Leseprobe Ideas Nr. 1/2019

Leben
Frühling in
Venedig
Der Frühling kam nach Venedig, und
mit ihm eine Vielzahl wunderbar süßer
Düfte. Ich genoss dies in vollen Zügen
und entschuldigte mich schon einmal
bei Familie und Freunden für die unzähligen
Blumenbilder, die ich in den
sozialen Netzwerken teilen würde.
Alles begann damit, dass sich auf der
Piazza Beccaria zierliche rosafarbene
Knospen einer Magnolie wie kleine Ballettschuhe
drehten. Kurz darauf fielen
Glyzinienblüten wie duftende Traubenbüschel
über die Baldachine der Verandas.
Auf sie folgte eine Fülle von Rosen
in Rot, Pink und Gelb, die am Gitterdraht
des Parks emporkletterten und an
den Ständen der Blumenhändler auf
dem sonntäglichen Markt in Sant’-
ambrogio tauchten die ersten Hortensien
auf, groß und rund wie Eiskugeln
– neben den Obstständen mit ihren
Bergen an glänzenden Kirschen, Erdbeeren
und Birnen.
Überall hing Jasmin. Mauern von
dichten, sorgfältig geschnittenen dunkelgrünen
Büschen säumten Wohnhäuser
und Parkplätze. Sie verströmten
ihren Duft in den Straßen, besonders
am Abend, wenn ich nach langen Tagen
an der Kunstakademie nach Hause spa-
zierte. Erst nach Wochen bemerkte ich,
dass der Duft langsam weniger wurde.
Und dann war es auch schon Zeit,
dass sich die großen weißen Magnolienblüten
öffneten – Blüten, die mich
immer an meine Zeit in Kapstadt erinnern,
an den kleinen Baum vor meinem
Fenster. Die Jagd nach Blüten für
dieses Projekt war magisch im Frühling
in dieser wunderschönen italienischen
Stadt.
Lernen von den
Grossen
Genau sechs Monate zuvor hatte ich
Kapstadt verlassen, um mich an der
60 IDEAS 01/2019