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Sozialer und gesellschaftlicher Zusammenhalt

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<strong>Sozialer</strong> <strong>und</strong> <strong>gesellschaftlicher</strong><br />

<strong>Zusammenhalt</strong> – zwischen<br />

Datenlage <strong>und</strong> gefühlter Realität.<br />

Herausforderungen für<br />

zivilgesellschaftliche Akteure<br />

Dialogforum, MASI Magdeburg, 17.04.2019<br />

Thomas Kliche<br />

Hochschule Magdeburg-Stendal


Überblick<br />

1. <strong>Zusammenhalt</strong>: was ist das, wozu dient er?<br />

2. Quellen <strong>und</strong> Verbrauch von <strong>Zusammenhalt</strong><br />

3. Zwischenstand: Schwächelnde Demokratie,<br />

spannungsreiches Engagement<br />

4. Handlungsansätze – <strong>und</strong> warum sie nicht<br />

immer vorankommen<br />

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<strong>Zusammenhalt</strong>:<br />

was ist das, wozu dient er?<br />

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Ein Gemeingut der Einzelnen<br />

• Gr<strong>und</strong>gedanke: Gemeingüter (Allmende) erhalten<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> ermöglichen produktives Leben.<br />

Edm<strong>und</strong> Burke; heute: Kommunitaristen, z.B. Amitai Etzioni<br />

• Wichtiges Gemeingut ist Soziales Kapital – Netze,<br />

Verbindungen, Kenntnis der Zuständigen+Verfahren,<br />

Chance auf Unterstützung oder Verbündete, Zugang<br />

zu Leistungen <strong>und</strong> Handlungsfeldern (P. Bourdieu, R. Putnam).<br />

• Soziales Kapital erzeugt Vertrauen <strong>und</strong><br />

handlungsfördernde Erwartungen<br />

selbstverständlicher gegenseitiger Unterstützung.<br />

• Paradox: Spontanes gegenseitiges Vertrauen ist<br />

Gemeingut, aber ungleich erzeugt, verteilt, genutzt.<br />

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Früheres Leitkonzept: Solidarität<br />

• Natürliche, doch bewusste Gegenseitigkeit<br />

aufgr<strong>und</strong> ähnlicher sozialer Erfahrungen<br />

• Ursprünglich aus bäuerlichen Lebenswelten<br />

• Es gibt also Bonding (Eigengruppe stärken,<br />

z.B. Solidarität) <strong>und</strong> Bridging (Brücken<br />

zwischen Gruppen bauen).<br />

• Empirisch (schwache Evidenz): beides ist<br />

nötig, damit alle günstigen Effekte eintreten.<br />

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Dunkle Seite: Ausschluss<br />

• Einseitiges Bonding (Eigengruppenprivilegierung), z.B.<br />

Klüngel, antizipative Korruption (langfristige Begünstigung),<br />

Rassismus, Populismus hat einen Preis:<br />

• verbraucht unterm Strich <strong>Zusammenhalt</strong>: löst Widerstände<br />

aus, macht Zugang als knappes Gut problematisch<br />

• ist konfliktiv politisierbar, mit Gerechtigkeitsfragen vermischt:<br />

Wer darf Gr<strong>und</strong>sicherung beziehen, wer Kindergeld?<br />

• Angst vor Ausschluss ruft Konformismus wach.<br />

• Zugehörigkeit <strong>und</strong> soziale Chancen werden vorgeführt <strong>und</strong><br />

zu Statussymbolen (Kleidung, Sprache, Körperlichkeit)<br />

• Soziales Kapital kann eingetauscht werden in Kulturelles<br />

(Autorität durch Qualifikation, d.h. übertragbare geistige<br />

Leistung), <strong>und</strong> damit Ansprüche auf Hierarchie<br />

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Wozu brauchen wir <strong>Zusammenhalt</strong>?<br />

• Freiräume im Alltag, keine Angst-Ecken.<br />

• Reibungslose Routinen: Kompetenz, Wohlwollen,<br />

Zuverlässigkeit, Gegenseitigkeit werden erwartet<br />

• Mittel glatter Zielerreichung: Sprache, Organisation,<br />

Handlungsfähigkeit, lang- <strong>und</strong> kurzfristige Pläne,<br />

Teilhabe an alledem<br />

• Gestaltungsoptimismus:<br />

Vertrauensvorschuss in Problemlösungen<br />

• Orientierung aus Interdiskurs (Faktizität, Relevanz /<br />

Nachrichtenwertfaktoren, Einbettung <strong>und</strong> Deutung)<br />

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<strong>Zusammenhalt</strong> erhöht Produktivität<br />

• Geringere Transaktionskosten<br />

• Bessere Stimmung, höhere Motivation<br />

• Bessere Allokation von Kapital,<br />

Arbeit <strong>und</strong> Ressourcen (durch das Wissen aller)<br />

• Bereitschaft zum Entwickeln sozialer Innovationen<br />

(statt passiver, konsumtiver Diffusion technischer<br />

Neuerungen)<br />

• Paradox: Wer Vertrauen technisch maximiet, kann<br />

mit dieser Manipulation das Gegenteil auslösen<br />

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Quellen <strong>und</strong> Verbrauch<br />

sozialen <strong>Zusammenhalt</strong>s<br />

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Wo wird <strong>Zusammenhalt</strong> erzeugt?<br />

• Bindung: Familie, Kita, Fre<strong>und</strong>schaft<br />

• Erfahrung guter Arbeit (BGM / BGF zielen auf mitarbeiterorientierte<br />

Führung+unterstützende Teams)<br />

• Unterstützung, Hilfe, Zuwendung, gutem<br />

Zusammenleben (Nachbarschaft, Engagement)<br />

• Normen <strong>und</strong> Werte für Reziprozität<br />

(‚Gutmenschentum‘) <strong>und</strong> Strafen für unfaires<br />

Verhalten, Ausbeutung, Trittbrettfahren<br />

• Bewährte psychologische Verträge (befriedigte<br />

implizite Rollenerwartungen) mit Organisationen,<br />

Parteien, Politikern<br />

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Was verbraucht <strong>Zusammenhalt</strong>?<br />

• Verdrängungs- <strong>und</strong> Degradierungswettbewerb<br />

(Konkurrenz- bzw. Dominanzgesellschaft)<br />

• Desintegration, d.h. asymmetrischer <strong>Sozialer</strong><br />

Wandel, Ungleichheit, Ausschluss (z.B. soziale<br />

Benachteiligung)<br />

• scheiternde oder konfliktreiche Innovationen<br />

(Hartz, Digitalisierung)<br />

• Angst vor alledem – z.B. Bildung von<br />

Verweigerungskoalitionen (Brexit, Autobahnbau)<br />

• Bruch Psychologischer Verträge (Skandale,<br />

Versagen, z.B. Diesel, BER, Stagnation im Osten,<br />

verfehlte Klima-Ziele; unerfreuliches Engagement)<br />

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Zwischenstand:<br />

Schwächelnde Demokratie,<br />

spannungsreiches Engagement<br />

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Postdemokratie<br />

• Parteien geben klare Programme auf, Politiker<br />

‚verkaufen‘ Entscheidungen, Kontrolle <strong>und</strong><br />

Beteiligung versagen, Weichen werden unter<br />

Lobby-Einfluss verdeckt gestellt (Crouch, Fach)<br />

• Glaubwürdige politische Entwürfe schwinden<br />

zugunsten individueller Interessenmaximierung.<br />

• Ist die Interessensdurchsetzung erst einmal gut<br />

eingeregelt, wollen alle möglichst viel erhalten.<br />

• Folgen: Populismus, Verantwortungslosigkeit,<br />

Realitätszynismus, Rückzug in Filterblasen,<br />

Habgier, Angst, Verweigerungskoalitionen<br />

(Brexit, Stromtrassen, Verkehrswende, …)<br />

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Folge:<br />

große Hoffnungen auf Engagement <strong>und</strong><br />

Zivilgesellschaft –<br />

aber bitte mit wenig Zutun<br />

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Engagement: wachsende Spannungen<br />

• Engagement kann politische Willensbildung <strong>und</strong><br />

mediale Orientierung nicht ersetzen, aber genau<br />

dort wird <strong>Zusammenhalt</strong> deutlich schwächer<br />

• Versiegen Quellen von <strong>Zusammenhalt</strong> (politische<br />

Entwürfe, gesellschaftliche Fairness-Normen, gute<br />

Arbeit, …), steigen Erwartungen an Engagement.<br />

• Soziales Kapital ist Gemeingut, aber ungleich<br />

erzeugt, verteilt, genutzt – also Quelle von<br />

Ungleichheit <strong>und</strong> Misstrauen.<br />

• Engagement kann gelingen <strong>und</strong> <strong>Zusammenhalt</strong><br />

erzeugen oder enttäuschen <strong>und</strong> ihn verbrauchen.<br />

• Alterung + Strukturschwäche treffen Engagement<br />

spürbar – eine Schere zum Bedarf wächst.<br />

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Handlungsansätze:<br />

Baustellen<br />

für Engagement-Strategien<br />

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Einige aktuelle Abhilfestrategien<br />

• <strong>Zusammenhalt</strong> rhetorisch beschwören<br />

• Technischer Spielkram, z.B. Partizipations-<br />

Software, Klickibunti für Volksentscheide am Handy<br />

• Verschärfte Partei-Konkurrenz („Profil schärfen“)<br />

soll Programmatik <strong>und</strong> Glaubwürdigkeit stärken<br />

• Vorpolitisch-überparteiliche Stärkung der<br />

Gemeinde, z.B. Kommunale Bildungslandschaften<br />

• auf Selbstheilungskraft der Zivilgesellschaft hoffen<br />

• Engagement-Strategie (weiter)entwickeln<br />

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Engagemenstrategien: Vorbehalte<br />

• Differenzierte Förderung der Formen von Zivilgesellschaft:<br />

Selbsthilfe, klassische <strong>und</strong> Neue Ehrenamtlichkeit: Wichtige<br />

Elemente sind lange bekannt, aber zögerlich umgesetzt<br />

• Spart oder kostet das Geld – <strong>und</strong> wen (Kommune, Land)?<br />

• Wie kann man knappes Geld schnell <strong>und</strong> fair verteilen, ohne<br />

mikropolitischen Verdrängungswettbewerb?<br />

• Wie kann man hohe Leistungsfähigkeit, Transparenz <strong>und</strong><br />

Verantwortlichkeit (= Organisation) mit raschen,<br />

unkonventionellen Lösungen <strong>und</strong> hoher Begeisterung (=<br />

spontaner Teilhabe Betroffener) zusammenbringen?<br />

• Läuft es demokratisch, oder entsteht eine Vernetzungskaste?<br />

• Ist es nachhaltig wirksam, stört es, oder muss man ewig<br />

nachsteuern <strong>und</strong> braucht Instanzen, Personal, Geld?<br />

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Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

• „Engagementpolitische Empfehlungen“ des<br />

B<strong>und</strong>esnetzwerks Bürgerschaftliches<br />

Engagement“ (2016), oder<br />

„Engagementstrategie“ des BMFSFJ, z.B .<br />

• dauerhafte Gr<strong>und</strong>förderung der Vermittlungs<strong>und</strong><br />

Vernetzungsinstanzen <strong>und</strong><br />

Fördermöglichkeiten (FA, Stiftung)<br />

• Programme Soziale Stadt, Engagierte Stadt<br />

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Aktuelle Baustellen<br />

• neue Formen von Selbsthilfe fördern: Risiko-Bürgschaften <strong>und</strong> Förderung<br />

für Genossenschaften mit aussichtsreichem, gemeinnützigen<br />

Wirtschaftsplan<br />

• Selbsthilfe in Kooperation mit Krankenkassen, LVG, LS-LSA. Diese<br />

Landeskoordinationsstellen <strong>und</strong> die Zusammenarbeit stärken.<br />

• Anerkennungskultur: Geld für Unkostenerstattung, EA-Karte. Flexible<br />

Fonds für unbürokratische Kleinprojekte (1-S.-Anträge, -abrechnungen <strong>und</strong><br />

-berichte).<br />

• Kommunalpolitische Partizipation:<br />

• Bürgerbudgets, auch Fördermittelverwaltung durch Zivilgesellschaft<br />

• Schöffenplanungen unter Einbezug von Zivilgesellschaft<br />

• Teilhabefre<strong>und</strong>liche Gemeinde (Leitbild, Ansprechpartner <strong>und</strong> Lotse)<br />

• Projektartiger Aufbau horizontaler Netzwerke, z.B. zur Quartiersentwicklung,<br />

<strong>und</strong> dann Rückzug der Kommune auf Pflege- <strong>und</strong> Förderrolle<br />

• Aufwand vermindern:<br />

• Zuständigkeiten bündeln, Recht vereinfachen, Aufwand mindern, z.B.<br />

dauerhafte, automatisierte Schnittstellen zu FinA, Gerichte, Notar;<br />

Zuwendungsrecht für Kleinprojekte: je 1 S. Antrag, Abrechnung, Bericht<br />

• Genossenschaftlicher Vereinsverwaltungs-Service mit Landesförderung)<br />

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(M)ein Fazit: Politik vor der Weiche<br />

• Engagementförderung ist für unsere<br />

Gesellschaft überlebenswichtig.<br />

• Lösungsansätze sind bekannt <strong>und</strong> machbar.<br />

Aber viele Baustellen kommen langsam voran.<br />

Offenbar zögert die Politik.<br />

• Die Politik muss den Mut <strong>und</strong> das Vertrauen<br />

aufbringen, die Selbstorganisation der<br />

Gesellschaft über Jahre stark zu unterstützen<br />

<strong>und</strong> dafür eigene Verteilungs- <strong>und</strong> Kontrollmacht<br />

einzuschränken, selbst wenn die Ergebnisse<br />

offen <strong>und</strong> erst mittelbar greifbar sind.<br />

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Engagement als Governance gestalten<br />

• Sinnvoll, wo verschiedene staatliche u.a. Akteure<br />

zur Zielerreichung aufeinander angewiesen sind:<br />

• Alle müssen sich abstimmen,<br />

die Vielschichtigkeit von Steuerung wächst.<br />

• Gemeinsame Zielbestimmung <strong>und</strong> sachgerechte<br />

Kooperation sind Schlüsselleistungen (Wissen<br />

teilen; Verständigung auf Planung, Zielkontrollen<br />

<strong>und</strong> Vorgehensweisen; Perspektivenwechsel).<br />

• Felder lernen Governance über Jahre.<br />

• Nötig: stetige Strukturen + professionelle Akteure<br />

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Gute Politik ist wie<br />

ein Garten oder ein Wald:<br />

Ernten werden unsere Enkel.<br />

Thomas.Kliche@hs-magdeburg.de<br />

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