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Primitive Gefühle verstehen lernen – Bions Konzept des ... - Facultas

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<strong>Primitive</strong> <strong>Gefühle</strong> <strong>verstehen</strong> <strong>lernen</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>Bions</strong> <strong>Konzept</strong> <strong>des</strong> Container-Contained<br />

Psychoanalytische Beobachtung<br />

von Säuglingen und Kindergartenkindern<br />

Gertraud Diem-Wille<br />

Wir leben nicht in einer Welt, sondern<br />

in zwei Welten …. In einer inneren Welt,<br />

die ein ebenso realer Ort zum Leben ist<br />

wie die äußere Welt.<br />

Hinshelwood (2004, 455)<br />

In meinem Beitrag gehe ich auf die Entstehung der Psyche, der „inneren Welt“ nach dem<br />

<strong>Konzept</strong> der Psychoanalyse nach Sigmund Freud und Melanie Klein ein, wie sie sich durch<br />

die Interaktion zwischen Eltern und Baby herausbildet. Die besondere Qualität <strong>des</strong> Verstehens<br />

von archaischen, primitiven <strong>Gefühle</strong>n hat Wilfried Bion in seinem Modell von<br />

Container-Contained entwickelt, das in seiner Bedeutung als notwendige frühe Kommunikation<br />

zwischen Mutter und Baby dargestellt wird. Kurz werden die Methoden der<br />

psychoanalytischen Babybeobachtung nach Esther Bick und die Young Child Observation<br />

nach dem Tavistock-Modell beschrieben und anhand von zwei Falldarstellungen illustriert.<br />

Ihre Bedeutung als erfahrungsorientierte Form <strong>des</strong> Lernens für den Erwerb einer psychoanalytischen<br />

Haltung für �erapeuten und soziale Berufe wird abschließend gewürdigt.<br />

Zur Entstehung der „inneren Welt“<br />

Es war eine von Freuds revolutionären Einsichten, dass die psychische Realität einer<br />

Person ebenso bedeutungsvoll ist wie die äußere Realität. Freud meint damit, dass die<br />

Psyche einer Person eine Beständigkeit und Widerstandsfähigkeit besitzt wie die materielle<br />

Realität. Die Art und Weise, wie eine Person sich selbst, die Welt und die anderen erlebt,<br />

wie ihre unbewussten Wünsche und die sie begleitenden Phantasien und Abwehrformen<br />

strukturiert sind, bestimmen das psychische Grundmuster einer Person. Diese Einsicht<br />

ergab sich aus der Erforschung der Verführungstheorie (Freud 1916/17): Zunächst verstand<br />

Freud die Erzählungen seiner Patientinnen über infantile traumatische Verführungen und<br />

sexuelle Grenzverletzungen als Bericht über reale Ereignisse. Später erkannte Freud, dass<br />

auch Phantasien, die nicht auf realen Ereignissen beruhen, dieselbe pathologische Wirkung<br />

auf die Patientin haben können wie reale Erinnerungen. Die unbewussten Phantasien


stellen den Großteil der menschlichen Psyche dar, nur ein geringer Teil ist dem Bewusstsein<br />

zugänglich.<br />

Melanie Klein hat dieses <strong>Konzept</strong> von Freud weitergeführt, sie spricht von der „inneren<br />

Welt“ der Person, die durch „innere Objekte 1 “, d.h. innere Bilder von relevanten Bezugspersonen,<br />

bevölkert ist, die miteinander in Beziehung stehen. Diese inneren Objekte sind<br />

durch unbewusste Phantasien und unbewusste Erfahrungen von konkreten Objekten<br />

entstanden, die in die innere Welt wie konkrete Gegenstände verinnerlicht (introjiziert)<br />

werden. Klein nahm an, dass die Psyche aus einer ganzen Welt von phantasierten Objektbeziehungen<br />

besteht. Sie nahm weiters an, dass Kinder an ihrem eigenen Inneren interessiert<br />

sind, das für sie mit guten und bereichernden Objekten gefüllt ist. Diese guten inneren<br />

Objekte sind in Gefahr, von den inneren bösen Objekten angegriffen zu werden. Das<br />

Kind verinnerlicht alle seine guten und enttäuschenden Erfahrungen mit seinen Eltern<br />

(Primärobjekten), die jedoch nicht als Abbilder der Realität genommen werden, sondern<br />

durch Phantasien und Wünsche verzerrt sind. Caper meint:<br />

„Klein schließt aus ihren Analysen, dass das Leben von Kleinkindern wortwörtlich von ihrer<br />

psychischen Realität beherrscht wird: Ihre Liebes- und Hassphantasien und Impulse und<br />

deren Derivate bilden alle eine komplexe innere Matrix, aus der sich ihr übriges mentales<br />

und emotionales Leben entwickelt.“ (Caper 2000, 158)<br />

Das Beobachten von Kleinkindern hil�, die Entstehung dieser inneren Matrix, den raschen<br />

Wechsel von verschiedenen Grundstimmungen zu sehen und zu <strong>verstehen</strong>.<br />

Für das Entstehen der Grundmuster einer Person ist es daher genauso wichtig, ob<br />

Eltern ihrem Baby ihre liebevolle Aufmerksamkeit schenken können, als auch, wie sie<br />

mit Frustration, Ärger, Enttäuschung und psychischem Schmerz umgehen. Ob sie in der<br />

Lage sind, ihre eigenen <strong>Gefühle</strong> zu erkennen, mit ihnen in Kontakt zu sein, um so einen<br />

inneren, psychischen Raum zum Aufnehmen der in sie projizierten primitiven <strong>Gefühle</strong><br />

<strong>des</strong> Babys zu haben. Die Fähigkeit der Eltern, die Stimmungen und Befndlichkeiten<br />

ihres Babys aufzunehmen, über sie nachzudenken und so ihr Baby zu <strong>verstehen</strong>, stellt<br />

einen „emotionalen Denkprozess“dar. Wir nehmen an, dass ein Baby dann dieses Modell<br />

<strong>des</strong> Denkens und Verstehens in sich aufnehmen kann und selbst psychischen Raum zum<br />

Denken entwickelt. Um Gedanken denken und <strong>Gefühle</strong> fühlen zu <strong>lernen</strong>, ist das Baby auf<br />

ein denken<strong>des</strong> Subjekt angewiesen, das seine rohen Sinneswahrnehmungen zu denkbaren<br />

Vorstellungen transformiert. Esther Bick meint, dass diese als bedeutend erlebte Person<br />

vom Baby ganz konkret als eigene Haut erlebt wird (Bick 2009, 37). Dieser psychische<br />

Transformationsprozess stellt die Grundlage <strong>des</strong> Selbstbewusstseins und <strong>des</strong> Einfühlungsvermögens<br />

sowie der Selbstreflexion dar. Daniel Stern (1977) spricht von der liebevollen,<br />

1 Unter „Objekt“ versteht die Psychoanalyse dem Subjekt gegenüberstehende andere Personen; die ersten Personen, die<br />

Eltern, werden „Primärobjekte“ genannt.<br />

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verständnisvollen Beziehung von Mutter und Baby als „in Harmonie sein“(„to be in tune“).<br />

Bei den Familien, die in Eltern-Kleinkind-�erapie kommen oder später eine psychoanalytische<br />

Hilfe in Anspruch nehmen, sehen wir, wie das Fehlen dieser frühen Erfahrung<br />

eines Containments zu Entbehrungen,Verunsicherung und Desorientierung führen kann.<br />

O� pflanzen sich schwierige Formen der Beziehung über Generationen fort, wenn Eltern<br />

ihre eigene Entbehrung und traumatischen Erfahrungen ihrem Kind unbewusst weitergeben,<br />

obwohl sie bewusst alles anders als ihre eigenen Eltern machen wollen. Im analytischen<br />

Prozess geht es dann darum, diesen verschütteten psychischen Raum zum<br />

emotionalen Denken wieder zu eröffnen, indem die Analytikerin diese dem Patienten unverständlichen<br />

Muster der Interaktion aufnimmt, sich emotional berühren lässt, darüber<br />

nachdenkt und sie dem Patienten in Form von Deutungen zum Darübernachdenken anbietet.<br />

In die innere Welt werden alle Erfahrungen der Interaktionen mit den Eltern, Stimmungen<br />

und Gefühlszustände <strong>des</strong> Babys aufgenommen. Die inneren Bilder <strong>des</strong> Säuglings<br />

werden durch die Phantasien und Wünsche beeinflusst und verzerrt <strong>–</strong> sowohl in einer<br />

idealisierten positiven als auch in einer bedrohlich verfolgenden Form. Es gibt eine<br />

Vielzahl von Bildern (Imagines) der Eltern aus unterschiedlichen Lebensphasen, die in<br />

verschiedenen Schichten übereinander existieren und zu denen wir meist keinen durch<br />

das Bewusstsein gesteuerten Zugang haben, die uns aber unbewusst stark beeinflussen<br />

und unsere Grundstimmung bestimmen. So kann etwa in einer mehrjährigen Analyse<br />

das zunächst nur negativ beschriebene Bild der Mutter neue, freundliche und liebevolle<br />

Züge annehmen, wenn durch neue emotionale Erfahrungen in der Analyse liebevolle biografsche<br />

Einzelheiten der Erfahrungen mit den eigenen Eltern erinnert werden. Wie sich<br />

die Grundstrukturen einer Person in den ersten zwölf Lebensmonaten entwickeln, wird<br />

in der psychoanalytischen Babybeobachtung zum Lerngegenstand, indem die alltägliche<br />

Interaktion zwischen Baby und Eltern, Großeltern und Geschwistern genau beobachtet<br />

und dann in einer Gruppe besprochen wird. Bevor ich auf die genauen Bedingungen dieses<br />

Lernkonzeptes von Esther Bick eingehe, soll das zentrale Modell <strong>des</strong> englischen Psychoanalytikers<br />

Wilfried Bion beschrieben werden, der eine �eorie <strong>des</strong> Denkens entwickelt,<br />

das uns hil�, die präverbalen Entwicklungen und die Entwicklung <strong>des</strong> Denkens begrifflich<br />

zu fassen.<br />

<strong>Bions</strong> Modell <strong>des</strong> „Container und Contained“<br />

Gertraud Diem-Wille<br />

Wilfried Bion hat au�auend auf den �eorien Melanie Kleins ein Modell <strong>des</strong> Container-<br />

Contained entwickelt, das uns hil�, die früheste Form der Kommunikation zwischen<br />

Mutter und Baby <strong>–</strong> aber auch im weiteren Leben zwischen Menschen <strong>–</strong> auf einer präverbalen<br />

Stufe zu <strong>verstehen</strong>. Babys sind wie ein Rohmaterial <strong>des</strong> Selbst. Sie sind mit einem<br />

genetischen Code und einzigartigen Entwicklungsmöglichkeiten ausgestattet, die aber


<strong>Primitive</strong> <strong>Gefühle</strong> <strong>verstehen</strong> <strong>lernen</strong> <strong>–</strong> <strong>Bions</strong> <strong>Konzept</strong> <strong>des</strong> Container-Contained<br />

nicht einem autonomen Programm folgen. Sie können sich nur als Antwort einer menschlichen<br />

Zuwendung entwickeln und bedürfen förderlicher Umweltbedingungen.<br />

In den ersten drei Lebensmonaten ist der Säugling noch nicht in der Lage, Beziehung<br />

zu ganzen Personen aufzunehmen, sondern er nimmt nur Teilaspekte der ihn umsorgenden<br />

Personen wahr, die Stimme der Mutter, ihre Haut, ihre Brust, ihren Geruch etc. Es<br />

spaltet seine Empfndungen in gut, befriedigend und böse, verfolgend. Wenn es in seinen<br />

Bedürfnissen befriedigt wird, gehalten ist und sich geborgen fühlt, erlebt es diese Aspekte<br />

der Mutter als gut (als idealisierte Teilobjekte), wenn es die Mutter vermisst und nicht<br />

befriedigt wird, hat es Angst, zu sterben oder auseinanderzufallen, es erlebt die Welt als<br />

gefährlich und bedrohlich. Wir nehmen an, dass das Baby auch seine eigenen primitiven<br />

<strong>Gefühle</strong> und Wahrnehmungen noch nicht als zu sich gehörig empfnden kann, sondern<br />

diese in roher Form auf einer primitiven Ebene als Körpersensationen wahrnimmt.<br />

Wilfried Bion spricht von diesen rohen, archaischen Wahrnehmungen als„Beta-Elemente“.<br />

Diese Angst, zu sterben oder auseinanderzufallen, will das Baby loswerden, es projiziert<br />

sie in die Person, die da ist. Ist die Mutter in der Lage, diese rohen Impulse (Beta-Elemente)<br />

mit ihrer Fähigkeit der„Reverie“<strong>–</strong> einem träumerischen Ahnungsvermögen <strong>–</strong> aufzunehmen,<br />

zu <strong>verstehen</strong> und gleichsam emotional zu verdauen, so kann sie diese dem Baby dann in<br />

modifzierter Form zurückgeben. Wir sprechen von einem Umwandlungsprozess, einer<br />

Transformation von Beta-Elementen in Alpha-Elemente als Gedanken, die gedacht und<br />

ausgesprochen werden können. Geht etwa eine Mutter zu einem durchdringend weinenden<br />

Baby, das „wie am Spieß schreit“ <strong>–</strong> in dieser Metapher ist die To<strong>des</strong>angst <strong>des</strong> Babys<br />

gut eingefangen <strong>–</strong>, so kann sie es aufnehmen und sagen: Was ist denn mit dir? Du weinst<br />

ja, als ob du sterben müsstest. Hast du vielleicht Hunger, oder willst du nur aufgenommen<br />

werden? Wichtig ist, so meint Bion, dass die Mutter sich wirklich von den <strong>Gefühle</strong>n <strong>des</strong><br />

Babys emotional berühren lässt. Wer ein kleines Baby versorgt hat, weiß, dass einem diese<br />

besondere Qualität <strong>des</strong> Weinens wirklich durch und durch geht. Ein Baby, das sich von<br />

einer Mutter angenommen fühlt, die eben emotional erreichbar ist und zuversichtlich ist,<br />

das Baby beruhigen zu können, verinnerlicht (introjiziert) nicht nur diese von der Mutter<br />

benannten <strong>Gefühle</strong>, seine To<strong>des</strong>angst und seinen Hunger oder Wunsch, gehalten zu werden,<br />

sondern nimmt auch diese fühlende und denkende Mutter als Modell der Transformation<br />

in seine innere Welt auf. Es kann dann mit zahlreichen Erfahrungen dieser Art<br />

selbst die Fähigkeit entwickeln, seine <strong>Gefühle</strong> zu integrieren und über sich nachzudenken.<br />

Diese Fähigkeit zum Containment verweist auf die Bezogenheit <strong>des</strong> Babys auf ein <strong>verstehen</strong><strong>des</strong><br />

Du, das sich von den rohen <strong>Gefühle</strong>n <strong>des</strong> Babys berühren lässt und darüber<br />

nachdenken kann.<br />

Babys <strong>lernen</strong> zuallererst zu fühlen, und mit Eltern, die diese rohen Wahrnehmungen<br />

<strong>verstehen</strong>, entwickeln sie psychischen Raum zum Denken (Diem-Wille 2007). Leuzinger-<br />

Bohleber schreibt, dass die <strong>Konzept</strong>ion <strong>des</strong> „Container-Contained-Modells“ in eindrucksvoller<br />

Weise den Zusammenhang zwischen frühen Objekten und der Entwicklung <strong>des</strong><br />

Denkens umfasst. Sie folgert daraus: „Bezogen auf die Frühprävention leitet sich daraus<br />

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32<br />

ein Plädoyer ab, wie wichtig die frühe containende Funktion <strong>des</strong> Primärobjektes für<br />

die affektive als auch für die kognitive Entwicklung <strong>des</strong> Babys ist.“ (Leuzinger-Bohleber<br />

2009, 82)<br />

Ob eine Mutter oder ein Vater imstande sind, die rohen Beta-Elemente ihres Babys aufzunehmen,<br />

hängt von der Qualität ihrer eigenen inneren Objekte, ihrer eigenen Erfahrungen<br />

als Baby ab. Das heißt, von den verinnerlichten Bildern ihrer eigenen Eltern und<br />

deren Beziehung zu ihnen. Die inneren Bilder der Mutter oder <strong>des</strong> Vaters sind nie 1:1-Abbildungen<br />

der realen Mutter/<strong>des</strong> realen Vaters, sondern sind immer durch die Wünsche,<br />

Ängste und Phantasien <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> verzerrt. Da in unserer Psyche nichts verloren geht 2 ,<br />

hat jede Person eine Vielzahl unterschiedlicher positiver und negativer mütterliche Imagines<br />

in sich. Es kommt darauf an, ob die Mutter eines eben geborenen Babys überwiegend<br />

positive Erfahrungen gemacht hat, so dass sie auf eine innere Kra�quelle und ein „intuitives<br />

Wissen“ zurückgreifen kann. 3 Ein soziales Netz von helfenden Freunden oder Familienangehörigen<br />

kann eine große Unterstützung in der ersten, sensiblen Phase mit einem<br />

neuen Baby sein, in der Mutter und Baby einander erst kennen <strong>lernen</strong> müssen. All die Ungewissheit,<br />

ob die neue Mutter imstande sein wird, sich um ihr Baby zureichend gut zu<br />

kümmern, es zu versorgen, zu halten, zu lieben und zu trösten, stellt eine große Herausforderung<br />

dar.<br />

Eine Psychotherapie oder Analyse kann für eine junge Mutter ein Containment darstellen,<br />

das ihr hil� <strong>–</strong> auch bei mangelnden eigenen positiven Erfahrungen <strong>–</strong>, ihrem Kind<br />

ein Containment zu ermöglichen. Wie wichtig diese haltende Funktion ist, können die<br />

Turbulenzen am Wochenende zeigen, wenn die Analytikerin als emotional nicht erreichbar<br />

erlebt wird und sich die Analysandin verloren und einsam fühlt und dann die Bedürfnisse<br />

ihres Babys als unerträglich und unbefriedigbar erlebt und verzweifelt ist, sich überfordert<br />

fühlt. Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie es der Patientin im analytischen Prozess langsam<br />

gelingt, die „analytische Mutter“ zu internalisieren und deren Fähigkeit zum Containment<br />

in ihre eigene Persönlichkeit zu integrieren.<br />

Psychoanalytische Säuglingsbeobachtung nach Esther Bick<br />

Gertraud Diem-Wille<br />

Die psychoanalytische Babybeobachtung nach Esther Bick ist keine Beobachtung im<br />

Laboratorium unter einer exakt defniertenVersuchsanordnung, sondern eine Beobachtung<br />

im realen Kontext der Familie zu Hause. Das heißt, dass bei jeder Beobachtung <strong>–</strong> eben<br />

als reales Leben <strong>–</strong> eine Vielzahl von unterschiedlichen �emen und Handlungen von der<br />

beobachtenden Person gesehen und von den Eltern gemanagt werden muss. Es geht um<br />

2 Damasio weist in seinem Buch „Ich fühle, also bin ich“ (2004) darauf hin, dass wir alle Erfahrungen im Gehirn<br />

gespeichert haben und sie jeweils aktualisieren, auch wenn wir dies nicht bewusst tun.<br />

3 Papousek spricht von einer „intuitiven Elternscha�“, meint aber vermutlich eben die auf eigenen Erfahrungen beruhenden<br />

Muster der Persönlichkeit, die durch die Interaktion mit den Eltern gebildet wurden.


<strong>Primitive</strong> <strong>Gefühle</strong> <strong>verstehen</strong> <strong>lernen</strong> <strong>–</strong> <strong>Bions</strong> <strong>Konzept</strong> <strong>des</strong> Container-Contained<br />

das Aufnehmen winziger Details der alltäglichen Handlungen <strong>–</strong> mimische Reaktionen,<br />

ein tiefer Blick zwischen Mutter und Baby, das zu einem ansteckenden Lachen wird, oder<br />

ein mehrmaliger Versuch eines Babys, die Aufmerksamkeit der Mutter zu erregen. Diese<br />

winzigen Details entschwinden im Alltag rasch unserem Gedächtnis, sind aber für<br />

die Entwicklung der emotionalen Struktur und Erwartungshaltungen von zentraler Bedeutung.<br />

Daniel Stern (1985) hat diese Interaktionsmuster „Muster <strong>des</strong> Zusammenseins“<br />

genannt, er hat jedoch nicht den Anspruch, Aussagen über die Entstehung der inneren<br />

Welt zu machen, wie dies in der psychoanalytischen Babybeobachtung intendiert ist. Bei<br />

der psychoanalytischen Säuglingsbeobachtung geht es um den Versuch, die „emotionale<br />

Wahrheit“ zu erfassen, die Nuancen festzuhalten (Miller 1989, 3). Dabei wird ein neues<br />

<strong>Konzept</strong> der teilnehmenden Beobachtung zugrunde gelegt. Sie hat primär das Ziel,<br />

der beobachtenden Person tiefe emotionale Erfahrungen zu ermöglichen. Die Aufgabe der<br />

Beobachterin ist es, in der Rolle der Beobachterin zu bleiben, alle Details der Interaktion<br />

aufzunehmen, ohne sie zu bewerten und zu kommentieren, und zugleich offen zu sein,<br />

die Äußerungen der primitiven <strong>Gefühle</strong> <strong>des</strong> Babys aufzunehmen und gleichzeitig sich<br />

selbst zu beobachten, welche eigenen <strong>Gefühle</strong> dadurch aktualisiert werden. In soziologischen<br />

Beobachtungskontexten versucht der Beobachter möglichst neutral zu bleiben<br />

und von seinen eigenen <strong>Gefühle</strong>n abzusehen, um einer objektiven Wahrheit nahezukommen.<br />

Ganz anders in der psychoanalytischen Beobachtung. Diese regelmäßige und<br />

systematische Beobachtung ermöglicht der Beobachterin, an den primitiven emotionalen<br />

Prozessen, die die ersten Lebensmonate eines Babys bestimmen, Anteil zu nehmen und<br />

auf diese turbulenten Szenen selbst emotional zu reagieren. Wie in einem Vergrößerungsglas<br />

ermöglicht das konzentrierte Aufnehmen jeder kleinsten körperlichen Reaktion <strong>des</strong><br />

Babys, jeder mimischen und akustischen Aktion oder Reaktion, eine unglaublich intensive<br />

Atmosphäre, da wir nicht umhinkönnen, uns davon berühren zu lassen. Hinshelwood<br />

weist darauf hin, dass in einem sehr frühen Stadium <strong>des</strong> Lebens Bedeutung in Form<br />

körperlicher Aktivität erfahrbar wird (Hinshelwood 2004, 52ff.).<br />

Margaret Rustin (1989) fokussiert die beiden unterschiedlichen Quellen der Angst in<br />

der beobachtenden Person, nämlich die Angst, die sich aus der neuen und anspruchsvollen<br />

Aufgabe der psychoanalytischen Babybeobachtung ergibt, und die Begegnung mit primitiven<br />

Ängsten, die sich vermutlich aus der Beziehung zwischen Mutter und Baby ergeben.<br />

Sie untersucht die verschiedenen Stadien dieser Ängste und Bedenken, die in der Seminargruppe<br />

bei der Vorstellung, in einer Familie ein Jahr lang zu beobachten, wachgerufen<br />

werden <strong>–</strong> bis zu den die konkrete Beobachtung begleitenden Ängsten. 4 Diese beiden<br />

Angstquellen hängen eng miteinander zusammen.<br />

Daraus ergibt sich eine einfache, aber geniale Methode, laufend Übertragungs- und<br />

Gegenübertragungsprozesse zu erfahren und zu reflektieren.<br />

4 Siehe den ins Deutsche übersetzten Beitrag in diesem Band: „In Berührung mit primitiven Ängsten“.<br />

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34<br />

Das Setting der psychoanalytischen Beobachtung<br />

Gertraud Diem-Wille<br />

Wöchentliche Beobachtung<br />

Die Aufgabe der beobachtenden Person besteht darin, ein Baby über den Zeitraum eines<br />

Jahres (an der Tavistock Clinic wird die Familie zwei Jahre lang beobachtet) regelmäßig<br />

einmal pro Woche im familiären Kontext zu beobachten. Es werden während der Beobachtung<br />

keine Notizen gemacht. Es ist die Aufgabe <strong>des</strong> Beobachters, eine Familie zu<br />

fnden und die Zustimmung zur Beobachtung zu erhalten. Schon diese Anbahnungsgespräche<br />

mit der werdenden Mutter und dem werdenden Vater vermitteln wichtige<br />

Informationen über die Situation, in die das Baby hineingeboren wird. Sind die Eltern auf<br />

die Geburt vorbereitet, haben sie schon einige Jahre als Paar miteinander gelebt und sich<br />

dieses Baby gewünscht? Sind sie von der Schwangerscha� überrascht worden oder sind<br />

sie erst dabei, eine gemeinsame Wohnung und ein Kinderzimmer einzurichten? Leben<br />

die Eltern bereits mit einigen Kindern in dieser Wohnung oder müssen sie erst Platz für<br />

das neue Baby schaffen? Ist die Mutter ganz jung oder ist sie älter und hat nicht mehr mit<br />

einer Schwangerscha� gerechnet? Sehr sorgfältig werden alle Details der Familie, die<br />

Wohngegend, die Einrichtung der Wohnung und die Atmosphäre <strong>des</strong> Gesprächs vom<br />

Beobachter aufgenommen. Die Beobachter sind dazu angehalten, den werdenden Eltern<br />

ihr Anliegen und die Art und Weise der Beobachtung kurz zu beschreiben und dann offen<br />

für alle Erzählungen der Eltern über die Schwangerscha� und die geplante Geburt zu sein.<br />

Der Beobachter vermittelt den Eltern, dass er die alltägliche Situation beobachten will,<br />

d.h., wer auch immer das Baby betreut, wird beobachtet, und die Eltern sollen keine besonderen<br />

organisatorischen Maßnahmen treffen. Die Beobachter sollen aber keine Fragen<br />

stellen, sondern eher betonen, dass sie an allem, was das Baby betri�, interessiert sind.<br />

Dieses Angebot, zuzuhören, wird von den Eltern in einer für die Beobachter o� überraschenden<br />

Art dankbar angenommen. Wir gehen von der Annahme aus, dass die Art<br />

und Weise, wie der Beobachter in die Familie aufgenommen wird, Anhaltspunkte dafür<br />

liefern kann, wie die Aufnahme <strong>des</strong> Babys erfolgen wird.<br />

Wenn die werdenden Eltern zugestimmt haben, die Beobachtung für den Zeitraum<br />

eines Jahres zu ermöglichen, wird eine Kontaktaufnahme möglichst rasch nach der Geburt<br />

<strong>des</strong> Babys vereinbart. Der Beobachter geht flexibel auf die Wünsche der Familie ein, ob<br />

z.B. die Mutter bis zur Geburt einmal pro Woche angerufen werden will oder der Vater<br />

den Beobachter nach der Geburt kontaktiert. Häufg erfolgt die Mitteilung auch über eine<br />

SMS-Nachricht, die an alle Freunde versandt wird.<br />

Niederschri� der Beobachtung<br />

Möglichst anschließend an die Beobachtung beschreibt der Beobachter detailliert die<br />

Interaktion in der Familie. Die Aufgabe ist es, eine genaue Beschreibung der Handlungen,<br />

Stimmungen, körperlichen Ausdrucksweisen, Interaktionen und Erzählungen,<br />

die während der Beobachtung wahrgenommen wurden, zu erstellen. Es geht nicht um


<strong>Primitive</strong> <strong>Gefühle</strong> <strong>verstehen</strong> <strong>lernen</strong> <strong>–</strong> <strong>Bions</strong> <strong>Konzept</strong> <strong>des</strong> Container-Contained<br />

Interpretationen oder theoretische Erläuterungen, sondern die Erfahrungen während<br />

der Beobachtung sollen frisch und nachvollziehbar in Worte gefasst werden, so dass sich<br />

die anderen Seminarteilnehmer der psychoanalytischen Beobachtung ein Bild machen<br />

können. Das Zentrum der Beobachtung ist das Baby und alles, was das Baby betri�. Umwelteinflüsse<br />

sind ebenso wichtig, da etwa eine Veränderung <strong>des</strong> Berufs <strong>des</strong> Vaters, ein<br />

Krankheits- oder To<strong>des</strong>fall in der Familie die Stimmung der Mutter und <strong>des</strong> Vaters beeinflussen<br />

und es dann wichtig ist, zu sehen, an welchen Verhaltensweisen <strong>des</strong> Babys wir<br />

erkennen, dass es darauf reagiert.<br />

Diese Aufgabe, eine Beschreibung der Beobachtung ohne Wertung und positive oder<br />

negative Färbung zu erstellen, ist natürlich nicht möglich, da gewisse Worte bereits eine<br />

positive oder negative Konnotation besitzen. Aber es ist eben dann wichtig, zu beschreiben,<br />

an welchen Details z.B. eine traurige Stimmung festzumachen ist, also genau auf das Baby<br />

und auf die Handlungen der Mutter zu achten.<br />

Eine weitere wichtige Datenquelle sind die im Beobachter wachgerufenen Empfndungen<br />

und <strong>Gefühle</strong>. Unbewusste Kommunikation zwischen Familie und Beobachter sind o�<br />

nur an der vermittelten Stimmung zu erkennen.<br />

Diskussion der Beobachtungsprotokolle in der Seminargruppe<br />

In einer Seminargruppe werden dann die Notizen besprochen und behutsam Vermutungen<br />

und Hypothesen über die Entwicklung der inneren Welt <strong>des</strong> Babys diskutiert.<br />

Dabei hat der Beobachter Gelegenheit, zu erleben, welche Reaktionen seine Beschreibungen<br />

bei den anderen Seminarteilnehmern auslösen. O� identifzieren sich einzelne<br />

Teilnehmer unbewusst mit einer Person oder Teilaspekten einer Person, z.B. der Mutter<br />

oder <strong>des</strong> Babys. In der Gruppe kann so die emotionale Situation der Familie „widergespiegelt“<br />

werden, was wir als Resonanzphänomen <strong>verstehen</strong> und das uns wichtige<br />

Hinweise auf die beobachtete Familie geben kann. Manchmal lösen die beschriebenen<br />

Reaktionen Angst und Besorgnis aus. Die emotionale Intensität kann auf den Beobachter<br />

so bedrohlich wirken, dass er die emotionale Unterstützung, das Containment der Gruppe<br />

braucht. Die Aufgabe <strong>des</strong> Seminarleiters, einer Psychotherapeutin oder Psychoanalytikerin<br />

ist, eine offene Lernatmosphäre zu schaffen, die neue Erfahrungen ermöglicht, statt Faktenwissen<br />

aufzunehmen. Bradly 5 schreibt:<br />

“�e relationship between the seminar leader and the members of the group is at the heart<br />

of the learning experience. … �e crucial role of the seminar leader is in finding a way<br />

for the group to become aware of the nature of the distress being communicated … And to<br />

be able to hold on to it for long enough to get beyond immediate defensive responses, and<br />

ultimately to understand more about the relationships …” (Bradly 2008, 22)<br />

5 Bradly beschreibt die Aufgabe <strong>des</strong> Seminarleiters in Work-Discussion-Gruppen, aber ich denke, sie gelten gleichermaßen<br />

für Seminarleiter der Babybeobachtungsgruppen.<br />

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36<br />

Gertraud Diem-Wille<br />

Zentrale Aufgabe der Seminargruppe ist es, der beobachtenden Person zu helfen, die Rolle<br />

und Aufgabe <strong>des</strong> Beobachters zu erfüllen und seine bewusste und unbewusste Haltung<br />

seiner Aufgabe und der Familie gegenüber zu reflektieren. Bick schreibt:<br />

„Da die Säuglingsbeobachtung mehr als Ergänzung der psychoanalytischen und kinderpsychotherapeutischen<br />

Ausbildung denn als Forschungsinstrument gedacht war, hielt man<br />

es für wichtig, dass der Beobachter sich selbst so weit als Teil der Familie erlebte, dass er die<br />

emotionalen Eindrücke wahrnehmen konnte, sich jedoch nicht verpflichtet fühlte, die ihm<br />

auferlegten Rollenangebote zu erfüllen, wie beispielsweise Ratschläge zu erteilen oder Zustimmung<br />

und Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. … Mit anderen Worten: Er sollte<br />

ein privilegierter und daher dankbarer teilnehmender Beobachter sein.“ (Bick 2009, 20) 6<br />

Es gilt in der Gruppe, der beobachtenden Person erkennen zu helfen, wenn z.B. das<br />

ältere Kind sie als Verbündete zu gewinnen sucht, oder wenn die Mutter versucht,<br />

eine starke Abhängigkeit zur Beobachterin aufzubauen. Eine allein stehende Mutter kann<br />

unbewusst versuchen, den männlichen Beobachter in Situationen als Ersatz <strong>des</strong> Vaters<br />

zu bringen, wie etwa gemeinsam im Park spazieren oder ins Kaffeehaus zu gehen.<br />

Eine besonders schwierige Situation in der Seminargruppe kann die Auswirkung der<br />

depressiven Tendenzen der Mutter nach der Geburt darstellen. So beschreibt Bick in<br />

ihrem Beitrag, wie die Gruppe sich immer mehr mit der emotionalen Situation der Mutter<br />

statt mit dem Baby zu beschä�igen begann und die Haltung der Gruppe der Mutter gegenüber<br />

immer kritischer wurde (vgl. Bick 2009, 21, Symington 2002, 80). Die Seminargruppe<br />

stellt für die Beobachter einen Container dar, der helfen soll, die o� schwierigen<br />

und belastenden Situationen auszuhalten und die Beobachtungsaufgabe wahrnehmen zu<br />

können.<br />

Diese Lernmethode wird von Teilnehmern als der zentrale Teil der Ausbildung (Sternberg<br />

2005; Turner, Ingrisch 2009) und als geniale Methode bezeichnet, genau hinschauen<br />

zu <strong>lernen</strong> und sich der eigenen <strong>Gefühle</strong> und der in sich durch die beobachtete Situation<br />

wachgerufenen <strong>Gefühle</strong> bewusst zu werden. Dieses Lernen durch Erfahrung im Seminar<br />

ermöglicht es den Teilnehmern, dieses Wissen in die eigene Persönlichkeit zu integrieren<br />

und eine psychoanalytische Grundhaltung <strong>des</strong> Zuhörens sowie Beobachtens zu er<strong>lernen</strong>.<br />

Dabei ist es wichtig, emotional in Distanz gehen und reflektieren zu können, dabei aber<br />

emotional erreichbar zu bleiben und die <strong>Gefühle</strong> <strong>des</strong> Babys containen zu können.<br />

6 Inzwischen wurde die Methode der Säuglingsbeobachtung auch in kreativer und vielfältiger Weise in der wissenscha�lichen<br />

Forschung angewandt (Diem-Wille 1997, 2007, 2009, Briggs 2002, Datler 2001, 2004).

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