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Häusliche Pflege für psychisch Kranke - Landesfachbeirat ...

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<strong>Landesfachbeirat</strong><br />

Psychiatrie<br />

Niedersachsen<br />

_____________________________________________________________________<br />

<strong>Häusliche</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>für</strong> <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong><br />

- Erfahrungen und Perspektiven -<br />

Fachtagung des <strong>Landesfachbeirat</strong>s Psychiatrie Niedersachsen in Verbindung<br />

mit den Beteiligten im Modellprogramm „Ambulante psychiatrische Versorgung<br />

an ausgewählten Orten Niedersachsens“<br />

am 31. Januar 2001 im Leibnizhaus, Am Holzmarkt 5, 30159 Hannover<br />

_____________________________________________________________________<br />

_____________________________________________________________________<br />

Hannover, Juli 2001<br />

© Medizinische Hochschule Hannover<br />

Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie<br />

Arbeitsbereich Versorgungsforschung<br />

30623 Hannover<br />

Tel.: 0511/532-5529<br />

Fax:<br />

e-mail:<br />

0511/532-8526<br />

Versorgungsforschung@mh-hannover.de<br />

_____________________________________________________________________<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorbemerkung<br />

Gerhard Holler, Geschäftsführer des <strong>Landesfachbeirat</strong>s Psychiatrie Niedersachsen 1<br />

Begrüßung<br />

Ministerialdirigentin Hedwig Ratering, Nds. Ministerium <strong>für</strong> Frauen, Arbeit und Soziales 5<br />

Ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> – Ein unverzichtbarer Bestandteil des 8<br />

personenbezogenen Hilfesystems<br />

Dr. Niels Pörksen, Vorstandsmitglied der Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong>, Bielefeld<br />

Erfahrungen und Erkenntnisse aus der bisherigen Modellerprobung ambulanter 16<br />

psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege in Bersenbrück, Delmenhorst, Quakenbrück,<br />

Weyhe und Varel<br />

Historie, Ziele und Inhalte des Modellprojektes „Ambulante psychiatrische 16<br />

<strong>Kranke</strong>npflege in ausgewählten Regionen Niedersachsens“<br />

Frank Schwietert, Gesundheitszentrum Artland gGmbH Quakenbrück<br />

Ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege bei den Freien Sozialen Diensten 22<br />

Friesland<br />

Vera Kropp, Freie Soziale Dienste Friesland, Varel<br />

Betriebswirtschaftliche Erkenntnisse und Anforderungen <strong>für</strong> eine 27<br />

Weiterführung ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege<br />

Gerjet Boom, AWO Sozialstation gGmbH Delmenhorst<br />

Ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege (APP) in Kooperation mit den 34<br />

verordnenden Ärzten<br />

Wilfried Kannegießer, Geschäftsführer der Psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege “Prisma“, Weyhe<br />

Einschneidende Defiziterfahrungen fordern Abhilfe: Ambulante psychiatrische 37<br />

<strong>Kranke</strong>npflege wird dringend benötigt<br />

Rose-Marie Seelhorst, Landesvorsitzende der Angehörigen <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r in<br />

Niedersachsen und Bremen<br />

Perspektiven einer umfassenden ambulanten Versorgung akut behandlungs- 45<br />

bedürftiger <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r – Statements aus fachlicher Sicht<br />

Als <strong>Pflege</strong>anbieter in Bremen: Wolfgang Faulbaum-Decke, Bremen 45<br />

Als ärztliche Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes Delmenhorst: 51<br />

Dr. med. I. Brandenbusch<br />

Als stellvertretende Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsens: 54<br />

Dr. med. Cornelia Goesmann<br />

Als Dezernent eines Landkreises: 57<br />

Kreisrat Gerd Hoofe, Osnabrück<br />

Als Chefarzt eines psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhauses: 62<br />

Dr. Klaus Stutte, Quakenbrück<br />

Als Bereichsleiter der Regionaldirektion der AOK-Syke: 66<br />

Klaus Bochow<br />

2


Vorbemerkung<br />

Die Tagung zur häuslichen psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege am 31. Januar diesen Jahres im<br />

Leibnizhaus Hannover war vom <strong>Landesfachbeirat</strong> veranstaltet worden, um den Blick der<br />

Fachöffentlichkeit auf erfreuliche Fortschritte im Lande zu richten. Zwar betraf dies noch<br />

nicht das gesamte Land Niedersachsen, aber an ausgewählten Orten fanden seit 1999 Modellerprobungen<br />

statt, die zum einen die Angaben und Hinweise der Niedersächsischen<br />

Empfehlungen zur Umsetzung der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong> <strong>für</strong> konkrete Hilfsangebote<br />

nutzten und zum anderen die Maßgaben des Niedersächsischen Psychisch <strong>Kranke</strong>ngesetz<br />

(NPsychKG), wonach lt. § 10 Behandlung, <strong>Pflege</strong>, Rehabilitation und<br />

psychosoziale Versorgung zu einem gemeindepsychiatrischen Hilfeprofil zu gestalten sind,<br />

aufgriffen. Sie nahmen dies zum Anlass, um <strong>für</strong> schwer <strong>psychisch</strong> erkrankte Menschen ambulante<br />

Komplexleistungsprogramme anzubahnen. Auf die Weise sollte in Umsetzung theoretischer<br />

Annahmen durch praktischen Vollzug deutlich werden, was solche Patienten<br />

tatsächlich benötigen und wie wichtig in diesem Zusammenhang ambulante psychiatrische<br />

<strong>Kranke</strong>npflege ist.<br />

Nach über einem Jahr intensiver direkter Hilfeerprobung von psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege,<br />

die von den gesetzlichen <strong>Kranke</strong>nkassen Niedersachsens im Rahmen individueller Bewilligungen<br />

an den Erprobungsorten Bersenbrück, Delmenhorst, Quakenbrück, Varel und Weyhe<br />

finanziert worden war, lagen eine Reihe weiterführender Anhaltspunkte über die<br />

Einsatzmöglichkeiten ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege und deren Wirkung anhand<br />

detaillierter Einzelfallanalysen vor. Die Evaluationsergebnisse der Medizinischen Hochschule<br />

Hannover, die im Auftrage der Niedersächsischen Landesregierung tätig wurde, waren zu<br />

einem ausführlichen Zwischenbericht zusammengefasst worden, dessen wichtigste Ergebnisse<br />

bei dieser Gelegenheit der Fachöffentlichkeit präsentiert wurden.<br />

Zwischenbilanzen sind erfahrungsgemäß <strong>für</strong> Modellerprobungen von besonderer Bedeutung.<br />

Schließlich sind Anbieter von Hilfen wie auch die vor Ort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

darauf angewiesen, dass sie frühzeitig Rückmeldung darüber erhalten, ob ihr Angebot<br />

im Trend liegt und inwieweit die vorgelegten Wirkungsnachweise diejenigen überzeugen, in<br />

deren Hand es liegt, die Gleichstellung <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r und somatisch <strong>Kranke</strong>r in Bezug<br />

auf psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege durch Klarstellung von Standards und Finanzierungsmodalitäten<br />

herbeizuführen. Dies geht über den engeren Kreis der Fachleute hinaus, der in der<br />

Niedersächsischen Arbeitsgruppe zur ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong> die Umsetzungsempfehlungen<br />

formuliert und verantwortet hatte. Bei der Tagung kam es darauf an, die Personen<br />

<strong>für</strong> das Modellanliegen zu erwärmen, die über die Fortführung des Hilfeansatzes vor<br />

3


Ort nach Abschluss des Modells und über die Ausweitung eines solchen Hilfeprogramms auf<br />

Niedersachsen insgesamt entscheiden.<br />

Der <strong>Landesfachbeirat</strong> Psychiatrie Niedersachsen ist als Veranstalter aufgetreten, denn er<br />

möchte gerade in dieser Richtung die Chancen <strong>für</strong> ein ambulantes Komplexleistungssystem<br />

in Umsetzung des NPsychKG verbessern. Ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege ist hier<br />

ein wichtiger Prüfstein <strong>für</strong> das Engagement der <strong>Kranke</strong>nkassen bei der Qualitätssicherung<br />

des Sozialpsychiatrischen Verbunds.<br />

Daher ist es <strong>für</strong> alle Beteiligten sehr hilfreich, dass bei der Tagung zu den maßgeblichen<br />

Leitfragen der Modellerprobung dezidierte Expertenmeinungen geäußert wurden. Diese lassen<br />

sich folgendermaßen zusammenfassen:<br />

- Welche Regelungen müssten getroffen und welche Voraussetzungen sollten geschaffen<br />

werden, damit <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> und seelisch Behinderte umfassende Versicherungsleistungen<br />

im Sinne ihrer Gleichstellung mit somatisch <strong>Kranke</strong>n erhalten?<br />

Welcher Stellenwert kommt dabei der ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege zu?<br />

- Ist das in den Niedersächsischen Empfehlungen <strong>für</strong> ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege<br />

vom <strong>Landesfachbeirat</strong> Psychiatrie Niedersachsen ausformulierte und bei<br />

der Modellerprobung realisierte Leistungsprogramm so praxisrelevant, dass es Fachärztinnen<br />

und Fachärzte motiviert, psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege bedarfsgerecht zu<br />

verordnen? Haben ambulant tätige <strong>Pflege</strong>dienste in den dort spezifizierten Leistungskomplexen<br />

eine hinreichende Orientierungshilfe, um nach entsprechender ärztlicher<br />

Verordnung die Übernahme solcher Aufgaben anhand des eigenen Unternehmensprofils<br />

realisieren zu können?<br />

- Motiviert die Möglichkeit, ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege nach § 37 Abs. 1<br />

(<strong>Kranke</strong>nhausvermeidungspflege) und § 37 Abs. 2 (Stabilisierung des ärztlichen Behandlungsprogramms)<br />

verordnen zu können, die Nervenärzte dazu im größeren Umfange<br />

Hausbesuche durchzuführen und häusliche Behandlungen (Hometreatment)<br />

vorzunehmen?<br />

- Werden <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>, die bislang bei akutem Behandlungsbedarf in die Klinik<br />

eingewiesen wurden, durch ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege kontinuierlich in<br />

ambulante Behandlungsprogramme integriert, so dass hierüber Klinikbehandlungen<br />

vermieden und reduziert werden können?<br />

4


Wesentliche Anhaltspunkte <strong>für</strong> die Beantwortung dieser Fragen enthielt schon der Zwischenbericht.<br />

Aber nach allen Erfahrungen verschwinden derartige Berichte häufig mehr oder<br />

weniger gelesen in Schubladen. Daher war es <strong>für</strong> den <strong>Landesfachbeirat</strong> Psychiatrie<br />

Niedersachsen wichtig, diese Fragestellungen zum Gegenstand einer öffentlichen Aussprache<br />

und gewissermaßen auch Anhörung zu machen.<br />

Für den <strong>Landesfachbeirat</strong> Psychiatrie Niedersachsen war es daher ermutigend, dass die um<br />

einen Vortrag bzw. ein Statement gebetenen Expertinnen und Experten allesamt zusagten<br />

und damit bestätigten, dass ihnen die Durchführung der ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhausvermeidungs-<br />

und Behandlungspflege ein wichtiger Punkt ist, zu dem sie Stellung<br />

nehmen wollten. Auf diese Weise gelang es, ein breites Spektrum von Hinweisen und Anregungen<br />

zu erhalten, die die Bedeutung häuslicher psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege betonten.<br />

Die auf der Tagung geäußerten Expertenauffassungen stellen somit eine qualitative Aussageergänzung<br />

zum Zwischenbericht dar. Der hier vorgelegte Dokumentationsband macht dies<br />

deutlich. Er kann daher als Reader genutzt werden, um sich mit den einzelnen Positionen<br />

und Sichtweisen vertraut zu machen.<br />

Die Struktur des Berichts entspricht dem der Tagung: Im Anschluss an die Begrüßung durch<br />

Frau Ministerialdirigentin Ratering vom Niedersächsischen Ministerium <strong>für</strong> Frauen, Arbeit<br />

und Soziales folgte die Darstellung des Erfordernisses ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege<br />

durch Dr. Niels Pörksen. Er stellte die Positionen der Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> dar,<br />

wie sie auch in deren Gutachten, welches das Bundesministerium <strong>für</strong> Gesundheit ausdrücklich<br />

erbeten hatte, zum Ausdruck gekommen sind.<br />

Daran schließen sich die Angaben zum bisherigen Projektverlauf aus Bersenbrück, Delmenhorst,<br />

Quakenbrück, Weyhe und Varel an, die deutlich machen, dass nicht nur die Umsetzung<br />

der Inhalte selbst, sondern ebenso deren Integration in den Sozialpsychiatrischen<br />

Verbund sowie deren betriebswirtschaftliche Konsequenzen und die Organisation und Strukturierung<br />

der Kooperation mit den verordnenden Ärzten, die Durchführenden vor besondere<br />

Aufgaben stellen.<br />

Schon seit langem fordern die Angehörigen der <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n die psychiatrische häusliche<br />

<strong>Kranke</strong>npflege als Regelangebot ein. Deshalb wurde das Referat von Frau Rose-Marie<br />

Seelhorst, der Landesvorsitzenden der Angehörigen Psychisch <strong>Kranke</strong>r, mit besonderer Beachtung<br />

nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern als Bestätigung <strong>für</strong> den Bedarf in der<br />

weiteren Diskussion gewertet und gewürdigt.<br />

5


Den abschließenden Teil bilden die Statements derjenigen, die gestaltend und mitwirkend<br />

die ambulante psychiatrische Versorgung in Niedersachsen beeinflussen. Deren Aussagen<br />

geben den Projektverantwortlichen wichtige Hinweise und Anregungen, worauf in der<br />

Schlussphase der Modellerprobung besonders zu achten ist. Darüber hinaus geben die Aussagen<br />

auch einen Eindruck von den Erwartungen, die potentielle Be<strong>für</strong>worter an die Praxis<br />

der ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege haben.<br />

Der <strong>Landesfachbeirat</strong> Psychiatrie Niedersachsen nahm aus dieser Tagung den Auftrag mit,<br />

nachdrücklich darauf hinzuarbeiten, dass psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege zu einem Regelangebot<br />

im Rahmen häuslicher Behandlung <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r wird. Der hier vorgelegte Dokumentationsband<br />

lässt sich als Referenzunterlage hier<strong>für</strong> nutzen.<br />

• Die Niedersächsischen Empfehlungen zur Umsetzung der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong><br />

(Hrsg.) <strong>Landesfachbeirat</strong> Psychiatrie Niedersachsen und der<br />

• Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitung über Ambulante psychiatrische Versorgung<br />

in ausgewählten Orten Niedersachsens – Umsetzung der Niedersächsischen Empfehlungen<br />

zur ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong><br />

(Hrsg.) Medizinische Hochschule Hannover<br />

Abteilung <strong>für</strong> Sozialpsychiatrie und Psychotherapie<br />

Arbeitsbereich Versorgungsforschung<br />

sind in der Geschäftsstelle des <strong>Landesfachbeirat</strong>s Psychiatrie Niedersachsen<br />

Medizinische Hochschule Hannover<br />

Abteilung <strong>für</strong> Sozialpsychiatrie und Psychotherapie<br />

Arbeitsbereich Versorgungsforschung<br />

30625 Hannover<br />

in begrenzter Anzahl verfügbar und können dort angefordert werden.<br />

6


Begrüßung<br />

Ministerialdirigentin Hedwig Ratering, Nds. Ministerium <strong>für</strong> Frauen, Arbeit und Soziales<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, ich darf Ihnen die Grüße der Niedersächsischen Landesregierung<br />

und insbesondere die von Frau Ministerin Dr. Trauernicht zu der heutigen Fachtagung<br />

"<strong>Häusliche</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>für</strong> <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>" überbringen. Frau Dr. Trauernicht kann wegen<br />

anderer Verpflichtungen leider nicht teilnehmen. Sie bedauert dies sehr.<br />

Frau Dr. Trauernicht hat das Modellprogramm "Ambulante psychiatrische Versorgung in<br />

ausgewählten Orten des Landes Niedersachsen" mit außerordentlich großem Interesse zur<br />

Kenntnis genommen und die Fachabteilung beauftragt, ihr Einzelheiten zu berichten.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, das Modellprogramm läuft nun seit zwei Jahren. Wir haben<br />

den Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitung vorliegen, wie ihn der Projektbeirat<br />

bereits beraten hat.<br />

Das Ziel des Modellprogramms ist, stationäre <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung zu vermeiden und<br />

zugleich die ambulante fachärztliche Betreuung zu sichern. Für mich ist dies, meine Damen<br />

und Herren, ein ganz entscheidender Schritt vorwärts:<br />

Erstens ersparen wir den Patientinnen und Patienten den dauernden Wechsel zwischen ambulanter<br />

und stationärer Versorgung mit wiederholten <strong>Kranke</strong>nhauseinweisungen. Wir sichern<br />

durch ein umfängliches Versorgungsangebot fachärztlicher Kompetenz,<br />

behandlungspflegerischer Kompetenz und Betreuung den Verbleib in der eigenen Häuslichkeit.<br />

Dies ist aus der Sicht der betroffenen Patientinnen und Patienten als Alternative zur stationären<br />

Versorgung zu begrüßen.<br />

Des Weiteren bleibt die Kontinuität der Behandlung und <strong>Pflege</strong> durch den niedergelassenen<br />

Facharzt und durch den <strong>Pflege</strong>r gewährleistet. Ich denke, man muss nicht Ärztin sein, um zu<br />

beurteilen, dass dies <strong>für</strong> den Heilungsverlauf förderlich ist.<br />

Und zum Dritten, meine Damen und Herren, verspreche ich mir von diesem Modellversuch,<br />

dass wir den Beweis da<strong>für</strong> antreten können, dass dieser Weg nicht nur fachlich, sondern<br />

auch ökonomisch die richtige Lösung ist, weil wiederholte <strong>Kranke</strong>nhausbehandlungskosten<br />

7


vermieden werden können. Diesen Aspekt bitte ich nicht zu unterschätzen. Der Grundsatz<br />

der Beitragssatzstabilität in der <strong>Kranke</strong>nversicherung ist ein hoher politischer Wert. Sowohl<br />

die Bundesregierung als auch die Landesregierung fühlen sich dem verpflichtet.<br />

Viertens will dieses Modellprogramm das statische "Schachteldenken" zwischen den unterschiedlichen<br />

Sicherungssystemen überwinden und bedarfs- bzw. patientenorientiert den<br />

Brückenschlag zwischen <strong>Kranke</strong>n-, <strong>Pflege</strong>versicherung und Leistungen der öffentlichen<br />

Hand herstellen.<br />

Ich will nicht verschweigen, dass wir zunächst ein eindeutiges „Ja“ zur Beteiligung aller in<br />

Niedersachsen ansässigen <strong>Kranke</strong>nkassen erwartet haben, um die Kosten <strong>für</strong> wissenschaftliche<br />

Begleitung und Auswertung aus Landesmitteln zu übernehmen.<br />

Der VdAK hat sich zu unserem Bedauern hierzu nicht entschließen können. Lediglich nach<br />

Prüfung im Einzelfall auf Antrag des Versicherten übernehmen die Ersatzkassen die Kosten.<br />

Dieser Modellversuch war uns allerdings so wichtig, dass wir dies nicht zur auflösenden Bedingung<br />

erklärt haben.<br />

Wie Sie wissen, bildeten die niedersächsischen Empfehlungen zur Umsetzung der ambulanten<br />

psychiatrischen <strong>Pflege</strong> bereits den Einstieg in die psychiatrische <strong>Pflege</strong>. Maßgebliche<br />

Fachleute haben in den früheren Jahren bereits vorgedacht und die Notwendigkeit dokumentiert,<br />

aus den bisherigen statischen Versorgungsformen heraus einen neuen kooperativen<br />

Weg zu gehen.<br />

Ich verspreche mir heute von diesem Modellvorhaben, dass die Ergebnisse, zusammen mit<br />

Ergebnissen von Modellversuchen, die in anderen Ländern erprobt sind, Eingang in die erwartete<br />

bundeseinheitliche Rahmenempfehlung <strong>für</strong> die häusliche <strong>Kranke</strong>npflege finden können.<br />

Nach meinen Informationen wird der Bundesausschuss der Ärzte und <strong>Kranke</strong>nkassen auch<br />

die Leistungen der psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege zu definieren haben. Ich habe die Erwartung,<br />

dass das Ergebnis unseres Modellprogramms hierbei Berücksichtigung findet.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, es bleibt uns noch ein Jahr der Erprobung. In diesem Jahr<br />

müssen wir Erkenntnisse in der Abgrenzung zur gerontopsychiatrischen <strong>Pflege</strong>, zum Betreuten<br />

Wohnen und nicht zuletzt zur Soziotherapie gewinnen.<br />

8


Insbesondere die Soziotherapie ist als neu eingeführte Leistung der GKV noch durch den<br />

Bundesausschuss der Ärzte und <strong>Kranke</strong>nkassen zu definieren. Es bedarf deshalb m.E. einer<br />

klaren Abgrenzung zwischen der psychiatrischen Hauspflege, wie wir sie hier im Modell<br />

praktizieren, und der Soziotherapie.<br />

Unser Ziel ist, die ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> als Komplexleistung <strong>für</strong> den Leistungskatalog<br />

der <strong>Kranke</strong>nversicherung zu empfehlen.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin sicher, dass das Ergebnis der Modellerprobung<br />

nicht nur die Akzeptanz bei den Patienten, sondern auch bei den niedergelassenen Fachärzten<br />

und auch bei den <strong>Kranke</strong>nkassen stärkt, diese integrativen Behandlungsformen zu etablieren.<br />

Das setzt - und damit komme ich abschließend auch zum finanziellen Teil - aber auch die<br />

Bereitschaft der Beteiligten voraus, die vertraglichen Grundlagen sowohl <strong>für</strong> die behandelnden<br />

niedergelassenen Psychiater als auch die Fachpflegedienste zu schaffen, die die Gewähr<br />

<strong>für</strong> die Versorgungsform bieten.<br />

Das bedeutet aus meiner Sicht zugleich, dass die entsprechenden Vergütungspositionen in<br />

der vertragsärztlichen Versorgung auch die Zeitfaktoren <strong>für</strong> die Eingangsuntersuchungen<br />

und <strong>für</strong> die Fallkonferenzen angemessen abbilden müssen, dass andererseits aber auch die<br />

<strong>Pflege</strong>dienste in die Lage versetzt werden, qualifizierte und in der psychiatrischen <strong>Pflege</strong><br />

aus- und fortgebildete Kräfte einzusetzen.<br />

Wenn wir hier in der Qualitätssicherung - und dazu gehört nicht zuletzt das Finanztableau -<br />

nicht <strong>für</strong> vernünftige Grundlagen sorgen, stellen wir den Modellerfolg in Frage.<br />

Ich bitte Sie deshalb, und zwar alle Beteiligten, gemeinsam das verbleibende Jahr zu nutzen,<br />

die Grundlagen <strong>für</strong> die Zukunftsfähigkeit der ambulanten psychiatrischen Hauspflege zu legen.<br />

9


Ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> – Ein unverzichtbarer Bestandteil des perso-<br />

nen-bezogenen Hilfesystems<br />

Dr. Niels Pörksen, Vorstandsmitglied der Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong><br />

Meine Damen und Herren,<br />

seit den Zeiten der Psychiatrieenquete, mehr noch seit dem Modellprogramm Psychiatrie der<br />

80er Jahre und dem Bericht der Expertenkommission der Bundesregierung gibt es an<br />

Grundsätzen und Leitlinien psychiatrischer Versorgung bei Fachleuten und politisch Verantwortlichen<br />

in wesentlichen Fragen einen Konsens.<br />

Gemeindeorientierung, möglichst ambulante Versorgungsstrukturen, Multiprofessionalität bei<br />

Dimensionalem, mehr Krankheitsverständnis und Gleichstellung von <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n mit<br />

körperlich <strong>Kranke</strong>n gehören unverzichtbar zur psychiatrischen Versorgung, dies vor allem<br />

auch dann, wenn es sich um die Menschen mit <strong>psychisch</strong>en Störungen handelt, die zusätzlich<br />

zur ärztlichen Behandlung weitere therapeutische, betreuerische oder pflegerische Unterstützung<br />

benötigen.<br />

Die Personalverordnung Psychiatrie (PsychPV) hat den Aufgabenkatalog psychiatrischer<br />

<strong>Pflege</strong> – um die geht es ja heute – in den unterschiedlichen Behandlungsbereichen und bei<br />

Menschen mit unterschiedlichen Störungen präzise beschrieben, allerdings <strong>für</strong> die <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung.<br />

Vieles davon gilt ganz allgemein <strong>für</strong> die psychiatrische <strong>Pflege</strong>, ob sie in <strong>Kranke</strong>nhäusern,<br />

Tageskliniken, Heimen oder ambulant geschieht.<br />

Im Grunde – und das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden – handelt es sich heute um<br />

eine überflüssige Veranstaltung.<br />

Wenn es psychiatrische Behandlungspflege in stationären Einrichtungen gibt – und daran<br />

wird wohl niemand zweifeln – dann muss es sie auch ambulant geben, wenn – wie in dem<br />

Gesundheitsstrukturgesetz vorgeschrieben – <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung möglichst außerstationär,<br />

im Verbund oder integrativ geschieht.<br />

10


Wenn man dazu noch weiß, dass es nach zahlreichen Modellversuchen zur ambulanten<br />

psychiatrischen Behandlungspflege – oft auch psychiatrische Hauskrankenpflege genannt –<br />

keinen Zweifel mehr gibt an deren Effektivität und praktischer Notwendigkeit, wenn alles<br />

schlussendlich noch einmal in einem Gutachten <strong>für</strong> das BMG zusammengefasst wurde, inklusive<br />

einer Bedarfsschätzung, wenn darüber hinaus in einer beim Bundesverband der<br />

Ortskrankenkassen (AOK) eingesetzten Expertengruppe mit dem VDAK, dem MDK, der<br />

KPV, den <strong>Pflege</strong>fachverbänden u.a. ein konkreter Konsensvorschlag erzielt wurde, der vor<br />

der Verabschiedung der Richtlinien über die Verordnung häuslicher <strong>Kranke</strong>npflege dem zuständigen<br />

Bundesausschuss Ärzte und <strong>Kranke</strong>nkassen zugeleitet wurde, dann kann man<br />

sich nur wundern, dass genau dieser Ausschuss diesen Teil der <strong>Kranke</strong>npflege wiederum<br />

nicht in den Richtlinien aufgenommen hat:<br />

Im Grunde müssten hier andere Menschen sitzen und mir zuhören, nämlich diejenigen, die<br />

trotz hervorragender Verbreitung, jahrelanger praktischer Erfahrung in mehreren Bundesländern<br />

und diesem bewundernswerten Modellprojekt in Niedersachsen immer noch die Augen<br />

und Ohren vor der psychiatrischen Behandlungspflege verschließen. Ich bin sicher, sie würden<br />

am Ende diesen Tages beschämt in Ihre Verbände und Büros zurückkehren und umgehend<br />

die psychiatrische Behandlungspflege als integrativen Teil psychiatrischer Versorgung<br />

in den Katalog der Richtlinien zur häuslichen <strong>Pflege</strong> aufnehmen.<br />

Die Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> hat im Auftrage des Bundesministeriums <strong>für</strong> Gesundheit (BMG)<br />

unter meiner Projektleitung in den Jahren 1999 und 2000 jeweils zwei Gutachten durch die<br />

Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> erstellen lassen zu außerstationären psychiatrischen <strong>Pflege</strong>. Das<br />

erste Gutachten (Band 121, Schriftenreihe des BMG, Nomus Verlag) zur ambulanten psychiatrischen<br />

Behandlungspflege und das zweite Gutachten (Band 131, Schriftenreihe des<br />

BMG, Nomus Verlag) zur psychiatrischen Behandlungspflege in vollstationären <strong>Pflege</strong>einrichtungen<br />

beschreiben detailliert die Leistungsbereiche als Bestandteile integrativer komplexer<br />

ambulanter Leistungen zu Beginn der <strong>Pflege</strong>, zur Sicherstellung der medizinischen<br />

Versorgung und zur Intervention bei akuten Krisen.<br />

Die ambulante psychiatrische Behandlungspflege hat sich aus dem Bereich der <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung<br />

entwickelt. Die im Rahmen der stationären Behandlung zu erbringenden<br />

Leistungen wurden 1990 in Form einer Beschreibung von Regelaufgaben in der Personalverordnung<br />

Psychiatrie (s.o.) <strong>für</strong> die großen Behandlungsbereiche Allgemeine Psychiatrie,<br />

Gerontopsychiatrie und Suchterkrankungen definiert. In der Zielsetzung „die im stationären<br />

Bereich behandelten Patienten soweit wie möglich“ zu befähigen „außerhalb der Klinik zu leben“<br />

gehört zum Selbstverständnis der PsychPV.<br />

11


Zu einem gezielten Einsatz psychiatrischer <strong>Pflege</strong>kräfte in der ambulanten Versorgung ist es<br />

erst seit Mitte der 80er Jahre im Rahmen von Modellerprobungen gekommen, die sich vor allem<br />

auf die Versorgungsbereiche Allgemeine Psychiatrie und Gerontopsychiatrie konzentrierten.<br />

Hier konnte sich die ambulante psychiatrische Behandlungspflege nur in<br />

vergleichsweise wenigen Regionen als Angebot etablieren. In Regionen mit einer gut entwickelten<br />

Infrastruktur zur ambulanten psychiatrischen Behandlungspflege kommt diesem Angebot<br />

auch in der Behandlung von Menschen mit Suchterkrankungen eine zunehmende<br />

Bedeutung zu. In allen Einsatzgebieten ist die ambulante <strong>Pflege</strong> Teil eines ärztlich verantworteten<br />

Behandlungsplanes. Die Rahmenbedingungen der ambulanten <strong>Kranke</strong>npflege unterscheiden<br />

sich grundsätzlich von den Bedingungen der stationären Arbeit, denn die<br />

<strong>Pflege</strong>kräfte arbeiten vor Ort in der Wohnung des Patienten. Die äußeren Bedingungen, unter<br />

denen die <strong>Pflege</strong> stattfindet, wechseln von Patientin zu Patientin stark: Mal lebt die <strong>Kranke</strong><br />

mit Angehörigen zusammen, mal allein; mal hat sie eine Wohnung, mal einen Raum in<br />

einer Notunterkunft. Alle diese Bedingungen beeinflussen die <strong>Pflege</strong> und sind im <strong>Pflege</strong>plan<br />

zu berücksichtigen.<br />

Unabhängig von der Diagnose ist <strong>für</strong> <strong>psychisch</strong>e Erkrankungen typisch, dass die Patientinnen<br />

an Störungen in der Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmungen leiden. Die<br />

Folgen sind Beeinträchtigungen im Rahmen der sozialen Kontakte. Die <strong>Pflege</strong>fachkraft hat<br />

es mit Menschen zu tun, deren Beziehung zu sich und zur Umgebung durch veränderte<br />

Wahrnehmung beeinträchtigt ist und die sich deshalb im zwischenmenschlichen Beziehungsgeflecht<br />

schlecht orientieren können. Viele von ihnen haben es nicht gelernt, mit ihren<br />

Gefühlen konstruktiv umzugehen, sich <strong>für</strong> andere verständlich zu äußern und leiden an ihrer<br />

ausgeprägten Sensibilität. Die Störungen im Kontakt zu anderen Menschen spielen natürlich<br />

auch in der Interaktion mit der <strong>Pflege</strong>kraft eine große Rolle. Das bedeutet insbesondere,<br />

dass eine gelungene Beziehungsaufnahme entscheidend <strong>für</strong> den Erfolg der Tätigkeit ist. Die<br />

psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege ist im wesentlichen wirksam im Kontakt mit den Patienten. Dabei<br />

unterstützt die aktivierende <strong>Pflege</strong> den Patienten bei der Ausübung seiner alltäglichen<br />

Handlungen. Ihre Intentionen und Handlungen dabei können ganz unterschiedlich sein.<br />

Sie kann zeitweise kompensierende Funktionen haben (z.B. bei der Körperpflege Tätigkeiten<br />

übernehmen). Die <strong>Pflege</strong>kraft kann motivieren (z.B. zur Einnahme von Medikamenten), unterstützten<br />

(z.B. bei einem Konfliktgespräch mit dem Nachbarn oder den Gang zum Zahnarzt)<br />

oder anleiten (bei der Wahl der Nahrungsmittel). Manchmal schult sie die Patientin <strong>für</strong><br />

neue Handlungsmöglichkeiten und manchmal berät sie. Häufig baut sie modellhaft eine Beziehung<br />

auf, die den Patienten auch im Kontakt mit anderen Beispiel ist. Professionelle Inter-<br />

12


ventionen im Umfeld des <strong>Kranke</strong>n sind je nach Problemlage notwendig, um das Gesamtziel<br />

zu erreichen.<br />

Die ambulante psychiatrische Behandlungspflege insgesamt – ziel- und prozessorientiert -<br />

im Rahmen eines ärztlichen Behandlungsplanes erbracht wird. Sie beinhaltet mehr als nur<br />

die Summe von Tätigkeiten oder Verrichtungen. Die Zergliederung und Aufsplitterung von<br />

Handlungsabläufen in einzelne Tätigkeiten birgt dabei die Gefahr, den Blick auf die eigentlichen<br />

Leistungen zu verstellen.<br />

Auf diesem Hintergrund wurde eine neue Gliederung zur Beschreibung der Leistungsinhalte<br />

ambulanter psychiatrischer Behandlungspflege entwickelt.<br />

Danach umfasst ambulante psychiatrische Behandlungspflege als Leistung im Rahmen der<br />

<strong>Kranke</strong>nbehandlung (§ 11 und 27 SGB V) mit dem Ziel der Heilung oder Verhütung der Verschlimmerung<br />

einer Krankheit oder Verhinderung von Krankheitsbeschwerden und der Aufgabe<br />

der Verkürzung oder Vermeidung von <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung und der Sicherung des<br />

Ziels der ärztlichen Behandlung (37 SGB V) drei Leistungsbereiche:<br />

1. Leistungen zu Beginn der <strong>Pflege</strong><br />

2. Sicherung des Ziels ärztlicher Behandlung<br />

3. Intervention bei Krisen<br />

Zu 1: Leistungen zu Beginn der <strong>Pflege</strong><br />

Psychisch kranke Menschen haben gerade ihnen Unbekannten gegenüber erhebliche Vorbehalte.<br />

In Einzelfällen ist die Einsicht in die Notwendigkeit psychiatrischer <strong>Pflege</strong> zu Beginn<br />

nicht vorhanden. Deshalb kann der Aufbau einer tragfähigen Beziehung sehr zeitaufwendig<br />

sein. Es kommt vor, dass zu Beginn die Patienten nicht die Wohnungstür öffnen. Geduld und<br />

langer Atem sind hier erforderlich. Die Ziele des ersten Leistungsbereiches sind also Aufbau<br />

einer dauerhaften und tragfähigen Beziehung zum Patienten und das Kennenlernen der<br />

Rahmenbedingungen der <strong>Pflege</strong>. Zur Erreichung des Zieles ist es manchmal erforderlich,<br />

schon in der Klinik einen ersten Kontakt zum Patienten aufzunehmen (besonders bei wahnhaften<br />

und misstrauischen Patienten). In der Regel wird aber das erste Gespräch in der<br />

Wohnung des Patienten erfolgen.<br />

13


In dieser Phase sind drei Bereiche von Bedeutung:<br />

- Kennen lernen des Patienten, erarbeiten der Akzeptanz der <strong>Pflege</strong><br />

- Kennen lernen des Umfeldes und der an der Betreuung beteiligten Institution<br />

- <strong>Pflege</strong>planung<br />

Zu 2: Sicherung des Ziels ärztlicher Behandlung<br />

Die Kernaufgabe der psychiatrischen Behandlungspflege wird im zweiten Leistungsbereich<br />

beschrieben. Hier geht es um die Sicherung des Ziels ärztlicher Behandlung. Gerade bei<br />

chronisch <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n haben einige Angehörige im Laufe der Krankheit ein gutes Gespür<br />

<strong>für</strong> die notwendigen und sinnvollen Hilfen entwickelt. Sie können kompetent die jeweils<br />

notwendigen Unterstützungen leisten, es kommt aber auch vor, dass die Kommunikationsstörungen<br />

des Patienten das familiäre Hilfesystem überfordern. Wenn die Angehörigen nicht<br />

in der Lage sind, unterstützend tätig zu sein oder wenn es keine Angehörigen gibt muss eine<br />

erfahrende Fachkraft tätig werden.<br />

Vier Aufgabenbereiche gehören zu dieser Teilleistung:<br />

- Durchführung ärztlich verordneter Behandlungsmaßnahmen<br />

Die wechselnde Motivation <strong>psychisch</strong> kranker Menschen zuverlässig Medikamente einzunehmen<br />

oder andere angeordnete Behandlungen durchzuführen erfordert im Einzelfall eine<br />

geschulte Fachkraft. Tätigkeiten in diesem Bereich sind im wesentlichen die Gabe von<br />

Medikamenten und Depot-Spritzen und das Arbeiten an der Compliance. Dauerhaft kann<br />

es auch nötig sein, die Wirkung von Medikamenten zu beobachten und einem behandelnden<br />

Arzt zurückzumelden, wenn der Krankheitsverlauf so wechselhaft ist, dass Medikamentenumstellungen<br />

erforderlich werden.<br />

- Motivation zur Veranlassung von notwendigen Arztbesuchen<br />

Es geht sowohl um die notwendigen Besuche beim Psychiater als auch bei anderen Ärzten.<br />

Gerade chronisch <strong>psychisch</strong> kranke Menschen verkennen häufig ihre körperlichen<br />

Symptome und suchen aus eigenem Antrieb nicht regelmäßig Ärzte auf. Deshalb sind die<br />

krankheitsbedingt verlorengegangenen Fähigkeiten der Patienten zu kompensieren und<br />

diese in ihrer Wahrnehmung zu schulen. Zur Unterstützung und Motivation ist hier eine<br />

medizinisch erfahrene <strong>Pflege</strong>kraft notwendig. Ihre konkrete Tätigkeit kann je nach indivi-<br />

14


dueller Situation der Patientinnen und Patienten sehr unterschiedlich sein. Von daher<br />

sind die konkreten Maßnahmen, die der Sicherung des Ziels ärztlicher Behandlung dienen,<br />

von Patient zu Patient so unterschiedlich, dass es keinen verbindlichen Leistungskatalog<br />

gibt.<br />

- Psychiatrische <strong>Pflege</strong> zur Krankheitsbewältigung<br />

Viele <strong>psychisch</strong> kranke Menschen benötigen Hilfe bei der Auseinandersetzung mit ihrer<br />

Krankheit und deren Folgen. Ziel dieser Leistung ist das Erkennen, Verbessern und Erweitern<br />

individueller, der Krankheit angemessener Verhaltensweisen, die Kompetenzerweiterung<br />

des Patienten im Umgang mit seiner Krankheit und die Vermittlung von<br />

Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe.<br />

- Psychiatrische <strong>Pflege</strong> zur Unterstützung bei der Entwicklung von kompensatorischen<br />

Hilfen bei krankheitsbedingten Einschränkungen<br />

Dabei geht es um den Erhalt oder Neuerwerb von elementaren Fähigkeiten im lebenspraktischen<br />

Bereich, um die Etablierung einer stabilen, die Genesung stützenden Tagesund<br />

Wochenstruktur, um das Vorhandensein oder den Aufbau eines dauerhaft stützenden<br />

Netzes im Rahmen des psychiatrischen Versorgungssystems und die Anleitung der<br />

Angehörigen und der Umgebung im Umgang mit den Patienten.<br />

Zu 3: Intervention bei Krisen<br />

Unter Krisen werden hier akute Verschlechterungen von Krankheitssymptomen verstanden,<br />

wie z.B. verstärkte aggressive Verwirrtheit bei einem demenzkranken alten Menschen infolge<br />

medikamentöser Überdosierung, Ausbruch einer akuten Psychose oder Suizidalität, Rückfall<br />

bei Alkoholabhängigkeit.<br />

Hier lassen sich drei Bereiche abgrenzen:<br />

- Erkennen zu Beginn der Krisen und Hilfe bei der Krisenbewältigung,<br />

- Einschränkung der Suizidalität und Entwicklung angemessener Maßnahmen,<br />

- Einleitung einer stationären Behandlung in Krisensituationen, insofern diese nicht ambulant<br />

aufgefangen werden können.<br />

15


Die Bedeutung der Intervention psychiatrischer <strong>Pflege</strong>kräfte in Krisen liegt darin, dass vor einer<br />

weiteren Eskalation gehandelt wird. Der Einsatz von Gewalt, der oft aus solchen Krisen<br />

resultiert und Zwangseinweisungen nach sich zieht, schafft <strong>für</strong> alle Patienten und ihr Umfeld<br />

dramatische Erfahrungen, die stationäre Behandlungen verlängern und den Genesungsprozess<br />

behindern können. Sie erschweren auch die spätere Rückfallprophylaxe. Außerdem<br />

verbessert sich die Prognose jeweils bei rechtzeitiger Behandlung. Eine psychiatrische<br />

Fachkraft, die dem Patienten bekannt ist, kann da<strong>für</strong> sorgen, dass weitere Verschlimmerung<br />

der sozialen Situation und des Gesundheitszustandes vermieden werden kann.<br />

Soweit zu den Leistungsbereichen ambulanter psychiatrischer Behandlungspflege.<br />

Die Behandlungspflege ist von entsprechend ausgebildeten <strong>Pflege</strong>fachkräften durchzuführen.<br />

In dieser Frage besteht unter allen <strong>Pflege</strong>fachverbänden, den Kassen- und Leistungsträgern<br />

Übereinstimmung.<br />

Die Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> hat in ihrem ersten Gutachten zur ambulanten psychiatrischen<br />

Behandlungspflege auch eine konkrete Bedarfsschätzung vorgenommen. Sie geht nach<br />

reichlichen Überlegungen und eigenen Ermittlungen davon aus, dass man bei 20.000 Einwohnern<br />

von einer Vollzeitpflegekraft ausgehen kann. Damit ließen sich nach Schätzung der<br />

Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> alle Patientengruppen einer Region ausreichend ambulant psychiatrisch<br />

behandeln. Diese Bedarfsschätzung geht allerdings davon aus, dass die anderen<br />

ambulanten Komplexleistungen – wie Soziotherapie und <strong>Pflege</strong> nach <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

SGB XI V ausreichend zur Verfügung stehen.<br />

Die Arbeitsgruppe <strong>Häusliche</strong> <strong>Kranke</strong>npflege <strong>für</strong> <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> im AOK-Bundesverband<br />

hatte sich im Dezember 1999 auf abgestimmte Empfehlungen festgelegt. Beteiligt waren die<br />

<strong>Pflege</strong>fachverbände, der MDK, die DGSP, der Kassenärztliche Bundesverband, die Aktion<br />

Psychisch <strong>Kranke</strong>, der VDAK, der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der <strong>Kranke</strong>nkassen<br />

und weitere Fachleute.<br />

Auf folgende Definition hat sich diese Arbeitsgruppe festgelegt:<br />

„Psychiatrische Behandlungspflege ist als Bestandteil häuslicher <strong>Kranke</strong>npflege die fachpflegerische<br />

Unterstützung bei der Umsetzung eines ärztlichen psychiatrischen Behandlungsplans<br />

in die Lebenswelt eines in ihrer eigenen Häuslichkeit lebenden Patienten“.<br />

16


Indikation <strong>für</strong> psychiatrische Behandlungspflege ist eine psychiatrische Erkrankung, die zu<br />

so erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensbewältigung führt, dass notwendige ambulante<br />

ärztliche Behandlung ohne fachpflegerische Maßnahmen nicht gesichert werden kann.<br />

Lebensbewältigung ist in der Regel erheblich beeinträchtigt, wenn insbesondere die Fähigkeiten<br />

zur Wahrnehmung, zum Denken und Handeln, sowie zur Affektkontrolle im Maße eingeschränkt<br />

sind, dass die Verrichtungen des täglichen Lebens selbstständig nicht mehr<br />

wahrgenommen werden können.<br />

- Leistungen in der häuslichen <strong>Kranke</strong>npflege <strong>für</strong> <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> sind nicht (darauf<br />

hat die Arbeitsgruppe <strong>Häusliche</strong> <strong>Kranke</strong>npflege großen Wert gelegt!),<br />

- Leistungen der Ergotherapie,<br />

- Leistungen der Psychotherapie,<br />

- Leistungen der Soziotherapie,<br />

- Leistungen der beruflichen Rehabilitation,<br />

- Leistungen der Eingliederungshilfe von sozialer Rehabilitation im Rahmen des<br />

BSHG.<br />

Der von der Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> erarbeitete Leistungskatalog – zu Beginn der <strong>Pflege</strong>,<br />

zur Sicherstellung der ärztlichen Behandlung und zur Krisenintervention wurde weitgehend<br />

übernommen.<br />

Es ist nach wie vor unverständlich, dass die hervorragende Vorarbeit, die vielen praktischen<br />

und erfolgsversprechenden Ergebnisse der Modellvorhaben und Einsicht in die Notwendigkeit<br />

ambulanter <strong>Pflege</strong> in einem komplexen Leistungssystem psychiatrischer Versorgung<br />

bisher nicht in die Regelversorgung ambulanter häuslicher <strong>Kranke</strong>npflege gehören.<br />

Ich setze als Vorstandsmitglied der Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> große Hoffnungen in die heutige<br />

Veranstaltung. Ich gehe davon aus, dass von dieser Veranstaltung und von den Ergebnissen<br />

des Modells weitergehende Impulse <strong>für</strong> die Realisierung ambulanter psychiatrischer<br />

Behandlungspflege ausgehen.<br />

Die Aktion Psychisch <strong>Kranke</strong> wird bei der bevorstehenden Anhörung im Gesundheitsausschuss<br />

des Bundestages zur psychiatrischen Versorgung sowie in kleinen Anfragen an die<br />

Bundesregierung weiterhin an dieser Thematik arbeiten. Ich wünsche dieser Veranstaltung<br />

einen guten Verlauf und hoffe, dass von ihr weitreichende Impulse zur Umsetzung ausgehen.<br />

17


Erfahrungen und Erkenntnisse aus der bisherigen Modellerprobung ambulan-<br />

ter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege in Bersenbrück, Delmenhorst, Quakenbrück,<br />

Weyhe und Varel<br />

Historie, Ziele und Inhalte des Modellprojektes „Ambulante psychiatrische<br />

<strong>Kranke</strong>npflege in ausgewählten Regionen Niedersachsens“<br />

Frank Schwietert, Gesundheitszentrum Artland gGmbH Quakenbrück<br />

Bis zum Beginn 1999 gab es in Niedersachsen zur Behandlung <strong>psychisch</strong> kranker Menschen<br />

- bis auf die Ausnahmen, die ich noch nennen werde - als institutionelle Einrichtungen<br />

die vollstationäre Behandlung (168 Std./ Woche), die teilstationäre Behandlung in der Tagesklinik<br />

(40 Std./ Woche), die Institutsambulanz (in Krisensituationen evtl. 3 Kontakte die<br />

Woche, sonst 1-2 Kontakte/ Monat) und das Betreute Wohnen (max. 2 Std./Woche). Eine<br />

weitere Möglichkeit der Nachbetreuung war und ist auch durch die Sozialpsychiatrischen<br />

Dienste der Landkreise gegeben. Diese ist aber - je nach deren personeller Ausstattung -<br />

nicht immer in dem Umfang leistbar, wie der <strong>psychisch</strong> kranke Mensch sie benötigt. Dieses<br />

werden diejenigen, die in SpD`s tätig sind, sicherlich bestätigen können.<br />

Die Patienten, welche einen höheren Betreuungsaufwand benötigten, als es durch die Institutsambulanz,<br />

das Betreute Wohnen oder SpD möglich war, blieben unversorgt oder waren<br />

gezwungen, teilstationäre oder gar vollstationäre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zur Überbrückung<br />

dieser Lücke gab und gibt es in anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen,<br />

Baden-Württemberg und Hamburg die Möglichkeit der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong><br />

mit unterschiedlichen vertraglichen Grundlagen.<br />

So begannen auch die Freien Sozialen Dienste Friesland e.V. bereits 1986 mit der ambulanten<br />

Betreuung <strong>psychisch</strong> kranker Menschen. 1989 begann die ambulante psychiatrische<br />

<strong>Kranke</strong>npflege, allerdings noch auf Basis von Verträgen zur somatischen <strong>Pflege</strong>. 1994 wurde<br />

dann mit der AOK-Regionaldirektion Friesland ein Vertrag zur ambulanten psychiatrischen<br />

<strong>Kranke</strong>npflege nach §37 Abs. 1 u. 2 SGB V geschlossen, der bis zum Juni 1996 befristet<br />

war.<br />

Auch von MensSana, dem aufsuchenden Fachdienst Bersenbrück, und dem ambulanten<br />

Gesundheitszentrum Artland gGmbH wurde seit 1996 bereits ambulante psychiatrische<br />

18


<strong>Kranke</strong>npflege erbracht. Diese erfolgte im Rahmen von Einzelfallregelungen mit den <strong>Kranke</strong>nkassen,<br />

was sowohl <strong>für</strong> Patienten und <strong>Pflege</strong>dienste unbefriedigend war, da es an einer<br />

verlässlichen Grundlage fehlte. Im Gegensatz zur somatischen <strong>Pflege</strong>, die vertraglich geregelt<br />

war, konnte bei dieser Patientengruppe nicht unverzüglich mit der Maßnahme begonnen<br />

werden, wenn es erforderlich war, sondern es musste vorher die Kostenübernahme geklärt<br />

werden, was durchaus einige Zeit in Anspruch nehmen konnte. So konnte es passieren,<br />

dass eine stationäre Behandlung, die eigentlich vermieden werden sollte, aufgrund des Zeitlaufs<br />

unvermeidlich wurde.<br />

Die genannten Dienste bemühten sich daher, vertragliche Regelungen mit den <strong>Kranke</strong>nkassen<br />

fortzusetzen bzw. überhaupt erstmalig zu erlangen, indem sie Anträge auf den Abschluss<br />

von Vergütungsvereinbarungen stellten. Dieses geschah auch im Hinblick auf §27<br />

Abs. 1, Satz 3 SGB V, in dem es heißt: „Bei der <strong>Kranke</strong>nbehandlung ist den besonderen Bedürfnissen<br />

<strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r Rechnung zu tragen, insbesondere bei der Versorgung mit<br />

Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation“. Dieser Paragraph impliziert eine<br />

Gleichbehandlung von somatisch und <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n.<br />

Zur Zeit dieser Bemühungen gab es bereits die „Niedersächsische Konferenz zur ambulanten<br />

gerontopsychiatrischen <strong>Pflege</strong>“ unter der Moderation von Frau Dr. Weißmann, Psychiatriekoordinatorin<br />

der Stadt Hannover, die von der Fachgruppe Gerontopsychiatrie des<br />

Gesundheits-, Jugend- und Sozialdezernats der Stadt Hannover einberufen war und der neben<br />

Vertretern des Städte- und Kreistages, des Medizinischen Dienstes der <strong>Kranke</strong>nversicherung<br />

Niedersachsen, des Niedersächsischen Sozialministeriums eben auch Vertreter der<br />

Niedersächsischen Spitzenverbände der <strong>Kranke</strong>n- und <strong>Pflege</strong>kasse angehörten. Diese Konferenz<br />

einigte sich auf die „Empfehlungen zur Umsetzung der ambulanten gerontopsychiatrischen<br />

<strong>Pflege</strong>“.<br />

Zu dieser Gruppe kamen nun Vertreter der o.g. und zweier weiterer <strong>Pflege</strong>dienste hinzu, es<br />

entwickelte sich die „Niedersächsische Arbeitsgruppe zur ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong><br />

(NAAPPF)“, die die „Niedersächsischen Empfehlungen zur Umsetzung der ambulanten psychiatrischen<br />

<strong>Pflege</strong>“ entwickelte. Die Moderation dieser Arbeitsgruppe übernahm der <strong>Landesfachbeirat</strong>.<br />

Aus dem Willen der Beteiligten etwas zu bewegen und die theoretische Arbeit<br />

praktische Wirklichkeit werden zu lassen, kam es mit Hilfe des MFAS zu dem Modellprojekt<br />

„Ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> in ausgewählten Regionen Niedersachsens“ mit der Maßgabe<br />

der wissenschaftlichen Begleitung dieses Projektes, die zuerst vom IES realisiert und<br />

im letzten Jahr von der MHH übernommen wurde.<br />

19


Zu Beginn des Jahres 1999 wurden Verträge zwischen den beteiligten <strong>Pflege</strong>diensten Freie<br />

Soziale Dienste Friesland e.V., MensSana Bersenbrück, AWO Delmenhorst, Nervenarztpraxis<br />

Munzel, Weyhe, dem ambulanten Gesundheitszentrum Artland gGmbH und der AOK<br />

Niedersachsen, den IKK`s und den BKK`s unterzeichnet, die bis zum 31.12.2001, der Dauer<br />

des Projektes, befristet sind. Andere <strong>Kranke</strong>nkassen beteiligen sich je nach Region in unterschiedlichem<br />

Umfang im Rahmen von Einzelfallregelungen an dem Projekt. Die gesetzliche<br />

Grundlage der Verträge mit den <strong>Kranke</strong>nkassen ist der § 37 Abs. 1 (<strong>Kranke</strong>nhausvermeidungspflege)<br />

und Abs. 2 SGB V (Psychiatrische Behandlungspflege zur Sicherung der ärztlichen<br />

Behandlung).<br />

Die APP schließt die oben beschriebene Versorgungslücke mit einer möglichen Frequenz<br />

von bis zu 2 Kontakten am Tag an bis zu 7 Tagen der Woche, wobei die Dauer des einzelnen<br />

Kontaktes je nach Erfordernis 15 Minuten bis zu Stunden, z. B. bei einem gemeinsamen<br />

Facharztbesuch, betragen kann.<br />

Die APP erfolgt bei Patienten mit folgenden Diagnosen:<br />

1. Demenzen, psychoorganische Syndrome (Alzheimersche Erkrankung, vaskuläre<br />

Demenz, <strong>psychisch</strong>e Schädigungen aufgrund von Schädigungen oder<br />

Funktionsstörungen des Gehirns etc.)<br />

2. schizophrene Psychosen, Wahnkrankheiten<br />

3. Affektive Störungen: bipolare oder monopolare Zyklothymie, Depressionen<br />

4. Schwere neurotische Störungen (Phobien, Angst-, Zwangs- und dissoziative<br />

Störungen, schwere Psychosomatosen)<br />

5. schwere Verhaltensauffälligkeiten (Anorexia nervosa, <strong>psychisch</strong>e Störungen im<br />

Wochenbett)<br />

6. Schwere Persönlichkeitsstörungen (Borderlinesyndrom, Selbstbeschädigungsoder<br />

suizidale Störungen)<br />

Das Ziel der APP ist die Verbesserung der Fähigkeiten der Alltagsbewältigung und Selbstversorgung,<br />

Krankheitsbewältigung, soziale Kontaktherstellung und Aufrechterhaltung sowie<br />

des Krisenmanagements. Die APP soll stationäre Therapie vermeiden oder verkürzen, Wiedererkrankungen<br />

vorbeugen und dauernde <strong>Pflege</strong>- und Hilfsbedürftigkeit sowie Behinderung<br />

überwinden, verhindern oder vermindern helfen. Zudem dient sie der Übertragung und Anpassung<br />

des in der stationären oder teilstationären Therapie Erlernten im Rahmen eines<br />

Gesamtbehandlungsplanes und der Sicherstellung der medikamentösen Behandlung in enger<br />

Abstimmung mit den niedergelassenen Fachärzten. Die Abstimmung mit weiteren sozia-<br />

20


len und rehabilitativen Einrichtungen und Maßnahmen (Tagescafé, Institutsambulanz,<br />

Selbsthilfegruppen etc.) soll sichergestellt werden.<br />

Eine besondere Berücksichtigung finden die individuellen <strong>psychisch</strong>en, sozialen, somatischen<br />

Merkmale des Einzelnen, seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten und die speziellen Bedingungen<br />

der bestehenden <strong>psychisch</strong>en Erkrankung und/ oder Behinderung. Die Familie<br />

und weitere wichtige Bezugspersonen werden unterstützt und, soweit möglich, in eine angemessene<br />

Mitbetreuung einbezogen. Gemeinsam mit diesen kann die Entwicklung des<br />

Klienten besprochen und notwendige Anpassungen der <strong>Pflege</strong>maßnahmen erarbeitet werden.<br />

Diese Möglichkeit der unmittelbaren Fremdanamnese kann <strong>für</strong> den <strong>Pflege</strong>nden und<br />

damit <strong>für</strong> den Klienten sehr hilfreich sein.<br />

Für ein Gelingen des gemeinsam erarbeiteten Programms ist die möglichst weitgehende<br />

Übernahme von Eigenverantwortung durch den Klienten erforderlich. Bis dahin übernimmt<br />

der <strong>Pflege</strong>nde die Aufgaben des Alltagsmanagers. Dieser Aufgabe kommt gerade bei chronisch<br />

<strong>psychisch</strong> kranken Menschen eine große Bedeutung zu.<br />

Die Tätigkeiten der APP sind in den Leistungskomplexen beschrieben:<br />

1. Psychiatrische Behandlungspflege<br />

- Erstgespräch und <strong>Pflege</strong>planung (entspricht Leistungskomplex 1)<br />

• im häuslichen Bereich<br />

• im <strong>Kranke</strong>nhaus<br />

• zur Kontaktaufnahme, Beziehungsgestaltung und <strong>Pflege</strong>überleitung<br />

- Zusammenarbeit mit Ärzten und anderen Therapeuten (entspricht Leistungskomplex 2)<br />

• <strong>Pflege</strong>bericht<br />

• Motivierung zu notwendigen (Fach-) Arztbesuchen<br />

• Kooperation/ Informationsaustausch mit den behandelnden Ärzten und Therapeuten<br />

• Teilnahme an Fallbesprechungen<br />

- Kontaktaufnahme beim Patienten (entspricht Leistungskomplex 3)<br />

• Abklärung der Situation<br />

• Erfragen und Benennen von Symptomen<br />

• Beobachtung und Rückmeldung des Krankheitszustandes<br />

• Aktualisierung der <strong>Pflege</strong>dokumentation<br />

21


- Medikamentenversorgung (entspricht Leistungskomplex 4)<br />

• Beratung/ Motivation/ Medikamentencompliance<br />

• Verabreichung<br />

• Tages -/ Wochendispensierung<br />

• Beobachtung von Wirkung und Nebenwirkung<br />

• Beobachten/ Registrieren der Einnahme von anderen Medikamenten und abhängigkeitserzeugenden<br />

Substanzen<br />

- Stabilisierende psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege (entspricht Leistungskomplex 5)<br />

• Stabilisierung des vegetativen Grundbefindens (Schlafen, Wachen, Entspannung)<br />

• Erhalten des Realitätsbezuges (Ansprechen, Kontakt halten, Einbezug in Normalität,<br />

Erhalt oder Aufbau sozialer Kontakte)<br />

• Stabilisierung wichtiger Ich-Funktionen (Orientieren, Wahrnehmen)<br />

• Erarbeiten eines entsprechenden Krankheitsbewusstseins<br />

- Gezielt symptomorientierte psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege (entspricht Leistungskomplex 6)<br />

• Auseinandersetzung mit Störungen des Krankheitsbildes<br />

• Gemeinsames Finden von Frühwarnsymptomen<br />

• Suchen von Krisenursachen und Erarbeiten von Krisenvermeidungsstrategien<br />

• Reaktivierung krankheitsbedingt eingeschränkter Ressourcen<br />

• Motivation und Aufbau der körperlichen Beweglichkeit und Belastbarkeit (Spaziergänge,<br />

Einbindung in Bewegungsgruppen, Anhalten zu körperlicher Arbeit in Wohnung,<br />

Haus und Garten)<br />

• Aufbau selbstverantwortlicher Übernahme von lebenswichtigen Tätigkeiten<br />

- Krisenintervention (entspricht Leistungskomplex 7)<br />

• Erkennen von beginnenden Krisen<br />

• Einschätzen der Suizidalität<br />

• Hilfen zur Krisenbewältigung<br />

• Interventionen zur Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung<br />

• Überprüfen der Notwendigkeit der Einleitung weitergehender Maßnahmen und Hilfen,<br />

ggf. deren Einleitung<br />

- Einbezug und Anleitung der Bezugspersonen in den Umgang mit dem Patienten (bezieht<br />

sich auf alle Tätigkeiten)<br />

22


2. Grundpflege (entspricht Leistungskomplexen 8-16)<br />

- Morgen-/ Abendtoilette<br />

- Lagern/ Betten<br />

- Hilfe bei der Nahrungsaufnahme/ Verabreichung von Sondenkost<br />

- Hilfe bei der Darm- und Blasenentleerung<br />

- Hilfe beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung<br />

3. Hauswirtschaftliche Versorgung (entspricht Leistungskomplexen 17-22)<br />

- Beheizen der Wohnung<br />

- Reinigung der Wohnung<br />

- Wechseln und Waschen von Wäsche und Kleidung<br />

- Einkaufen<br />

- Zubereitung einer warmen oder sonstigen Mahlzeit<br />

23


Ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege bei den Freien Sozialen Diensten<br />

Friesland<br />

Vera Kropp, Freie Soziale Dienste Friesland, Varel<br />

Für die Freien Sozialen Dienste, Friesland möchte ich einige Gedanken vortragen, welche<br />

Anforderungen an die Qualität von ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege gestellt werden.<br />

Welche Qualifikation brauchen MitarbeiterInnen, welche Struktur muss der <strong>Pflege</strong>dienst<br />

bieten, welche Rahmenbedingungen braucht der <strong>Pflege</strong>dienst? Was ist die<br />

Zielgruppe ambulanter psychiatrischer <strong>Pflege</strong>?<br />

Es geht um <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> in einer mehr oder weniger akuten Krankheitsphase, und zwar<br />

um<br />

- Menschen, die heftigsten Gefühlen von Angst und Ohnmacht, von Wut, von Ausweglosigkeit<br />

ausgesetzt sind und die darüber die eigene Kontrolle verloren haben.<br />

- Menschen, die deshalb ihr Verhalten verändern, sich zurückziehen, apathisch oder erregt<br />

sind, sich selber oder andere verletzen.<br />

Ist dies eine banale Weisheit?<br />

Vielleicht lohnt es sich, sich immer einmal wieder klarzumachen, welche "Seelennot" hinter<br />

manch ungewöhnlichem oder gar Angst machendem Verhalten steckt.<br />

Vielleicht lohnt es sich auch, sich selber immer einmal zu fragen, was ich oder was Sie denn<br />

in einer seelischen Krise, wie wir sie vielleicht kennen, gebraucht haben. Ähnliche Bedürfnisse,<br />

nur eben mit einer viel größeren Vehemenz brauchen <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> auch.<br />

Dort, wo die eigene Sicherheit und Kontrollmöglichkeit verloren gegangen ist, werden zu aller<br />

erst Menschen gebraucht. Menschen als Gegenüber, die Verlässlichkeit und Orientierung<br />

geben können, die den Kontakt zur abreißend scheinenden Außenwelt und ihrer Realität halten,<br />

die da sind, auch wenn Gefühle heftig und Verhalten bizarr werden.<br />

24


An dieser Stelle gilt es sicherlich, den Angehörigen den nötigen Respekt entgegenzubringen,<br />

die diese wesentlichen Aufgaben - oft bis an ihre Grenzen - vollbringen. Die Anforderung, in<br />

erster Linie als Mensch Gegenüber in diesem Sinne zu sein, gilt aber auch <strong>für</strong> Fachleute.<br />

Das hört sich selbstverständlich an, ist es aber nicht immer.<br />

Neben den bisher geschilderten menschlichen Qualitäten benötigen die Betroffenen oft auch<br />

Fachleute (der verschiedenen Berufsgruppen).<br />

Ich will deshalb versuchen, einige Anforderungen an ambulante <strong>Pflege</strong>kräfte zu formulieren:<br />

Nach unseren Erfahrungen sind die Menschen, die im ambulanten Bereich gepflegt werden,<br />

nicht mit vielen aufklärenden, stützenden Fachdiensten in Berührung gekommen (vor allem<br />

in ländlichen Gegenden). Die Regel ist, dass sie sich in ärztlicher, meist fachärztlicher, Behandlung<br />

befinden und zeitweise, in Krisen, in psychiatrische Kliniken kommen. Dort findet<br />

in der Regel die Akutbehandlung statt.<br />

Viele Fragen über die eigene Erkrankung stellen sich aber erst nach einer akuten Phase,<br />

und ein selbstverantwortlicher Umgang mit der Krankheit lässt sich nur in der Alltagssituation<br />

einüben. Die niedergelassenen Fachärzte/innen stehen inzwischen unter einem riesigen zeitlichen<br />

Druck, Besuche dauern in der Regel durchschnittlich 15 Minuten und finden alle paar<br />

Wochen statt. Das reicht meistens, um die pharmakologische Behandlung abzustimmen.<br />

Gerade die Fachärzte/innen, die in Vernetzung mit anderen ambulanten Diensten arbeiten<br />

und die sich Zeit <strong>für</strong> die Patienten, z.B. <strong>für</strong> Hausbesuche nehmen, stehen nach den Einsparungen<br />

in diesem Bereich offensichtlich mit dem Rücken an der Wand. Wir machen uns große<br />

Sorgen, wie eine gute ambulante Versorgung aussehen soll, wenn die Fachärzte unter<br />

dem Kostendruck ihren notwendigen Beitrag nicht leisten können.<br />

So erwarten die Betroffenen und die Angehörigen von den psychiatrischen <strong>Pflege</strong>kräften<br />

(wenn APK verordnet wird) viele Informationen und Aufklärung. Die <strong>Pflege</strong>kräfte benötigen<br />

also eine Menge Fachwissen über Entstehung und Verlauf von <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen,<br />

über Wirkungen und Nebenwirkungen von Psychopharmaka, aber auch z.B. über die<br />

Rechtssituation von <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n, wenn z.B. eine vorausgegangene Zwangsunterbringung<br />

oder -behandlung verarbeitet werden muss.<br />

25


Ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> findet, wie der Name schon sagt, im häuslichen Umfeld, in<br />

der Privatsphäre des Betroffenen statt. Die <strong>Pflege</strong>kräfte sind sozusagen nur Gäste. Den<br />

Rahmen dessen, wann was gemacht werden kann, bestimmen die Betroffenen sehr weitgehend<br />

selbst. Im Vergleich zur stationären <strong>Pflege</strong> hat das den großen Vorteil, dass wir nicht<br />

nur die kranken Anteile des Menschen sehen, sondern auch, wo der Betroffene sehr wohl<br />

sein Leben und seinen Alltag bewältigt. Es erfordert von den <strong>Pflege</strong>kräften aber auch ein<br />

sehr hohes Maß von Fingerspitzengefühl, mit Achtung <strong>für</strong> die besonderen Grenzen und Verletzlichkeiten<br />

des Betroffenen und gleichzeitig mit einer Bereitschaft zu einer möglicherweise<br />

notwendigen Übernahme von Verantwortung vorzugehen.<br />

Dazu zwei Beispiele aus der Praxis:<br />

Ich bin vor einiger Zeit zu einem sehr stark zwangserkrankten Mann gekommen, der seit etwa<br />

2 Jahren seine Wohnung nicht mehr putzen konnte oder etwas dort verändern konnte. In<br />

der Küche stapelten sich die gelben Säcke bis zur Decke, im Flur die Zeitungen und Altpapier<br />

von ca. 2 Jahren. Außer dem Platz, wo er saß, war alles mit einer dicken Staubschicht<br />

überdeckt etc. Ein "normaler" Impuls wäre wohl, einfach die Ärmel hochzukrempeln und aufzuräumen.<br />

Da<strong>für</strong> bestand aber bei dem Patienten keine Compliance, da jede Änderung ihm<br />

ganz viel Angst machte. Die Situation war nicht schön, aber auch nicht so bedrohlich, dass<br />

hier gegen den Willen und die Grenzen des Betroffenen gearbeitet werden musste.<br />

So konnten - und mussten - wir uns auf kleine Schritte der „Entängstigung" einlassen, wo der<br />

Patient nur mit soviel Angst konfrontiert war, dass er sie aushalten konnte und mitarbeiten<br />

konnte. Im Laufe der nächsten Monate konnte der Berg Stück <strong>für</strong> Stück abgetragen und die<br />

Angst und die Zwänge des Mannes soweit reduziert werden, dass überhaupt an eine weiterführende<br />

Behandlung zu denken war.<br />

Anders stellte sich <strong>für</strong> mich die Situation bei einer Frau dar, die, als wir eingeschaltet wurden,<br />

gerade in eine massive paranoide Psychose rutschte. Die Frau lebte alleine mit ihren 3 Kindern<br />

in einem kleinen Haus. Ihre Ängste und Wahnvorstellungen verschärften sich in kurzer<br />

Zeit so, dass sie niemanden mehr reinließ, die Kinder auch bei sich im Haus hielt, sie nicht<br />

zur Schule ließ etc. An dieser Stelle schien es aus unserer Sicht nicht verantwortbar zu sein,<br />

den Willen der Betroffenen auf Rückzug zu achten, sondern wir haben andere Dienste eingeschaltet<br />

und letztendlich eine Klinikeinweisung veranlasst.<br />

26


Im Vergleich zur stationären <strong>Pflege</strong> ist in der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong> die <strong>Pflege</strong>kraft<br />

vor Ort auf sich alleine gestellt. Sie muss über ein hohes Maß verantwortlicher <strong>Kranke</strong>nbeobachtung<br />

verfügen. So muss sie z.B. Frühwarnzeichen einer beginnenden Psychose<br />

erkennen, sollte Anzeichen einer Suizidgefährdung etc. wahrnehmen. Sie muss diese Beobachtungen<br />

und Äußerungen der Patienten sowohl wahrnehmen als auch verantwortlich<br />

darauf reagieren können, ohne dass sie im ständigen Austausch mit Kollegen oder z.B. Ärzten<br />

ist. Diese Anforderungsprofile sollen erst mal genügen.<br />

Die Anforderungen persönlicher und fachlicher Art an Menschen, die psychiatrische ambulante<br />

<strong>Pflege</strong> leisten, kann ich hier nur anreißen, aber vielleicht haben meine Ausführungen<br />

einen Einblick darin gegeben, dass <strong>für</strong> diese Arbeit eine hohe Qualifikation der MitarbeiterInnen<br />

nötig ist, wenn sie erfolgreich und verantwortbar sein soll.<br />

Zum Abschluss möchte ich noch einige sich aus dem Vorangegangenen resultierende Qualifikationsanforderungen<br />

definieren, die wir als <strong>Pflege</strong>dienst <strong>für</strong> notwendig erachten - natürlich<br />

auch in dem Wissen, dass eine gute Qualität auch ihre Kosten hat:<br />

Wir brauchen gut ausgebildete, erfahrene MitarbeiterInnen. Da die Arbeit im ambulanten Bereich<br />

eigene Bedingungen hat und sich erst im Aufbau befindet, ist eine ständige Fort- und<br />

Weiterbildung notwendig.<br />

Es muss aber auch möglich sein, qualifizierte Kollegen angemessen zu entlohnen. Oft ist die<br />

Entlohnung im stationären Bereich durch Zuschläge etc. besser als im ambulanten Bereich.<br />

Wenn ich mich im Moment bei uns oder auch in den anderen Modellprojekten umsehe, ist<br />

die Arbeit getragen von viel Engagement und Freude gerade an ambulanter Arbeit. Das alleine<br />

wird aber <strong>für</strong> zukünftig anzuwerbende Fachkräfte wohl kaum ein Grund sein, dauerhaft<br />

in der ambulanten Arbeit zu bleiben.<br />

Den Betroffenen hilft aus unserer Sicht nur ein verlässlicher Kontakt zu festen Bezugspersonen.<br />

Wir setzen das so um, dass wir Kleinteams von 2-3 Kollegen bilden, die sich in der<br />

<strong>Pflege</strong> abwechseln, da<strong>für</strong> sorgen, dass Kontinuität, aber gleichzeitig auch Vertretung bei<br />

Ausfallzeiten gewährleistet ist. Diese Teams stellen wir bisher nach Bedarf und Bedürfnissen<br />

der Patienten zusammen, soweit das geht.<br />

27


Dieses Verfahren halten wir <strong>für</strong> notwendig, auch wenn der Kostendruck uns eigentlich dazu<br />

zwingt, unabhängig von Beziehungen eine möglichst effektive Routenplanung der MitarbeiterInnen<br />

vorzunehmen. Eine Arbeit nur mit Festangestellten, die aus unserer Sicht aus Gründen<br />

der kontinuierlichen Anbindung und Weiterentwicklung notwendig wäre, ist uns unter<br />

dem bisherigen Kostenrahmen nicht möglich.<br />

Wir versuchen, den verschiedenen Notwendigkeiten ganz verschiedener Einsatzdichte gerecht<br />

zu werden (so benötigt eine echte Alternative zur Klinikbehandlung oft mindestens 2<br />

Einsätze am Tag - genauso bieten wir aber auch stabilisierende psychiatrische <strong>Pflege</strong> an, die<br />

mit 2 Einsätzen wöchentlich auskommt). Wie schon erwähnt, gilt es im ambulanten Bereich<br />

besonders, sich dem Alltagsablauf und den Möglichkeiten der Patienten anzupassen. Auch<br />

das macht <strong>für</strong> uns als <strong>Pflege</strong>dienst eine Organisation nur unter dem Gesichtspunkt z.B. einer<br />

effektiven Routenplanung schwer.<br />

Kann und muss ich vielleicht Herrn A. morgens zwischen 8 und 9 Uhr besuchen, um die Medikamenteneinnahme<br />

zu überwachen, kann ich vielleicht Frau B., die in der Nähe wohnt, bestimmt<br />

nicht zu dieser Zeit aufsuchen, da sie jetzt gerade ihre Kinder in den Kindergarten<br />

bringt (die Tatsache, dass sie das schafft, ist auf jeden Fall unterstützenswert). Und Herr C.,<br />

auch in der relativen Nähe wohnend, muss heute um 15 Uhr zum Arzt gebracht werden. Bisher<br />

ist es uns noch nicht befriedigend gelungen, den Bedingungen, dass eben nicht alle <strong>psychisch</strong><br />

<strong>Kranke</strong>n zu jeder Zeit zu Hause erreichbar sind und der Tatsache, dass <strong>für</strong> uns von<br />

der Kostenseite <strong>für</strong> Fahrten von (bestenfalls) den gleichen Bedingungen ausgegangen wird<br />

wie in der somatischen <strong>Pflege</strong>, gleichzeitig gerecht zu werden.<br />

Erschwerend kommt dazu, dass wir uns im Landkreis Friesland auf einer Fläche von ca. 80<br />

km Ausdehnung bewegen. Wir haben zwar inzwischen hier alleine zwei Zentralen in Jever<br />

und Varel, trotzdem aber durchschnittlich 20 Minuten oder 25 km Fahrt hin und zurück zum<br />

Patienten. So bleibt die Organisation unserer psychiatrischen <strong>Pflege</strong> zwischen hohen Anforderungen<br />

und engem Kostenrahmen eine Kunst - und manchmal auch eine Unmöglichkeit.<br />

28


Betriebswirtschaftliche Erkenntnisse und Anforderungen <strong>für</strong> eine Weiterfüh-<br />

rung ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege<br />

Gerjet Boom, AWO Sozialstation gGmbH Delmenhorst<br />

Nachdem in den anderen Beiträgen über Inhalte und Qualität sowie Personalressourcen <strong>für</strong><br />

ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege berichtet wurde, werde ich auch die betriebswirtschaftliche<br />

Sicht beleuchten. Bevor ich auf das eigentliche Thema eingehe, möchte ich den<br />

<strong>Pflege</strong>dienst, den ich vertrete, gerne kurz vorstellen und die wichtigsten Eckdaten unserer<br />

Projektteilnahme erläutern.<br />

Mein Name ist Gerjet Boom, ich bin Geschäftsführer der AWO Sozialstation gemeinnützige<br />

GmbH in Delmenhorst. Die AWO Sozialstation gGmbH ist eine 100prozentige Tochter der<br />

Arbeiterwohlfahrt, Kreisverband Delmenhorst e.V., mit etwa 50% meiner Arbeitszeit bin ich<br />

im Kreisverband ebenfalls als Geschäftsführer tätig. Der AWO-<strong>Pflege</strong>dienst wurde 1963 als<br />

Hauspflegedienst gegründet und 1978 als Sozialstation anerkannt. 1998 wurde die Sozialstation<br />

aus der Vereinsstruktur ausgegliedert. Über einen Aufsichtsrat, der zu 1/3 mit Arbeitnehmern<br />

besetzt ist, hat die AWO aber weiter Einfluss auf die Geschäftspolitik, die nach wie<br />

vor selbstkostendeckend und nicht gewinnmaximierend orientiert ist, die Mitarbeitervertretung<br />

ist umfassend einbezogen.<br />

Mit umgerechnet 29 Vollzeitstellen in der <strong>Pflege</strong> inkl. <strong>Pflege</strong>dienstleitung werden täglich zwischen<br />

170 und 200 Patienten mit Leistungen der <strong>Kranke</strong>npflege und der pflegerischen sowie<br />

hauswirtschaftlichen Versorgung nach SGB XI und BSHG gepflegt und versorgt. Mit der Diakoniestation<br />

und der Caritas-Sozialstation besteht seit 1978 ein Kooperationsvertrag, alle<br />

Stationen sind im gesamten Stadtgebiet tätig, auch, um die Wahlfreiheit zu gewährleisten.<br />

Die Stadt Delmenhorst hat ca. 80.000 Einwohner und war Außenstandort der EXPO 2000<br />

mit dem Projekt Nordwolle - Wiederbelebung einer Industriebrache. Für das dort geplante<br />

und jetzt auch umgesetzte Service- und Dienstleistungszentrum haben wir 1997 eine Konzeption<br />

<strong>für</strong> einen <strong>Pflege</strong>stützpunkt mit dem Schwerpunkt psychiatrische <strong>Pflege</strong> und psychosoziale<br />

Betreuung vorgelegt. Herr Holler, der in Delmenhorst ein Treffen von Fachleuten<br />

aufgrund einer Einladung der AOK moderiert hat, und Herr Speil vom Sozialministerium, mit<br />

dem wir Gespräche über eine modellhafte Finanzierung geführt haben, haben die Verbindung<br />

zur NAAPPF hergestellt, und so sind wir nun einer der Träger der Modellerprobung.<br />

Das waren meine kurzen Ausführungen zur Vorgeschichte.<br />

29


Am 01.05.1999 haben wir die praktische Arbeit aufgenommen und mit Hartmut Nagel einen<br />

gut ausgebildeten und langjährig erfahrenen Psychiatriefachkrankenpfleger einstellen können,<br />

der auch das persönliche Wagnis auf sich genommen hat, eine unbefristete Stelle im öffentlichen<br />

Dienst aufzugeben und einen befristeten Arbeitsvertrag mit uns abzuschließen.<br />

Das zeigt sein persönliches Engagement, neue Wege der ambulanten Versorgung von Menschen<br />

mit einer psychiatrischen Erkrankung gehen zu wollen.<br />

Die Gewinnung ausgebildeter und erfahrener <strong>Pflege</strong>kräfte <strong>für</strong> die ambulante <strong>Pflege</strong> ist<br />

schwierig, das haben ebenfalls die Erfahrungen in anderen Modellprojekten gezeigt. Wir haben<br />

das Modellprojekt aus diesem Grund auch erst mit 4-monatiger Verspätung beginnen<br />

können. Die Rahmenbedingungen <strong>für</strong> die ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege sind daher<br />

so zu gestalten, dass auch eine langfristige Arbeit möglich ist. Die Bereitstellung von<br />

Ressourcen <strong>für</strong> eine fachliche und supervisorische Begleitung muss daher selbstverständlich<br />

sein; ein Kostenfaktor, der <strong>für</strong> die Preisermittlung in der somatischen <strong>Pflege</strong> bisher so gut wie<br />

keine Rolle spielte.<br />

Zum 01.10.1999 haben wir mit Brigitte Sperling eine <strong>Kranke</strong>nschwester mit sozialpsychiatrischer<br />

Zusatzausbildung eingestellt, vorerst mit 75% der tariflichen Arbeitszeit, die jetzt aber<br />

überwiegend in Vollzeit tätig ist. Zum 01.10.1999 haben wir mit dem Sozialhilfeträger einen<br />

Vertrag abgeschlossen, der es uns ermöglicht, Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 39<br />

BSHG als „ambulant betreutes Wohnen <strong>für</strong> Menschen mit seelischer Behinderung“ zu<br />

erbringen. Wir kooperieren hier mit der Stiftung Kloster Blankenburg, die in Delmenhorst ein<br />

Wohnheim <strong>für</strong> seelisch Behinderte betreibt, und mit der Lebenshilfe, die vorrangig geistig<br />

behinderte Menschen betreut.<br />

Einige statistische Daten:<br />

01.05.1999 bis 31.12.2000 = 55 Patienten, davon<br />

AOK’s 32<br />

BKK’s 4<br />

IKK’s 5<br />

Private Kassen 1<br />

VdAK’s 9<br />

Sozialhilfeträger als KK 2<br />

BSHG/Privat 2<br />

Zu den Kostenübernahmen durch VdAK-Kassen ist festzustellen:<br />

30


- Eine Kasse (HKK Bremen) hat psychiatrische Leistungen (Basis Modellversuch) genehmigt.<br />

- Ein Fall (DAK) wurde <strong>für</strong> einen begrenzten Zeitraum von 3 Monaten als Soziotherapie<br />

bewilligt.<br />

- Ein Fall wurde vorübergehend versehentlich mit den psychiatrischen Leistungen genehmigt.<br />

Alle anderen Patienten erhielten eine Bewilligung auf der Basis der <strong>Kranke</strong>nhausersatzpflege<br />

mit der <strong>für</strong> somatische <strong>Pflege</strong> abgeschlossenen Leistungspauschale.<br />

Im Interesse der Patienten haben wir uns in diesen Ausnahmefällen darauf eingelassen, obwohl<br />

das nicht ganz unproblematisch bezüglich der Leistungserbringung und schon gar nicht<br />

ausreichend <strong>für</strong> die Wirtschaftlichkeit des <strong>Pflege</strong>dienstes ist. Unser Anliegen war aber auch,<br />

das anfängliche kategorische Nein der VdAK-Kassen in Delmenhorst zur ambulanten psychiatrischen<br />

<strong>Pflege</strong> „aufzuweichen“.<br />

Eingliederungshilfe<br />

Bei einem Patienten wurde ausschließlich Eingliederungshilfe geleistet, bei sechs Patienten<br />

Eingliederungshilfe nach ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege. Weiterhin haben wir<br />

z.Zt. vier Patienten, die neben bzw. zusätzlich zur ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege<br />

Leistungen der Eingliederungshilfe in der Tagesstätte (Träger Stiftung Kloster Blankenburg)<br />

bewilligt bekommen haben.<br />

Einschränkung des Angebotes<br />

Im Modellprojekt werden keinerlei Zuschüsse vom Land Niedersachsen <strong>für</strong> die <strong>Pflege</strong> gezahlt,<br />

die psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege muss sich selber finanzieren. Nachdem wir im Jahr<br />

1999 ein erhebliches Defizit (über 30.000 DM) verkraften mussten, wurde diesem Bereich im<br />

Jahr 2000 ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die erste Einarbeitungs- und Etablierungsphase<br />

des Projektes war Anfang 2000 abgeschlossen, so dass wir von „ normalen“<br />

Verhältnissen ausgehen konnten. Wir werden das Jahr 2000 aber erneut mit einem Defizit<br />

abschließen, das sich auf etwa 16.000 DM, d.h. 10 % des Umsatzes belaufen wird.<br />

Aufgrund der Größe der psychiatrischen Abteilung mit zwei <strong>Pflege</strong>kräften waren der<br />

Einsatzmöglichkeit Grenzen gesetzt, z.B. <strong>für</strong> regelmäßige Wochenenddienste. Dies wurde in<br />

der Arbeitsgruppe NAAPPF durchaus kritisch und kontrovers gesehen und diskutiert. So wäre<br />

es uns nicht möglich gewesen, jeden Patienten mit einem sehr hohen Hilfebedarf (z.B.<br />

31


zweimal täglich an 7 Tagen je Woche) aus der Klinik zu übernehmen. Wir mussten schon<br />

prüfen, ob wir dem <strong>Pflege</strong>bedarf gerecht werden können, haben aber bisher noch keinen<br />

Patienten abgelehnt. Die somatische <strong>Pflege</strong>abteilung kann nur in Einzelfällen unterstützen.<br />

Von einer an sich notwendigen personellen Aufstockung haben wir aus zwei Gründen bisher<br />

abgesehen:<br />

a) Befristung des Vertrages <strong>für</strong> ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege bis zum<br />

31.12.2001 und<br />

b) Begrenzung des Defizits, das wir (<strong>für</strong> einen begrenzten Zeitraum ) tragen können.<br />

Wirtschaftlichkeit<br />

Gemäß § 132 a haben die <strong>Kranke</strong>nkassen darauf zu achten, dass die Leistungen wirtschaftlich<br />

und preisgünstig erbracht werden. Es ist nach unserer Überzeugung aber unerlässlich,<br />

dass auch Vergütungen gezahlt werden, die den besonderen Anforderungen der psychiatrischen<br />

<strong>Kranke</strong>npflege gerecht werden und die dem Träger auch auf Dauer eine Kostendeckung<br />

ermöglichen. In der Anlage 2 zum Zwischenbericht der wissenschaftlichen<br />

Begleitforschung sind dazu Vorschläge zur Überarbeitung des Leistungs- und Preisverzeichnisses<br />

gemacht worden.<br />

Zu nennen sind folgende Stichworte:<br />

- Erhöhung der Punktzahlen der Leistungskomplexe 5 und 6, dies sind<br />

5 = stabilisierende psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege<br />

6 = gezielt systemorientierte psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege (bei uns nur geringe Anzahl 2)<br />

- Aufhebung der maximal abrechenbaren Punktzahl in den „grundsätzlichen Leistungs- und<br />

Preisbeschränkungen“<br />

- Veränderung bei der Abrechnung des Leistungskomplexes 2, dies ist die Zusammenarbeit<br />

mit Ärzten und anderen Therapeuten (nur einmal je Leistungsfall abrechenbar)<br />

- Erhöhung der Fahrkostenpauschale<br />

- allgemeine Erhöhung des Punktwerts, sofern keine Zeitvergütung vereinbart wird<br />

Zum letzten Punkt ist festzustellen, dass es seit dem Abschluss des Vertrages zwischen der<br />

AOK und den Freien sozialen Diensten Friesland im Jahr 1994, der faktisch als „Musterver-<br />

32


trag“ inkl. der Vergütung dem Modellprojekt zugrundegelegt wurde, keine Erhöhung gegeben<br />

hat, obwohl, wie alle wissen, die Personalkosten erheblich gestiegen sind.<br />

Einen „Schwachpunkt“ in der Leistungsvereinbarung haben wir noch nicht angesprochen,<br />

nämlich unterstellte Synergieeffekte bei gleichzeitiger Erbringung von Leistungen psychiatrischer<br />

<strong>Kranke</strong>npflege und <strong>Pflege</strong> nach SGB XI. Die Kürzung der Punkte um jeweils ein Drittel<br />

erscheint deutlich zu hoch und ist dem zusätzlichen Zeitbedarf <strong>für</strong> <strong>Pflege</strong> nicht angemessen.<br />

Der personenzentrierte Hilfeansatz psychiatrischer <strong>Pflege</strong> ist kontraproduktiv, wenn aus Kostengründen<br />

ein weiterer <strong>Pflege</strong>einsatz (dann erfolgt keine Punktreduzierung) oder gar der<br />

Einsatz einer weiteren <strong>Pflege</strong>person geplant werden muss. Von den 45 Patienten ist bisher<br />

nur ein Patient in eine <strong>Pflege</strong>stufe eingestuft worden. Seine pflegerische Versorgung haben<br />

die Angehörigen übernommen, die auch das <strong>Pflege</strong>geld erhalten.<br />

Die Punktzahlkürzung um je die Hälfte bei behandlungsgleicher Leistung der psychiatrischen<br />

<strong>Kranke</strong>npflege und Eingliederungshilfe ist ebenfalls auf den Prüfstand zu stellen. Es ist sicherlich<br />

unstreitig eine Verbesserung der Qualität der ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege,<br />

dass in der Vereinbarung die Inhalte der Arbeit der <strong>Kranke</strong>npflege umfassend<br />

beschrieben sind. Die Ärzte und <strong>Pflege</strong>r sowie Kassen und Medizinischer Dienst haben damit<br />

die gleiche Basis. Ob bei der psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege, die im wesentlichen Beziehungspflege<br />

ist, eine Abgrenzung als Leistungskomplex möglich ist, nach dessen<br />

„Abarbeitung“ der <strong>Pflege</strong>einsatz beendet wird, darf zumindest sehr bezweifelt werden.<br />

Dem Faktor „Zeit beim Patienten“ ist bei einer künftigen Vergütungsregelung eine größere<br />

Bedeutung beizumessen! Alle fünf Modellteilnehmer haben sich <strong>für</strong> ein Zeitkontingent statt<br />

der punktebewerteten Leistungskomplexe ausgesprochen.<br />

Bei den Zahlen bin ich im Wesentlichen von den Ergebnissen der AWO Sozialstation ausgegangen,<br />

die sich aber wohl nicht grundlegend von anderen am Modell beteiligten Diensten<br />

unterscheidet. Bemerken möchte ich, dass wir in der Buchhaltung eine sehr genaue Zuordnung<br />

der Erlöse und Kosten vornehmen. Aus den vielen Gesprächen weiß ich, dass bei allen<br />

Modellpflegediensten wirtschaftlich „der Schuh drückt“. Dass Varel während der laufenden<br />

Vertragsdauer eine Punktwerterhöhung, wenn auch nur um 1,18 % erreicht hat, zeigt, dass<br />

die bisherige Vergütung nicht ausreichend war bzw. ist.<br />

Wir haben über einen Zeitraum von acht Monaten sehr detaillierte Aufzeichnungen zum Zeitbedarf<br />

gemacht, die wir nun im Rahmen der Jahresabschlussarbeiten auswerten. Auf der<br />

nächsten Sitzung des Projekt-Beirates im März werden wir Zahlen vorlegen können.<br />

33


Zusammenfassung<br />

Die finanziellen Rahmenbedingungen <strong>für</strong> die ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege sind<br />

so zu gestalten, dass der <strong>Pflege</strong>dienst einen personenzentrierten Hilfeansatz verwirklichen<br />

kann. Nicht nur „leicht kranke“ Menschen müssen ambulant versorgt werden können, sondern<br />

auch Personen mit aufwendigem Hilfebedarf. Dazu bedarf es neben einer ausreichenden<br />

Finanzierung auch einer gewissen Mindestgröße des psychiatrischen<br />

Fachpflegedienstes.<br />

Es könnte nun der Eindruck entstanden sein, die <strong>Pflege</strong>dienste wollen nur mehr Geld. Ohne<br />

ausreichende wirtschaftliche Rahmenbedingungen kann ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege<br />

jedoch auf Dauer nicht gelingen, denn kein Dienst kann sich auf längere Zeit ein finanzielles<br />

Zuschussgeschäft leisten. Der Spielraum <strong>für</strong> eine Kapazitätsausweitung ist<br />

sicherlich, dass bei einigen Patienten unserer Station der sich aus Verordnung und Vertrag<br />

ergebende finanzielle Rahmen nicht ausgeschöpft wurde.<br />

Im Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung (S. 38 ff) wurden <strong>für</strong> 34 Patienten<br />

die Kosten der stationären und ambulanten <strong>Pflege</strong> verglichen, wobei man darauf hinweisen<br />

muss, dass die Kosten <strong>für</strong> die ärztliche Behandlung und Medikation sowie z.B.<br />

Ergotherapie bei der ambulanten Behandlung nicht enthalten sind (siehe Anhang dieses Tagungsberichtes).<br />

Ambulant Stationär<br />

2.531 DM je Fall 35.257 DM je Fall<br />

86.000 DM Gesamtkosten 1.198.750 DM Gesamtkosten<br />

Ein Spielraum <strong>für</strong> eine notwendige Anpassung der Vergütung ist nach unserer Auffassung<br />

gegeben. Die Einsparungsmöglichkeiten <strong>für</strong> die <strong>Kranke</strong>nkassen sind bei konsequenter Umsetzung<br />

der Regel ambulant vor stationär vorhanden.<br />

Zum Schluss möchte ich bemerken, dass unser Engagement in diesem Bereich aus betriebswirtschaftlicher<br />

Sicht bisher ein Zuschussgeschäft war. Inhaltlich weiß ich mich aber mit<br />

unserem Vorstand, und dabei insbesondere mit unserem Vorsitzenden Harald Groth - sicherlich<br />

vielen als Vorsitzender des Landtags-Sozialausschusses bekannt - einig, dass ein solches<br />

Modellprojekt notwendig ist, um nicht nur theoretisch, sondern auch durch praktische<br />

Arbeit zu beweisen, dass sehr wohl psychiatrisch erkrankte Menschen in ihrer gewohnten<br />

Umgebung zur Vermeidung oder Abkürzung stationärer Unterbringung angemessen versorgt<br />

werden können.<br />

34


Ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege (APP) in Kooperation mit den ver-<br />

ordnenden Ärzten<br />

Wilfried Kannegießer, Geschäftsführer der Psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege “Prisma“, Weyhe<br />

Seit Beginn des Modellverbunds haben wir in unserer Region, dem Nordkreis von Diepholz,<br />

die besondere Situation, dass ich als Fachkrankenpfleger in einer Facharztpraxis angestellt<br />

bin. Um den Anforderungen des SGB V §132 gerecht zu werden, kooperiert diese mit zwei<br />

Sozialstationen, die den <strong>Kranke</strong>nkassen gegenüber als Leistungsträger auftreten, ohne diese<br />

selbst erbringen zu können.<br />

Im ersten Jahr des Modells wurde viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die APP zu einem<br />

Teil des bestehenden Sozialpsychiatrischen Verbundes zu machen. Dabei ging es darum,<br />

Kooperationsstrukturen aufzubauen, zu informieren und Abgrenzungen und Überschneidungen<br />

zu anderen komplementären Angeboten im Landkreis herauszuarbeiten und darzustellen.<br />

Dass das bis heute gelingt, liegt an der guten Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychiatrischen<br />

Dienst vor Ort. Es wurde ein „runder Tisch“ als Gremium zum Austausch und zur Koordinierung<br />

der Zusammenarbeit aller Beteiligten, dem SpD, dem Betreuten Wohnen, der<br />

zuständigen Klinik, den Berufsbetreuern und den Leistungserbringern, installiert. Im vorliegenden<br />

Bericht über die Arbeit des Verbundes ist die APP als ein sinnvoller und wünschenswerter<br />

neuer Baustein mit aufgenommen worden und damit auch ein Ziel der Politik<br />

des Landkreises.<br />

Wie gut und nützlich eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit der APP mit niedergelassenen<br />

Fachärzten <strong>für</strong> die Patienten, dem Arzt und nicht zuletzt <strong>für</strong> die <strong>Kranke</strong>nkassen<br />

sein kann, zeigen die vergangenen zwei Jahre, in denen diese mit der Praxis Dr. Munzel<br />

praktiziert wurde, deutlich.<br />

So konnten durch die rechtzeitige Verordnung von APP viele Klinikeinweisungen, die sonst<br />

unabdingbar geworden wären, vermieden werden. Das betraf Patienten, bei denen zum ersten<br />

Mal Krankheitssymptome auftraten und die sie veranlassten, den Facharzt aufzusuchen.<br />

Sie wurden noch nie auf einer psychiatrischen Station behandelt und mussten es auch jetzt<br />

nicht aufgrund der APP.<br />

35


Bei entsprechender Schwere der Krankheit und dem Fehlen adäquater Behandlungsmöglichkeiten<br />

wie der APP gab es <strong>für</strong> die Angehörigen und dem Arzt in der Vergangenheit oft<br />

keine andere Wahl als eine Klinikeinweisung.<br />

Man bedenke die Folgen <strong>für</strong> die Patienten und deren Familien. In den ländlichen Regionen<br />

gibt es durchaus noch eine Stigmatisierung durch einen Aufenthalt in der Psychiatrie. Das ist<br />

eine erhebliche Belastung <strong>für</strong> den Ehepartner und die Kinder (Schule). Auch der Arbeitsplatz<br />

gerät in Gefahr.<br />

So stellt die Behandlung durch die APP eine große Erleichterung und Entlastung dar. Bei der<br />

Nähe zum Facharzt kann zum Beispiel eine notwendig gewordene regelmäßige Medikamenteneinnahme<br />

mit dem Patienten durchgehalten und mögliche Nebenwirkungen vom Fachkrankenpflegepersonal<br />

wahrgenommen werden.<br />

Von großem Nutzen sind die wöchentlich stattfindenden Fallbesprechungen mit dem behandelnden<br />

Facharzt. Diese stellen ein wichtiges Kriterium der Qualitätssicherung in der <strong>Pflege</strong><br />

dar. Zum anderen liegt das Casemanagement beim Arzt.<br />

Gute Erfahrungen konnten auch mit einer Gruppe von Patienten gemacht werden, die landläufig<br />

als „Drehtürpatienten“ beschrieben werden. Diese werden im optimalen Fall von der<br />

Klinik zur Verkürzung des stationären Aufenthaltes verordnet oder vom Arzt zur Vermeidung<br />

eines erneuten Aufenthaltes. In beiden Fällen stellt sich die APP als ein Instrument, das<br />

greift und diese Ziele oftmals erreicht, dar. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt tritt<br />

ein, wenn ein Patient über einen längeren Zeitraum von der APP versorgt wurde, diese dann<br />

endet und nach z.B. einem halben Jahr eine erneute Krise eintritt, die zu einer Einweisung<br />

führen müsste.<br />

Da das Hauptarbeitswerkzeug in der APP die Beziehung zu dem Patienten ist und deren<br />

Aufbau immer ein Ziel darstellt, profitieren nun beide (Fachkrankenpflegepersonal und Patient)<br />

in der Krise von dem bereits bestehenden Fundament. Diese Beziehung ermöglicht einen<br />

guten Kontakt von Anfang an und führte in der Vergangenheit oft dazu, dass in einem<br />

relativen kurz anzusetzenden Behandlungszeitraum erfolgreiche Arbeit stattfand, das heißt,<br />

dass ein weiterer Klinikaufenthalt nicht erforderlich war. Leider sind noch längst nicht alle<br />

Fachärzte dieser Sichtweise zugänglich und verordnen aus sicherlich unterschiedlichen Motiven<br />

keine APP.<br />

36


Bei uns kamen in den letzten zwei Jahren immer mehr Verordnungen direkt aus der Klinik<br />

und die weiteren von vier verschiedenen Fachärzten. Auch die Hausärzte in der Region<br />

nehmen das Wirken der APP immer mehr positiv zur Kenntnis. Bei ihnen liegt zukünftig ein<br />

großes Potential von Verordnungen in Form von Überweisungen an den Facharzt.<br />

37


Einschneidende Defiziterfahrungen fordern Abhilfe: Ambulante psychiatrische<br />

<strong>Kranke</strong>npflege wird dringend benötigt<br />

Rose-Marie Seelhorst, Landesvorsitzende der Angehörigen <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r in Niedersachsen<br />

und Bremen<br />

Das vergangene Jahr gab Anlass, über die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in<br />

Deutschland in den letzten 25 Jahren nachzudenken. Was wurde seit Veröffentlichung der<br />

Psychiatrie-Enquête geschafft, wo werden gravierende Mängel und Lücken erlebt?<br />

Psychisch <strong>Kranke</strong> sollen nicht weiter in Großeinrichtungen verwahrt, sondern möglichst gemeindenah<br />

leben und versorgt werden.<br />

Psychisch <strong>Kranke</strong> haben einen Anspruch auf die erforderliche medizinische und rehabilitative<br />

Versorgung und sollen genauso wie somatisch <strong>Kranke</strong> nur dann stationär behandelt werden,<br />

wenn das aus ärztlicher Sicht dringend erforderlich ist.<br />

Psychisch <strong>Kranke</strong> müssen somatisch <strong>Kranke</strong>n gegenüber gleichgestellt werden und haben<br />

folglich auf ausreichende ambulante Angebote Anspruch.<br />

Zu den Zielen der Psychiatrie-Reform gehörte es auch, psychiatrische Großkrankenhäuser,<br />

in denen viele Patienten seit Jahren untergebracht waren, in moderne gemeindenahe psychiatrische<br />

Kliniken zu verwandeln. Damit wurde der Schwerpunkt der medizinischen Versorgung<br />

<strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r aus der Anstalt hinaus in die Gemeinde verlegt, wo die Angebote<br />

vorgehalten werden sollten, die <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> bei ihrer Krankheitsbewältigung jeweils<br />

brauchen. Nun gab es aber vor 25 oder 26 Jahren keine alternativen Angebote in der Gemeinde<br />

zur Rundumversorgung im <strong>Kranke</strong>nhaus <strong>für</strong> <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>.<br />

Es wurde der zweite Schritt vor dem ersten getan. Man begann, Großkrankenhäuser aufzulösen,<br />

ehe geeignete Lebensräume und Behandlungs- und Unterstützungsangebote <strong>für</strong> die<br />

größtenteils durch Langzeithospitalisierung doppelt geschädigten kranken Menschen verfügbar<br />

waren. Deshalb konnte eine große Zahl von Langzeitpatienten nicht einfach aus dem<br />

<strong>Kranke</strong>nhaus entlassen werden, sondern musste in Heimen untergebracht werden, meist<br />

gemeindefern. Auch vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet erlebten die in Bewohner<br />

verwandelten Patienten selten eine Verbesserung.<br />

38


Einige dieser Patienten konnten zu ihren Familien ziehen, wo sie meistens von ihren Müttern<br />

oder Schwestern gepflegt wurden. Ich erinnere mich an einen Fall, der mich seinerzeit sehr<br />

bewegte. Da war eine alte Mutter, die einen <strong>psychisch</strong> kranken Sohn aufopfernd pflegte. Der<br />

Sohn kam nach dem Tod der Mutter in eine stationäre Einrichtung und verursachte dort große<br />

Probleme, weil seine <strong>Pflege</strong> sehr personalaufwendig war und man sich zu recht fragen<br />

musste, wie die alte Mutter die <strong>Pflege</strong> ganz allein, ohne professionelle Unterstützung, geschafft<br />

hatte.<br />

Aus der Begegnung mit sehr vielen Angehörigen weiß ich, dass viele Angehörige auch heute<br />

noch ohne ausreichende Unterstützung <strong>psychisch</strong> Schwerkranke versorgen. Zu der Belastung<br />

durch die schwierige <strong>Pflege</strong> eines <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n kommen meist Vereinsamung<br />

und Verarmung. Diese Feststellung ist durchaus als Vorwurf zu verstehen.<br />

Die Vorlage <strong>für</strong> den Aufbau der nötigen psychiatrischen Angebote vor Ort stellten die 1988<br />

veröffentlichten Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung dar, von denen<br />

unsere Arbeitsgemeinschaft vor ein paar Tagen noch einige Exemplare vom Psychiatrie-<br />

Referat des Bundesgesundheitsministerium zugesandt bekam. Empfehlungen, die ohne<br />

Mitwirkung von Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen formuliert wurden. Ich denke, Empfehlungen<br />

zum Aufbau würden heute anders aussehen. Gerechter Weise muss man sagen,<br />

dass es allerdings immer nur sehr bedingt möglich sein wird, psychiatrische Standards <strong>für</strong><br />

eine Gesellschaft von morgen zu beschreiben.<br />

Man spürt bei der Lektüre dieser Empfehlungen die Handschrift von Klinikchefs. Für mich lesen<br />

sich diese Empfehlungen so, als hätte man Kapitel <strong>für</strong> ein kompliziertes Handbuch geschrieben,<br />

mit dem den Verantwortlichen geholfen würde, Angebote, wie sie eine sehr gut<br />

ausgestattete psychiatrische Klinik vorhält, im ambulanten Bereich einfach nachzubauen.<br />

Warum sollte das, was im Idealfall im <strong>Kranke</strong>nhaus geboten wird, nicht auch ambulant vor<br />

Ort <strong>für</strong> die Betroffenen richtig sein, von diesen akzeptiert werden und ausreichend sein?<br />

Die meisten Patienten wollen nicht hauptberuflich krank sein. Ihr Zuhause ist kein <strong>Kranke</strong>nzimmer,<br />

ihre Angehörigen sind keine <strong>Kranke</strong>npfleger. Psychisch <strong>Kranke</strong> wollen und sollen<br />

am ganz normalen Leben teilnehmen. Damit das möglich ist, brauchen sie nicht nur Unterstützung<br />

beim Erlernen einer sozusagen bekömmlichen Lebensführung, sondern vor allem<br />

ärztliche und pflegerische Hilfe, wenn es nötig ist. Sie sind froh, wenn sie nach der Entlassung<br />

aus dem <strong>Kranke</strong>nhaus ihr Leben als eigenverantwortliche Bürger wieder selbst gestalten<br />

können.<br />

39


Das geht <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n nicht anders als somatisch <strong>Kranke</strong>n. Allerdings erfordert jede<br />

schwere Krankheit ein Nachdenken über die Frage der nun bevorstehenden Alltagsbewältigung<br />

und später auch über die möglicherweise veränderte Lebensplanung. Auch <strong>psychisch</strong><br />

<strong>Kranke</strong> müssen lernen, den Anforderungen des Alltags wieder gewachsen zu sein. Da<strong>für</strong><br />

brauchen sie – und darin sind wir uns sicher alle einig – Hilfe.<br />

Im <strong>Kranke</strong>nhaus sind die Wege kurz. Wenn ein Patient im <strong>Kranke</strong>nhaus schnell Hilfe<br />

braucht, ist sie praktisch sofort da, und zwar so lange und so intensiv, wie er sie braucht. Wie<br />

aber sieht das dann zu Hause aus? Seit der Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquête sind<br />

Jahrzehnte, seit der Veröffentlichung der Empfehlungen der Expertenkommission sind immerhin<br />

auch an die dreizehn Jahre vergangen, aber noch immer fehlt fast überall die wichtigste<br />

Form der Hilfe, die aufsuchende.<br />

Wie sieht die ambulante Versorgung heute aus? Gibt es <strong>für</strong> – insbesondere allein stehende -<br />

<strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> genügend Hilfe vor Ort, und wie sieht es mit der Unterstützung der mit<br />

den <strong>Kranke</strong>n lebenden Angehörigen aus? Lassen Sie mich einmal von einer verhältnismäßig<br />

gut versorgten Region sprechen, der Region Hannover. Gehen wir von den Empfehlungen<br />

der Expertenkommission und ihrem Baustein-System aus, so müssen wir Angehörigen<br />

zugeben, dass es <strong>für</strong> die <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n und ihre Angehörigen in der Region Hannover<br />

eine ausreichende psychiatrische Versorgung gibt:<br />

Mehrere psychiatrische <strong>Kranke</strong>nhäuser oder psychiatrische Abteilungen, Tageskliniken, sehr<br />

viele niedergelassene Psychiater, Sozialpsychiatrische Dienste, viele Heimplätze, eine<br />

wachsende Zahl von Plätzen im Betreuten Wohnen, Tagesstätten, Angebote <strong>für</strong> berufliche<br />

Rehabilitation, Werkstattplätze, usw.<br />

Liebe Zuhörer, ich spreche bewusst von der Region Hannover, auf die vielleicht manch ein<br />

scheeler Blick fällt, von der manch einer sich denkt, dass hier <strong>für</strong> die Schwerkranken vorbildlich<br />

gesorgt sei. Aber wie gut geht es den <strong>psychisch</strong> Schwerkranken und ihren Angehörigen<br />

hier wirklich?<br />

Ich möchte nicht nur über den Bedarf von aufsuchender häuslicher <strong>Kranke</strong>npflege sprechen,<br />

sondern zuerst mit dem wichtigsten Angebot beginnen, der Verfügbarkeit des geeigneten<br />

Arztes. Ohne genügend gute Fachärzte würden und werden die verordnungsfähigen Hilfen<br />

<strong>für</strong> <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> nicht verschrieben werden, ob es sie gibt oder nicht. Die Hilfe <strong>für</strong> <strong>Kranke</strong><br />

beginnt mit der Erreichbarkeit eines kompetenten und engagierten Arztes. Schlagen wir<br />

40


den Branchenteil des Telefonbuchs von Hannover auf, so finden wir eine große Zahl niedergelassener<br />

Psychiater.<br />

Wie sich bei einer Umfrage unter uns Angehörigen ergeben hat, verfügt allerdings nur ein<br />

eher kleiner Teil über ausreichende Erfahrung mit <strong>psychisch</strong> Schwerkranken, zum Beispiel<br />

solchen, die an einer Form der Schizophrenie erkrankt sind. Beim Thema „Hausbesuch“ reagieren<br />

die meisten Psychiater zurückhaltend. Bei der Lektüre der ambulanten psychiatrischen<br />

Angebote, wie sie im Sozialpsychiatrischen Plan <strong>für</strong> die Landeshauptstadt und deren<br />

Landkreis aufgelistet sind, überlege ich<br />

- <strong>für</strong> welche Bedürfnisse <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r gibt es Hilfe;<br />

- <strong>für</strong> welche Situationen - besonders bei Schwerkranken - fehlt sie ?<br />

Bei jeder bevorstehenden Klinikentlassung müssen sich die Verantwortlichen fragen, ob sich<br />

der <strong>Kranke</strong> allein zu Hause versorgen kann bzw. mit welcher Unterstützung gerechnet werden<br />

kann. Die gleiche Frage stellt sich wahrscheinlich auch der niedergelassene Arzt, der<br />

den <strong>Kranke</strong>n in einer kritischen Phase behandelt.<br />

Die <strong>psychisch</strong>e Krankheit verläuft bekanntlich häufig in Schüben, deshalb erleben die Betroffenen<br />

zwischen relativ stabilen Phasen auch kritische Situationen. Wie es zu Krisen, kleinen<br />

oder schweren, kommt, ist ein Kapitel <strong>für</strong> sich. Viele Krisen könnten mit kompetenter Unterstützung<br />

auch zu Hause überstanden werden, müssten nicht - wie heute - fast zwingend zur<br />

Klinikeinweisung führen.<br />

Als erfahrene Angehörige kann ich nur sagen, dass die Ursache <strong>für</strong> eine kleinere, vorübergehende<br />

oder größere Krise <strong>für</strong> mich nicht immer erkennbar ist. Häufig sind schwere Krisen<br />

voraussehbar, z.B., wenn der Patient die nötigen Medikamente nicht oder in nicht ausreichender<br />

Dosierung genommen hat, manchmal aber treffen Krisen den <strong>Kranke</strong>n und die Angehörigen<br />

wie „ein Blitz aus heiterem Himmel“.<br />

Wie können mehr Krisen zu Hause überstanden werden?<br />

Die nötigste aufsuchende Hilfe, die gebraucht wird, ist ein rund um die Uhr erreichbarer Kriseninterventionsdienst.<br />

Einen großen Teil dieses Dienstes können Nichtmediziner übernehmen,<br />

in der Psychiatrie erfahrene <strong>Kranke</strong>nschwestern, Sozialarbeiter, usw., aber ohne einen<br />

schnell erreichbaren Psychiater ist ein Kriseninterventionsdienst <strong>für</strong> mich nicht vorstellbar.<br />

41


In Hannover gibt es da eine besonders delikate Situation. Während sich die Psychiater gegen<br />

die Fortführung des nervenärztlichen Hintergrunddienstes wehren und da<strong>für</strong> mehr wirtschaftlich<br />

als patientenbezogen argumentieren, konnte der sozialpsychiatrische<br />

Hintergrunddienst, der <strong>für</strong> ein paar Nachmittags- und Abendstunden feiertags und am Wochenende<br />

allen Hilfesuchenden zur Verfügung steht, mit Jahresbeginn - ähnlich der Stadt<br />

Oldenburg - auf den Freitag ausgedehnt werden.<br />

Besonders kritisch sind Krisen unserer <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n immer dann, wenn sie nicht in unserer<br />

Nähe wohnen oder - was nicht selten der Fall ist - Hilfe durch ihre nächsten Angehörigen<br />

ablehnen. Da ist der Vater, der uns hier in der Geschäftsstelle der Angehörigen in<br />

Hannover anruft, und darüber klagt, dass der Sohn oben an der Küste Niedersachsens in<br />

seiner Wohnung nicht allein klar kommt, die Arzttermine nicht wahrnimmt und kaum noch<br />

aus dem Haus geht. Der Vater wird als Helfer nicht akzeptiert. Ein Mitarbeiter vom Sozialpsychiatrischen<br />

Dienst war einmal da, ohne dass wirksame Hilfe geleistet wurde. Was soll<br />

werden? Es droht Obdachlosigkeit. Das gleiche spielt sich so oder ähnlich an vielen Orten<br />

ab.<br />

Irgendwann werden <strong>psychisch</strong> Schwerkranke, um die sich in Krisen niemand intensiv kümmert,<br />

obdachlos oder evtl. im Zusammenhang mit einer Einweisung ins psychiatrische <strong>Kranke</strong>nhaus<br />

in einem Heim untergebracht oder beenden ihr Leben durch einen<br />

Selbstmordversuch, der mehr ein Hilfeschrei als eine wohlüberlegte Tat war.<br />

Ich weiß aus Erfahrung als betroffene Mutter, dass es bei meinen kranken Söhnen immer<br />

wieder zu Situationen gekommen ist, die zum völligen Verlust ihrer Autonomie geführt hätten,<br />

nämlich zur Unterbringung in einem Heim, wenn wir uns nicht intensiv um den <strong>Kranke</strong>n<br />

in dessen Wohnung gekümmert hätten. Meist waren es Familienmitglieder, einmal auch ein<br />

Außenstehender, den ich über die Zeitung gesucht hatte.<br />

Nach einem <strong>Kranke</strong>nhausaufenthalt beschrieb mir ein Sohn seine verzweifelte Lage. Er wollte<br />

sein Geschirr abwaschen, aber die Hand ging nicht zum Lappen. Er stand da und weinte.<br />

Als <strong>für</strong> einen geeigneten Helfer gesorgt war, der mit dem Sohn sprach und unter anderen Aktivitäten<br />

auch aufzuwaschen begann, wich die Blockade von dem <strong>Kranke</strong>n. Er konnte das<br />

Geschirrtuch nehmen und einfach mitmachen.<br />

Von vielen <strong>Kranke</strong>n habe ich erfahren, dass der Alltag nach dem <strong>Kranke</strong>nhaus häufig als<br />

Krise erlebt wird, dass in dieser Situation praktische, zupackende Hilfe gebraucht wird, Belehrung<br />

nicht gefragt ist und Angebote außer Haus als unerreichbar erlebt werden. Wir<br />

42


auchen aufsuchende Hilfe. Wir brauchen Helfer, die einfach zupacken und nicht lange<br />

Vorträge halten.<br />

Für in der Psychiatrie unerfahrene Menschen mag es sonderbar erscheinen, wenn wir Angehörigen<br />

berichten, welche Zuwendungen es sein können, die <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> in kritischen<br />

Situationen brauchen. Die <strong>Pflege</strong> eines <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n kann mit dem Problem beginnen,<br />

den <strong>Kranke</strong>n morgens zum Aufstehen zu überreden, da<strong>für</strong> zu sorgen, dass er seine Medikamente<br />

nimmt, sich wäscht, rasiert, Termine, z.B. beim behandelnden Arzt, wahrnimmt. Es<br />

muss <strong>für</strong> seine Ernährung gesorgt werden und <strong>für</strong> die allernötigste Ordnung und Sauberkeit<br />

in seiner Wohnung usw.<br />

In allen kritischen Situationen ist praktische Hilfe vor Ort nötig. Die Hilfe muss allerdings von<br />

einem Menschen geleistet werden, der den <strong>Kranke</strong>n versteht, weiß, wie er sich fühlt. Psychisch<br />

<strong>Kranke</strong> haben ja fast immer gesunde Arme und Beine. Trotzdem können sie - wie eben<br />

am Beispiel meines Sohnes beschrieben - u.U. so blockiert, so motivationslos oder so<br />

müde durch Medikamente sein, dass sie tätige Hilfe brauchen.<br />

Wer gesund ist, weiß gar nicht, wie viel <strong>psychisch</strong>e Kraft nötig ist, um nur <strong>für</strong> die nötigsten<br />

eigenen Bedürfnisse zu sorgen, deshalb soll die Hilfe von einem mitfühlenden Menschen erbracht<br />

werden, der es versteht, den <strong>Kranke</strong>n zum Mitmachen und später Selbstmachen motivieren<br />

kann. Das Dozieren ist nicht gefragt. Unter den Profis sind wahrscheinlich<br />

<strong>Kranke</strong>npfleger, <strong>Kranke</strong>nschwestern mit Zusatzausbildung am geeignetsten.<br />

Bisher werden Menschen mit einem vorübergehenden intensiven Hilfebedarf entweder sich<br />

selbst überlassen oder in Heimen untergebracht. Es sei denn, es finden sich Angehörige, die<br />

diese Aufgabe übernehmen. Wer weiß schon, wie groß die Belastung der Angehörigen in einer<br />

solchen Lage ist? Wen kümmert es?<br />

Sie stehen oft rund um die Uhr zur Verfügung und erleben selten Anerkennung oder gar<br />

Dankbarkeit. Im Gegenteil, ich erinnere mich, dass eine alte Verwandte zu mir in einer solchen<br />

Situation sagte, ich solle endlich einsehen, dass der Sohn in ein Heim gehöre. Da Angehörige<br />

bei der <strong>Pflege</strong> des <strong>Kranke</strong>n nicht „im Dienst” sind, müssen sie parallel häufig noch<br />

<strong>für</strong> heranwachsende Kinder oder pflegebedürftige alte Eltern sorgen. Manche sind daneben<br />

sogar noch berufstätig. Die Überlastung ist vielen Angehörigen anzusehen. Wenn sie dann<br />

nicht mehr können, sich selbst in Behandlung begeben müssen, leiden sie noch mehr. Wer<br />

kümmert sich während dieser Zeit um ihren <strong>Kranke</strong>n?<br />

43


Es geht uns Angehörigen bei unserer Forderung nach aufsuchender Hilfe also keineswegs<br />

nur um Hilfe nach einem längeren <strong>Kranke</strong>nhausaufenthalt oder zur Vermeidung eines solchen;<br />

denn wer kann in einer psychiatrischen Krise schon sagen, wie und wohin sie sich<br />

entwickeln wird? Es geht darum, dass die Hilfe viel häufiger als bisher zum <strong>Kranke</strong>n gebracht<br />

werden muss.<br />

Deshalb noch einmal: Wir brauchen aufsuchende Hilfe<br />

- in Form eines Kriseninterventionsdienstes und<br />

- <strong>für</strong> kürzere oder manchmal auch längere Zeit bei dem <strong>Kranke</strong>n in seiner Wohnung.<br />

Es werden nicht nur <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> in Heimen untergebracht, die bei Verfügbarkeit von<br />

aufsuchender Hilfe nach relativ kurzer Zeit wieder ohne Hilfe im Haus ihren Alltag bewältigen<br />

könnten, sondern auch solche, die einen länger dauernden intensiven Hilfebedarf haben.<br />

Wenn Angehörige sich mit der <strong>Pflege</strong> ihres <strong>Kranke</strong>n überfordert fühlen und <strong>für</strong> eine Heimunterbringung<br />

ihres <strong>Kranke</strong>n sorgen, erleben sie selten Verständnis und Unterstützung in ihrer<br />

unmittelbaren Umgebung, aber häufiger Vorwürfe und Beschuldigungen.<br />

Vielleicht ist bei der Unterbringung im Heim davon ausgegangen worden, dass es sich nur<br />

um eine vorübergehende handeln soll. Vielleicht wartet der <strong>Kranke</strong> darauf, dass er wieder<br />

nach Hause kann. Den Angehörigen ist aber inzwischen klar geworden, dass sie die dauernde<br />

Überforderung, die durch den völligen Mangel an kompetenter Hilfe im Haus entsteht,<br />

nicht mehr aushalten.<br />

Es gibt fraglos <strong>Kranke</strong>, die im Heim leben sollten, weil ihre <strong>Pflege</strong> dort besser gewährleistet<br />

werden kann, aber es verbleiben auch solche <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n im Heim, die nach kurzer<br />

Unterbrechung weiter zu Hause leben könnten, wenn die pflegenden Angehörigen dauerhaft<br />

Unterstützung durch aufsuchende Hilfe bekämen. Nachdem dann Monate und schließlich<br />

Jahre vergangen sind, haben viele Heimuntergebrachte noch zusätzliche Schäden erfahren.<br />

Manchmal sind auch die Angehörigen, die sich früher um den <strong>Kranke</strong>n kümmerten, inzwischen<br />

zu alt und gebrechlich, um sich um einen <strong>Kranke</strong>n zu kümmern oder verstorben. Mit<br />

anderen Worten: Eine Entlassung aus dem Heim wird <strong>für</strong> den anfangs nur vorübergehend<br />

dort Untergebrachten immer schwieriger und unwahrscheinlicher.<br />

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen, dass es sehr, sehr bedauerlich ist, wie<br />

wenig beim Aufbau von ambulanten psychiatrischen Angeboten an die Bedürfnisse der<br />

Schwerkranken und deren Angehörige gedacht wird. Deshalb fordern wir Angehörigen <strong>psychisch</strong><br />

<strong>Kranke</strong>r nun, nach vielen Jahren der Überforderung und Vernachlässigung unserer<br />

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Interessen von den politisch Verantwortlichen, die Gesetze endlich den Bedürfnissen der Betroffenen<br />

anzupassen sowie Leistungen, die dringend nötig sind, in den Katalog aufzunehmen<br />

und damit klarzustellen, dass Kosten, die durch nötige aufsuchende Hilfe entstehen,<br />

von den gesetzlichen Kassen übernommen werden müssen.<br />

45


Perspektiven einer umfassenden ambulanten Versorgung akut behandlungs-<br />

bedürftiger <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>r – Statements aus fachlicher Sicht<br />

Als <strong>Pflege</strong>anbieter in Bremen: Wolfgang Faulbaum-Decke, Bremen<br />

Es ist <strong>für</strong> mich eine besondere Freude und Ehre, anlässlich der gezogenen Zwischenbilanz<br />

der Modellerprobung ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege in Niedersachsen einen Beitrag<br />

zu leisten. Ich werte dies auch als ein Zeichen da<strong>für</strong>, dass die Entwicklungen bzgl. der<br />

Erprobung ambulanter psychiatrischer <strong>Pflege</strong> in Bremen auch von anderen Bundesländern<br />

bemerkt werden und von Interesse sein können.<br />

Verschiedene Erprobungsmodelle mit unterschiedlichsten Finanzierungen und strukturellen<br />

Ausstattungen miteinander zu vergleichen ist stark in meinem Interesse und kann bei einer<br />

möglichst bundeseinheitlichen Umsetzung der Leistungen der ambulanten psychiatrischen<br />

<strong>Pflege</strong> nur von großer Hilfe und Bedeutung sein.<br />

Ich wurde gebeten, mich in meinem Beitrag auf Umfang, Zielrichtung und Finanzierung der<br />

ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong> zu beziehen, werde aber aus zeitlichen Gründen meine<br />

Auffassungen nicht detailliert beschreiben können.<br />

Die ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> muss sich derzeit im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit<br />

einer inhaltlichen Leistungsbeschreibung in der Fachöffentlichkeit sowie bei potentiellen<br />

NutzerInnen einerseits und der notwendigen Darstellung absehbarer<br />

Kostenreduzierung bei den <strong>Kranke</strong>nkassen andererseits bewegen.<br />

Dabei machen Konkurrenzgefühle und Abgrenzungsbemühungen bereits bestehender sozialpsychiatrischer<br />

Versorgungsträger diese Aufgabe nicht einfacher. Die psychiatrische <strong>Pflege</strong><br />

muss einen Weg finden, in der Öffentlichkeit und besonders in der Fachöffentlichkeit die<br />

eigene Professionalität zu beschreiben.<br />

Nur wenn die Beschreibung der eigenen Professionalität gelingt, ist auch die Notwendigkeit<br />

zur Implementierung eines neuen ambulanten Versorgungsangebotes zu vermitteln. Die<br />

Ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> muss sich also als ein fachlich fundiertes, kostenbewusstes<br />

und transparent gestaltetes Hilfeangebot gegenüber allen NutzerInnen präsentieren.<br />

46


Dies kann allerdings nur gelingen, wenn die Leistungserbringer der ambulanten psychiatrischen<br />

<strong>Pflege</strong> auch wirtschaftlich so ausgestattet werden, dass mit dem Einkauf von entsprechend<br />

qualifiziertem Personal auch die differenzierten Leistungen von psychiatrischen<br />

<strong>Pflege</strong>tätigkeiten möglich sind.<br />

Diese Leistungen garantieren den NutzerInnen und den Auftraggebern der Dienste, hier den<br />

Ärzten und <strong>Kranke</strong>nkassen, den eigentlichen Erfolg ihres Anliegens, nämlich <strong>Kranke</strong>nhausvermeidungspflege<br />

und die damit verbundene Verbesserung der Lebensqualität <strong>für</strong> die Betroffenen,<br />

die Sicherung des ambulanten Behandlungskontextes und die Kostenminimierung<br />

<strong>für</strong> die Kostenträger.<br />

Die Grundvoraussetzungen, die Vorhaltung von Fachpersonal zur Erbringung einer solchen<br />

qualifizierten <strong>Pflege</strong>, müssen also gesichert sein, wenn wir über Sinn und Zweck der ambulanten<br />

psychiatrischen <strong>Pflege</strong> sprechen wollen. Dies erfordert aber von den beteiligten Partnern,<br />

Leistungserbringern und Kostenträgern die Bereitschaft zum Umdenken, die<br />

Aufforderung zur Abkehr von bereits vertrauten Verhandlungs- und Planungsabläufen in der<br />

<strong>Pflege</strong>.<br />

Das heißt besonders, eine Abkehr von der Vorstellung, dass qualifizierte <strong>Pflege</strong> wenig Geld<br />

kosten würde und mit möglichst geringem Zeitaufwand zu leisten sei. Die ambulante psychiatrische<br />

<strong>Kranke</strong>npflege erscheint zwar teuer, ist aber dennoch ihren Preis wert. Preiswert im<br />

Sinne von den zu erbringenden Leistungen gegenüber angemessen und durch eine hohe<br />

qualifizierte Leistungserbringung im Ergebnis erfolgversprechend.<br />

Außerdem muss auch deutlich werden, dass die Betriebskosten <strong>für</strong> eine Stunde in einem<br />

ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflegedienst höher liegen als in einem ausschließlich<br />

auf somatische Erkrankungen ausgerichteten <strong>Pflege</strong>dienst, denn eine Fachkrankenpflegekraft<br />

<strong>für</strong> Psychiatrie mit mehrjähriger Arbeitserfahrung ist nicht <strong>für</strong> ein geringes Gehalt zu bekommen.<br />

Dies wäre auch ihrer Kompetenz keineswegs angemessen.<br />

Allerdings wollen wir mit einer angemessen vergüteten Fachpflege auch einiges bieten, um<br />

einen effizienten Dienst vorhalten zu können, der teure Klinikaufenthalte und entstehende<br />

Folgekosten einsparen kann und ein adäquates ambulantes Versorgungsangebot sichert,<br />

um dadurch letztlich in der Summe der Ausgaben der gesetzlichen <strong>Kranke</strong>nversicherung zu<br />

einer Kostenminimierung beitragen zu können.<br />

47


Dies garantieren die personelle Qualifikation, die Umsetzung psychiatrischer <strong>Pflege</strong>diagnostik,<br />

eine differenzierte <strong>Pflege</strong>planung, regelmäßige Fallbesprechungen und eine mit Patienten,<br />

verordnenden Ärzten und <strong>Kranke</strong>nkassen vorgenommene Evaluation und<br />

Erfolgskontrolle der verordneten <strong>Pflege</strong>leistungen. Das ist aber nur durch entsprechend ausgebildetes<br />

Fachpersonal zu leisten. Das es zu leisten ist, beweisen die mittlerweile doch vielfältigen<br />

Erfahrungen in der Bundesrepublik und ganz besonders die vorliegenden<br />

Auswertungen des niedersächsischen Modells.<br />

In Bremen haben wir zum Anfang 1999 ein besonderes Erprobungsmodell zur Umsetzung<br />

der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong> mit der AOK Bremen/ Bremerhaven vereinbaren<br />

können. Mittlerweile haben wir die Erprobungsdauer auf drei Jahre festgelegt.<br />

Den Projektträgern Paritätische Gesellschaft <strong>für</strong> Sozialwirtschaft mbH und Initiative zur sozialen<br />

Rehabilitation und Vorbeugung <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen e.V. gelang es zusätzlich,<br />

eine Startfinanzierung der Aktion Mensch der Deutschen Behindertenhilfe e.V. <strong>für</strong> Koordinationstätigkeiten<br />

und Verwaltung zu erhalten, ohne die letztlich eine Umsetzung der Erprobungsphase<br />

nicht möglich ist.<br />

Wir haben in der Vereinbarung mit der AOK Bremen/ Bremerhaven bei der Frage der Finanzierung<br />

von der Abrechnung nach einem Punktesystem Abstand genommen und die Abrechnung<br />

einer Stundenpauschale vereinbart. Die Grundlage <strong>für</strong> diese Überlegung war die<br />

Gewissheit, dass Leistungen wie Beziehungsgestaltung, <strong>Kranke</strong>nbeobachtung und Kontaktaufnahme<br />

sowie z.B. stabilisierende psychiatrische <strong>Pflege</strong> einen ineinander verwobenen<br />

Prozess darstellen und nur schwerlich voneinander zu trennen sind. Der Gesamtkomplex der<br />

psychiatrischen <strong>Pflege</strong>tätigkeiten muss verordnet werden können und sich letztlich in den<br />

späteren Tätigkeiten vor Ort differenzieren.<br />

Es muss sicherlich eine übergeordnete Aufstellung von psychiatrischen <strong>Pflege</strong>tätigkeiten geben,<br />

so wie die Leistungskataloge der psychiatrischen <strong>Pflege</strong>, die im Gutachten der Aktion<br />

Psychische <strong>Kranke</strong> e.V. zur außerstationären psychiatrischen <strong>Pflege</strong> dargestellt sind, aber in<br />

erster Linie muss psychiatrische <strong>Pflege</strong> die wichtigsten <strong>Pflege</strong>merkmale überhaupt beinhalten<br />

und umsetzen können, nämlich die Aspekte einer professionellen Beziehungsarbeit sowie<br />

die Erkennung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Betroffenen im Alltag und<br />

die daraus resultierenden pflegerelevanten Handlungsmöglichkeiten.<br />

Diese sind in der Psychiatrie aber nicht immer so einfach zu beschreiben wie in der somatischen<br />

<strong>Pflege</strong>, da sie ständig abhängig sind von der Wahrnehmungsmöglichkeit des betroffe-<br />

48


nen Gegenübers sowie einer besonderen Interaktion während des Kontaktes. Die Leistungen<br />

der psychiatrischen <strong>Pflege</strong> sind also keine statischen Einzeltätigkeiten, sondern immer<br />

unmittelbar miteinander verknüpft.<br />

Davon ausgehend, dass ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege eine delegierte Behandlungsleistung<br />

innerhalb eines sich mitunter täglich verändernden Behandlungsprozesses ist,<br />

muss dies besonders in der zeitlichen Gestaltungsmöglichkeit der <strong>Pflege</strong> bedacht werden.<br />

Zum Beispiel wird eine Medikamentenabgabe als ein möglicherweise notwendiger Behandlungsbestandteil<br />

einer <strong>Pflege</strong> ohne die Gelegenheit einer zeitlich ausreichenden Kontaktaufnahme<br />

und einer häufig immer wieder stattfindenden vorherigen Verhandlung scheitern.<br />

Die Abrechnung über eine Stundenpauschale macht aber auch deshalb einen Sinn, weil sich<br />

alle direkten und indirekten Patiententätigkeiten als Komplexleistung in der abrechenbaren<br />

Versorgung des Patienten darstellen müssen. Alle zum Behandlungsprozess des Betroffenen<br />

notwendigen indirekten <strong>Pflege</strong>leistungen sollten auch abrechenbar sein, denn sie tragen<br />

mitunter entscheidend zum Behandlungserfolg bei.<br />

Nur ein funktionierendes Netzwerk zwischen Patienten, behandelndem Arzt und zuständiger<br />

<strong>Pflege</strong>kraft sichert die Aussicht auf einen Behandlungserfolg. Wenn aber nur wenige Kontakte<br />

zwischen Arzt und <strong>Pflege</strong>kraft pro Krankheitsfall finanziert werden, trägt das nicht zur Absicherung<br />

einer transparenten Behandlung bei. Sicherlich wird jeder wirtschaftlich denkende<br />

Geschäftsführer seine <strong>Pflege</strong>kräfte dann auffordern müssen, mit diesen nicht refinanzierbaren<br />

Tätigkeiten zurückhaltend umzugehen.<br />

Wenn allerdings Tagessätze in der psychiatrischen Klinik derzeit noch nicht in Frage gestellt<br />

werden, sollten Stundenpauschalen in der psychiatrischen <strong>Pflege</strong> nur recht und billig sein.<br />

Ambulante Psychiatrische <strong>Pflege</strong> lebt durch die Umsetzung eines bedarfs- und personenzentrierten<br />

Arbeitsansatzes, der schnell und flexibel umsetzbar und einsetzbar sein muss.<br />

Nur eine hohe Flexibilität ermöglicht eine schnell einsetzende Versorgung anstatt eines notwendigen<br />

Klinikaufenthaltes sowie die Sicherung der ambulanten ärztlichen Versorgung.<br />

Das heißt, die Personalsteuerung sowie die Patientenplanung stellt sich hier als besonders<br />

schwierig dar. Ein psychiatrischer Fachpflegedienst dessen Auftrag es ist, auf sofortige Anfragen<br />

zur Versorgung bei drohendem Klinikaufenthalt zu reagieren, muss <strong>für</strong> diese häufig<br />

auftretenden Situationen personelle Ressourcen vorhalten können bzw. über ein pauschaliertes<br />

Vergütungssystem verfügen, welches diese Besonderheiten berücksichtigt.<br />

49


Dies bedeutet letztlich, dass entsprechende Personalvorhaltekosten im Leistungsentgelt bedacht<br />

werden müssen. In der Gestaltung des Leistungsentgeltes muss gleichwohl auch eine<br />

untere Auslastungsgrenze des Dienstes berücksichtigt werden. Es müssen weiterhin Situationen<br />

bedacht werden, in denen Patienten vereinbarte Termine ohne vorherige Absage nicht<br />

einhalten, oder die aufgrund notwendiger Kriseninterventionen sehr aufwendig sind.<br />

Der Aspekt nicht generell fest planbarer Tätigkeiten vor Ort muss grundsätzlich Beachtung<br />

finden, da ansonsten ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb, der zur Sicherung der Betriebstätigkeiten<br />

notwendig ist, nicht aufrecht zu erhalten ist.<br />

Dies haben wir in Bremen berücksichtigen können und den Dienst innerhalb der letzten zwei<br />

Jahre immer mehr vergrößern können, so dass mittlerweile acht psychiatrische Fachpflegekräfte<br />

in der APP Bremen beschäftigt sind. Diese, <strong>für</strong> ein Erprobungsmodell, relativ hohe Anzahl<br />

von MitarbeiterInnen garantiert den Betroffenen, den zuweisenden Ärzten und den<br />

<strong>Kranke</strong>nkassen eine im Notfall abrufbare 24-stündige Erreichbarkeit des Dienstes, der wiederum<br />

dadurch in der Lage ist, auf Krisensituationen sofort zu reagieren und Klinikaufenthalte<br />

zu verhindern.<br />

Weiter haben wir durch die Versorgung vieler PatientInnen, und die APP hat mittlerweile<br />

durchschnittlich 30 PatientInnen monatlich mit unterschiedlicher <strong>Pflege</strong>intensität zu versorgen,<br />

die Möglichkeit, verschiedenste aussagekräftige Resultate zu präsentieren. Was wir<br />

nach zwei Jahren in Bremen bereits nachweisen können, ist die Tatsache, dass durch das<br />

Angebot der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong> ein Verbleib und Klinikaufenthalte sowie deren<br />

Folgekosten im erheblichen Umfang einzusparen sind.<br />

Dies möchte ich mit einem kurzen Beispiel aus unserer Arbeit illustrieren. Vor wenigen Tagen<br />

haben wir eine chronisch <strong>psychisch</strong> erkrankte Patientin nach einem mehrmonatigen Klinikaufenthalt<br />

aufgenommen. Erstens konnten wir alleine durch die Aufnahme schon<br />

stationäre Behandlungskosten vermeiden. Zweites besuchte diese Dame vor ihrem Klinikaufenthalt<br />

gerne und häufig die unterschiedlichsten Fachärzte, die aber alle nicht von der<br />

Behandlung des anderen wussten. Dies führte zu einer nicht aufeinander abgestimmten bunten<br />

Behandlungspalette und einem vollen „gelben Sack“ voller Medikamente, die die KollegInnen<br />

aus der Wohnung der Patientin holten.<br />

Die AOK Bremen konnte den Wert des „gelben Sackes“ mit ca. 40.000,-- DM beschreiben.<br />

Die Fachkräfte unseres Dienstes haben nunmehr die Aufgabe, die Arztbesuche und eine<br />

50


sinnvolle ärztliche Behandlung zu sichern. Ich glaube, dass wir in der Lage sind, diese Kosten<br />

um ein Erhebliches zu reduzieren.<br />

So viel zu einem möglichen Einsparungspotential <strong>für</strong> die <strong>Kranke</strong>nversicherungen, wenn eine<br />

gesicherte Versorgung durch ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> gewährleistet wird.<br />

51


Als ärztliche Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes Delmenhorst: Dr. med. I.<br />

Brandenbusch<br />

Aus Delmenhorst möchte ich Ihnen drei exemplarische Fälle vorstellen, Patienten, bei denen<br />

durch ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> eine <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung vermieden oder zumindest<br />

abgekürzt werden konnte:<br />

Martin N., 40 Jahre alt, seit über 10 Jahren an einer Schizophrenie erkrankt, bis zum Tod<br />

seiner Mutter im letzten Jahr nicht so massiv auffällig, dass er behandelt werden musste.<br />

Nach dem Tod der Mutter völlig hilflos, psychotisch dekompensiert, unter Psychopharmaka<br />

im LKH Wehnen affektiv ausgeglichener und zugänglicher. Nach der Entlassung aus dem<br />

LKH fand ambulante <strong>Pflege</strong> in der selbst angemieteten Wohnung statt. Trotz völliger Krankheitsverleugnung<br />

und Strafandrohung gegenüber allen, die seine Probleme nicht nur als Folge<br />

langjähriger Arbeitslosigkeit bezeichnen, nimmt Martin N. die vom Nervenarzt<br />

verschriebenen Neuroleptika, wenn ihm der <strong>Kranke</strong>npfleger sie gibt. Er tut es einfach, weil er<br />

in seiner Ambivalenz durchaus in der Lage ist, darauf zu vertrauen, dass der „nette“ <strong>Pflege</strong>r<br />

ihm nichts Übles will; hilfreich ist in diesem Fall auch die Neigung des Patienten zur Autoritätshörigkeit.<br />

So gelingt es, den bisher völlig zurückgezogenen und unselbständigen Mann<br />

in seiner eigenen Wohnung verbleiben zu lassen und ihn tagsüber sogar in die Tagesstätte<br />

„Delta“ zu integrieren, von deren Tagesablauf er mit leuchtenden Augen berichtet.<br />

Ilse R., 67 Jahre alt, seit über 30 Jahren an einer chronischen Schizophrenie erkrankt, völlig<br />

vereinsamt. Nach zahlreichen LKH-Aufenthalten, körperlich geschwächt durch immer höhere<br />

Dosen von Psychopharmaka, sah es so aus, als könne Frau R. nur noch in ein <strong>Pflege</strong>heim<br />

übersiedeln. Durch eine anfangs hochfrequente <strong>Kranke</strong>npflege von 14 Einsätzen pro Woche<br />

gelang es, die Medikamentendosis so zu reduzieren, dass der körperliche Allgemeinzustand<br />

ein Verbleiben in der eigenen Wohnung rechtfertigte, und in Begleitung des <strong>Kranke</strong>npflegers<br />

bewältigte Frau R. auch Einkäufe und weitere Außenkontakte; mittlerweile hat sich ihr Zustand<br />

dermaßen stabilisiert, dass sie nur noch eine Betreuung von ungefähr 3 bis 4 Stunden<br />

pro Woche benötigt.<br />

Wolfgang R., 50 Jahre alt, seit rund 30 Jahren an einer Schizophrenie mit Neigung zum Alkoholmissbrauch<br />

erkrankt; er lebt nach wie vor bei seiner Mutter. Bis vor wenigen Monaten<br />

waren ständig <strong>Kranke</strong>nhauseinweisungen nötig, weil es der Mutter nicht gelang, die Verwahrlosungstendenzen<br />

ihres Sohnes in Grenzen zu halten. Zum Beispiel durch Läusebefall<br />

oder wochenlanges Unterlassen sämtlicher Körperpflege kam es dann wiederholt zu ernst-<br />

52


haften Hautkrankheiten und internistischen Störungen, die stets nur stationär psychiatrisch<br />

und konsiliarisch hautärztlich bzw. internistisch behandelt werden konnten. Auch hier konnte<br />

durch <strong>Kranke</strong>npflege eine weitere <strong>Kranke</strong>nhauseinweisung vermieden werden; in diesem<br />

dritten Fall sind die Ziele einer Rehabilitation weit niedriger gesteckt. Es ist schon ein enormer<br />

Erfolg, dass Herr R. zulässt, dass er regelmäßig gewaschen wird, seine Wäsche wechselt<br />

und sich ausreichend ernährt.<br />

Welche Probleme bei der ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege gibt es nun aus Sicht<br />

eines Sozialpsychiatrischen Verbundes?<br />

1. Diese Maßnahme wird nur von zwei der fünf in Delmenhorst ansässigen Nervenärzte verordnet;<br />

angeregt wird ambulante psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege in der Regel durch das LKH<br />

oder durch die gesetzlichen Betreuer.<br />

2. Der verordnende Nervenarzt soll Case-Manager sein. Wenn er diese Funktion tatsächlich<br />

ausfüllt, wird er da<strong>für</strong> bestraft, denn diese Maßnahme wird nicht gesondert bezahlt. Daher<br />

scheuen die Nervenärzte vor Gremienarbeit zurück. Bei den Sitzungen des Sozialpsychiatrischen<br />

Verbundes in Delmenhorst sind sie in der Regel nicht anwesend (der Vertreter<br />

der Hausärzte, der diese Sitzung ebenfalls nicht bezahlt bekommt, kommt erstaunlicherweise<br />

allerdings doch!). Durch dieses unzureichende Case-Management stehen<br />

die <strong>Pflege</strong>kräfte oft recht alleingelassen in der Betreuung der Patienten da, zumal noch<br />

3. Standards fehlen.<br />

4. Ein weiteres Problem stellt die Tendenz dar, dass zunehmend Borderline-Patienten nach<br />

Einsätzen von psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege nachfragen. Diese Patienten können sich<br />

sprachlich besser ausdrücken, können Wünsche äußern und Forderungen stellen und bringen<br />

auch eine Eigenmotivation mit. Das macht sie quasi „attraktiv“ <strong>für</strong> die Maßnahme. Hier<br />

kann ich nur dringend raten, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob diese <strong>für</strong> die Borderline-<br />

Patienten „bequeme“ Betreuungsmethode (Komm- statt Geh-Struktur) durch die Gefahr der<br />

Verwöhnung nicht gerade allen Zielen einer erfolgreichen Rehabilitation entgegenwirkt und<br />

eher krankheits- und symptomverstärkend ist.<br />

Als letzte Überlegung möchte ich vor der unreflektierten Idealisierung jeglicher ambulanter<br />

Psychiatrie warnen! Manche Menschen möchten außerhalb unseres mühsam und sorgfältig<br />

geknüpften sozialpsychiatrischen Hilfenetzes leben, als normaler Mensch oder notfalls auch<br />

als Sonderling. Untersuchungen zeigen, dass dort, wo viel ambulante Versorgung ist, auch<br />

53


viele Psychiatrieaufenthalte und Zwangseinweisungen stattfinden. Die Psychiatrie ist eine<br />

ausgesprochene Wachstumsindustrie, und es ist Augenwischerei, die verringerte Zahl von<br />

Psychiatrie-Betten als Indiz einer stattgefundenen Reform zu verkünden. Immer mehr Menschen<br />

werden als <strong>psychisch</strong> krank bezeichnet. Wenn man die Heimplätze und die Psychiatrie-Betten<br />

in den <strong>Kranke</strong>nhäusern zusammenrechnet, sind im Vergleich mit 1975 inzwischen<br />

mindestens doppelt so viele Menschen stationär psychiatrisch untergebracht. Daneben gibt<br />

es seit 1990 eine Verdoppelung der Betreuungen. Und - noch einmal verglichen mit 1975 -<br />

heute wird das Vierfache an Psychopharmaka verschrieben.<br />

Als Profis sind wir in Gefahr, überall „Krankhaftes“ zu wittern und überall Beratungsbedarf zu<br />

sehen. Wir sollten uns vermehrt das Prinzip der Salutogenese vor Augen führen. Es besagt<br />

(als Gegenpol zur Pathogenese), dass Menschen trotz Krankheit und trotz Traumata eine<br />

gesunde Lebensperspektive entwickeln können. In unseren sozialpsychiatrischen Plänen<br />

haben wir übereinstimmend verkündet, dass wir nicht mehr defizit- sondern ressourcenorientiert<br />

arbeiten wollen. Diese Denkart ist im Sinne einer self-fulfilling-prophecy enorm wichtig:<br />

Wenn wir an die Ressourcen glauben, werden wir sie auch finden.<br />

Lassen Sie mich schließen mit einer kleinen Geschichte zur Bedeutung der sich selbst erfüllenden<br />

Prophezeiung: Im amerikanischen Fernsehen kündigt der Moderator eine unmittelbar<br />

bevorstehende Knappheit an Toilettenpapier an. Nachweislich stürmen am nächsten Tag<br />

Menschenmassen die Drogeriemärkte, um enorme Vorräte an Klopapier einzukaufen. Dies<br />

führte dann tatsächlich im Handumdrehen zu der vorhergesagten Knappheit an Toilettenpapier.<br />

54


Als stellvertretende Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsens: Dr. med. Cornelia<br />

Goesmann, stellvertretende Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen<br />

„Der Wert einer Gesellschaft zeigt sich gerade darin, wie sie mit ihren Schwachen und <strong>Kranke</strong>n<br />

umgeht.“ So ein altes chinesisches Sprichwort.<br />

Zu diesen Schwachen und <strong>Kranke</strong>n gehören in unserer Gesellschaft ganz ohne Zweifel die<br />

<strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong>n, die sich wohl am wenigsten in Schablonen pressen und kategorisieren<br />

lassen. Da keine bedeutsame Lobby ihre Interessen vertritt, müssen Experten, das heißt<br />

Ärzteschaft und alle anderen in der Versorgung psychiatrisch <strong>Kranke</strong>r Einbezogener, sich jeder<br />

als unentbehrlicher Teil eines Netzwerkes zu ihren Sachwaltern machen. Im Namen der<br />

niedersächsischen Ärzteschaft möchte ich daher folgende Punkte als unsere Maximen und<br />

unabdingbare Voraussetzungen <strong>für</strong> eine würdige Versorgung der psychiatrisch Erkrankten<br />

unserer Gesellschaft propagieren:<br />

1. Gesellschaft und Politik muss endlich klar werden, dass psychiatrische Krankheiten in<br />

Prophylaxe, Diagnose, Therapie und bei pflegerischen Maßnahmen physischen Krankheiten<br />

gleichzusetzen sind! Sie sind nicht weniger quälend, wenngleich nicht in Laborwerten<br />

oder mit unserer heutigen Medizintechnik quantifizierbar.<br />

2. Rechtzeitige ärztliche und pflegerische Behandlung bzw. Intervention hilft, eine weitere<br />

Verschlechterung psychiatrischer Krankheitsbilder zu vermeiden. Ein gut funktionierendes<br />

multiprofessionelles Netzwerk aller Beteiligten ist das beste Frühwarnsystem.<br />

3. Ärztliche und pflegerische Therapieziele der Sozialpsychiatrie sind maximale soziale<br />

Reintegration sowie die bestmögliche Förderung vorhandener Begabungen und Stärkung<br />

positiver Ressourcen der Patienten. Hierbei gilt: so wenig stationäre, so viel ambulante<br />

Therapie wie möglich. Das heißt, in der psychiatrischen Versorgung müssen die Betreuenden<br />

individuell und flexibel handeln. Sie dürfen keinesfalls äußerst institutionell denken.<br />

Gefordert ist weniger technische Medizin zugunsten eines großen Maßes an<br />

persönlicher Zuwendung. Gerade in der psychiatrischen Versorgung ist die integrative<br />

Behandlung, verstanden als gemeinsame inhaltliche Arbeit <strong>für</strong> die Betroffenen, zu fordern.<br />

Institutionelle Kooperationen sind zu schaffen, wie die Etablierung von psychiatrischen<br />

Schwerpunktpraxen im sozialpsychiatrischen Verbund und wie auch bezahlte,<br />

regelmäßige sozialpsychiatrische Konferenzen mit dem ambulanten psychiatrischen<br />

55


<strong>Pflege</strong>dienst, Ergo- und Physiotherapeuten, den betreuenden Angehörigen sowie den<br />

langjährigen Haus- und Fachärzten.<br />

4. Die Vereinbarung zur sozialpsychiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen<br />

ist auf den Erwachsenenbereich und auf alle Kassenarten auszudehnen. Die Implementierung<br />

der flächendeckenden, ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong>, wie in den Modellversuchen<br />

anlässlich dieser Tagung vorgestellt, ist als Regelleistung der gesetzlichen<br />

<strong>Kranke</strong>nkassen zwingend notwendig. Nur so ist eine adäquate gemeinsame ärztliche<br />

und pflegerische Versorgung <strong>Kranke</strong>r und ein Casemanagement durch Manager ihrer<br />

Wahl bzw. ihres Vertrauens möglich.<br />

5. Sozialpsychiatrische Schwerpunktpraxen müssen dem Sektorprinzip folgend mit hohen<br />

Fallpauschalen arbeiten können.<br />

6. Die Indikatoren <strong>für</strong> Therapieerfolge der psychiatrischen Versorgung sind eine Abnahme<br />

des Medikamentenverbrauchs und eine Reduktion der Tage stationärer Behandlung.<br />

Studien belegen den Nutzen ambulanter psychiatrischer <strong>Kranke</strong>npflege. Sie zeigen positive<br />

Effekte dieser beiden genannten Therapieerfolge, sobald eine solche Betreuung<br />

möglich wird. Psychiatrische <strong>Kranke</strong>npflege ist, entgegen herkömmlicher <strong>Kranke</strong>n- und<br />

Behandlungspflege, nicht nach Minuten oder Punkten abzurechnen. Die individuell aufzubringende<br />

Zuwendung muss adäquat in Stunden abzurechnen sein.<br />

7. Hier<strong>für</strong> erforderliche finanzielle Ressourcen müssen bei nachweisbarer Einsparung stationärer<br />

Behandlungszeiten, das heißt einer Reduktion von <strong>Kranke</strong>nhauseinweisungen<br />

und Liegezeiten, aus dem Budget <strong>für</strong> die stationäre Versorgung in die Honorierung ambulanter<br />

Leistungen fließen. Hier muss das Geld der Leistung folgen. Zusätzliche Gelder<br />

in unserem Gesundheitswesen sind zu fordern, wenn die Politik die ambulante psychiatrische<br />

<strong>Pflege</strong> will.<br />

Absolut notwendig ist die bessere ideelle und finanzielle Förderung der sehr belasteten<br />

Angehörigen psychiatrisch <strong>Kranke</strong>r! Die Koordinierung ihrer <strong>Pflege</strong> mit der der <strong>Pflege</strong>dienste<br />

ist sinnvoll und notwendig, <strong>für</strong> letztere wird wiederum eine Honorierung <strong>für</strong> ihre<br />

Ein- und Unterweisung der Angehörigen gefordert.<br />

8. Im Rahmen der Arzneimittel- und Heilmittelversorgung muss gelten: Herausnehmen von<br />

Psychopharmaka, insbesondere von atypischen Neuroleptika und modernen Antidepressiva,<br />

aus den Bestimmungen des Arzneimittelbudgets bzw. Sonderbehandlung bei den<br />

56


Arzneimittelrichtgrößen der einzelnen Facharztgruppen. Zu fordern ist darüber hinaus eine<br />

uneingeschränkte Verordnungsmöglichkeit <strong>für</strong> die psychiatrische Ergotherapie. Lediglich<br />

zwei Folgeverordnungen, wie gesetzlich geplant, sind völlig unzulänglich. Notwendig<br />

ist darüber hinaus die uneingeschränkte Möglichkeit zur Verordnung psychiatrischer ambulanter<br />

<strong>Pflege</strong> ohne zeitliche Begrenzung.<br />

9. Die Vorstellungen zur ambulanten psychiatrischen <strong>Kranke</strong>npflege entsprechend der bisherigen<br />

Modellversuche sind zunächst niedersachsenweit, später bundesweit als Regelleistungen<br />

der gesetzlichen <strong>Kranke</strong>nkassen auszudehnen. Die Ärztekammer<br />

Niedersachsen wird hierzu ihren Einfluss überall dort geltend machen, wo dies sinnvoll<br />

möglich ist. So gegenüber der Politik, so auch gegenüber der KBV und den ärztlichen<br />

Vertreterinnen und Vertretern im Bundesausschuss Ärzte/ <strong>Kranke</strong>nkassen. Die Ärztekammer<br />

Niedersachsen wird diese Vorstellungen in die Weiterbildung und Fortbildung<br />

unserer Ärztinnen und Ärzte tragen, so dass <strong>für</strong> unsere Mitglieder, vor allem unsere<br />

Hausärztinnen und Hausärzte sowie die Nervenärztinnen und Nervenärzte, eine enge<br />

Kooperation mit anderen Beteiligten, insbesondere den <strong>Pflege</strong>diensten, im Sinne der<br />

psychiatrisch Erkrankten noch selbstverständlicher wird. Darüber hinaus wird sich die<br />

Ärztekammer Niedersachsen gerade im psychiatrischen und gerontopsychiatrischen sowie<br />

geriatrischen Bereich <strong>für</strong> die Etablierung von entsprechend gestalteten integrativen<br />

Versorgungsstrukturen einsetzen.<br />

57


Dezernent eines Landkreises: Kreisrat Gerd Hoofe, Osnabrück<br />

Die Notwendigkeit und Sinnigkeit einer ganzheitlichen ambulanten psychiatrischen Versorgung<br />

ist auch aus Sicht eines Kreises als Aufgaben- und Kostenträger genauso zweifelsfrei<br />

wie die Forderung, dass alle Elemente einer stationären, teilstationären und ambulanten<br />

psychiatrischen Versorgung verfügbar und je nach Krankheitsbild und –verlauf wirkungsvoll<br />

einsetzbar sein müssen.<br />

Der Landkreis ist aufgrund seiner Steuerungs- und Koordinierungsfunktion im Rahmen der<br />

Daseinsvorsorge <strong>für</strong> seine Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, die Lebensqualität aller Zielgruppen<br />

zu verbessern und dem Hilfebedarf jedes einzelnen möglichst effektiv und effizient<br />

Rechnung zu tragen.<br />

Ausgehend von diesen Grundaussagen will ich mich auf einige wenige Aspekte der sicherlich<br />

ganz umfassenden Problemstellung beschränken, die den Landkreis als Leistungserbringer<br />

und Kostenträger betreffen.<br />

1. Die durchgeführten Erprobungen psychiatrischer <strong>Pflege</strong> haben einen probaten Weg<br />

aufgezeigt, die ambulante Versorgungsqualität angemessen zu steigern. Dabei war<br />

auch im Landkreis Osnabrück von besonderer Bedeutung, die Modellerprobung unter<br />

den Rahmenbedingungen einer ländlich strukturierten Region durchzuführen.<br />

Die Erprobungen haben die Qualität des Miteinanders verschiedener Aufgaben- und<br />

Kostenträger gefördert und im Interesse der betroffenen Menschen den Kooperationsgedanken<br />

und die Gemeinsamkeit der Zielsetzung, ein kooperatives Hilfenetz <strong>für</strong><br />

die Patientengruppen zu schaffen, in den Focus gerückt.<br />

Die Widerstände konnten überwunden werden. Berührungsprobleme und Abgrenzungsrituale<br />

wurden sachgerecht bearbeitet und zumindest teilweise beseitigt.<br />

2. Das vielschichtige soziale Leistungssystem mit einer Vielzahl von Leistungsgesetzen,<br />

Aufgabenträgern und unterschiedlichen Kostenzuständigkeiten steht dem Aufbau einer<br />

kooperativen und vernetzten Versorgungsstruktur häufig entgegen, schafft Bürokratie,<br />

Reibung und Abgrenzung, ohne dass der individuelle Hilfebedarf von allen<br />

Beteiligten als Ausgangspunkt von Leistungen, Kostentragung und Kooperation berücksichtigt<br />

wird.<br />

58


Die Besorgnis, dass im Rahmen des gegliederten Finanzierungssystems ein Kostenträger<br />

<strong>für</strong> die Finanzierungspflichten eines anderen eintritt, hemmt dabei Fortschritt und Innovation<br />

im Sinne eines patientenorientierten Vorgehens. Dabei ist das Verharren im eigenen System<br />

kontraproduktiv und lässt häufig keine wirksame und wirtschaftliche Vorgehensweise zu. Das<br />

Prinzip „der Patient und Hilfebedürftige zuerst“ wird dem Prinzip der Abgrenzung und der<br />

Sorge im Schnittstellenbereich, den eigenen Rahmen zu verlassen, häufig untergeordnet.<br />

Ein immanenter Systemmangel von Apparaten, die ihr System schützen und gegen andere<br />

Systeme abgrenzen wollen.<br />

Die ausführlichen Diskussionen und die Bearbeitung dieser Problematik in den vergangenen<br />

Jahren haben allerdings gezeigt, dass sich Aufgabenstellungen, Hilfeprogramme und Kostenzuständigkeiten<br />

wechselseitig ergänzen können und das Oberziel des personenzentrierten<br />

Hilfeansatzes, dem jeweiligen Bedarf und Bedürfnis der Patienten zu entsprechen, zu<br />

Nutzen aller Beteiligten gefördert werden kann.<br />

Das kooperative Miteinander überwindet Abgrenzung, schafft vernetzte Strukturen, löst Systemdenken,<br />

unterstützt die Wirtschaftlichkeit und lässt insbesondere <strong>für</strong> die angesprochene<br />

Zielgruppe bessere Chancen auf umfassende Hilfe im ambulanten Versorgungsfeld zu.<br />

Hinsichtlich der Instrumentarien und Aufgabenstellungen des Landkreises lässt sich die Entwicklung<br />

und Perspektive einer umfassenden ambulanten Versorgung behandlungsbedürftiger<br />

<strong>psychisch</strong>er <strong>Kranke</strong>r wie folgt konkretisieren:<br />

Sozialpsychiatrische Dienste / Sozialpsychiatrischer Verbund<br />

Erfreulicherweise sind im Rahmen der Modellerprobungen auch die Schnittmengen, z.B. zu<br />

Institutsambulanz, zum Betreuten Wohnen und zum sozialpsychiatrischen Dienst, definitorisch<br />

beschrieben worden. Diese Arbeit erscheint mir ganz wichtig. Bekanntlich müssen unsere<br />

sozialpsychiatrischen Dienste sich mit dem Ziel entwickeln, sämtliche Hilfeanbieter zu<br />

wechselseitiger Vernetzung und Kooperation zu veranlassen. Das Instrumentarium da<strong>für</strong><br />

sind die sozialpsychiatrischen Verbünde. Das bedeutet einen deutlichen Zuwachs an Organisations-<br />

und Koordinationsarbeit, aber nicht nur auf der Anbieterseite. Typisch <strong>für</strong> <strong>psychisch</strong><br />

<strong>Kranke</strong> ist gerade die Notwendigkeit, sich auch darum zu kümmern, dass sie die<br />

notwendige Hilfe auch tatsächlich erhalten.<br />

Diese „Sorgepflicht“ <strong>für</strong> die Personen geht über das hinaus, was wir alle bei somatisch <strong>Kranke</strong>n<br />

kennen. Aber in dieser Gemengelage zum Teil höchst unterschiedlicher Anbieter, ausdif-<br />

59


ferenzierter Angebote, aber auch noch vieler „weißer Flecken“ haben unsere sozialpsychiatrischen<br />

Dienste eine weitere wichtige Aufgabe. Sie müssen auch auf der Nachfrageseite<br />

(Klientenseite) organisieren und koordinieren, was neudeutsch allgemein mit „Krisenmanagement“<br />

umschrieben wird.<br />

Die Modellerprobungen liefern hierzu gute Hilfestellungen. Zum einen wird das Repertoire<br />

der Dienstleistungen um einen wichtigen Baustein ergänzt, zum anderen ist auch seine Einbindung<br />

in das Gesamtsystem aufmerksam bedacht und beschrieben worden. Im Zwischenbericht<br />

zu den Projekten wird festgestellt, dass die traditionelle Nähe der<br />

sozialpsychiatrischen Dienste zu den Maßnahmen der psychosozialen Versorgung wie Kontaktangeboten,<br />

Hilfen im Wohnbereich, tagesstrukturierenden Maßnahmen und beschützten<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten der Vergangenheit angehört, es muss mehr Wert auf den Weg<br />

geordneter Zuständigkeiten und einer zukunftsorientierten Aufgabenwahrnehmung der sozialpsychiatrischen<br />

Dienste und der sozialpsychiatrischen Verbünde gelegt werden. Der sozialpsychiatrische<br />

Dienst ist umfassend tätig und muss, ausgehend von dieser Position,<br />

Netzwerkkompetenz haben, strukturieren und koordinieren, damit ganzheitliche Hilfeprozesse<br />

innerhalb des Netzes umgesetzt und flankiert werden.<br />

Diese Feststellungen sind fachlich unstreitig. Die Neuorientierung und Neustrukturierung in<br />

der praktischen Umsetzung müssen allerdings noch an vielen Stellen geleistet werden. Hier<br />

sehe ich kaum Zusammenhang mit einer umfassenden Angebotsstruktur und noch Nachholbedarf,<br />

dem wir uns zukünftig verstärkt widmen müssen.<br />

Subsidiarität<br />

Die unterschiedlichen Aufgabenstellungen und Kostenträgerschaften sind bereits angesprochen<br />

worden. Auch der Aspekt der Abgrenzung und die Neigung, zwischen Systemkostenlasten<br />

zu verschieben, fand bereits Erwähnung. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie<br />

aus Sicht der Kreise die Sozialhilfe und ihre Aufgabenstellung zu nennen.<br />

Ausgehend von einem nicht dem Zufall zu überlassenen Miteinander, sondern der Notwendigkeit,<br />

zur Absicherung einer bedarfsgerechten Hilfe Vereinbarungen zwischen allen beteiligten<br />

Leistungserbringern und Kostenträgern zu treffen, sind sowohl der Gesichtspunkt der<br />

Subsidiarität als auch die neuen Chancen und Möglichkeiten anzusprechen, die sich mit dem<br />

sogenannten quotalen System eröffnen.<br />

Eines der in der Zwischenzeit in der praktischen Auseinandersetzung und politischen Diskussion<br />

aufgegebenes oder aber zumindest vernachlässigtes Grundprinzip der Sozialhilfe ist<br />

60


das Prinzip der Subsidiarität bzw. des Nachrangs der Sozialhilfe. Dieses Prinzip muss immer<br />

wieder betont werden, um das Zusammenspiel und die Zusammenhänge zu ordnen. Auf der<br />

Basis dieses Strukturprinzips müssen auch Vereinbarungen getroffen und das Miteinander<br />

geregelt werden. Dieses Strukturprinzip darf nicht aufgelöst und ignoriert werden, andernfalls<br />

gerät das gesamte Sozialleistungsgefügte durcheinander.<br />

Ausgehend von diesem Strukturprinzip lassen sich aber durchaus gemeinsam Hilfestrukturen<br />

und Hilfesysteme schaffen, die Lücken vermeiden oder schließen helfen.<br />

Ausgehend vom Hilfebedarf und den da<strong>für</strong> zu beschriebenen Leistungsvoraussetzungen<br />

sind in jedem Fall Leistungen von <strong>Kranke</strong>n- und <strong>Pflege</strong>kassen vorrangig und werden durch<br />

die Sozialhilfe nur im Rahmen der Subsidiarität ergänzt. Die Schnittstellenproblematik ist<br />

aufzuzeigen, abzustimmen und eindeutig zu regeln. Erste Versuche zeigen, dass, ausgehend<br />

von einer entsprechenden gemeinsam getragenen Bereitschaft, vernünftige und praktikable<br />

Regelungen dankbar sind. Es ist allerdings aus Sicht der Kreise notwendig, dass bei<br />

entsprechenden Kooperationen das Strukturelle verloren wird.<br />

Ich habe in diesem Zusammenhang bisher durchaus gute Erfahrungen in den verschiedensten<br />

Bereichen der Sozialhilfe gemacht und glaube auch nach wie vor, dass in der Perspektive<br />

Kooperation auch in der Kostenteilung und Aufgabenzuordnung denkbar sind, wenn der<br />

Nutzen der Klienten im Vordergrund steht und im Zusammenhang damit auch die Leistungseffektivität<br />

und Leistungseffizienz der beteiligten Aufgabenträger und Kostenverantwortlichen<br />

gesteigert werden kann. Letzteres hat sich mehrfach bestätigt.<br />

Unter dem quotalen System, das in Niedersachsen seit dem 1.1. 2001 in Kraft getreten ist,<br />

wird die gemeinsame Handlungs- und Finanzverantwortung - insbesondere letzteres - des<br />

überörtlichen Trägers der Sozialhilfe (Land) und des örtlichen Trägers der Sozialhilfe verstanden.<br />

Nach einem bestimmten Quotenschlüssel werden die Gesamtaufwendungen in der<br />

Sozialhilfe, unabhängig von der Trägerschaft, zukünftig zwischen Land und Kommunen geteilt.<br />

Diese Art der Zusammenführung von Verantwortung eröffnet <strong>für</strong> den Bereich der Entwicklung<br />

eines umfassenden Versorgungsangebotes behandlungsbedürftiger <strong>psychisch</strong><br />

<strong>Kranke</strong>r <strong>für</strong> die Zukunft große Chancen und Möglichkeiten.<br />

Auch hier werden nunmehr Abgrenzungswertrituale, Verschiebebahnhöfe und Drehtüren ihre<br />

Bedeutung verlieren. Der Blick wird sich stärker dem Nutzen der Effektivität und Effizienz der<br />

Leistungserbringung öffnen. Ich erwarte, auch ausgehend von den Erfahrungen, die ich in<br />

anderen Bereichen dazu machte, innovative Lösungen, die stärker dem Gedanken vernetz-<br />

61


ter Strukturen, komplexer Leistungsangebote und gezielter passgenauer Hilfestellung entsprechen.<br />

Ein Nutzen, der dem Klientenbedarf Rechnung trägt und landesweite sinnvollere<br />

und günstigere Hilfen etabliert.<br />

Zusammenfassung<br />

- Im Vordergrund dieses Projekts stand der Bedarf und nicht institutsbezogenes Schubladendenken;<br />

- Kooperation statt Abgrenzung, Miteinander im Rahmen komplexer vernetzter Angebote,<br />

die sich am Hilfebedarf ausrichten und Lebensqualität verbessern;<br />

- Subsidiarität der Sozialhilfe;<br />

- Quotales System - Neue Chancen, Möglichkeiten <strong>für</strong> innovative patientenzentrierte Wege;<br />

- Gemeinsames Verantwortungsbewusstsein <strong>für</strong> mehr Effektivität und Effizienz;<br />

- Sozialpsychiatrischer Dienst/ Sozialpsychiatrischer Verbund - Koordination und Steuerung;<br />

- Dank an die Initiatoren und Beteiligten.<br />

62


Als Chefarzt eines psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhauses: Dr. Klaus Stutte, Quakenbrück<br />

Vor etwa 10 Jahren hat die Fachkommission zur psychiatrischen Versorgung in Niedersachsen,<br />

die mehrfach auch in diesen Räumen tagte, die notwendigen Institutionen im sozialpsychiatrischen<br />

Verbund aufgeführt. Darunter befand sich auch die psychiatrische<br />

<strong>Kranke</strong>npflege.<br />

Ein <strong>Kranke</strong>nhauspsychiater kann in zweierlei Weise starkes Interesse an ambulanter psychiatrischer<br />

<strong>Pflege</strong> haben:<br />

1. Er möchte als behandelnder Arzt der stationären Patienten den Erfolg der <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung<br />

gesichert wissen.<br />

Ob sich der stationäre Behandlungserfolg, der ja manchmal erst nach Wochen oder auch<br />

Monaten eintritt, zu Hause als stabil erweisen wird, ist bei manchen Patienten auch nach<br />

Beurlaubungen <strong>für</strong> Stunden oder einen Tag zu Hause nicht sicher abzuschätzen. Eine<br />

hinreichend häufige, fachkompetente Einsicht in den eigenen Wohnbereich des Patienten<br />

ermöglicht hier Stützen, Behandlung, Beobachtung, Erkennung von Rückfallgefährdungen,<br />

die anders nicht möglich ist.<br />

Beispiel<br />

Eine heute 75jährige, früher aktive Ehefrau eines sehr unternehmungslustigen pensionierten<br />

Kriminalbeamten wurde 1994 nach einer langwierigen Gelenkverletzung erstmals depressiv.<br />

Die erste stationäre Behandlung bei uns besserte die Depression über zwei<br />

Jahre. Das Rezidiv wurde zweimal stationär in einer anderen psychiatrischen Einrichtung<br />

behandelt, dann zweimal stationär bei uns. Nur mühsam gelang eine gewisse Aufhellung<br />

der Depression. Seit der Entlassung im Frühjahr 2000 wird die Patientin zu Hause auch<br />

durch ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> betreut. Die Frequenz vermindert sich. Der Zustand<br />

hat sich deutlich verbessert, von stationärer Behandlung ist schon lange nicht mehr<br />

die Rede. Die Kosten der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong> teilen sich die private <strong>Kranke</strong>nversicherung<br />

und die Beihilfe.<br />

2. Wenn sich der <strong>Kranke</strong>nhauspsychiater als Teil des gemeindenahen sozialpsychiatrischen<br />

Verbundes versteht, dann ist ihm an der Vermeidung stationärer Behandlung der Patientin<br />

gelegen.<br />

Wir sind als <strong>Kranke</strong>nhausärzte glücklicherweise in die ambulante Versorgung eingebun-<br />

63


den, insbesondere über die Institutsambulanzen, gegebenenfalls aber auch durch andere<br />

flankierende Einrichtungen, die oft auf Initiative bzw. unter Beteiligung der <strong>Kranke</strong>nhäuser<br />

entstanden sind.<br />

Beispiel<br />

Unser Patient Franz-Josef kam vor rund 20 Jahren mit einer akuten Psychose erstmals in<br />

unsere stationäre Behandlung. Mit dem chronischen Verlauf seiner Schizophrenie ist er<br />

unser Patient geblieben. Der Verlust der Arbeitstätigkeit, WfB, Tagesstätte, Scheidung,<br />

Tod der Mutter und Zusammenleben mit dem körperlich kranken Vater quasi als eine Art<br />

Männer-WG sind Stationen dieses Verlaufes. Immer wieder musste er wegen produktiver<br />

Symptome, Angstzustände, Unruhe sowie Tendenz zu Selbstverletzungen stationär aufgenommen<br />

werden. In den letzten fünf Jahren war dies sechsmal mit insgesamt 204 stationären<br />

Behandlungstagen der Fall. Seit einem Jahr wird er durch ambulante<br />

psychiatrische <strong>Pflege</strong> betreut und seither ist kein stationärer Aufenthalt erfolgt.<br />

Die Vermeidung psychiatrischer <strong>Kranke</strong>nhausbehandlung scheint vielleicht auf den ersten<br />

Blick nicht die Aufgabe des <strong>Kranke</strong>nhauspsychiaters zu sein, wenn er sich aber als Gemeindepsychiater<br />

versteht, ist das natürlich kein Widerspruch. Diese Sichtweise hat natürlich<br />

mit der Größe des Versorgungsgebietes der stationären Einrichtung zu tun: Aus der<br />

Sicht einer Fachabteilung am Allgemeinkrankenhaus ist sie näherliegender als <strong>für</strong> ein<br />

psychiatrisches <strong>Kranke</strong>nhaus mit großem Einzugsgebiet.<br />

Bedenkt man die strukturelle Bedeutung der ambulanten psychiatrischen <strong>Pflege</strong>, dann<br />

sieht man drei Vorteile, die gleichzeitig aber auch Forderungen <strong>für</strong> die Organisation der<br />

<strong>Pflege</strong> darstellen:<br />

1. Sie muss rasch verfügbar sein.<br />

2. Sie muss zeitlich flexibel eingesetzt werden, sowohl was die Häufigkeit,<br />

die Dauer und die Tageszeit der Erbringung angeht.<br />

3. Sie liegt durch diese zeitliche Flexibilität über den Möglichkeiten der bisherigen ambulanten<br />

Therapien und Betreuungen, jedoch deutlich unterhalb des Aufwandes <strong>für</strong> eine<br />

teilstationäre oder gar vollstationäre Behandlung, füllt also damit eine Lücke.<br />

Diese drei Vorteile müssen natürlich durch die Kapazität der zur Verfügung stehenden<br />

<strong>Pflege</strong>, also die Zahl der <strong>Pflege</strong>personen, gesichert sein und sie müssen durch einen,<br />

wenn nicht unbürokratischen, dann doch raschen Genehmigungsprozess ermöglicht werden.<br />

Auch <strong>für</strong> die Psychiatrische Versorgungspolitik hat die Stärkung der ambulanten Behand-<br />

64


lung aber eine große Bedeutung. Unter derzeitigen Versorgungsbedingungen ist die Häufigkeit<br />

stationärer Behandlung offenbar am vertretbaren Minimum angekommen. Bei unserer<br />

Arbeit in der Niedersächsischen Fachkommission vor rund 10 Jahren haben wir<br />

nicht geglaubt, dass sich der psychiatrische Bettenschlüssel auf rund 0,4 Betten pro 1000<br />

Einwohner im Landesdurchschnitt reduzieren könnte. Das war durch einige Verbesserungen<br />

der nichtstationären Versorgung möglich.<br />

Wir müssen uns trotzdem bewusst sein, dass viele <strong>psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> zur Zeit entweder<br />

gar nicht behandelt werden oder dass ihre Behandlung durch nichtfachkundige Ärzte oder<br />

stationär in nichtpsychiatrischen Abteilungen erfolgt.<br />

Schon allein Situation zur Verbesserung dieser Situation wird eine verstärkte ambulante<br />

Versorgung benötigt, aber zusätzlich müssen wir mit der Zunahme der Häufigkeit <strong>psychisch</strong>er<br />

Krankheiten und Störungen rechnen.<br />

Nachdem die WHO schon vor Jahren die Depression als den größten Produzenten von<br />

Invalidität weltweit bezeichnet hat, hat sie nun <strong>für</strong> das Jahr 2005 vorhergesagt, dass die<br />

Depression zur häufigsten Krankheit weltweit werden wird.<br />

Andere Faktoren sind<br />

- die demographische Entwicklung, die vor allem die Gerontopsychiatrie betrifft;<br />

- der globale Leistungswettbewerb mit seinen <strong>psychisch</strong>en Gefahren <strong>für</strong> Erfolglose wie<br />

<strong>für</strong> Erfolgreiche, <strong>für</strong> Unterliegende sowie <strong>für</strong> zum Dauerstress Genötigte;<br />

- posttraumatische Belastungsstörungen und Anpassungsstörungen, somatoforme Störungen;<br />

- die Situation der Pädagogik, intrafamiliär und in den Schulen;<br />

- individuelle Belastungen durch multikulturelle Integration, durch Migration usw.;<br />

- die Tendenz zur Vereinzelung der individuellen Lebenssituation<br />

- und sicher viele andere mehr.<br />

Weil der therapeutisch unbeeinflusste Verlauf <strong>psychisch</strong>er Krankheiten heute kaum noch<br />

beobachtet werden kann, ist es aufschlussreich und reizvoll, alte psychiatrische Dokumente<br />

einzusehen.<br />

65


Wilhelm Griesinger:<br />

Die Pathologie und Therapie der <strong>psychisch</strong>en Krankheiten (zweite Auflage, Stuttgart,<br />

1867, Seite 519): „Die Periode der Rekonvaleszenz bedarf noch vieler Schonung und<br />

Aufsicht. Der Genesene bleibt oft noch lange in einer höchst weichen und reizbaren Gemütsverfassung,<br />

die letzten Reste falscher Vorstellungen verschwinden oft erst spät und<br />

es bedarf oft noch einer längeren Behandlung vorhandener körperlicher Beschwerden. Er<br />

soll daher erst nach möglichst konsolidierter geistiger und leiblicher Gesundheit, meist<br />

erst einige Monate nach dem Eintritt der Rekonvaleszenz, aus dem Irrenhause entlassen<br />

werden, und es sollte diese Entlassung, wie dies jetzt in ziemlich vielen öffentlichen Anstalten<br />

eingeführt ist, immer zunächst eine versuchsweise sein, so dass der <strong>Kranke</strong> bei<br />

drohendem oder eingetretenem Rückfalle ohne alles Zaudern der Anstalt wieder übergeben<br />

werden kann.“<br />

Diese Schilderung begründet eine sorgsame Behandlung nach dem Abklingen akuter<br />

Symptomatik. Griesinger fährt dann fort: „Mancher kehrt vernünftiger, als er je gewesen,<br />

aus dem Irrenhause heim; wäre es doch möglich, von dem oft so innerlich gekräftigten, so<br />

dankbaren und frohen Genesenen immer auch den Druck misslicher Verhältnisse, die<br />

Kälte seiner Umgebung oder gar den Spott niedrig denkender Menschen <strong>für</strong> immer ferne<br />

zu halten.“<br />

Eigentlich hätte Griesinger damals die ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> erfinden können!<br />

Ich wollte mit meinem Referat auf diese vier Punkte hingewiesen haben:<br />

1. Wir haben in der Psychiatrischen Abteilung Quakenbrück mit der ambulanten psychiatrischen<br />

<strong>Pflege</strong> gute Erfahrungen gemacht, was sowohl <strong>für</strong> die Sicherung des stationären<br />

Behandlungserfolges wie auch <strong>für</strong> die Vermeidung stationärer Behandlung gilt.<br />

2. Ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> erscheint mir ein wichtiges Strukturelement in dem gegliederten<br />

Angebot des sozialpsychiatrischen Verbundes.<br />

3. Das setzt freilich voraus, dass ambulante psychiatrische <strong>Pflege</strong> rasch, flexibel und weitgehend<br />

unbürokratisch einsetzbar ist.<br />

4. Für kommende, größer werdende Aufgaben der psychiatrischen Versorgung ist die Verstärkung<br />

ambulanter Therapie nötig, damit wir nicht wieder <strong>Kranke</strong>nhausbetten schaffen<br />

müssen.<br />

66


Als Bereichsleiter der Regionaldirektion der AOK-Syke: Klaus Bochow<br />

Der Tagungsblock, an dem ich jetzt als der letzte Berichterstatter oder Stellungnehmer als<br />

Bereichsleiter des Kundenservice einer AOK-Regionaldirektion mitwirke, soll Schlüsselinformationen<br />

<strong>für</strong> weiterführende Regelungen bereitstellen und die Notwendigkeit zum Handeln<br />

belegen. Ich möchte meine Tätigkeit im Rahmen dieses laufenden Projektes vorstellen. Ich<br />

bearbeite alle „Fälle“ der AOK Niedersachsen im Nordkreis des Landkreises Diepholz. Das<br />

geschieht in Zusammenarbeit mit dem <strong>Pflege</strong>dienst Dr. Munzel und Herrn Kannegießer und<br />

auch den Gutachtern des Medizinischen Dienstes völlig reibungslos. Außerdem versuche<br />

ich, bei auftretenden Problemen unter beteiligten Ärzten, dem psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhaus<br />

oder auch anderen, wie z.B. dem Landkreis, eine Vermittlerfunktion einzunehmen.<br />

Dass ambulante psychiatrische häusliche <strong>Kranke</strong>npflege notwendig und sinnvoll ist, ist in<br />

den vorherigen Beiträgen schon überzeugend dargelegt worden. Aus meinem persönlichen<br />

Eindruck der Gespräche vor Ort, z.B. auch mit Angehörigen, kann ich das wirklich unterstützen.<br />

Aber ich möchte noch einmal betonen, dass das ist mein persönliches Empfinden ist<br />

und hier keine wissenschaftliche Untersuchung zugrunde liegt.<br />

Bei meinem kurzen Statement sollte ich unter anderem den Wirtschaftlichkeitsaspekt hervorheben<br />

und auch deutlich machen, wo ich eine Aktivierung von Wirtschaftlichkeitsreserven<br />

sehe.<br />

Der Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitung zeigt erste Trends, allerdings wegen<br />

der geringen Fallzahl noch ohne wissenschaftlich abgesicherte Rückschlüsse. Das Ziel der<br />

<strong>Kranke</strong>nversicherung, dokumentiert im Sozialgesetzbuch V, ist u.a., die Verschlimmerung<br />

einer Krankheit zu vermeiden und eine Besserung herbeizuführen. Die ersten Ergebnisse<br />

der Startphase zeigen, dass Erfolge in die Richtung zu mehr Stabilisierung des Patienten<br />

sichtbar werden, um damit klinische Aufenthalte verkürzt oder vermieden weden. Ich kann<br />

das auch aus den Gesprächen mit Angehörigen bestätigen und ersehe das ebenfalls aus<br />

dem Bemühen der beteiligten Ärzte und <strong>Pflege</strong>dienste. Und das heißt auch, dass ich dem<br />

Modellprojekt weiterhin Erfolg wünsche; aber trotzdem muss ich den treibenden Kräften dieses<br />

Projektes doch noch einen warnenden Hinweis mit auf den weiteren Weg geben.<br />

Die Ausgaben der <strong>Kranke</strong>nversicherung dürfen nicht mehr steigen als die Einnahmen. Dies<br />

ist eindeutiges politisches Ziel aller Parteien in unserem Lande, aber auch ein Anliegen der<br />

Bevölkerung und von uns selbst, denn wer möchte schon mehr an Beiträgen zur <strong>Kranke</strong>n-<br />

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versicherung monatlich zahlen. Das bedeutet, dass die Einführung der ambulanten psychiatrischen<br />

häuslichen <strong>Kranke</strong>npflege als Regelleistung kostenneutral sein muss. Die Kosten der<br />

<strong>Pflege</strong> müssen also an anderer Stelle im Gesundheitswesen wieder eingespart werden.<br />

Die Schilderung von Einzelschicksalen in der wissenschaftlichen Begleitung führt aber tatsächlich<br />

nicht zu einer Ausgabenreduzierung im Sinne von Geldsparen. Denn, ob ein <strong>Kranke</strong>nbett<br />

in der psychiatrischen Abteilung eines <strong>Kranke</strong>nhauses belegt ist oder nicht, also<br />

z.B., wenn bei diesem Einzelschicksal die Anzahl der <strong>Kranke</strong>nhaustage reduziert werden<br />

konnte, spielt auf der Kostenseite keine entscheidende Rolle. Knapp 80% des Budgets eines<br />

<strong>Kranke</strong>nhauses geht auf die Lohn- und Verwaltungskosten. Einfach gesagt, ob ein <strong>Kranke</strong>nhausbett<br />

belegt ist oder nicht, spielt eben keine entscheidende Rolle. Die Kassen müssen<br />

zahlen. Ein Ausgleich ist also nur realistisch, wenn <strong>Kranke</strong>nhausbetten und damit die Kosten<br />

im <strong>Kranke</strong>nhaussektor reduziert werden können, es also eine Umschichtung von der stationären<br />

<strong>Pflege</strong> in den ambulanten <strong>Pflege</strong>bereich gibt.<br />

Die rechtlichen Ansätze zum Grundsatz „ambulant vor stationär“ gibt es ganz aktuell im Sozialgesetzbuch<br />

V bei den §§ 140 a bis h unter dem Stichwort „Integrierte Versorgung“. Diesen<br />

Rat und Hinweis prüfen Sie bitte im Rahmen des weiterlaufenden Projektes und<br />

beachten ihn gegebenenfalls bei der Erstellung des Berichtes bzw. bei der Planung des weiteren<br />

Vorgehens.<br />

Bei den bisherigen Vorträgen ist mir aber noch aufgefallen, dass vor allem von den <strong>Pflege</strong>diensten<br />

die Bezahlung der Leistung immer wieder in die Diskussion gebracht wurde, ob es<br />

nun ein Stundensatz sein müsse oder ob die Punktzahl erhöht werden muss. Bitte denken<br />

Sie doch daran, dass dieses Modellprojekt auf drei Jahre befristet ist und uns heute niemand<br />

sagen kann, dass es am 01.01.2002 mit dieser Leistung weiter geht. Unser Ziel muss doch<br />

sein, die ambulante psychiatrische häusliche <strong>Kranke</strong>npflege <strong>für</strong> alle Menschen in diesem<br />

Lande als Regelleistung anbieten zu können. Dazu müssen Sie Ihren ganzen Einfluss auf<br />

den Bundesausschuss der Ärzte und <strong>Kranke</strong>nkassen richten, um dort die Verabschiedung<br />

von entsprechenden Richtlinien zu erreichen. Außerdem muss ganz zeitnah der Abschlussbericht<br />

dieses Projektes vorgelegt werden.<br />

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