Totenkopfrings, des Ehrendegens und des Julleuchters, lauter hoher SS-Auszeichnungen.<br />
Mit Wirkung vom 15. Oktober 1944 wurde des Coudres als SS-Sturmbannführer zum Führer<br />
beim Stab SS-Oberabschnitt Fulda-Werra ernannt. Wo des Coudres das Kriegsende erlebte, ist<br />
unbekannt, ebenso wann er in Kriegsgefangenschaft kam.<br />
Des Coudres nach 1945<br />
Erst 1950 kehrte des Coudres aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Kurz darauf wurde er Leiter<br />
der Bibliothek des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe, da die Kasseler Landesbibliothek noch<br />
immer zerstört war. Zwei Jahre später wechselte er nach Tübingen, wo des Coudres die<br />
Bibliothek des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Recht bis zum 30. Juli<br />
1971 übernahm. Während seiner Tübinger Zeit tat sich des Coudres auch als Publizist hervor. So<br />
veröffentlichte er 1970 eine Bibliografie über Ernst Jünger.<br />
Am 8. Januar 1977 verstarb Jean-Pierre des Coudres im Alter von 72 Jahren. Da seine Familie,<br />
die ursprünglich aus der Grafschaft Burgund kam, seit 1730 in Kassel ansässig war, wurde er auf<br />
seinen Wunsch in der Kasseler Familiengrabstätte beigesetzt.<br />
Quellenverzeichnis:<br />
Habermann, Alexandra u.a., Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925 bis 1980,<br />
Frankfurt a.M. 1985, Zeitschrift des Bibliothekswesens und Bibliographie, Sonderheft 42, S. 55-<br />
56,<br />
Vodosek, Peter u.a., Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Teil 1: Vorträge des<br />
Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte, 5 (Wolfenbütteler<br />
Schriften zur Geschichte des Buchswesens, 16), 1989, S. 369 bis 375,<br />
www.homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrCourdes,<br />
www.lwl.org/westfaelische-geschichte.<br />
46
Novemberpogrom 1938 in Guxhagen<br />
von Gunnar Richter<br />
Bevor die Ereignisse während der so genannten „Reichskristallnacht“ in Guxhagen geschildert<br />
werden, soll ein kurzer Überblick über die Geschichte der jüdischen Gemeinde Guxhagen<br />
gegeben werden, um deutlich zu machen, wen dieser Pogrom traf und was für einen Einschnitt<br />
das damalige Geschehen für das gesamte Leben in Guxhagen hatte.<br />
Zur Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde Guxhagens 12<br />
Ähnlich wie in zahlreichen anderen Orten des Schwalm-Eder-Kreises existierte auch in<br />
Guxhagen über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg eine jüdische Gemeinde. Die erste<br />
urkundliche Erwähnung geht bis auf das Jahr 1680 zurück. Ein erster Betraum der jüdischen<br />
Gemeinde soll sich nach mündlicher Überlieferung in dem Haus Sellestraße 6 befunden haben.<br />
Der jüdische Friedhof wurde im Jahre 1809 an der Albshäuser Straße zwischen Guxhagen und<br />
Albhausen eröffnet, und 1823 wurde mit dem Bau der noch heute existierenden Synagoge<br />
begonnen.<br />
Die Anzahl der jüdischen Bürger Guxhagens schwankte seit dem 19. Jahrhundert zwischen 130<br />
und 170 Personen, was einem Anteil zwischen 10 und 12 Prozent der Bevölkerung entsprach.<br />
Sie waren nicht sehr wohlhabend, allerdings besaßen mehr als die Hälfte von ihnen Häuser und<br />
Landbesitz. Die jüdischen Familien wohnten vor allem in der Untergasse und Sellestraße, aber<br />
auch in der heutigen Poststraße, der Bahnhofstraße, der kleinen Brückenstraße, der Mittelgasse<br />
und der Bergstraße. Von Beruf waren sie u.a. Metzger, Schneider, Viehhändler, Buchbinder,<br />
Sattler, Händler mit Manufakturwaren, Häuten und Fellen oder Kupfer- und Blechschmied. So<br />
hatte Lehmann Katz in der Untergasse ein Haus mit einem kleinen Laden, außerdem war er<br />
Buchbinder. Benni Katz, der mit seiner Frau und seinem Sohn Daniel sowie seiner Schwester<br />
und seiner Schwägerin in einem kleinen Haus am unteren Ende der Bahnhofstraße lebte, war<br />
Altwarenhändler. Im Ort wurde er "Lumpen-Benni" genannt, und sein Haus hieß Dampfschiff.<br />
1953 wurde es bei dem Umbau der Kreuzung abgerissen.<br />
Bei der jüdischen Gemeinde Guxhagens handelte sich um eine orthodoxe Gemeinde, die<br />
verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen gegründet hatte und auch ein reges kulturelles Leben<br />
führte. Trotz ihrer orthodox ausgerichteten Gemeinde waren Guxhagener Juden Mitglieder in<br />
örtlichen Vereinen, pflegten persönliche Kontakte zu ihren christlichen Nachbarn und stellten<br />
auch Gemeindevertreter.<br />
Im Sommer 1933 lebten noch 158 jüdische Einwohner in Guxhagen. Die einsetzende<br />
Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung sollte aus der Sicht der Nazis dazu führen, die<br />
Juden in Deutschland aus allen gesellschaftlichen Bereichen auszuschließen und sie durch diese<br />
Maßnahmen dazu zu bewegen, Deutschland zu verlassen. Es gab reichsweite Geschäftsboykotte<br />
jüdischer Geschäfte und Berufsverbote. Die Juden wurden - so auch in Guxhagen - aus den<br />
Vereinen ausgeschlossen. Durch die Nürnberger Gesetze aus dem Jahre 1935 wurden sie zutiefst<br />
gedemütigt und als minderwertige Menschen abgestempelt, und im August 1938 wurden sie<br />
gezwungen sich "jüdische Vornamen" - Sarah und Israel - zuzulegen, die in Pässe und<br />
Unterlagen eingetragen wurden. Dies alles führte dazu, dass ein Teil von ihnen versuchte<br />
auszuwandern oder zumindest in größere Städte zu ziehen. So lebten bis zum November 1938<br />
12 Die Ausführungen zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde Guxhagen basieren auf: Frank Mann und Gunnar<br />
Richter: Zur Geschichte des jüdischen Guxhagen, in: Gemeinde Guxhagen (Hrsg.): 650 Jahre Guxhagen – 125 Jahre<br />
Gesangverein, Guxhagen 2002, S. 131-134.<br />
47
noch 82 Juden und Jüdinnen in Guxhagen. Trotz dieser ganzen Demütigungen hatten sie wohl<br />
noch immer die Hoffnung auf eine Veränderung, auf ein normales Leben in ihrem Heimatort.<br />
Außerdem waren einige der Familien so arm, dass eine Auswanderung für sie gar nicht möglich<br />
gewesen wäre.<br />
Die so genannte "Reichskristallnacht" war die flächendeckende terroristische Maßnahme des<br />
NS-Staates, die noch verbliebenen Juden aus Deutschland zu vertreiben. Auslöser war das<br />
Attentat von Herschel Grynspan, eines 17jährigen Juden auf den deutschen Botschaftsangehörigen<br />
Ernst vom Rath am Morgen des 7. November in Paris. Noch am selben Tag,<br />
als die Nachricht bekannt wurde, begann in den frühen Abendstunden in Kassel der Pogrom. Das<br />
Innere der Synagoge in der Königstraße wurde zerstört sowie das Innere der Synagoge und des<br />
jüdischen Gemeindehauses in der Großen Rosenstraße, Fensterscheiben wurden eingeschlagen,<br />
mindestens 20 Geschäfte beschädigt, zerstört und zum Teil geplündert und Juden misshandelt.<br />
Dies alles bildete den Auftakt für die so genannte "Reichskristallnacht" in ganz Deutschland.<br />
Die so genannte "Reichskristallnacht" in Guxhagen am 8. November 1938<br />
In Guxhagen fand die so genannte "Reichskristallnacht" am Abend des 8. November 1938 statt. 13<br />
Im Gegensatz zu Kassel oder auch Bebra, wo die Ausschreitungen und Verwüstungen schon am<br />
Abend des 7. November durchgeführt worden sind, hatte sich, wie Adam W. schrieb, die hiesige<br />
SA verhältnismäßig ruhig verhalten. Dies habe bei der SA-Führung in Melsungen und auch bei<br />
der Kreisleitung einen negativen Eindruck hervorgerufen. Kurzfristig wurde daraufhin (am 8.<br />
November) eine politische Versammlung in einer Gastwirtschaft in Guxhagen einberufen, zu der<br />
auch eine ganze Anzahl auswärtiger SA- und SS-Leute hinzukamen. Es sollte, wie Adam W.<br />
schrieb, nachgeholt werden, was einen Tag zuvor unterblieben war. Der örtliche Polizeiverwalter<br />
bekam zwar keine Anweisung, aber einen Wink, an dem Abend nicht im Ort anwesend zu sein.<br />
Hierzu bemerkte Adam W.: "Selbst bei Anwesenheit hätte er aber auch gar nichts unternehmen<br />
können." 14<br />
Auch die Jugend aus Guxhagen wurde durch den Kreisleiter aus Melsungen aufgehetzt, der vor<br />
ihnen im HJ-Heim eine Rede hielt. 15<br />
Im Anschluss an die Versammlung machten die SA-Leute (und evtl. auch SS-Männer) in<br />
Begleitung von Ortsbewohnern (offenbar auch der Jugend) einen Umzug durch den Ort mit<br />
lautem Singen und Johlen. "Das Singen und Johlen hörte ich von meiner Wohnung aus", sagte<br />
Maria B. am 17.10.46. "Den Umzug habe ich nicht selbst gesehen, sondern dieses hörte ich dann<br />
am anderen Morgen." 16<br />
Frau Katharina R. schildert den weiteren Verlauf: "Kurz vor 9 Uhr wurde bei der Synagoge<br />
angefangen. Wir hörten das Klirren der Scheiben. In der Synagoge wohnte oben noch eine<br />
christliche Familie. Diese verkehrte bei uns. Frau S., die in der Synagoge wohnte, war bei uns<br />
auf Besuch. Wir sind hinuntergelaufen, da waren bereits viele Menschen auf der Straße. (...) Es<br />
13<br />
Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Auszüge aus den Akten eines Verfahrens beim Schwurgericht des<br />
Landgerichts Kassel mit dem Aktenzeichen Schw 34/48, Ko/Gr., Aussagen in dem Verfahren, dass es sich um den<br />
8. November handelte.<br />
14<br />
Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 417, Auszug aus den Aufzeichnungen des früheren Bürgermeisters Adam<br />
W.<br />
15<br />
Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 410, Aussage von Georg K. aus der Nachkriegszeit (er war 1. Vorsitzender<br />
der KPD-Ortsgruppe Guxhagen und in dieser Eigenschaft am Beginn der NS-Zeit im frühen KZ <strong>Breitenau</strong><br />
inhaftiert).<br />
16<br />
Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Aussage von Maria B. in dem Verfahren des Schwurgerichts.<br />
48
Das Haus von Lehmann Katz mit seinem Colonialwarengeschäft und der<br />
Buchbinderei in der Untergasse in Guxhagen.<br />
(Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>)<br />
Das ehemalige Haus von Benni Katz und seiner Familie am unteren Ende der<br />
Bahnhofstraße in Guxhagen. (Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>)<br />
49
waren schon Menschen in der Synagoge drin. Der Zugang zu ihr war abgesperrt. Meine Mutter<br />
durfte mit Frau S. in deren Wohnung hinauf. (...) Der Lärm ging bis 3 Uhr morgens." 17<br />
In dem Urteil des Schwurgerichts heißt es:<br />
"Unbekannte Täter waren im Innern der Synagoge damit beschäftigt, die Einrichtungsgegenstände<br />
zu zerstören und die Fenster zu zerschlagen. Kurze Zeit nach dem Eintreffen des<br />
Angeklagten bei dem jüdischen Gotteshaus wurde die Synagoge von SA in Uniform abgeriegelt,<br />
so dass niemand aus der neugierigen Menge zum Tatort gelangen konnte. Daß aus dieser Menge<br />
sich irgendjemand an den Zerstörungen der Synagoge beteiligt hat, kann nicht festgestellt<br />
werden. Es ist gerichtsbekannt, daß in sehr vielen Fällen zu diesen Zerstörungen der Synagogen<br />
auswärtige 'Rollkommandos' herangezogen wurden, da die für die Leitung verantwortlichen<br />
Stellen der Partei der einheimischen Bevölkerung nicht hinreichend scharfes Vorgehen zutraute.<br />
Daß es auch in diesem Fall sich so verhielt, und die Menge der Einheimischen nur aus Neugierde<br />
untätig dabei stand, muß daraus geschlossen werden, dass die SA den Tatort gegen die Menge<br />
abriegelte, also dem besonderen Zerstörungskommando ein ungehindertes Arbeiten ermöglichen<br />
wollte und eine Verstärkung aus der Menschenmasse weder erfolgte noch beabsichtigt war.<br />
(...)" 18<br />
"In der Synagoge waren die Gewänder, die kultischen Zwecken dienten, aus den Schränken<br />
herausgerissen und zum Fenster hinausgeworfen worden. Z.T. schwammen sie in der Fulda und<br />
blieben an Weidensträuchern hängen. Auch die Schulbänke aus der früheren jüdischen Schule<br />
schwammen in der Fulda und wurden bis Denn- und Dittershausen wieder geländet." 19<br />
"Nachdem die bei der Synagoge befindliche Menschenmenge, die nach Hunderten (!) zählte,<br />
infolge der Absperrung das Interesse an den Vorgängen bei der Synagoge verloren hatte, setzte<br />
sie sich in Bewegung. Die Juden von Guxhagen wohnten hauptsächlich an zwei Stellen des<br />
Ortes. Zu diesen jüdischen Wohnvierteln drängten nun die Menschen. (...)“ 20<br />
Die Aussage eines Beschuldigten; er war an diesem Abend auf einer Geburtstagsfeier:<br />
"Ich kann mich darauf besinnen, es war am Abend des 8. November. (...) Wir hörten in der Nähe<br />
lautes Schreien und Gesang. Es war nicht zu vernehmen, was gesprochen wurde. Wir gingen zusammen<br />
hinaus. In der Nähe unseres Hauses (...) wohnte damals auch eine Judenfamilie. Vor<br />
dem Haus des Juden war eine Menschenmenge versammelt. (...) Es waren mehrere hundert<br />
Leute versammelt. (...) Ein Teil, unter ihnen auch ich, gingen zu (Einschub von mir: dem Juden).<br />
Mittlerweile hatte ich gehört, daß sich die Aktionen gegen die Juden richteten. Ich war damals 18<br />
Jahre alt. Es mag ein Gemisch von Abenteuerlust und Neugierde gewesen sein, daß ich mitging.<br />
Ich war nicht an der Spitze des Zuges. Ein Teil riß die Scheune auf. (...) Der Leichenwagen, der<br />
der jüdischen Gemeinde gehörte, wurde herausgezogen und über die Böschung<br />
heruntergeworfen. (...)<br />
Es war sehr dunkel an diesem Abend. Ich war mit im Haus des [Juden] K. Im Flur des Hauses<br />
waren an die 20 bis 30 Personen. Die Treppe war außerhalb des Hauses. Im Haus war schon ein<br />
Tumult, überall brannte Licht. (...)" 21<br />
Der jüdische Einwohner, der in dem Haus lebte, hatte, sich "als er den Lärm der Menge hörte,<br />
die sich seinem Haus näherte und mit Gewalt sich den Eintritt erzwang (...) unter seinem Bett<br />
17 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Aussage von Katharina R. in dem Verfahren des Schwurgerichts.<br />
18 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Auszüge aus dem Urteil des Verfahrens.<br />
19 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 417, Auszug aus den Aufzeichnungen von Adam W.<br />
20 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Auszüge aus den Akten des Verfahrens.<br />
21 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Auszüge aus den Akten des Verfahrens.<br />
50
Die Schulkinder der jüdischen Gemeinde Guxhagen mit ihrem Lehrer vor der<br />
Synagoge im Jahre 1909. (Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>)<br />
SA-Männer marschieren durch die Sellestraße in Guxhagen, in der viele<br />
jüdische Familien lebten. (Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>)<br />
51
verkrochen. Hier wurde er von einigen Leuten gefunden und herausgezerrt. Eine an der Wand<br />
hängende Tafel mit den 10 Geboten wurde vernichtet. Er mußte sich dann notdürftig ankleiden<br />
und wurde abgeführt." 22<br />
Ähnlich wie ihm ging es auch den anderen jüdischen Männern. Sie wurden aus ihren Häusern<br />
geholt, und da sie zum Teil schon zu Bett waren, durften sie die Schuhe nicht zumachen. Einer<br />
von ihnen wurde aus der Bodenluke herausgehalten und man drohte ihm, ihn herunterzuwerfen.<br />
Es wurden Fenster und Türen zerschlagen, Haushaltsgegenstände zertrümmert und auf die Straße<br />
geworfen. Der damalige Polizeibeamte aus Körle sah dieser Aktion zu und verhinderte nichts. 23<br />
"Selbst Möbel lagen in den Straßen herum." 24<br />
Gemeinsam wurden die jüdischen Männer dann in die <strong>Breitenau</strong> getrieben.<br />
Sie wurden dabei zum Teil wurden schwer misshandelt, zum Fallen gebracht und getreten. Sie<br />
bluteten und seien entsetzlich entstellt gewesen. Einer von ihnen bekam durch die<br />
Misshandlungen eine Nierenblutung und einen Oberkieferbruch. Beim Überqueren der<br />
Fuldabrücke wurde ihm gedroht, ihn in der Fulda zu ertränken. 25<br />
Die jüdischen Männer waren dann drei Tage (am 9., 10. und 11. November) in <strong>Breitenau</strong><br />
inhaftiert (siehe die Liste der Inhaftierten vom 11. Nov. 1938), wo auch noch weitere jüdische<br />
Männer aus umliegenden Orten verhaftet und eingesperrt wurden. Der jüngste Gefangene war<br />
Daniel Katz aus Guxhagen, er war 14 Jahre alt. Anschließend wurden die jüdischen Männer nach<br />
Kassel gebracht und von dort gemeinsam mit 670 Juden aus Kassel und Umgebung in das<br />
Konzentrationslager Buchenwald, wo sie mehrere Wochen inhaftiert blieben.<br />
Insgesamt waren in diesen Wochen im KZ Buchenwald 9828 jüdische Männer aus allen<br />
Regionen und Städten Mitteldeutschlands inhaftiert. 216 Gefangene fanden dort den Tod, die<br />
anderen kamen schwer gezeichnet zurück.<br />
Die Zeit nach der "Kristallnacht" bis zu den Deportationen<br />
Wer nun irgendwie konnte, versuchte, Deutschland zu verlassen. Wer nicht genug Geld hatte,<br />
zog aus kleineren Orten in größere Städte. Von den 82 jüdischen Bewohnern Guxhagens, die im<br />
November 1938 dort noch lebten, verließ bis zum Sommer 1941 etwa die Hälfte ihren<br />
Heimatort. Im Oktober 1941 wurde ein Erlass herausgegeben, der Juden die Ausreise verbot -<br />
und ab dem Dezember begannen die Deportationen in den Tod. Dreiunddreißig der jüdischen<br />
Einwohner wurden am 8.12.1941 in das Ghetto Riga deportiert, fünf weitere kamen am 1. Juni<br />
mit dem Deportationszug in das KZ Majdanek und das Vernichtungslage Sobibor, und elf - es<br />
handelte sich um alte Menschen - im September 1942 in das Ghetto und Konzentrationslager<br />
Theresienstadt. Andere Guxhagener Juden wurden aus den Städten deportiert, in die sie vor 1941<br />
umgezogen waren.<br />
Unter den Deportierten in das Ghetto Riga befand sich auch Daniel Katz mit seinen Eltern. Seine<br />
Eltern wurden am 27. Juli 1944 im Ghetto erschossen. Daniel Katz musste Zwangsarbeit leisten<br />
und kam im März 1945 in das KZ Stutthof bei Danzig. Bei der Evakuierung des KZ mit Schiffen<br />
über die Ostsee wurde er am 3. Mai 1945 von der englischen Armee befreit und emigrierte dann<br />
in die USA.<br />
22 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Auszüge aus den Akten des Verfahrens.<br />
23 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 410, Aussage von Georg K. aus der Nachkriegszeit.<br />
24 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 417, Auszug aus den Aufzeichnungen von Adam W.<br />
25 Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Auszüge aus den Akten des Verfahrens.<br />
52
Die Gedenktafel an der ehemaligen Synagoge Guxhagen, die am 8. Mai 1985<br />
eingeweiht wurde. (Fotos: Roland Bastian, Archiv <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>)<br />
Der Name der ehemaligen Jüdischen Gemeinde Guxhagen zwischen<br />
vielen zerstörten jüdischen Gemeinden Nord- und Osthessens in der<br />
<strong>Gedenkstätte</strong> Yad Vashem in Jerusalem. (Foto: Frank-M. Mann)<br />
53
Mindestens 86 Guxhagener Juden und Jüdinnen sind in Ghettos, Konzentrations- und<br />
Vernichtungslagern ermordet worden.<br />
Zwei der Überlebenden, Josef Katz und seine Schwester Recha, kehrten 1947 nach Guxhagen<br />
zurück. Josef Katz war 1941 ebenfalls in das Ghetto Riga deportiert worden und kam später über<br />
das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig in das KZ Buchenwald, wo er 1945 befreit wurde.<br />
Seine Schwester war von einer Familie in Berlin versteckt worden und dadurch der Deportation<br />
entgangen. Beide lebten bis zur ihrem Tode in den siebziger Jahren in Guxhagen. Recha starb<br />
1970 und ihr Bruder Josef sechs Jahre später. Sie sind beide auf dem jüdischen Friedhof in<br />
Guxhagen beerdigt - und mit ihnen ist die jüdische Gemeinde Guxhagens endgültig erloschen.<br />
Heute erinnern die ehemalige Synagoge mit der 1985 eingeweihten Gedenktafel und der jüdische<br />
Friedhof an die Geschichte der Guxhagener Juden. Aber auch in der <strong>Gedenkstätte</strong> Yad Vashem<br />
in Jerusalem gibt es einen Felsen, auf dem der Name der jüdischen Gemeinde Guxhagens in<br />
lateinischer und hebräischer Inschrift zu lesen ist.<br />
Quellen- und Literaturhinweise:<br />
Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 417, Auszug aus den Aufzeichnungen des früheren<br />
Bürgermeisters Adam W.<br />
Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 410, Aussage von Georg K. aus der Nachkriegszeit (er<br />
war 1. Vorsitzender der KPD-Ortsgruppe Guxhagen und in dieser Eigenschaft am Beginn der<br />
NS-Zeit im frühen KZ <strong>Breitenau</strong> inhaftiert).<br />
Archiv der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong>, B – 409, Auszüge aus den Akten eines Verfahrens beim<br />
Schwurgericht des Landgerichts Kassel mit dem Aktenzeichen Schw 34/48, Ko/Gr.<br />
Monica Kingreen: Die gewaltsame Verschleppung der Juden aus den Dörfern und Städten des<br />
Regierungsbezirks Kassel in den Jahren 1941 und 1942, in: Helmut Burmeister und Michael<br />
Dorhs (Hrsg.): Das achte Licht. Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Juden in<br />
Nordhessen, Hofgeismar 2002, S. 223-242.<br />
Wolf-Arno Kropat: Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom vom November 1938, Wiesbaden<br />
1988.<br />
Frank Mann und Gunnar Richter: Zur Geschichte des jüdischen Guxhagen, in: Gemeinde<br />
Guxhagen (Hrsg.): 650 Jahre Guxhagen – 125 Jahre Gesangverein, Guxhagen 2002, S. 131-134.<br />
Wolfgang Prinz: Die Judenverfolgung in Kassel, in: Wilhelm Frenz, Jörg Kammler und Dietfrid<br />
Krause-Vilmar (Hrsg.): Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933-1945, Band 2:<br />
Studien, Fuldabrück 1987, S. 144-222.<br />
Harry Stein: Das Sonderlager im Konzentrationslager Buchenwald nach den Pogromen 1938, in:<br />
Monica Kingreen (Hrsg.): „Nach der Kristallnacht“ – Jüdisches Leben und antijüdische Politik in<br />
Frankfurt am Main 1938-1945, Franfurt a. Main/New York 1999, S. 19-54.<br />
54
(HNA-Kassel vom 9. November 2010)<br />
55
56<br />
Klaus Barbie, „Der Schlächter von Lyon“ und Nordhessen<br />
von Thomas Schattner<br />
Klaus Barbie wurde am 25. Oktober 1913 in Bad Godesberg geboren. Während der NS-Zeit<br />
machte er innerhalb der NSDAP große Karriere. Eine Begegnung mit Heinrich Himmler 1935<br />
nahm dabei wohl eine Schlüsselstellung ein. Am 26. September des gleichen Jahres trat Barbie<br />
in die Schutzstaffel (SS) ein und wurde kurz darauf Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes innerhalb<br />
der NSDAP in Berlin, in dessen Auftrag er in der Stadt Juden und Homosexuelle verfolgte. In<br />
den nächsten Jahren ging es auf der Karriereleiter immer steiler hinauf.<br />
Im November 1942, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die unbesetzte Südzone von<br />
Frankreich, die bis dahin von der französischen Vichy-Regierung geführt wurde, wurde Klaus<br />
Barbie dann der Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) im südfranzösischen Lyon. Von<br />
1942 bis 1944 war er in dieser Funktion für die Folterung und Ermordung von Mitgliedern des<br />
französischen Widerstands (Résistance) und für die Deportation von Juden verantwortlich. Diese<br />
Tätigkeiten brachten Barbie den Beinamen „Der Schlächter von Lyon“ ein. Im August 1944<br />
verließ Barbie Lyon und kehrte nach Deutschland zurück, wo er am sechsten Jahrestag der<br />
Reichspogromnacht zum SS-Hauptsturmführer befördert wurde.<br />
Seit Mai 1945 wurde der untergetauchte Barbie von den französischen Behörden gesucht und am<br />
16. Mai 1947 in seiner Abwesenheit von einem Gericht in Lyon zum Tode verurteilt.<br />
Währenddessen war Barbie von 1947 bis 1951 als Agent für den amerikanischen Geheimdienst<br />
Counter Intelligence Corps (CIC) in Deutschland tätig, nachdem er gerade von dieser<br />
Organisation zuvor in der Bundesrepublik gejagt wurde. Später setzte er sich nach Südamerika<br />
ab, wo er Jahrzehnte unbescholten leben konnte.<br />
Im Januar 1983 wurde Barbie nach der Einsetzung einer demokratisch gewählten Regierung in<br />
Bolivien festgenommen und nach Frankreich ausgewiesen. Vom 11. Mai bis zum 4. Juli 1987<br />
hatte sich Barbie erneut in Frankreich gerichtlich zu verantworten. Wegen Verbrechens gegen<br />
die Menschlichkeit in 177 Fällen verurteilte ihn das Gericht zur Höchststrafe, lebenslange Haft.<br />
Insgesamt legte man ihm die Deportation von mindestens 843 Menschen - Juden und<br />
französischen Widerstandskämpfern - aus Lyon und der Umgebung der Stadt zur Last.<br />
Am 25. September 1991 starb Barbie während seiner Haft in Lyon an Krebs. Soweit dürfte<br />
Barbies Geschichte bekannt sein. Weitgehend unbekannt sind aber wohl seine Verbindungen<br />
nach Nordhessen in den Jahren 1946 und 1947.<br />
Barbie in Marburg und Kassel<br />
Barbie ließ sich höchstwahrscheinlich Anfang 1946 in Marburg nieder. Sicher ist dagegen, dass<br />
er in der Barfüßerstraße Nummer 35 bis zum August 1946 dort gewohnt hat. Der Hausbesitzer<br />
war ein alter Anhänger der Nationalsozialisten, der von Barbie erfuhr, dass dieser in Marburg<br />
studieren wolle. Während dieser Monate war Barbie auch gelegentlich in Kassel, wo er<br />
gleichzeitig zwischenzeitlich in einem Haus eines gewissen Fridolin Becker wohnte.<br />
Während eines dieser Aufenthalte „verschaffte er sich - unter dem Vorwand, er sei ein CID-<br />
Beamter namens Becker und müsse nach einem gesuchten Mann fanden - Zutritt zu einem<br />
Wohnhaus in Kassel, aus dem er dann, zusammen mit zwei Komplizen, Juwelen im Wert von<br />
100.000 Mark entwendete. Das war am 18. April 1946. Die beiden Komplizen wurden 1950<br />
verhaftet und wegen Diebstahls verurteilt“, so Tom Bower 1984. Die Polizei konnte Barbie
damals nicht festnehmen, weil er bereits wie zahlreiche hohe Mitglieder des NS-Regimes im<br />
Zeichen des Kalten Krieges für die Amerikaner arbeitete.<br />
Währenddessen führte Barbie in Marburg ein für die damaligen Verhältnisse relativ<br />
komfortables Leben. „Ein Typ wie er ließ sich nicht unterkriegen. Der unermüdliche<br />
Drahtzieher, der hinterhältige Trickser, der nichts bereuende Nazi-Polizist - vor allem - der<br />
skrupellose Überlebenskünstler Klaus Barbie begann instinktiv, sich vom ´Ordnungshüter´ zum<br />
kleinen Gangster zu verwandeln. […] Sein ´kriminelles´ Milieu war jener logenartig organisierte<br />
Kameradenbund von ehemaligen SS-Offizieren, die sich durch das Band der gemeinsam<br />
begangenen Verbrechen zusammengeschweißt fühlten“.<br />
Dennoch wurde es für ihn im Sommer 1946 in Marburg zu heiß. Ende August 1946 fuhr auf<br />
Barbie bei einem Spaziergang ein US-Jeep zu. Der Fahrer, Dick Lavoie, forderte Barbie zum<br />
Einsteigen auf. Dazu Barbie selbst: „Ich wusste schon, wo es hinging, ins Gefängnis natürlich.<br />
Marburg hat ziemlich enge Straßen. In der Nähe der Post kam uns eine Straßenbahn entgegen.<br />
Da habe ich gedacht: ´Jetzt oder nie´. […] Er musste langsam fahren, und ich habe mich vom<br />
Wagen fallen gelassen - und zack, weg war ich!“ Weiter berichtet Tom Bower: „Barbie rannte in<br />
eine enge Gasse und sprang über eine Mauer. Einer der Schüsse, die Lavoie hinter ihm her<br />
feuerte, ritzte ihn an der Fingerkuppe. Dann traf Barbie eine Frau, die ihn im Schlafzimmer<br />
versteckte und die nachforschenden Amerikaner in eine falsche Richtung schickte. Bis spät in<br />
die Nacht versteckte sich Barbie in einem Taubenschlag, ehe er sich davonschlich“.<br />
Nun ging Barbie endgültig nach Kassel, denn die Familie sollte just in diesem kritischen<br />
Moment Ende 1946 noch größer werden. Tochter Ute war bereits am 30. Juni 1941 in Trier<br />
geboren worden.<br />
Klaus-Jörg Barbie<br />
Nachdem ihm Fridolin Becker einen zuverlässigen Arzt empfohlen hatte, ging Barbie mit seiner<br />
Ehefrau Regine (geborene Willis), die er am 25. April 1940 geheiratet hatte, in ein<br />
Entbindungsheim in Kassel. Zwar lebte Barbie in Kassel unter dem Namen Spier, dennoch<br />
wurde die Geburt seines Sohnes am 11. Dezember 1946 beim Standesamt unter Klaus-Jörg<br />
Barbie registriert.<br />
Barbies Flucht aus Nordhessen<br />
Dass Barbie in Kassel in Fridolin Beckers Haus nicht mehr sicher war, wurde ihm spätestens am<br />
23. Februar 1947 deutlich. An diesem Tag startete der CIC seine Operation „Selection Board“,<br />
die mit 57 Verhaftungen von ehemaligen NS-Größen in der gesamten amerikanischen Zone<br />
enden sollte. Um zwei Uhr früh begann die Aktion und Barbie war die Nummer drei auf der<br />
Liste der Amerikaner. „Als die CIC-Agenten in Beckers Haus eindrangen, konnte sich Barbie im<br />
Badezimmer verstecken und anschließend verschwinden“. Nun war Barbie klar, er musste aus<br />
Nordhessen verschwinden. Andererseits fahndeten die Amerikaner intensiv nach ihm. Die<br />
Wende in Barbies Leben brachte das Wiedersehen mit einem alten Kriegskameraden aus<br />
Frankreich, der bereits für die Amerikaner als CIC-Agent in München arbeitete. „Nachdem er<br />
alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, den Kampf gegen die Amerikaner fortzusetzen, ging<br />
Barbie am Ende auf das Angebot“, nach Tom Bower „ein, in ihre Dienste zu treten“. Bereits<br />
zuvor pendelte er mehrfach zwischen Marburg, Kassel und München hin und her, um<br />
verschiedene Angebote, u.a. der Amerikaner, auf ihre Echtheit zu überprüfen. Damit endete<br />
Barbies Zeit in Nordhessen. Im Frühjahr 1947 nahm er im bayerischen Memmingen seine<br />
Tätigkeit für den CIC auf.<br />
57
Nichtsdestotrotz begannen die Nachforschungen nach Klaus Barbie seitens der bundesdeutschen<br />
Justiz in Kassel. Im April 1961 klingelte die Kasseler Polizei in der Eichwaldstraße Nummer 83,<br />
wo eine Verwandte von Barbies Frau wohnte. Dies geschah auf Weisung der zentralen Stelle der<br />
Justizverwaltungen in Ludwigsburg, da Kassel immer noch als letzter Wohnsitz Barbies in<br />
Deutschland galt. Nach einjährigen Recherchen präsentierte die Kasseler Polizei ihre Ergebnisse.<br />
„Das ganze präsentierte sich als ein jämmerliches Stück Ermittlungsarbeit“, so Tom Bower, das<br />
bald nach Augsburg weitergereicht wurde, weil die Stadt nun als Barbies letzter Wohnsitz in der<br />
Bundesrepublik galt.<br />
Epilog: Klaus-Jörg Barbie<br />
Barbies in Kassel geborener Sohn heiratete am 5. Juni 1968 die junge Französin Francoise<br />
Craxier-Roux, die er in Europa (wahrscheinlich beim Jurastudium in Barcelona) kennengelernt<br />
hatte. Klaus-Jörg wurde später ein begeisterter und leidenschaftlicher Drachenflieger, obwohl<br />
seine Eltern dagegen starke Bedenken hatten. Am 1. Mai 1980 stürzte er vor ihren Augen tödlich<br />
ab. Ein Militärhubschrauber brachte den Toten zurück nach La Paz, wo er auf dem deutschen<br />
Friedhof beerdigt wurde.<br />
Quellenverzeichnis:<br />
Tom Bower, Klaus Barbie - Lyon, Augsburg, La Paz - Karriere eines Gestapo-Chefs, Berlin<br />
1984<br />
Wolfgang Riek: „Der ‚Schlächter von Lyon‘ sammelte in Kassel alte Nazis. Nach dem Krieg<br />
knüpfte SS-Mann Klaus Barbie ein Untergrundnetz“, Beitrag in der Hessischen Allgemeinen<br />
(HNA) vom 28.2.2011.<br />
58
(HNA-Kassel vom 28. Februar 2011)<br />
59
„Stätten der Erinnerung – Gedächtnis einer Stadt.<br />
Die Opfer des Nationalsozialismus in Hofgeismar“<br />
Eine Veröffentlichung von Julia Drinnenberg,<br />
herausgegeben vom Verein für hessische Geschichte und Landeskunde e.V., Zweigverein<br />
Hofgeismar, Hofgeismar 2010 (104 Seiten, zahlr. Abbildungen).<br />
Julia Drinnenberg hat mit diesem Buch ein beeindruckendes Werk über die Opfer der<br />
nationalsozialistischen Verfolgung in Hofgeismar verfasst und erinnert gleichzeitig anhand der<br />
zahlreichen Einzelschicksale an die unterschiedlichen Phasen der Verfolgung und an Menschen<br />
aus den verschiedensten Verfolgtengruppen.<br />
Im Mittelpunkt ihres Buches steht die Verfolgung und Ermordung der ehemaligen jüdischen<br />
Einwohner Hofgeismars, die sie anhand von über 60 Kurzbiographien von Angehörigen aus<br />
zwanzig jüdischen Familien schildert. Die Geschichte des jüdischen Friedhofs und der<br />
ehemaligen Synagoge zeigen auf, dass die jüdische Gemeinde in Hofgeismar auf eine<br />
jahrhundertealte Tradition zurückblicken konnte und ihre Familien, auch als Ausdruck der<br />
Integration, über die gesamte Stadt verteilt wohnten. Durch die Kurzbiographien mit<br />
zusätzlichen Erläuterungen wird zudem der Prozess der Verfolgung der Juden deutlich, der mit<br />
dem „Geschäftsboykott“ und einer Vertreibungspolitik begann und über die Novemberpogrome<br />
1938 in den Deportationen ab 1941 und den Massenmorden in den Ghettos und<br />
Vernichtungslagern endete. In drei Kapiteln schildert Julia Drinnenberg die Verfolgung von<br />
politischen Gegnern, die am Beginn der NS-Zeit einsetzte. Unter den Verfolgten befand sich z.B.<br />
der ehemalige sozialdemokratische Stadtverordnete und Kreistagsabgeordnete Herrmann<br />
Weidemann, der im Mai 1933 von SA-Männern schwer misshandelt wurde und 1944 im KZ<br />
Sachsenhausen inhaftiert war. Nach dem Krieg war er u.a. Bürgermeister von Hofgeismar und<br />
bis 1954 Mitglied des hessischen Landtags. Drei weitere Kapitel des Buches widmen sich den<br />
Hofgeismarer Opfern der „Euthanasie“, die in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet wurden<br />
oder im Rahmen der „stillen Euthanasie“ in Heilanstalten durch gezielte Unterversorgung<br />
starben, wie die Komponistin Luise Greger. Geschildert wird auch das mutige Verhalten des<br />
Pfarrers Theodor Weiß, der der „Bekennenden Kirche“ angehörte und als Vorsteher des<br />
„Hessischen Siechenhauses“ in Hofgeismar versuchte, die Bewohner seiner Einrichtung vor den<br />
„Euthanasie“-Morden zu schützen. In einem Kapitel über den Stadtfriedhof in Hofgeismar<br />
erinnert Julia Drinnenberg an einzelne Gräber und das Schicksal der vielen ausländischen<br />
Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die während des Zweiten Weltkrieges in Hofgeismar<br />
und Umgebung unter leidvollen und häufig unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit eingesetzt<br />
waren. Außerdem schildert sie die Morde an dem französischen Kriegsgefangenen Raymond<br />
Lennain und dem Familienvater Leonhard Nolte, die beide zur friedlichen Beendigung des<br />
Krieges beitragen wollten. Ein abschließendes Kapitel geht auf die Geschichte der jüdischen<br />
„Displaced Persons“ (DPs) ein, die nach dem Krieg bis 1949 in Hofgeismar lebten.<br />
Dadurch, dass Julia Drinnenberg die Adressen und ehemaligen Wohnhäuser der Verfolgten mit<br />
zahlreichen Fotos einbezieht und einen Stadtplan mit allen Erinnerungsorten anfügt, eignet sich<br />
das Buch auch sehr gut für einen Stadtrundgang. Es ist dadurch nicht nur ein Gedenkbuch,<br />
sondern kann auch zum aktiven Gedenken beitragen. Aus der Arbeit der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong><br />
wissen wir, dass Einzelschicksale, verbunden mit konkreten Orten, die Menschen sehr bewegen.<br />
Von daher ist dieses Buch nicht nur Erwachsenen, sondern auch jungen Menschen, z.B. in der<br />
schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit, sehr zu empfehlen.<br />
Gunnar Richter<br />
(Die Rezension ist erschienen im „Jahrbuch 2011 des Landkreises Kassel“, herausgegeben vom<br />
Kreisausschuss der Landkreises Kassel, Kassel 2010, S. 85.)<br />
60
(HNA-Kassel vom 13. April 2010)<br />
(HNA-Kassel und Nordhessen vom 27. Januar 2010)<br />
61
Veranstaltungen und Veranstaltungsplanung der <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> 2011<br />
62<br />
Termin Veranstaltungstitel Veranstaltungsort Koopertionspartner<br />
24./25.01.2011 Zeitzeugenveranstaltungen mit Blanka Pudler anlässlich des <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> /<br />
Gedenktages für die Opfer des NS Johann-Amos-<br />
Comenius-Schule<br />
27.01.2011 Gedenkveranstaltung der Stadt Kassel anlässlich des Mahnmal „Die Rampe“ Stadt Kassel,<br />
Gedenktages Universität Kassel<br />
Ansprache von Dr. Gunnar Richter am Mahnmal „Die Rampe“<br />
März-April „Wir mussten ja alle mitmachen…“ vhs Kassel vhs Region Kassel<br />
2011 Veranstaltungsreihe Arbeit und Leben,<br />
Deutsch-Israelische<br />
Gesellschaft,<br />
03.03.2011 (I) Der Nationalsozialismus und die Jugend vhs Kassel Evangelisches Forum,<br />
Vortrag von Prof. Dr. Jens Flemming Gegen Vergessen für<br />
Demokratie e.V.,<br />
31.03.2011 (II) Der Nationalsozialismus und die Journalisten vhs Kassel Gesellschaft für -<br />
Vortrag von Prof. Dr. Jens Flemming Christlich Jüdische<br />
Zusammenarbeit<br />
07.04.2011 (III) Die Entnazifizierung in Kassel und Nordhessen (im Spiegel vhs Kassel „<br />
der Presse)<br />
Vortrag von Dr. Gunnar Richter<br />
16.04.-30.04.2011 Osterferien<br />
07.05.2011 (IV) Exkursion in das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald Konzentrationslager „<br />
bei Weimar Buchenwald<br />
(Exkursionsleitung: Thomas Ewald und Dr. Gunnar Richter)
10.05.2011 Lehrerfortbildung zur <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> als <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> Volksbund Deutsche<br />
außerschulischem Lernort Kriegsgräberfürsorge<br />
(Leitung: Dr. Gunnar Richter und Anna Biewer)<br />
15.05.2011 Internationaler Museumstag <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong><br />
29.05.2011 Literaturtag-Hessen <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong><br />
Mai-Juni 2011 Widerstand und Verfolgung von Jugendlichen <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> vhs Region Kassel,<br />
im NS-Staat Deutsch-Israelische<br />
Veranstaltungsreihe Gesellschaft, Gegen<br />
Vergessen für<br />
26.5.-26.6.2011 (I) Ausstellung des Studienkreises: „Es lebe die Freiheit – Junge <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> Demokratie e.V.<br />
Menschen gegen den Nationalsozialismus“<br />
(II) (Film: „Die Unwertigen“ – mit dem Zeitzeugen Richard Sucker) <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> „<br />
„<br />
(08.06.2011) Jugend-KZ Uckermark <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> „<br />
(III) Vortrag von Katja Limbächer<br />
(15.06.2011) Jugend-KZ Moringen <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> „<br />
(IV) Vortrag von Dr. Dietmar Sedlaczek<br />
06.06.2011 Stadtspaziergang zu den Stätten der Erinnerung in Kassel Kassel vhs Region Kassel, Arbeit<br />
(Exkursionsleitung: Dr. Gunnar Richter und Thomas Ewald) in und Leben, Deutschder<br />
Veranstaltungsreihe „Wir mussten ja alle mitmachen…“ (s.o.) Israelische Gesellschaft,<br />
Evangelisches Forum,<br />
Gegen Vergessen für<br />
Demokratie e.V.,<br />
Gesellschaft für<br />
Christlich- Jüdische<br />
Zusammenarbeit<br />
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64<br />
23.07.-07.08.2011 Sommerferien<br />
September- Drei Biographien zum Nationalsozialismus <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> vhs Region Kassel,<br />
Oktober 2011 Veranstaltungsreihe Deutsch-Israelische<br />
Gesellschaft, Gegen<br />
Vergessen für<br />
(31.08.2011) Joseph Goebbels <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> Demokratie e.V.<br />
(I) Vortrag von Prof. Dr. Peter Longerich<br />
(14.09.2011) Eva Braun <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> „<br />
(II) Vortrag von Dr. Heike Görtemaker<br />
(28.09.2011) General Paulus <strong>Gedenkstätte</strong> <strong>Breitenau</strong> „<br />
(III) Vortrag von Dr. Torsten Diedrich<br />
10.10.-22.10.2011 Herbstferien<br />
08./09.11.2011 Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen 1938 Ehem. Synagoge Gemeinde Guxhagen,<br />
Guxhagen ev. Kirchengemeine<br />
Guxhagen<br />
November- Veranstaltungsreihe im Vorfeld der Gedenkveranstaltung vhs Region Kassel,<br />
Dezember2011 zum 70. Jahrestag der Deportation nach Riga Deutsch-Israelische<br />
Gesellschaft, Gegen<br />
Vergessen für<br />
(08.12.2011) Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Deportation nach Riga Demokratie e.V.<br />
(Die Veranstaltungen in Klammern sind erst angefragt bzw. befinden sich noch in der Planungsphase)<br />
Die genauen Termine und weitere Veranstaltungen werden Ihnen noch im Laufe des Jahres angekündigt.