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Chronische Atemschwäche bei Menschen mit geistiger<br />

Behinderung<br />

Verona <strong>Mau</strong>, Blindeninstitut Schmalkalden<br />

Einleitung<br />

In den letzten 15 – 20 Jahren ist eine zunehmende Zahl von Menschen mit schwerer<br />

Mehrfachbehinderung zu verzeichnen. Die Ursachen liegen in medizinischen<br />

Fortschritten, verbessertem Einsatz medikamentöser und intensivmedizinischer<br />

Therapiemaßnahmen bei akuten Erkrankungen und einer verlängerten<br />

Lebenserwartung. Diese Entwicklung stellt Eltern und Angehörige, Ärzte und alle<br />

Berufsgruppen in der Betreuung von schwerstmehrfachbehinderten Menschen aber<br />

auch die Gesellschaft vor neue Herausforderungen.<br />

Nahezu immer ist eine schwere Mehrfachbehinderung mit chronischen Erkrankungen<br />

assoziiert.<br />

Die Schwere der Mehrfachbehinderung steht im Zusammenhang mit der Häufigkeit<br />

des Auftretens chronischer Erkrankungen. Je schwerer die Behinderung umso<br />

häufiger und schwerer sind auch die Störungen im Atembereich. Bei Vorliegen einer<br />

Schwerstmehrfachbehinderung (schwerste geistiger Behinderung und schwerste<br />

Körperbehinderung im Sinne der Tetraparese, keine eigene Mobilität, keine<br />

Lageveränderung möglich) zeigt sich bei den Bewohnern im Blindeninstitut<br />

Schmalkalden das Vorkommen von chronischen Atemwegserkrankungen bei 60%.<br />

Neben Bewegungsstörung (Cerebralparese), Epilepsie und Ernährungsstörung sind<br />

chronische Atemwegserkrankungen in der Häufigkeit an 4. Stelle zu nennen<br />

(Erhebung Blindeninstitutsstiftung bei 637 mehrfachbehinderten Kindern und<br />

Jugendlichen im Jahr 2003).<br />

Atemfunktion und chronische Atemschwäche<br />

Täglich werden durch die Lunge 10.000 – 15.000 Liter Luft bewegt, etwa ebensoviel<br />

Blut durchströmt das Organ, um den Sauerstoff im Körper zu verteilen und<br />

Kohlendioxid abzutransportieren.<br />

Eine suffiziente (ausreichende) Atmung ist auf das koordinierte Zusammenwirken<br />

zweier Funktionseinheiten angewiesen. Diese zwei Systeme sind<br />

1. das gasaustauschende Organ Lunge und<br />

2. das für die Belüftung der Lunge verantwortliche Organ, die Atempumpe.<br />

Erkrankungen der Lunge, beeinträchtigen insbesondere die Sauerstoffaufnahme und<br />

führen zu einer verminderten Sauerstoffversorgung des Körpers und der<br />

lebenswichtigen Organe. Verschiedene chronische Lungenerkrankungen (chronische<br />

Bronchitis, wiederholte Pneumonien und deren Auswirkungen auf die Lunge,<br />

Lungengerüsterkrankungen) können zur Sauerstoffminderversorgung (Hypoxämie)<br />

führen. Die Atempumpe besteht aus dem Atemregulationszentrum im Gehirn, den<br />

Nerven zur Atemmuskulatur, der Atemmuskulatur und dem knöchernen<br />

Brustkorbskelett. Beeinträchtigungen der Atempumpe führen zu einer verminderten<br />

Belüftung der Lunge und beeinflussen insbesondere die Kohlendioxidabatmung.<br />

Kohlendioxid ist in Folge davon im Blut erhöht (Hyperkapnie). Unter dem Aspekt der<br />

chronischen respiratorischen Insuffizienz (unzureichenden Atmung) ist in den letzten<br />

Jahren die Bedeutung der Atempumpe mehr in das Blickfeld gerückt. Die Therapie<br />

der chronischen Ateminsuffizienz besteht in Optimierung der jeweiligen


Grunderkrankung sowie bei Gasaustauschstörungen in Sauerstoffgabe und bei<br />

Atempumpenstörungen in einer mechanischen Unterstützung der Atmung.<br />

Chronische Atemwegserkrankungen bei schwerer Mehrfachbehinderung<br />

Ursächlich liegen dem häufigen Auftreten von Atemwegserkrankungen bei Menschen<br />

mit geistiger Behinderung und schwerer Mehrfachbehinderung vielfältige<br />

Wechselwirkungen zu Grunde. Unter anderem spielen eine veränderte<br />

Atemmechanik und Atemfunktion bei Immobilität, erschwertes Abhusten und eine mit<br />

der schweren Bewegungsstörung häufig verbundene Koordinationsstörungen im<br />

Mund- und Rachenbereich eine Rolle. „Aussetzer“ der Atmung im Schlaf, Dysphagie<br />

(Schluckstörung) und Aspirationsgefahr (Gefahr des „Verschluckens“) sind die Folge<br />

und stellen äußerst belastende Situationen im Alltag dieser Menschen dar. Zusätzlich<br />

werden die Atemwege durch den Rückfluss von Mageninhalt und damit verbundene<br />

Aspirationen gefährdet. Eine erschwerte Atmung, z. B. durch starke Verschleimung<br />

mit „schnorchelnder“ Atmung, ist mit Angst und Stresserfahrung sowohl für die<br />

betroffenen schwerstmehrfachbehinderten Menschen als auch für die betreuenden<br />

Mitarbeiter verbunden. Atemstörungen sind in ganz besonderer Weise mit „vitaler<br />

Bedrohung“ verknüpft.<br />

Bei Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung ist das Zusammenwirken von<br />

chronischen Lungenerkrankungen (chronische Bronchitis, rezidivierende<br />

Aspirationspneumonien), besonders im Schlaf vorkommenden<br />

Atemregulationsstörungen sowie vorliegenden Wirbelsäulen- und<br />

Brustkorbdeformitäten die Ursache von schweren Störungsbildern, die zur<br />

Entwicklung einer Atemschwäche bzw. chronischen Ateminsuffizienz führen.<br />

Zeichen einer mangelhaften Atemfunktion zeigen sich in Auffälligkeiten der Atmung<br />

selbst mit Atemnot oder erhöhter Atemfrequenz, in Unruhe, erhöhter Herzfrequenz,<br />

gehäuften Atemwegsinfekten bis hin zu wiederholten Pneumonien, Gedeihstörung<br />

und verminderter Leistungsfähigkeit. Die Störungen der Atmung treten häufig zuerst<br />

im Schlaf auf und verhindern einen erholsamen Schlaf. Nächtliches Schwitzen und<br />

Tagesmüdigkeit sind zu beobachten. Bei deutlich erniedrigten Sauerstoffwerten im<br />

Blut zeigt sich eine Zyanose (bläuliche Verfärbung) der Haut. Deutlich erhöhte<br />

Kohlenstoffdioxidwerte sind mit zunehmender Bewusstseinstrübung verbunden und<br />

weisen auf die Erschöpfung der Atempumpe hin. Die Symptome beginnen bei<br />

Menschen mit geistiger Behinderung oft schleichend und sind durch die schwere<br />

Mehrfachbehinderung maskiert. So wird den Zeichen der beginnenden<br />

Ateminsuffizienz erst spät Beachtung geschenkt oder die Symptomatik wird als<br />

unveränderlich im Zusammenhang mit der schweren Mehrfachbehinderung<br />

hingenommen.<br />

Zur Diagnostik der chronischen Atemschwäche gehören die ausführliche Erhebung<br />

der Krankengeschichte und des Beschwerdebildes sowie die körperliche<br />

Untersuchung. Die Messung der Sauerstoffsättigung mittels Fingersensor gibt bereits<br />

einen guten Überblick zur Sauerstoffversorgung, sollte aber durch eine<br />

Blutgasanalyse ergänzt werden, um auch Kohlenstoffdioxid beurteilen zu können.<br />

Die Röntgenaufnahme des Thorax lässt oft keine differenzierte Beurteilung zu, da sie<br />

nicht unter Standardbedingengen angefertigt werden kann und Skoliosen der<br />

Wirbelsäule die Aussage erschweren. Wichtigste diagnostische Untersuchung ist die<br />

Polysomnografie (Schlafuntersuchung). Hier werden während des Schlafes<br />

verschieden Parameter (EEG, EKG, Atemfluss, Atembewegungen,


Sauerstoffsättigung u.a.) erfasst und kontinuierlich aufgezeichnet. Selbst bei<br />

schwerster Mehrfachbehinderung ist diese Untersuchung im Schlaflabor<br />

durchführbar, bedarf allerdings des Eingehens und Anpassens auf individuelle<br />

Besonderheiten bei schwerbehinderten Patienten.<br />

Bei Vorliegen einer chronischen Atemschwäche besteht die Therapie in der<br />

Therapieoptimierung der zugrunde liegenden Störung (Medikamente,<br />

Inhalationstherapie, Atemtherapie, Sekretmobilisation) und zusätzlich ggf. in<br />

Sauerstoffgabe oder Beatmungstherapie. Die Beatmungstherapie ist bei Menschen<br />

mit Muskelerkrankungen seit über 20 Jahren etabliert und wird heute meist als<br />

nichtinvasive Beatmung über eine Maske durchgeführt. Bei Menschen mit geistiger<br />

und mehrfacher Behinderung wirft diese Therapie viele Fragen auf und ist<br />

insbesondere wegen fehlender Kooperationsmöglichkeiten kritisch gesehen. Das<br />

folgende Fallbeispiel eines jungen Mannes mit schwerer Mehrfachbehinderung<br />

schildert den Einsatz von Beatmungstherapie.<br />

Falldarstellung<br />

A.P. ,22 Jahre alt, schwerst geistig und mehrfachbehindert, lebt in einer<br />

Wohneinrichtung für sehbehinderte mehrfachbehinderte Menschen.<br />

Ursache der Behinderung ist eine Virusinfektion während der Schwangerschaft und<br />

eine damit im Zusammenhangs stehende vorzeitige Geburt in der 32.<br />

Schwangerschaftswoche. Im Verlauf entwickelte sich eine schwere<br />

Bewegungsstörung (Cerebralparese mit Tetraspastik), eine Epilepsie und<br />

zunehmende Ernährungsprobleme. Im Alter von 14 Jahren erfolgte die Anlage einer<br />

Magensonde (PEG), die später in eine Darmsonde (PEJ) umgewandelt wurde. Im<br />

Rahmen der Cerebralparese entwickelte sich eine schwere Skoliose mit<br />

ausgeprägter Thoraxdeformierung. Atemwegserkrankungen (wiederholte<br />

Lungeninfekte) und nächtliche Atemstörungen (obstruktives Schlafapnoesyndrom)<br />

führten im Zusammenspiel mit der Skoliose im Alter von 21 Jahren zur chronischen<br />

Atemschwäche. A.P. zeigte Symptome der erschwerten Atmung, hatte eine erhöhte<br />

Herzfrequenz, schlief am Tage viele Stunden und reagierte kaum noch auf<br />

Angebote. Die Schlafuntersuchung (PSG) und Blutgasanalyse führten zur Diagnose<br />

einer schweren gemischten Atemstörung und zeigten als mögliche Therapieoption<br />

die nichtinvasive Beatmung mittels Gesichtsmaske auf. Im Zusammenhang mit der<br />

schweren Mehrfachbehinderung und fehlender Kooperationsmöglichkeiten wurde die<br />

Einleitung der Therapie zunächst zurückgestellt und für nicht durchführbar gehalten.<br />

A.P geriet in kurzer Zeit zunehmend in den Zustand der Kohlendioxidvergiftung<br />

(Hyperkapnie) mit Bewusstseinstrübung. In einer interdisziplinären Fallkonferenz<br />

wurde nochmals die Beatmungstherapie diskutiert und ein Beatmungsversuch<br />

vereinbart. A.P. tolerierte die Gesichtsmaske gut. Bereits nach einer Nacht<br />

Beatmungstherapie war er am Folgetag wieder wacher und zeigte Interesse an<br />

seinem Umfeld. Nach wenigen Tagen Beatmung normalisierten sich die<br />

Blutgaswerte. Die Entlassung aus der Klinik für Beatmungsmedizin war nach<br />

umfangreichen Vorbereitungen der Wohneinrichtung möglich. Seit 1 Jahr und 3<br />

Monaten wird bei A.P. jede Nacht die Beatmungsmaske angelegt. Sein Zustand hat<br />

sich sehr gut stabilisiert, Komplikationen oder Atemwegsinfekte traten nicht auf, tags<br />

har er eine ausreichende Eigenatmung, er verfolgt wach und aufmerksam die<br />

Geschehnisse in seiner Wohngruppe und kann die Schule besuchen. Etwa alle 14<br />

Tage verbringt A.P. ein Wochenende in seiner Familie und wird auch dort nachts<br />

beatmet.


Diskussion<br />

Bisher gibt es nur vereinzelt Fälle von Beatmung bei erwachsenen Menschen mit<br />

geistiger Behinderung und chronischer Atemschwäche. Jeder Fall bedarf einer<br />

individuellen Entscheidungsfindung. Fragen nach dem möglichen Wunsch der<br />

Betroffenen lassen sich nicht eindeutig beantworten. Ein vorsichtiges Annähern kann<br />

über die Beobachtung und Auseinandersetzung mit der gesundheitsbezogenen<br />

Lebensqualität gelingen. Der Gewinn an Lebenszufriedenheit durch Beatmung ist in<br />

Studien bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen untersucht (Bach, 1991;<br />

Paditz, 2003). Die Betroffenen fühlen sich durch die Beatmung weniger<br />

beeinträchtigt, als Eltern und Pflegepersonen vermuten. Insbesondere moderne<br />

technische Möglichkeiten der nichtinvasiven Beatmung mittels Nasen- oder<br />

Gesichtsmaske stellen eine mögliche Therapieoption auch für Menschen mit<br />

schweren Mehrfachbehinderungen dar.<br />

Die Verbesserung der Lebensqualität in dem Fallbeispiel zeigt sich unter anderem in:<br />

• Verminderung der Symptome der Ateminsuffizienz (Atemnot, Müdigkeit)<br />

• weniger bzw. keine akuten Atemwegserkrankungen<br />

• Gewichtszunahme (geringerer Kalorienbedarf durch Abnahme der Atemarbeit)<br />

• verbesserte Leistungsfähigkeit (Interesse am Wohngruppenalltag,<br />

emotionales Mitschwingen, Teilnahme am Unterricht) und Lebensfreude<br />

• Zunahme der Lebenserwartung.<br />

Eine hohe Herausforderung stellt die Beatmungstherapie für Angehörige und /oder<br />

Mitarbeiter der Förder- und Wohneinrichtungen dar. Voraussetzungen für eine<br />

gelingende Beatmung bei Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung sind<br />

interdisziplinäre Vernetzung, Zeit, Empathie, koordinierte Vorbereitung und<br />

begleitendes Beatmungsmanagement (Technikservice ständig erreichbar,<br />

regelmäßige ärztliche Untersuchung mit monatlichen Blutgaskontrollen, halbjährliche<br />

Kontrolle im Beatmungszentrum) sowie gesicherte fachliche Betreuung und<br />

Finanzierung.<br />

Wünschenswert ist eine Sensibilisierung aller Verantwortlichen in der<br />

Gesundheitssorge bei Menschen mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung<br />

für das Thema chronischer Atemwegserkrankungen. Es bedarf der frühzeitigen<br />

Risikoerkennung einer sich entwickelnden chronischen Atemschwäche und des<br />

Bemühens um Therapieoptimierung, inklusive regelmäßiger Atemtherapie. Eine<br />

maschinelle Atemunterstützung sollte auch bei Menschen mit geistiger und schwerer<br />

Mehrfachbehinderung als mögliche Therapieoption geprüft werden und nicht von<br />

vornherein ausgeschlossen werden.<br />

Lit.:<br />

Bach JR u.a. (1991) Life satisfaction of individuals with Duchenne musculatur<br />

dystrophy using long-term mechanical ventilatory support. M J Phys Med Rehabil 70:<br />

129 - 135<br />

Mellies U u.a. (2003) Progrediente neuromuskuläre Erkrankungen. Chronisches<br />

Atemmuskelversagen und schlafbezogene Atmungsstörungen. Kinderheilkunde Bd<br />

151


Mellies U u.a. (2003) Nichtinvasive Beatmung bei neuromuskulären Erkrankungen.<br />

Kinderheilkunde Bd 151<br />

Mellies U u.a. (2008) Kinder mit chronischer respiratorischer Insuffizienz und<br />

Langzeitbeatmung. In Zernikow B Palliativversorgung. Springer Verlag 2008: 366 -<br />

377<br />

Paditz E u.a. (2003) Lebensqualität unter intermittierender Selbstbeatmung.<br />

Kinderheilkunde Bd 151<br />

Winterholler M (2007) Häusliche Beatmung bei neuromuskulären Erkrankungen.<br />

Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung Heft 1 2007

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